Prolog: Ziel von Tierversuchen „unverzichtbar“ oder „Affenfolter“? Affen als Modellorganismen Höhere Hirnfunktionen (Gesichtserkennung, Mustererkennung) haben zwei Aspekte: •Antwort (Verhaltensversuche) •Hirnaktivierung (Ableitungen) Modelle zur Untersuchung müssen diese Hirnfunktionen aufweisen. Daher werden hierfür Primaten eingesetzt. Im Mai 2015 gibt der Direktor des Max-Planck Instituts für Biologische Kybernetik in Tübingen, Prof. Dr. Nikos Logothetis, nach monatelangen Protesten von Tierschützern auf und erklärt, dass er künftig nur noch mit Mäusen arbeiten wird. Problematik: diese „Modelle“ weisen auch andere höhere Hirnfunktionen auf. Dürfen wir das? Prolog: Ziel von Tierversuchen Warum eigentlich Versuche mit Lebewesen? Lebewesen sind insbesondere auf zwei Weisen Gegenstand der Wissenschaft: 1.Wissenschaftliche Forschung: hier stehen die Beantwortung von Fragen und das Wissen selber im Vordergrund. Lebewesen sind Modelle, an denen wir Erklärungen gewinnen: Drosophila und Knock-out Mäuse für Populations- und Entwicklungsgenetik, Arabidopsis für Phototropismus. 2.Nicht-wissenschaftliche Forschung: hier steht die Entwicklung oder Optimierung von Gütern oder Produkten im Vordergrund: Pharmazeutika, Kosmetika. Prolog: Ziel von Tierversuchen Warum eigentlich Versuche mit Lebewesen? Eingriffstiefe Beobachtung Bienentanz Lebewesen werden nicht notwendig bei der Durchführung von Versuchen „verbraucht“. Es läßt sich eine Reihe definieren, angefangen mit rein beobachtenden, nicht-invasiven Methoden, über invasive mit geringem und mittlerem Risiko bis hin zu hochriskanten und letalen Eingriffen. Fallbeispiel: Analyse Verarbeitung von Duftreizen durch die Honigbiene Überprüfung durch Verhaltensexperimente Duftorgel mit Elektroden im Pilzkörper der Biene Prolog: Ziel von Tierversuchen Realität versus öffentliche Wahrnehmung Tierversuche: 3 Millionen Getötete Tiere in Deutschland 2014: 754 Millionen Töten von Tieren In Deutschland werden pro Jahr etwa eine ¾ Milliarde Tiere getötet. Der Großteil in Verbindung mit der Lebensmittelerzeugung ~3 Mio als Versuchstiere. Davon: Von den etwa 3 Millionen zu Versuchszwecken getöteten Tieren sind Mäuse und Ratten die Hauptgruppe, zum Vergleich: 2014 wurden etwa 2000 Primaten für Tierversuche eingesetzt. Tierversuche für Kosmetika sind in der EU seit 2013 verboten. Die gilt freilich nicht für Importware. •Grundlagenforschung (870 000) •Regulatorische Zwecke (700 000) •Industrieforschung (300 000) •Ausbildung (50 000) •Organentnahme nach Tod (1 110 000) Prolog: Ziel von Tierversuchen Rechtliche Seite von Tierversuchen Was sagt das Gesetz? Die Immunisierung von Mäusen zur Antikörpergewinnung ist nur anzeigepflichtig, die Erzeugung eines transgenen Maus-Alzheimermodells muss genehmigt werden, da hier einem lebenden Tier Leid zugefügt wird, die Reinigung von Tubulin aus Schweinehirn vom Schlachthof ist kein Tierversuch, toxikologische Versuche an Zebrafisch jedoch schon (genehmigungspflichtig), Erzeugung von Drosophila Mutanten ist dagegen weder anzeige- noch genehmigungspflichtig. •Eingriff am lebenden Tier regeln •Wirbeltiere: Genehmigungpflicht •Kopffüsser, Krebse: Anzeigepflicht •Begründungspflicht •Nachweispflicht •Tierschutzbeauftragte •Qualifikationsnachweis •Schmerzen und Leid minimieren •Genehmigung unter Einbezug einer Ethikkommission Was denken Sie: Hat der Mensch als Krone der Schöpfung das Recht, Leben zu nehmen? Modellbildung und Ethik in der Biologie A: Werkzeuge: Wie wir reden und warum das wichtig ist 1: Leben, Gen, Art, Organismus – nicht Dinge, sondern Aktivitäten/Prozesse 2: Beschreiben, Erklären, Auffordern – der Zweck einer Rede ist entscheidend! 3: Information, Signal, Bedeutung – „objektiv“ (ohne „ich“ und „Du“) gibt es nicht! B: Handwerkskunst: Wie „Wissenschaft“ arbeitet und warum das wichtig ist 4: Sehen, Beobachten, Experimentieren – funktionaler Kontext und Erkenntnis 5: Bild, Modell, Überprüfung – der Dreischritt der Wissenschaft 6: Erklärung und die Kunst der Reduktion C: Auf DICH gestellt: Warum „Ethik“ nicht mit dem Rechner geht 7: Naturalistischer Fehlschluss: Beispiel Eugenik 8: Können wir „Ethik“ rechnen: Soziobiologie und Spieltheorie 9: Auf was können wir „Ethik“ dann bauen? Nutzen versus Verantwortung 10: Der Weg ist das Ziel – „Ethik“ ist kein Ding, sondern eine Aktivität 11: Gretchenfrage – können „wir“ überhaupt entscheiden? 12: Aus dem biologischen Alltag: Tierversuche Prolog: Ziel von Tierversuchen Rechtfertigen oder Begründen? Der Einsatz von Lebewesen läßt sich sowohl begründen als auch rechtfertigen: 1.Begründung: sind Lebewesen für den jeweiligen Zweck geeignet (z.B. als Modelle). So könnte für bestimmte Pharmazeutikatests die Verwendung von Affen besser sein, als die von Mäusen, diese wieder besser als die von C. elegans. 2.Rechtfertigung: ist die Nutzung von Lebewesen für diesen Zweck zulässig. So könnte selbst dann die Nutzung von Primaten weniger gut zu rechtfertigen sein, wenn sie adäquater wären. logon didonai... „Gründe müssen gegeben und genommen werden“: Es lassen sich jeweils Gründe für und gegen die Nutzung von Lebewesen vorbringen. Es wird dabei regelmäßig zu „Erwägungsgleichgewichten“ kommen: Nutzen für den Menschen, Schaden für das Tier. Kleiner Denkanstoß: Warum regt sich keiner Versuche an Pflanzen auf? für Prolog: Ziel von Tierversuchen Rechtfertigen oder Begründen? Was tun wir eigentlich wenn wir „bewerten“? Beschreibend: wir ordnen etwas einen Mess-“Wert“ zu. Hier machen wir also Aussagen über das Sein Normativ: wir ordnen etwas einen technischen (z.B. DIN), ästhetischen (z.B. Stil) oder ethischen (z.B. Lebensqualität) Wert zu. Hier machen wir also Aussagen über das Sollen. Ein ethisches Werto-Meter gibt es nicht. Wenn wir bewerten, vergleichen wir etwas mit einem Maßstab. Welche Maßstäbe wollen wir nehmen: „Nutzen“ (extrinsisch), „Eigenzwecke“ (intrinsisch) oder Mischungen daraus? Maßstäbe für Brotgröße am Freiburger Münster (Ende 13. Jhdt.). Durch Vergleich mit dem Maßstab konnte der Kunde feststellen, ob der Verkäufer betrogen hatte (wenn ja, wurde dieser mit den Ohren ans Tor genagelt – „Schlitzohr“…). Ethische Maßstäbe sind deutlich schwieriger zu bekommen… Welche Sichtweisen gibt es? Utilitaristischer Ansatz: Tiere als Mittel zum Zweck Bewusstsein Der utilitaristische Kalkulus ist an die Fähigkeit geknüpft, „Glück“ zu empfinden. These: Dafür ist ein gewisser Grad von Personalität nötig. Rationalität Autonomie Wenn man Personalität als Maßstab nimmt, werden Tierversuche außerhalb der Primaten nicht problematisiert. Implizit wird dabei ein Stammbaum im Sinne von „Höherentwicklung“ zugrundegelegt. Kritisch zu hinterfragen wäre, warum ein Regenwurm weniger vollkommen sein soll als Homo sapiens. Fehlt Personalität, ist der Kalkulus einfach zu lösen. Bei den Primaten wird es grenzwertig (Peter Singer). Hier muss man dann Nutzen abwägen (z.B. Epilepsiemodelle bei Schimpansen). Welche Sichtweisen gibt es? Utilitaristischer Ansatz: Tiere als Mittel zum Zweck Für den utilitaristischen Kalkulus ist der Nutzen eines Experiments zentral. Der Nutzen ist umso höher, je enger der Bezug zu einer medizinischen Anwendung ist Ein Plakat der US-amerikanischen Organisation „Foundation for Biomedical Research“ mit einer klassisch utilitaristischen Botschaft. Der Tod der Labormaus wird in Bezug gesetzt zu dem medizinischen Nutzen des Wissens, der aus diesem Tierversuch erzeugt wird. Für angewandte Forschung lässt sich dies gut darstellen, für Grundlagenforschung eher nicht. Interessant: auch Gegner von Tierversuchen argumentieren häufig utilitaristisch. Welche Sichtweisen gibt es? Utilitaristischer Ansatz: Tiere als Mittel zum Zweck Bei einer utilitaristischen Bewertung schneidet Grundlagenforschung schlecht ab: der „Nutzen“ ist ja nicht darstellbar. Tiermodelle für menschliche Krankheiten bekommen einen hohen Stellenwert. Grundlagenforschung (Hirnaktivität bei Gesichtserkennung). Netzseite von Intrexon (GVO Schimpansenmodell für Epilepsie). Draize-Test am Kaninchen zur toxikologischen Bewertung von Chemikalien. Tierversuche zur Testung von Kosmetika. Reihenfolge entspricht der Rangfolge bei utilitaristischer Bewertung. Den höchsten Wert erhalten Anwendungen für große Zahlen: Toxikologie, Kosmetik (seit 2013 EU-Bann). Welche Sichtweisen gibt es? Utilitaristischer Ansatz: Tiere als Mittel zum Zweck Bei der Bewertung wird oft der Grad des Leidens als Kriterium herangezogen. Wir nehmen aber eigentlich nur den Ausdruck des Leidens wahr. Dazu nutzen wir die Spiegelneuronen. Die reagieren aber vor allem auf Ähnlichkeit. Schmerz wird über einen standardisierten Test (Zurückziehen der Pfote von einer glühenden Platte) quantifiziert. Der Nacktmull ist hier scheinbar schmerzunempfindlicher. Bei der Bewertung von Leiden werden wir unbewusst von unseren Spiegelneuronen beeinflusst – wir bewerten den Ausdruck von Leid. Dadurch bewerten wir spontan Leiden uns ähnlicher Organismen gewichtiger. Welche Sichtweisen gibt es? Wertethik: Pflanzen und Tiere haben Werte?! …aber die Bewertung hängt von unserer Sichtweise ab (v. d. Pfordten 1996): Anthropozentrisch Anthroporelational Unabhängig vom Menschen (Maus als Modell für Krankheiten des Menschen) (Verhaltensstudien an Schimpansen, um Evolution menschlichen Verhaltens zu verstehen) (Beobachtung von Tieren „in freier Wildbahn“) 1.Werte sind anthropozentrisch oder anthroporelational, wenn sie nur oder nur relevant mit Bezug auf den Menschen definiert werden können. 2.Werte könnten sich aber auch nach den „bewerteten“ Dingen selber richten – unabhängig von einem Bezug zum Menschen. Welche Sichtweisen gibt es? Wertethik: Pflanzen und Tiere haben Werte?! Aus beiden Positionen ergeben sich weitreichende Schlußfolgerungen: Im anthropozentrischen Fall haben Lebewesen nur oder fast nur extrinische Werte: also solche, die mit Bezug z.B. auf menschliche Bedürfnisse gerechtfertigt werden können: Züchtung, Konsum, Arbeitsnutzung. Im zweiten Fall haben Lebewesen auch intrinsische Werte: also solche, die mit Bezug auf eigene Bedürfnisse gerechtfertigt werden können: „artoder lebewesengerecht Haltung“, „Tieroder Pflanzenrechte“. Erster Nachweis von Hunderassen (Ägypten, ca. 2700 v. Chr.) Wolfsrudel jagt einen Moschusochsen Welche Sichtweisen gibt es? Verantwortungsethischer Ansatz: Tiere haben eigene Zwecke Tiere werden von Menschen als Mittel für vielerlei Zwecke gebraucht: Macralonkäfig (Typ IV) Prototyp (Osteosynthese-Institut, Davos) Menschen nutzen Tiere für viele Zwecke: als Haustiere für die eigene emotionale Balance, als Nahrungstiere und als Modellorganismen für Forschungszwecke. Dies aus der Perspektive des Menschen oder aus der Perspektive des Tiers selbst betrachten. Hier zeigt sich schnell, dass es auf das „Wie“ ankommt. •Emotionales Gleichgewicht •Arbeitskraft •Nahrung •Erkenntnis Bei einer verantwortungsethischen Bewertung ist wichtig, inwiefern bei der Umsetzung die Eigenzwecke des Tiers berücksichtigt sind (artgerechte Haltung). Welche Sichtweisen gibt es? Verantwortungsethischer Ansatz: Tiere haben eigene Zwecke Verantwortlich handeln heißt hier: •Wo es geht, vermeiden (z.B. Zellkulturen in der Toxikologie) •Überlegtes Versuchsdesign •Eigenzwecke (intrinsische Werte) der Tiere im Blick haben: Zellkulturen haben in der Toxikologie die Hälfte der Tierversuche ersetzt. Klares Versuchsdesign vermeidet unnötige Tierversuche, gute Kenntnis des Modells auch. Schlechtes Design ist hier nicht nur einfach ineffizient, sondern schlicht unethisches Handeln. Wenn Tierversuch, dann möglichst artgerecht und „human“. (i) Anregende und erfahrungsreiche Umwelt (ii) Der Art angemessene soziale Interaktionen (incl. Fortpflanzung) (iii) Vermeidung von Schmerz und Angst (auch wenn der Ausdruck von Leid von uns stark abweicht). Welche Sichtweisen gibt es? Jeder Einzelfall ist individuell: Ethik geht nur als sozialer Prozess warum ist das wichtig? Vor allem bei Grundlagenforschung ist ein utilitaristischer Kalkulus schwer darstellbar. Für eine verantwortungsethische Bewertung muss man aber die Eigenzwecke der Versuchstiere betrachten. Der Brainet-Kyborg. Mehrere Ratten wurden elektrisch gekoppelt, so dass der output der corticalen Neuronen eines Tieres als input für sensorische Neuronen anderer Tiere diente. Dann ließ man die Ratten Aufgaben lösen (Mustererkennung, Verarbeitung taktiler Reize, Wettervorhersage). Dies geht nur über Tutorialprinzip. Um Instrumentalisierungen zu minimieren, muss man hier eine möglichst ausgewogene Gruppe haben. Intermezzo: Denken Sie mal nach! Für die Chirurgieausbildung werden ~2000 Schweine eingesetzt. Ist das ethisch vertretbar? A Ja, für die Ernährung werden viel mehr Schweine getötet B Nein, Simulationssysteme sind menschenähnlicher C Doch, die Realität ist oft abweichend von der Simulation D Nein, dem Schwein werden unnötige Leiden zugefügt Take-home: Was erwarten wir von Ihnen Begriffe, die Sie kennen, erklären und verinnerlichen sollten • • • • • • Tierversuch, Tierverbrauch Toxikologie, regulatorische Tierversuche Begründungs- und Nachweispflicht Leid, Glück, Spiegelneuronen, Empathie Extrinsische und intrinsische Werte Utilitaristischer Kalkulus, Verantwortungsethik Konzepte, die Sie kennen, erklären und verinnerlichen sollten • • • • • Die wichtigsten Einsatzgebiete von Tierversuchen darstellen können Den Unterschied Tierversuch versus Tierverbrauch an Beispielen erklären können Die Argumentation einer utilitaristischen Bewertung darstellen können Die Argumentation einer verantwortungsethischen Bewertung darstellen können An konkreten Beispielen aus dem KIT eine eigene Bewertung entwickeln können