Den Fall entdecken - Evangelische Hochschule für Soziale Arbeit

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Den Fall entdecken. Zum Gebrauchswert qualitativ-heuristischer Forschungstechniken
für eine rekonstruktiv handelnde Soziale Arbeit.
Ein Hinweis.
1. Soziale Arbeit benötigt Techniken der empirischen Sozialforschung
Die Aufgabe der Sozialen Arbeit in dieser Gesellschaft, Antworten auf soziale Fragen zu
finden, implizierte von ihrem Beginn an Wissenschaft und Forschung. Sie mußte ihren
Gegenstandsbereich nach Regeln der Erkenntnisgewinnung wahrnehmen und zu erkunden in
der Lage sein (vgl. Wendt, 1995, 98ff). Der bewußte Einsatz empirischer
Forschungsmethoden in den verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit hat
allerdings in den letzten zwei Jahrzehnten enorm zugenommen, parallel zur Etablierung
qualitativer Sozialforschung als anerkannte Methode in den Sozialwissenschaften. Die
Untersuchungsgegenstände der Forschenden im Bereich Sozialer Arbeit waren hier
insbesondere die Lebenswelten der AdressatInnen, Strukturen professionellen und
ehrenamtlichen Handelns sowie Abläufe in Einrichtungen und Institutionen sozialer Arbeit
(vgl. Jakob, 1997, 126). Allerdings ist es bisher nicht zu einem innerdisziplinären
wissenschaftlichen Diskurs über Erkenntnismöglichkeiten und Grenzen sozialpädagogischer
qualitativer Forschung gekommen. Zudem wäre, so Jakob in ihrem Überblick über Methoden
und Ergebnisse qualitativer Studien in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, eine
Erweiterung des Spektrums von Ansätzen wünschenswert. (vgl. Jakob, 1997, 152)
Die Ursache des enormen Bedeutungszuwachses empirischer, insbesondere qualitativer
Forschungsmethoden erklärt sich insbesondere durch die Hinwendung der Sozialen Arbeit
zum Alltag der Adressatinnen und Adressaten bzw. zu ihrer Lebenswelt. Dieser den
Fachkräften zunächst einmal fremde Bereich, die Perspektive der Adressatinnen und
Adressaten und ihr Eigensinn, müssen nun als Voraussetzung adäquater Hilfeleistung
systematisch verstanden werden können. Dies gilt umso mehr, als sich im Zuge von
gesellschaftlichen Veränderungsprozessen die zu begreifenden Problemlagen differenzieren
und Soziale Arbeit frühere Sicherheiten des eigenen Handelns im Hinblick auf bekannte und
von ihr verstandene Problemlagen zunehmend verliert.
Entsprechend ist die "Alltagswende" der Sozialen Arbeit und ihre Orientierung auf die
Lebenswelt ihrer Adressatinnen und Adressaten als ein Perspektivenwechsel zu beschreiben,
der das Methodenprofil mit einschließt (vgl. Schmidt-Grunert, 1999, (6)). Die
Methodenentwicklung wird nun insbesondere auch als Forschungsfrage diskutiert, "die
soziale Arbeitsfelder als Ausschnitte des Alltäglichen, unterschiedlicher Lebenslagen,
spezifischer Milieus und Quartiere in den Blick nimmt und die involvierten betroffenen
Menschen als Subjekte in diesen ihren Lebenswelten zur Kenntnis nimmt (vgl.
Groddeck/Schumann, 1994). Einhergehend damit stellt sich die Frage nach einem
methodischen Instrumentarium, das einer Sozialarbeitswissenschaft adäquat ist, welches die
bisherigen handlungsbezogenen Methoden Sozialer Arbeit nicht umstandslos beiseite schiebt,
sondern diese wissenschafts- und forschungsbezogen ergänzt" (Schmidt-Grunert, 1999, 6).
Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf sozialwissenschafltichen Methoden der
Fallrekonstruktion. Hiermit verknüpft ist die Hoffnung, sie könnten ein Bindeglied sein
zwischen den Methoden der Veränderung von Wirklichkeit (Handlungs- und Praxismethoden)
und der Erkenntnis der Wirklichkeit (Forschungs- und Wissenschaftsmethoden). Solchen
Methoden geht es darum, die traditionelle sozialpädagogische Fall-Kasuistik mit einem
erweiterten Fallbegriff lebensweltbezogen anzureichern und wissenschaftlich zu verfeinern,
und zwar dadurch, dass dieser Fallbegriff individuelles Geschehen in überindividuelle
Abläufe zu integrieren vermag und deren wechselseitige Durchdringung transparent machen
kann (vgl. Schmidt-Grundert, 1999, 8; vgl. Haupert, 1997, 193). Dies würde ein Verfahren
ermöglichen, dass die "sinnhafte Struktur komplexer lebenspraktischer Problemlagen in
intersubjektiv kontrollierbarer Weise ausleuchtet und damit das "Verstehen" aus dem Bereich
der Intuition herausführen kann (vgl. Gildemeister, 1995, 32). Kurz: Durch Verfahren ist eine
"lebensweltbezogene Deutungskompetenz" für die Praxis der Sozialen Arbeit gewährleistet.
Im Folgenden soll nun die qualitativ-heuristische Forschungsmethode vorgestellt werden. Sie
wurde von Kleining am Institut für Soziologie der Universität Hamburg entwickelt und hat
sich bereits als methodische Grundlage bei größeren Untersuchungen im Bereich der Sozialen
Arbeit bewährt, so z.B. in einer Studie des Autors zur Wirkung von neuen Steuerungen auf
die Praxis Sozialer Arbeit (vgl. Nauerth, 2003 I, II). Zudem eignet sie sich für
Praxisforschung, verstanden als wissenschaftliche Bemühung an der Schnittstelle von
Wissenschafts- und Praxissystem, die darauf zielt, gegenseitige Anschlüsse zu finden und
fruchtbar werden zu lassen (vgl. Moser, 1995, 9). Sie bietet aber darüber hinaus auch
Instrumente an, die für eine rekonstruktiv ausgerichtete soziale Fallarbeit bedeutsam werden
können, was im folgenden ausgeführt werden soll.
Im 2. Kapitel wird die qualitativ heuristische Methode als Methode der empirischen
Sozialforschung grundsätzlich beschrieben und vorgestellt. In Kapitel 3. wird sodann
reflektiert, inwiefern sie einen Gebrauchswert für die Soziale Arbeit und deren Interesse an
Verfahren für eine Rekonstruktionskompetenz haben kann.
2. Die qualitativ heuristische Forschungsmethode
Dank der weitgehenden Etablierung qualitativer Forschungsverfahren in den
Sozialwissenschaften und der Psychologie stehen inzwischen eine Vielzahl spezieller
Methoden zur Verfügung, die von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen,
unterschiedliche Ziele verfolgen und besondere Aktualität für die Untersuchung sozialer
Zusammenhänge gewinnen (vgl. Flick, 1996, 9). Sie sind besonders zur Entdeckung von
Strukturen und Strukturveränderungen geeignet und in der Lage, hochkomplexen Forschungsgegenständen in starkem Maße gerecht zu werden. Dies wird in der Propagierung des Prinzips
der Offenheit bei Hoffmann-Riem deutlich, entsprechend in der Forderung von Kleining, das
Verständnis des Forschungsgegenstandes bis zum Abschluss der Forschung als vorläufig zu
betrachten. Von großer Bedeutung ist hierbei das von Glaser und Strauß konzipierte Modell
des Forschungsprozesses, der Grounded Theory, das sehr bekannt und codifiziert ist (vgl.
Flick, 1996, 17). Glaser und Strauß orientierten sich bei der Entwicklung ihrer Methode am
symbolischen Interaktionismus und betonen als wesentliche Aufgabe des Forschens, aus den
angesammelten Daten durch einen beständigen Prozess des Aufeinanderbeziehens und des
Vergleichens im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Differenzen Theorie entstehen zu lassen.
"Nicht deskriptives Beschreiben, sondern die systematische Entwicklung einer Theorie ist die
Zielsetzung" der Forschung (Strauß, Corbin, 1996, 39). "Eine ´Grounded´ Theory ist eine
gegenstandsverankerte Theorie, die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet
wird, welches sie abbildet. Sie wird durch systematisches Erheben und Analysieren von
Daten, die sich auf das untersuchte Phänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig
bestätigt" (Strauss, Corbin, 1996, 7 f., vgl. Strauß 1991, 1996).
Die "Qualitativ heuristisch Methode", die in den letzten 25 Jahren an der Universität
Hamburg entwickelt und erprobt wurde, hat eine große Nähe zur Grounded Theory (vgl.
Kleining 1994, 1995).1 Charakteristisch für sie ist der Verzicht auf eine lineare Forschungsstrategie, die Formulierung von Hypothesen und deren Prüfung im Rahmen eines festgelegten
Untersuchungsplanes. Stattdessen zeichnet sich dieses Verfahren dadurch aus, einen
zirkulären Weg zu beschreiten, der maximal variierte Daten in einer induktiven
Vorgehensweise auf strukturelle Gemeinsamkeiten analysiert, dabei Forschungsschritte
1
Zu Differenzen zwischen qualitativ-heuristischen Verfahren und Groundet Theory siehe: Kleining, 1994, 110
f.
mehrmals durchläuft und aus den vorläufigen Ergebnissen die weitere Forschungsstrategie
bestimmt (vgl. Witt, 2001, Absätze 11-15; vgl. Hackmann, 2001). Die Methode entstand
durch die Rezeption heuristischer und dialektischer Denk- und Forschungstraditionen, die
beide eine lange Geschichte haben, in der heutigen Wissenschaftsdiskussion aber nur eine
untergeordnete Rolle spielen.
Heuristische Verfahren haben die modernen Naturwissenschaften zu ihren Entdeckungen
gebracht. Sie sind zu verstehen als "Lehre von den Such- und Findeverfahren" und
reflektieren den Vorgang der Aneignung von Wissen als einen Prozess des Entdeckens
(Kleining, 1995, 353; vgl.: Kleining/Witt, 2000, Absätze 2-6). Neuere Ansätze hierzu gibt es
gegenwärtig eher in der Informatik und der experimentellen Mathematik, weniger in den
Sozialwissenschaften (vgl. Kleining, 1995, 329).2 Dialektische Verfahren lassen sich bis auf
die klassische Antike zurückverfolgen. Hegel, Bezug nehmend auf Platon, erklärt die
Dialektik als absolute Methode des Erkennens der inneren Gesetzmäßigkeiten der
Selbstbewertung des Denkens und der Wirklichkeit (vgl. Buhr, 1988, 30 f.). Marx bezieht sich
auf Hegel, "dreht" ihn allerdings um.3 In seinem Sinne beziehen sich sodann gewichtige
Theoretiker diese Jahrhunderts, insbesondere der Frankfurter Schule, auf Marx und Hegel.
Nur dialektisches Denken ermögliche es, so Adorno, die "doch offensichtlich
widerstreitenden Momente im Charakter der Gesellschaft, ihre Unverständlichkeit, ihre
Opaktheit auf der einen Seite also und auf der anderen Seite ihren schließlich doch auf
Menschliches reduziblen und insofern verständlichen Charakter zusammenzubringen, indem
beide Momente aus einem Gemeinsamen abgeleitet werden, nämlich aus dem Lebensprozess
der Gesellschaft, der auf seinen früher Stufen ebenso Verselbstständigung, Verhärtung, sogar
2
Kleining unterscheidet hierbei sechs Entwicklungslinien:
a) Die philosophisch-rationale Heuristik, die durch den Einsatz von Rationalität und formaler Logik,
besonders der Mathematik gekennzeichnet ist, bis auf das 13. Jahrhundert zurückgeführt werden kann und
mit Namen wie Descartes, Leibnitz, Bolzano verbunden ist (vgl. Kleining, 1995, 340 ff.).
b.) Die naturwissenschaftlich-empirische Heuristik, die sich mit Namen wie Mach, Einstein, Newton
verbindet. Kleining verweist hier insbesondere auf die historisch-kritischen Schriften von Ernst Mach (vgl.
Kleining, 1994, 115).
c) Die dialektische Heuristik, die als eigenständige Entwicklungslinie existiert, aber kaum zu erkennen ist,
weil sie "aus der Position der Hermeneutik dargestellt und damit verdeckt wurde." (Kleining, 1994, 69)
Beispielsweise muss das Werk Schleiermachers, das für die Hermeneutik von besonderem Gewicht ist, auch
für die Heuristik reklamiert werden.
d) Eine psychologische Heuristik, die in der frühen kognitiven Psychologie, der Gestaltpsychologie, aber
auch in den Werken Freuds und Piagets vorhanden ist (vgl. Kleining, 1995, 347 ff.).
e) Eine sozialwissenschaftliche Heuristik, die im symbolischen Interaktionismus (Mead, Blumer), in den
Methoden der Grounded Theory (Strauß, Glaser), in Teilbereichen der Statistik (Exploratory Data Analyses)
und der Pädagogik bedeutsam ist (vgl. Kleining, 1995, 350 ff.).
f) Die Computer-Heuristik in Informatik und Wirtschaftswissenschaften, die sich mit Verfahren befasst,
"bestimmte und möglichst gut definierte Aufgaben zu lösen, besonders solche komplexer Art" (Kleining,
1995, 352).
3
Im Vorwort zum Kapital schreibt er: "Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet,
verhindert in keiner Weise, dass er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewusster
Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muss sie umstülpen, um den rationellen Kern in
der mystischen Hülle zu entdecken (Marx, 1983, 27). In seiner Einleitung zu den Grundrissen der politischen
Ökonomie beschreibt er sodann den dialektischen Erkenntnisweg, der davon ausgeht, dass die Wahrheit der
Teile im Ganzen ist und jeder Teil in sich das Ganze enthält. Marx beginnt mit der Betrachtung des Realen
und Konkreten, der Teile, und gelangt von hier aus, induktiv, zu einer abstrakten Theorie, dem Ganzen.
"Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten", wie er schreibt, zu den einzelnen Teilen, nun aber
nicht mehr als isolierten Einzelphänomenen, sondern zu ihnen "als einer reichen Totalität von vielen
Bestimmungen und Beziehungen" (Marx, 1987, 485). Das Einzelphänomen wird im Lichte des Ganzen in
seinem Wesen erkennbar.
Herrschaft ... gefordert hat, wie er gleichwohl entspringt in der gesellschaftlichen Arbeit der
Gesamtgesellschaft, und insofern also wieder verstehbar ... ist" (Adorno, 1993, 142).4
2.1. Kennzeichen der qualitativ heuristischen Verfahren
Qualitativ heuristische Verfahren sind Entdeckungsverfahren, denen ein dialektisches
Subjekt-Objekt-Verständnis zugrunde liegt. Das Forschungsverfahren selbst ist dialektisch,
dialogisch. "Der Forscher ist Teil seines Gegenstandes und gleichzeitig von ihm getrennt, er
bestimmt ihn, aber wird ebenfalls von ihm bestimmt. Aus dieser Spannung entsteht
Erkenntnis" (Kleining, 1994, 86). Forschung ist dabei ein Wechselspiel zwischen dem
forschenden Subjekt und seinem Forschungsgegenstand. Informationen werden verlangt,
erhalten, aufgenommen, verarbeitet und neu verlangt, erhalten usw. Es ist, als ob der Forscher
"Fragen" an das Objekt richtet, dieses "antwortet" und die Antwort führt zu neuen "Fragen"
(vgl. Kleining, 1994, 35 f.). Die "Antwort" des Forschungsobjektes (bzw. die Erkenntnis über
das Forschungsobjekt) entsteht dabei als Leistung des Forschers durch die Abstraktion von
der Unterschiedlichkeit der Daten auf ihre Gemeinsamkeiten!
Das Gemeinsame der unterschiedlichen Fakten ist ihre Struktur bzw. das Ganze, deren Teil
sie sind. Die Erkenntnis des Forschenden über das Forschungsobjekt erweitert sich dabei
unabhängig vom Ausgangspunkt, also den Vorkenntnissen in Bezug auf das Objekt, indem
durch Fragen und Antworten neue Fragen auf "höherem Niveau" entstehen, die Antworten
darauf ein erneut gehobenes Frageniveau erlauben, usw. Durch diesen "spiralförmig"
verlaufenden Prozess ist jedem Forschungssubjekt eine schrittweise Annäherung an den
Forschungsgegenstand erlaubt und wird ein Aufklärungsprozess in Gang gesetzt, der die, wie
auch immer geprägten, Vorverständnisse des Forschers überwindet und zur Erkenntnis der
Struktur führt, d. h. Beziehungen, Verhältnisse, Verbindungen, Bezüge, die als Struktur
"objektiviert" sind. Ziel der Forschung ist es dann, die scheinbar festen Objekte in Relationen
aufzulösen, sie als Teil eines größeren Ganzen zu entdecken. Solche Sozialforschung ist somit
als soziale Diagnostik zu verstehen. "Diagnose, nicht Beschreibung von Symptomen ist .. ihr
eigentliches Anliegen", die Erkenntnis des wirklichen Lebens im falschen, das verdinglicht
und bewegt ist (Kleining, 1994, 21).
Dies bedeutet praktisch, dass die Forschenden mit erhobenen Daten in einen methodisch
angeleiteten "Dialog" treten. Sie stellen Fragen nach dem Gemeinsamen und bekommen
Antworten durch methodische Gruppierungen, Anordnungen, Abstraktionsprozesse und
Begriffsbildungen. Auf erweitertem Kenntnisstand dieses "sortierten" Datenmaterials werden
neue Fragen nach Gemeinsamkeiten gestellt, neue Antworten gefunden, durch die vorhandene
Gruppierungen und Begriffsbildungen bestärkt wurden oder korrigiert werden müssen, usw.
Auf diese Weise wird das Gemeinsame des Datenmaterials durch Abstraktion von den
Unterschieden nach
und nach kenntlich und damit die Struktur des
Untersuchungsgegenstandes.
Kleining betont in diesem Zusammenhang die für dieses Verfahren charakteristischen
Aspekte der Zirkularität, Totalität und Objektivität:
Zirkularität kennzeichnet die Rückkehr zum Ausgangspunkt, von dem aus die Suche begann:
dem bereits vorhandenen Wissen über den Gegenstand, das die Voraussetzung eines jeden
Suchprozesses ist. Die Forschung setzt am Konkreten an, gelangt von hier aus zu einer
abstrakten Formbestimmung des Gegenstandes, die alle Realitätsausprägungen des
4
Dabei ist Dialektik nicht als Methode zu verstehen. Adorno betont vielmehr, dass die zu bedenkende Sache
selbst es ist, die, widerspruchsvoll, sich gegen jeglichen Versuch ihrer einstimmigen Deutung sperrt. "Sie,
nicht der Organisationsdrang des Gedankens veranlasst zur Dialektik ... Dialektik als Verfahren heißt, um des
einmal an der Sache erfahrenen Widerspruchs willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken" (Adorno,
1990, 148).
Gegenstandes in sich aufgenommen haben soll, und von dort aus wieder zum konkreten
Ausgangspunkt. Diese Rückkehr ist aber kein Schritt zurück, sondern ein Schritt voran, "bei
der der Ausgangspunkt wieder erreicht wird, aber nach Kenntnis aller anderen
Strukturelemente" (Kleining, 1994, 40). Das bekannte Faktum erscheint dann wieder, aber in
einem anderen Licht, nämlich im Gesamtbezug.
Totalität meint das Verhältnis der Teile zum Ganzen. In diesem Forschungsprozess werden
zunächst Fragmente eines Ganzen erfasst, dann Teile, die auf das Ganze deuten, dann die
Struktur des Ganzen. Die Teile geben sich schließlich "im neuen Licht" zu erkennen, als
Elemente einer Struktur des Ganzen. "Man könnte sagen, am Ende sind es die "richtigen"
Teile, die sich aus der Struktur des Ganzen ergeben und es formen" (Kleining, 1994, 41).
Die Entstehung von Objektivität durch den Prozess der Forschung ist der wissenschaftstheoretisch entscheidende Vorgang. Sie entsteht emergenetisch aus Subjektivität durch
den Prozess der Analyse: Das Objekt löst sich vom Forschenden und wird, unabhängig von
dessen Meinung und Vorverständnis, in seinen Strukturen intersubjektiv kenntlich. Der
Forschungsprozess überwindet die Subjektivität und bewahrt sie gleichzeitig auf, im
Hegelschen Sinne. "Das subjektive Teil-Bild geht auf in der objektiven Struktur, ist für das
Subjekt in ihm noch erkennbar, aber jetzt präsent im Gesamtzusammenhang, auf einer
höheren Stufe" (Kleining, 1994, 43). Der qualitativ-heuristische Objektivitätsbegriff ist
sodann, im Gegensatz zum quantitativen, endgültig, wenn die Struktur eines Objektes
vollständig identifiziert ist. "Er ist nur vorläufig, wenn die Struktur eines Objektes noch nicht
ganz oder nicht entdeckt ist" (Kleining, 1994, 43).
Für die Forschungsstrategie ist es daher von großer Bedeutung, im Gegensatz zum linearen
Vorgehen quantitativer Verfahren nicht auf eine bestimmte Fragestellung und einen
bestimmten Ablaufplan festgelegt zu sein. Vielmehr durchläuft der Forscher verschiedene
Forschungsschritte mehrmals und der jeweils nächste Schritt hängt von den Ergebnissen des
vorherigen ab (vgl. Witt, 2001, Absätze 11-20).5
2.2. Die vier Regeln der qualitativ-heuristischen Sozialforschung
Vier Regeln zeichnen den qualitativ-heuristischen Forschungsprozess aus. Diese beziehen
sich auf jeweils einen Aspekt der Forschung und sind aufeinander bezogen.
• Regel 1 über das Subjekt (den Forscher bzw. die Forscherin):
Das Vorverständnis über den Untersuchungsgegenstand soll als vorläufig angesehen und mit
neuen, nicht kongruenten Informationen überwunden werden.
Die Offenheit der Forschenden für Informationen über das zu untersuchende Objekt soll das
in den Forschungsprozess eingebrachte Vorverständnis überwinden. Ausgangspunkt der
Forschung ist also nicht das Wissen oder die Ansicht über den Forschungsgegenstand, das
Vorurteil oder die wissenschaftliche Theorie, die dann geprüft werden. Vielmehr sollen diese
als "Vor-Verständnis" und als "Vor-Urteil" aufgefasst werden, die disponibel und veränderbar
sind und durch einen Verstehensprozess zum "Verständnis" werden (vgl. Kleining, 1995, 231
ff.).
• Regel 2 über das Objekt (den Forschungsgegenstand):
Der Gegenstand ist vorläufig und gilt erst nach erfolgreichem Abschluss des Findungsprozesses als bekannt.
5
Hierbei sind Fehler zu vermeiden, die Witt als "Strategienverschnitt" beschreibt. Sie resultieren aus der
unglücklichen Kombination der linearen und zirkulären Stragegien, insbesondere die Verwendung der
linearen Strategie bei der Erhebung qualitativer Daten (siehe hierzu Witt, 2001, Absätze 21-32).
Erst im Verlauf des Forschungsvorgangs wird sich die Struktur des Gegenstandes näher
zeigen. Sie ist am Anfang nicht definiert, der Gegenstand ist nicht operationalisiert sondern
entsteht erst im Verlauf des Forschungsprozesses. "Die Regel besagt also, dass man der
Veränderung des Gegenstandes in der Sicht des Forschers, die durch den Forschungsprozess
eintritt, folgen soll, weil dies wegführt vom Vor-Verständnis, das zu seiner Findung nicht
ausreichend war" (Kleining, 1994, 26).
• Regel 3 über das Handeln des Forschenden
Der Gegenstand soll von möglichst vielen Seiten forschend angegangen werden. Regel von
der maximalen Variation der Perspektiven.
Der Gegenstand soll möglichst variiert bezüglich seiner Struktur untersucht, befragt,
beleuchtet werden, um ihn "richtig", d. h. nicht einseitig zur Kenntnis zu nehmen. Dies
bezieht sich auf die Art der Datenerhebung, sowohl im Hinblick auf verschiedene
Erhebungsinstrumente als auch im Hinblick auf die Variationsbreite eines
Erhebungsinstruments wie z.B. unterschiedliche Aspekte der Fragen. (vgl. Kleining, 1995,
236 ff.)
• Regel 4 über das Bewerten der erhobenen Daten
Analyse der Daten auf Gemeinsamkeiten.
Die Ermittlung von Beziehungen und Relationen führt zur Struktur des Gegenstandes, der
untersucht wird. Sämtliche erhobenen Daten müssen daher auf ihre Gemeinsamkeit
untersucht, gruppiert und angeordnet, d. h. auf ihre strukturelle Zusammengehörigkeit hin
analysiert werden. Dabei ist die so genannte 100 % Forderung entscheidend, die besagt, dass
alle Daten im strukturellen Zusammenhang ihren Platz haben und als Teile des Gesamtbildes
verstehbar sein müssen. "0 % der Informationen dürfen der Analyse widersprechen"
(Kleining, 1994, 33). Bei den Gemeinsamkeiten kann es sich dabei um direkte oder
symbolische Übereinstimmung handeln oder um vollständige Nicht-Übereinstimmung,
Gegensatz, Widerspruch, Negation (vgl. Kleining, 1995, 242 ff.).
2.3. Die Prüfverfahren
Die Sicherung von "Objektivität" der Ergebnisse, die immer wieder als Problem qualitativer
Forschung beschrieben wird, soll im qualitativ-heuristischen Verfahren durch die Anwendung
von Regeln erreicht werden. Forschung ist hier kein Akt der Deutung oder Interpretation,
sondern des Findens von Strukturen und Entdeckens von Bewegung durch regelhaftes
Handeln (vgl. Kleining, 1995, 283). Diese Ergebnisse können geprüft werden. Für die
qualitativ heuristische Sozialforschung gilt die Forderung nach intersubjektiven Prüfkriterien
entsprechend so, wie sie im Bereich der empirischen Sozialforschung allgemein üblich ist.
Prüfkriterien sind Verlässlichkeit, Gültigkeit und Geltung.
Verlässlichkeit (Reliabilität) kann nur nach Abschluss des Such- und Findeprozesses geprüft
werden, dann allerdings nach einem sehr scharfen Kriterium: "Alle beliebigen im
Zusammenhang mit dem Thema erstellten, bisher unbekannten und bei der Analyse nicht
verwandten Daten müssen das Ergebnis bestätigen, wobei das 100-%-Kriterium gilt"
(Kleining, 1994, 44).
Mit der Sicherung von Gültigkeit (Validität) ist die Frage verbunden, ob die Strukturen des
jeweiligen Untersuchungsgegenstandes auch wirklich zu erkennen sind. Bei maximaler
Variation der Perspektiven werden im ganzen Verlauf des Forschungsprozesses die
Ergebnisse anhand der 0-%-Regel überprüft: Es dürfen sich keine Widersprüche ergeben
zwischen
Struktur und Daten. Validität ist gegeben, wenn, wie bei der
Verlässlichkeitsprüfung auch, jeder beliebige andere Datensatz, der bisher nicht erhoben
wurde, die Analyse bestätigt, "und zwar ohne Einschränkung" (Kleining, 1994, 45).
Der Geltungsbereich der Ergebnisse besteht nur innerhalb des durch die Untersuchung
abgegrenzten "Systems" und gilt nicht für andere Strukturen oder für alle Bezüge. Er ist also
räumlich und historisch begrenzt und gilt für bestimmte gesellschaftliche Bereiche und
historische Perioden, in denen die Ergebnisse als gültig nachgewiesen wurden unter Angabe
der Grenzen der Gültigkeit (vgl. Kleining, 1994, 46). "Die Geltung soll und kann bei
Anwendung der 'Regeln' erforscht werden, sie wird nicht gesetzt" (Kleining, 1995, 277).
3. Zum Gebrauchswert der qualitativ heuristischen Methode für eine um
"Rekonstruktionskompetenz" bemühte Praxis Sozialer Arbeit.
Im folgenden soll beschrieben werden, inwiefern die qualitativ heuristische Methode einen
hilfreichen Ansatz bereithält, von dem aus rekonstruktive Verfahren für die konkrete "Soziale
Fallarbeit" entwickelt werden können.
Der Praxisbereich, auf den bezogen der Gebrauchswert dieser Methode zu bestimmen wäre,
ist die alltägliche Aufgabe von Fachkräften Sozialer Arbeit, "den Fall zu verstehen" und damit
"ihnen Unbekanntes zu entdecken". Denn noch bevor sie beratend, betreuend, begleitend,
behandelnd tätig werden, müssen sie festzustellen in der Lage sein, was der Fall ist, "auf
welcher Ebene es durch wen definiert ist, mit welchen anderen sozialen Ebenen es verknüpft
oder vernetzt ist, um erst dann zu entscheiden, auf welcher der Ebenen man einsetzen und
arbeiten kann und will..." (Gildemeister, 1995, 36). Daher geht es für sie darum, "sich
gemeinsam mit den AdressatInnen Sozialer Arbeit ein Bild von Personen, Situationen,
Abhängigkeiten zu machen, um gemeinsam Entstehungs- und Veränderungsbedingungen
bestimmen zu können" (Staub-Bernasconi, 2003, 35). Uneinigkeit besteht in Fachkreisen aber
im Hinblick auf den Bedarf an diagnostischer Kompetenz. Während auf der einen Seite eine
Fallarbeit beschrieben wird, die in der Lage sein soll, auf der Basis von Wissen über "den
Fall" stellvertretend zu deuten (vgl. z.B. Dewe u.a., 1993) und professionelle Diagnosen zu
erstellen (vgl. u.a. Staub-Bernsasconi 2003 I, II), wird auf der anderen Seite auf einer antidiagnostischen Vorgehensweise beharrt, die dialogisch vorgeht und als Assistenz und
Verständigung zu beschreiben wäre mit dem Ziel, die AdressatInnen der Hilfe darin zu
unterstützen "neue Handlungsoptionen zu realisieren oder auch sich als brauchbar erwiesene
zu stabilisieren" (Kunstreich, 2003 I, 14). 6
Unabhängig davon, ob man nun professionelle soziale Hilfepraxis strikt als Dialog faßt, oder
auf den professionellen Kompetenzvorsprung beharrt und die monologische Hervorbringung
von Wissen (durch Diagnostik) für notwendig hält (oder den Standpunkt vertritt, die
Vorgehensweise sei variabel und müsse von der Situation abhängig gemacht werden), so
scheinen doch zwei Aspekte unbestritten: In der konkreten Fallarbeit geht es um "Verstehen"
im Sinne eines rekonstruktiven systematischen Hervorbringens von Wissen über einen
Gegenstandsbereich, der noch unbekannt ist. Im Vollzug dieser Wissensgewinnung geht es
zudem um die Verhinderung von Bevormundung und Herrschaftswissen, durch die die
Adressaten automatisch zu Objekten gemacht- und ihre Lebenswelt als abweichend degradiert
werden (vgl. Kunstreich, 2003 I, 7; auch: Dewe, 1993, 37 f).
Als Kriterien für den hier theoretisch zu reflektierenden Gebrauchswert sollen die
Anschlußfähigkeit der Methode an diese Alltagspraxis Sozialer Arbeit gelten sowie die durch
dies Verfahren ermöglichte Perspektive auf "den Fall". Wissenschaftliche Verfahren lassen
sich grundsätzlich als Präzisierungen und Verfeinerungen von alltäglichen Handlungspraxen
verstehen. Die Basis aller Forschung bieten Alltagsmethoden. Aus ihnen entwickeln sich
durch zunehmende Abstraktion zunächst die qualitativen und dann die quantitativen
6
vgl. zur Debatte um Diagnostik: Widersprüche, Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs- Gesundheitsund Sozialbereich, Heft 88, 2003; Sorg, R. (Hg.): Soziale Arbeit zwischen Politik und Wissenschaft,
Münster/Hamburg/London, 2003
Methoden (vgl. Moser, 1995, 100; Lamnek 1993, 319). Entsprechend haben solche
Forschungsmethoden in der Sozialen Arbeit einen hohen Wert, die sich als Präzisierung und
Verfeinerung der hier stattfindenden Praxis ausweisen lassen, in diesem Sinn also "passend"
sind. Hinzu kommt, dass Forschungsinstrumente nicht wertfrei sind, vielmehr bestimmte
Perspektiven auf ihre Gegenstände eröffnen oder verschließen können, was ebenfalls von
Bedeutung ist, wenn man die Tauglichkeit eines Forschungsinstrumentes für die Praxis
Sozialer Arbeit beurteilen will.
Entlang der beschriebenen 4 Regeln des qualitativ heuristischen Forschungsprozesses soll nun
unter diesen Gesichtspunkten die Güte des beschriebenen Forschungsansatzes erörtert
werden.
Die erste Regel über die Grundhaltung des Subjektes, also der Forscherin bzw. des Forscher
lautet, dass das Vorverständnis über den Untersuchungsgegenstand als vorläufig angesehen
und mit neuen, nicht kongruenten Informationen überwunden werden soll. Von der
handelnden Fachkraft würde also erwartet, dass sie sich vor ihrem Versuch, "den Fall" (oder
die "Lebenswelt") zu verstehen und systematisch zu rekonstruieren, "offen" zeigt für
mögliche Veränderung ihres Vorverständnisses. Ihr Handeln soll nicht darauf zielen,
vorhandene Hypothesen zu prüfen, sondern darauf, zum Wissen über "den Fall" erst noch zu
gelangen und dabei ihr Vorwissen zu überwinden.
Die zweite Regel über das Objekt, also den Forschungsgegenstand, lautet, dass dieser
Gegenstand als vorläufig betrachtet wird und erst nach erfolgreichem Abschluss des
Findungsprozesses als bekannt gilt. Von der handelnden Fachkraft würde also erwartet, dass
sie in der Lage ist, der Erkenntnisveränderung hinsichtlich ihres Falles, die durch den
Erkenntnisgewinnungsprozess eintritt, zu folgen, weil dies wegführt vom Vor-Verständnis,
das zur Erkenntnis nicht ausreichend war.
Beiden Forderungen, so meine These, wird von Fachkräften Sozialer Arbeit, gerade in Phasen
der ersten Kontakte mit AdressatInnen und dem hier charakteristischen Bemühen um ein
Verständnis "des Falles", bereits im Grundsatz entsprochen. Die bewußte Vorläufigkeit des
eigenen ersten Verständnisses, die Aufnahme neuer Informationen zu dessen Überwindung
und die Erkenntnisgewinnung als Endergebnis eines systematischen Erkenntnisprozesses ist
den Prinzipien sozialpädagogischer Fallarbeit, hier vonstatten gehenden professionellen
Diagnosen bzw. Dialogen vertraut und kulturnah. Gleichwohl stellt der qualitativ heuristische
Ansatz eine methodische Verfeinerung dar und verlangt Exaktheit in den geforderten
Haltungen der Erkenntnisgewinnung, was im folgenden noch deutlicher werden soll.
Die dritte Regel über das Handeln des Forschenden lautet, dass der Gegenstand von möglichst
vielen Seiten forschend angegangen werden soll, also eine maximale Variation der
Erkenntnisperspektiven eingenommen werden muß. Von der handelnden Fachkraft würde
somit erwartet, dass sie möglichst variantenreich Daten über den sie interessierenden
Gegenstand erhebt. Variationsvielfalt wird klassischerweise durch verschiedene
Erhebungsinstrumente hergestellt (Befragung, Beobachtung, Experiment...) wie auch durch
die Vielschichtigkeit des einzelnen Instrumentes (z.B. unterschiedliche Arten von Fragen im
Fragebogen).
Die vierte Regel über das Bewerten der erhobenen Daten lautet, dass die Daten nun auf
strukturelle Gemeinsamkeiten hin analysiert werden müssen, denn die Ermittlung von
Beziehungen und Relationen führt zur Struktur des Gegenstandes, der untersucht wird. Von
der handelnden Fachkraft würde somit erwartet, dass sie die erhobenen Daten nach einem
speziellen Verfahren gruppiert, anordnet, abstrahiert, um über das einzelne Datum
hinausgehend die Struktur des Gegenstandes nach und nach rekonstruieren zu können.
Sowohl die Forderung einer Datenerhebung als auch deren systematische Auswertung kann
grundsätzlich an die Alltagssituation der um Fallklärung bemühten Fachkraft anschließen,
denn im Gespräch stattfindende Informationsaufnahme als auch deren Einordnung in ein
"Bild vom Fall" sind übliche Praxis als Basis von sozialarbeiterischem Verstehen, Klären,
Beraten und Behandeln. Die qualitativ heuristische Methode leistet jedoch einen Input, der als
Verfeinerung alltäglicher Praxis der Fallarbeit, sei sie diagnostisch oder dialogisch,
anwendbar ist. Sie bietet ein Verfahren an, um einen Erkenntnisprozess, bezogen auf die
AdressatInnen der Hilfe, in Gang zu setzen, und Unbekanntes als Ergebnis von Erforschung
entdecken zu können. Von der Wahl der Datenerhebungsform und der Datenauswertung
hängt nun ab, ob die um Erkenntnis ringende sozialarbeiterische Fachkraft die Rolle einer
diagnostizierenden ForscherIn einnimmt oder aber die Methode in einen dialogischen
Beratungs- und Behandlungs- und Betreuungsprozess integriert. Beides ist möglich.
1.) In relativer Nähe zum oben beschriebenen Forschungsverfahren ist eine Anwendung für
den Vorgang der professionellen Diagnostik und stellvertretenden Deutung möglich. Im
Einzel- oder Gruppengespräch mit den AdressatInnen der Hilfe würden Daten erhoben und
diese dann - in einem separaten Analysevorgang in Abwesenheit der betreffenden Personen ausgewertet. Die rekonstrukiv tätige Fachkraft nimmt in diesem Vorgang die Rolle des/der
diagnostizierenden ExpertIn ein. Wenn aber diagnostisches Wissen als "Konstruktionen von
erkennenden Menschen" verstanden wird, nicht als Faktum, sondern als "Ideen über Fakten",
ist es möglich, dieses Wissen im Dialog mit dem Wissen der KlientInnen zu verbinden, als
"Angebot des methodisch arbeitenden Assistenten" erfahrbar werden zu lassen und die
vermeintliche ExpertInnenposition zu relativieren (vgl. Staub-Bernasconi, 2003 I, 35).
Um bei der Datenerhebung der Forderung nach maximaler Variation der Perspektiven zu
entsprechen, könnte dies technisch bedeuten, die Methoden zu variieren, also neben
Gesprächsprotokollen auf der Basis von Leitfragen z.B. auch Beobachtungsprotokolle zu
erstellen, schriftlich Antworten auf offene Fragen zu nutzen oder rezeptive Interviews zu
führen7. Für die einzelne Methode, wie z.B. das Gespräch, könnte dies bedeuten, mit Hilfe
ausgearbeiteter Leitfragen die Perspektivenerweiterung anzustreben, indem diese im Hinblick
auf den Abstraktionsgrad, die sozialen Ebenen und die angesprochenen Bewußtseinsformen
variiert werden (vgl. hierzu z.B. Kleining, 1994, 56 f; vgl. Nauerth, 2003 I, 72).
Anwendungserfahrungen des Autors legen allerdings nahe, dass mit Hilfe eines adäquat
ausgearbeiteten Leitfragebogens eine Perspektivenvarianz erreichbar ist, die den hier
reflektierten Zwecken vollständig dient, also auf weitergehende Methodenvarianz ggf.
verzichtet werden kann.
2.) Durch eine Abweichung vom qualitativ heuristischen Forschungssetting, aber unter
Einhaltung der zentralen Forschungsregeln bietet die Methode aber auch eine
handlungstheoretische Grundlage für eine dialogische Rekonstruktionsarbeit, die eine
monologische und diagnostizierende Vorgehensweise vermeidet. Die Abweichung besteht
darin, dass Datenerhebung und Auswertung zeitgleich unter Einbeziehung der AdressatInnen
der Hilfe stattfinden. Das heißt, die um Verstehen bemühte Fachkraft wird nun, im Sinne der
Methode, in einen erkenntnisstiftenden Dialog mit den AdressatInnen der Hilfe treten, statt
mit dem durch Befragung und Beobachtung zuvor gewonnenen Datenmaterial! Sie wird
direkt, innerhalb der Gesprächssituation, unter Einhaltung der Regeln das
Strukturgemeinsame rekonstruieren, das "Ganze" aus den Teilen zusammensetzen und die
7
Rezeptive Interviews sind die "Aufnahme einseitiger, alltäglicher Mitteilungen nach wissenschaftlichen Regeln
zur Exploration von Sachverhalten" (Kleining, 1994, 123). Die InterviewerInnen treten hier nicht als
FragenstellerInnen, sondern als ZuhörerInnen in alltäglichen Situationen auf und erfassen an ihn/sie gerichtete
Informationen. Diese sind also weitestmöglich befragtenzentriert und der Lebenswelt der InformantInnen
entnommen.
Teile damit im Lichte des Ganzen neu zu erkennen suchen. Hierbei sind der Einsatz
visualisierender Techniken von hoher Bedeutung, wie z.B. Flip-Chart, zu beschriftende
Kärtchen ...
In beiden Fällen wäre das Erkenntnisprinzip der um "Verstehen" bemühten Fachkraft Sozialer
Arbeit ein heuristisches. Eine solche Vorgehensweise kann entwickelt- und muß geübt
werden.8 Sie stellt, richtig angewandt, eine Verfeinerung oft praktizierter, intuitiver
Verstehensvorgänge in Beratungsgesprächen dar, wird hier aber methodisch reflektierbar und
in seinen Ergebnissen systematisch überprüfbar.
4. Resümee
Soziale Arbeit benötigt die Kompetenz des Fallverstehens auf der Basis von wissenschaftlich
fundierten Verfahren. Hingewiesen werden sollte mit diesem Text darauf, dass die qualitativ
heuristische Forschungsmethode sich für dieses "Bemühen um Verstehen" anwenden läßt, da
sie einerseits an die Alltagspraxis Sozialer Arbeit anschlussfähig ist. Zudem eröffnet sie einen
Blickwinkel, aus dem die Eigensinnigkeit subjektiver Äußerungen der AdressatInnen
wahrgenommen werden kann und sich darüber ein verstehender Zugang zu ihren
differenzierten Lebensumständen aufzeigt (vgl. Schmidt-Grunert, 1999, 6): Die AdressatInnen
der Hilfe werden hier in der Rolle der ExpertenInnen für den Untersuchungsgegenstand in den
Erkenntnisprozess einbezogen. Der Untersuchungsgegenstand selbst gilt als unbekannt und
die bisherige Meinung über ihn als vorläufiges Vorverständnis. Die Analyse der empfangenen
Informationen erfolgt in einem systematischen Rekonstruktionsverfahren.
Das Verfahren ist in der unmittelbaren Beratungsarbeit anwendbar und kann die dortigen
Praxen "verfeinern". Für einen heuristischen Beratungsdialog bietet sie zudem eine
handlungstheoretische Fundierung.
8
siehe hierzu das "Lehrbuch entdeckende Sozialforschung" Bd. I, Von der Hermeneutik zur qualitativen
Heuristik von Gerhard Kleining, erschienen 1995 in Weinheim; ebenso www.heureka-hamburg.de, sowie
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