Aspekte psychiatrischer und psychotherapeutischer

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Aspekte psychiatrischer und psychotherapeutischer
Behandlung von Menschen mit schwerer geistiger oder
mehrfacher Behinderung
Fachtagung „ Menschen mit Intelligenzminderung und psychischen
Erkrankungen “
Freiburg, 21. März 2009
P. Martin
Séguin-Klinik
für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung
Epilepsiezentrum Kork
Häufigkeit von geistiger Behinderung
industrialisierte Länder:
1 – 2,5 (3) %
bis zu 5-fach höhere Prävalenzraten in nicht industrialisierten
Ländern
Australian`s Health 2004, AIHW. Gillberg C, Soderstrom H 2003, Lancet; 362: 811-821. Munro JD 1986, Psychiatr Clin
North Am; 9: 91-624. WHO 1986
Häufigkeit der schwereren (mittelschwer bis schwerst)
geistigen Behinderung
industrialisierte Länder:
0.1 – 0.3 %
• Prävalenzraten (in westlichen Ländern) sehr konstant in
unterschiedlichen Studien
• Männer überwiegen leicht
Roeleveld N 1997, Dev Med CHild Neurol; 39: 125-132
Einteilung der Intelligenzminderungen
• leicht:
IQ 50 – 70
viele Erwachsene können arbeiten und soziale Kontakte Pflegen
• mittelschwer:
IQ 36 – 49
Erwachsene benötigen Unterstützung bei der Arbeit und im Alltag
• schwer:
IQ 20 – 35
dauernde Unterstützung ist notwendig
meist nur minimaler Sprachgebrauch möglich
• schwerst:
IQ < 20
eigene Versorgung, Sinnesfunktionen, Beweglichkeit und
Kontinenz meist hochgradig beeinträchtigt
keine Sprachentwicklung / sehr geringes Sprachverständnis
Entwicklung der Lebenserwartung – Menschen mit
geistiger Behinderung
Abhängigkeit der Lebenserwartung von der Schwere der geistigen
Behinderung:
(8724 Personen im Jahr 2000; Australien)
• mittlere Lebenserwartung:
– leichte geistige Behinderung:
74.0 J
– mittelschwere geistige Behinderung:
67.6 J
– schwere/schwerste geistige Behinderung:
58.6 J
Bittles AH et al.. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2002; 57:470-472
Entwicklung der Lebenserwartung – Menschen mit geistiger Behinderung
mit Trisomie 21 assoziierte Sterblichkeit (USA, Australien)
• Anfang des 20. Jahrhunderts:
• 1983:
• 1997:
mittleres Sterbealter: 9 J
mittleres Sterbealter: 25 J
mittleres Sterbealter: 49 J
• seit 2000 – Lebenserwartung
– Männer mit Down Syndrom: 61.1 J
– Frauen mit Down Syndrom: 57.8 J
• => Anstieg der Lebenserwartung um 1.7 Jahre pro Jahr
• hauptsächlich infolge einer besseren medizinischen Versorgung
Yang Q et al.. Lancet 2002; 359:1019-1025. Duy SM et al.. Dev Med Child Neurol 2005: 47:171-176
Bittles AH et al (2007) Eur J Public Health; 17: 221-225. Glasson EJ et al (2003) Am J Hum Biol; 15:192-195.
Penrose LS (1949) J Ment Sci; 95: 685-688
Medizin für Menschen mit schwerer geistiger
Behinderung
• besondere Anfälligkeit für Erkrankungen
– auf die früh entstandene Gehirnschädigung zurückgehend
– mit einem bestimmten genetischen Syndrom verbunden
– ohne klare Beziehung zur Gehirnschädigung
• besonders häufig Mehrfacherkrankungen
• besondere Ausprägung / Symptomatik der Erkrankungen
• besondere Wege der Diagnostik
• besondere Erkrankungsverläufe
Psychische Störungen und geistige Behinderung Diagnostik
Faktoren, die die Anwendbarkeit üblicher psychiatrischer
Diagnosefindung bei Menschen mit geistiger Behinderung
begrenzen:
• eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit
• konkretes Denken
• fehlende soziale Fertigkeiten in der Interview-Situation
• akzentuierte, nicht pathologische Verhaltensmerkmale, die
psychopathologische Symptome überschatten
• „untypische“ Symptome; gleiche Symptome bei unterschiedlichen
Erkrankungen
Sovner R 1996, Semin Clin Neuropsychiatry; : 90-93. Sovner R 1986, Psychopharmacol Bull; 2: 1055-1059. Martin P,
Guth C 2005, Geistige Beh; 44:4-11
Auffälliges Verhalten bei schwerer geistiger
Behinderung
Dimensionen auffälligen Verhaltens, die häufig bei schwerer
geistiger Behinderung gefunden werden
• aggressives (und antisoziales) Verhalten; häufig verbunden mit
Selbstverletzungen
• stereotypes Verhalten
• Hyperaktivität
• repetitive Verbalisierung
• Einnässen und Einkoten (trotz ungestörter Sphinkterfunktionen)
• Essstörungen
Steinhausen HC 2001, Eine behinderte Medizin!? Kongress der Bundesvereinigung Lebenshilfe 8.-10.2.2001, Kassel.
Einfeld SL, Aman M 1995, J Autism Dev Disord; 25: 143-167
Psychische Störungen und geistige Behinderung - Diagnostik
psychiatrische Klassifikationssysteme und Untersuchunginstrumente,
speziell für Personen mit geistiger Behinderung z.B.:
•
Diagnostic Criteria for Psychiatric Disorders for the Use with Learning
Disabilities / Mental Retardation (DC-LD)
•
Diagnostic Manual – Intellectual Disability (DM-ID)
•
Aberrant Behavior Checklist (ABC)
•
Diagnostic Assessment for the Severely Handicapped (DASH II)
•
Psychiatric Assessment Schedule for Adults with Developmental Disabilities
(PAS- ADD; Checklist, Mini-PAS-ADD Interview, PAS-AD Interview) – nicht für schwere
Formen der geistigen Behinderung
Psychische Störungen und geistige Behinderung - Diagnostik
Häufigkeit von psychischen Störungen bei Menschen mit schwerer
geistiger Behinderung:
• Studie von Cooper und Mitarbeitern (2007)
• N = 1023
–
–
–
–
184
193
247
399
schwerst geistig behindert
schwer geistig behindert
mittelschwer geistig behindert
leicht geistig behindert
• Ergebnis:
– psychische Störungen insgesamt:
40.9%
– Gruppe mit der größten Häufigkeit von psychischen Störungen:
Frauen mit mittelschwerer bis schwerster geistiger Behinderung
48.7%
Cooper SA et al 2007, Br J Psychiatry; 190: 27-35
Psychische Störungen und geistige Behinderung –
Besonderheiten
notwendig für eine zielführende Diagnostik und Therapie sind:
• spezielle Kenntnisse der Besonderheiten in der Kommunikation
• spezielle Kenntnisse der Symptome
• spezielle Kenntnisse der Komorbidität
• spezielle Untersuchungsmethoden/-instrumente (z.B. Demenz bei
geistiger Behinderung)
• spezielle Untersuchungsbedingungen
• spezielle therapeutische Ansätze (auch Besonderheiten der
Pharmakotherapie)
Kommunikation
„Schwierigkeiten in der Kommunikation mit geistig behinderten
Patienten stellen eine der wichtigsten Hürden auf dem Weg zu einer
qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung dar.“
Lennox N, Diggens J, Ugoni A, J Intellect Diabil Res 1997; 6: 242-249
Kommunikation
Was machen Ärzte falsch, wenn sie sich mit geistig behinderten
Patienten unterhalten? – Kritik der Patienten
• sie schreien
• sie reden über die Betroffene (hinweg), so, als ob sie gar nicht da wäre
• sie erklären nicht, was passiert
• sie behandeln die Patientin, als ob sie blöd wäre
• sie hören gar nicht zu, wenn der Patient etwas sagen möchte
• sie tun so, als ob sie verstehen würden, obwohl sie offensichtlich gar
nichts von dem verstehen, was der Patient sagt
• sie geben der Patientin nicht genug Zeit, um sich auszudrücken
M. Barbridge. In: Lennox N, Diggens J (eds). Management Guidelines – People with Developmental and Intellectual Disabilities
1999
Kommunikation
Meist werden die Fähigkeiten der Patienten, das was zu ihnen
gesprochen wird zu verstehen, erheblich unterschätzt!
Geistige Behinderung und Komorbidität - Neurologie
neurologische Störungen bei geistiger Behinderung (IQ < 50):
• schwere Cerebralparesen:
63%
• erhebliche Sehstörungen:
36%
• erhebliche Hörstörungen:
22%
• schwere Sprachstörungen:
17%
• Epilepsien:
30 - 40%
Corbett JA 1990, Epilepsy and mental retardation. In: Dam M, Gram L (eds): Comprehensive Epileptology: pp271-280
Epilepsien und Intelligenzminderung
• Häufigkeiten – Unterschiede nach der Ausprägung der
Intelligenzminderung:
– IQ 50 – 70 :
3 – 20 %
Epilepsien
– IQ 20 - 49 :
32 – 44 %
Epilepsien
– IQ
50 %
Epilepsien
< 20 :
Lhatoo SD, Sander JWAS 2001, Epilepsia; 42 (suppl1): 6-9. Corbett JA 1990, Epilepsy and mental retardation. In: Dam M,
Gram L (eds): Comprehensive Epileptology: pp271-280
Besonderheiten in der Ausprägung epileptischer Syndrome
• epileptische Anfälle sind häufig schwer gegenüber nicht
epileptischem Verhalten zu differenzieren
• z.B. beim Rett-Syndrom:
Differenzierung gegenüber (Rett-Syndrom typischen)
Verhaltensauffälligkeiten
Martin P 2008. In: Kerr M,
Rett-Syndrom
klinische Symptomatik
•
normale Entwicklung in den ersten 6 bis 18 Lebensmonaten
•
Regression im Alter zwischen ½ und 2 ½ Jahren
– Verlust erworbener Fingerfeinmotorik
– Handstereotypien (Waschbewegungen)
– Verlust bereits erworbener sprachlicher Fähigkeiten
– Autismus typische Symptome
– abnehmendes Kopfwachstum
– progrediente motorische Störungen (Rigor, Spastik > Skoliosen)
Hagberg B et al 2002, Eur J Paed Neurol; 6: 293-297
Rett-Syndrom
• Inzidenz:
Inzidenz 1 : 10 000 – 15 000 Frauen
• nach der Trisomie 21 die zweit häufigste genetische Ursache von
schwerer geistiger Behinderung bei Frauen
• unterschiedliche Genetische Ursachen:
– MECP2-Gen Mutation (X-Chromosom) in 80 – 90% der Fälle
– CDKL5- (X-Chromosom) und FOXG1- (Chromosom 14) Mutation
Hagberg B und Hagberg G 1997, Eur Child Adolesc Psychiatr; 6: 12-13. Ariani F et al 2008, Am J Hum Genet; 83: 8993. Weaving LS et al 2005, J Med Genet; 42: 1-7. Charman T et al 2005, Eur J Hum Genet; 13: 1121-1130.
Laccone F et al 2004, Hum Mut; 23: 234-244
Ariani F et al 2008, Am J Hum Genet; 83: 89-93
Rett – Syndrom
Rett – Syndrom: Epilepsie
• Häufigkeit von epileptischen Anfällen:
50 – 90 % der Patienten
Witt Engerström I 1992, Brain Dev; 14 Suppl: S11-S20
• Video-EEG-Analyse:
– 82% berichteter „Anfälle“ sind nicht epileptisch – i.R. von
Verhaltensstörungen
– 12% tatsächlicher epileptischer Anfälle werden nicht erkannt
Glaze DG, Schultz RJ, Frost JD 1998, Electroencephalogr Clin Neurophysiol; 1006: 79-83
Autismus und geistige Behinderung
Autismus und geistige Behinderung
diagnostische Kriterien des frühkindlichen Autismus
• soziale Defizite
– v.a. Ausbildung reziproker Beziehungen
• Kommunikation / kommunikatives Verhalten
• eingeengte repetitive Interessen und Verhaltensweisen
(Stereotypien)
• Manifestation vor dem 3. Lebensjahr
(ICD 10; DSM IV)
Autismus und geistige Behinderung
Häufigkeitsangaben in neueren Studien:
• Autismus:
ca. 20 pro 10 000
• autistisches Spektrum:
ca. 45 pro 10 000
• Überwiegen des männlichen Geschlechtes
m : f = 3 (-5) : 1
• vermutlich wird bei Personen mit schwerer geistiger
Behinderung die Diagnose eines Autismus zu selten gestellt
Fombonne E. JAMA 2003; 289:87-89. Yeargin-Allsopp M. JAMA 2003; 289: 49-55
Chakrabarti S, Frombonne E, 2001; Braid G et al., 2000; Arvidsson T et al., 1997; Rapin I, 1996
Autismus und geistige Behinderung
häufige neuropsychiatrische Komorbidität des Autismus
• Depression
• Angststörungen
• Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis
• ADHS, Tic-Störungen
• Epilepsien
Ghaziuddin M 2005, Mental health aspects of autism and Asperger syndrome,J Kingsley Publishers, London,
Philadelphia
Autismus und geistige Behinderung
• IQ unter 70 in ca. 70% der Menschen mit Autismus
• Epilepsiehäufigkeit bei Autismus: 5 – 40%
• Häufigkeit der Epilepsie korreliert invers mit dem
Intelligenzniveau von autistischen Menschen
Rutter M, 1970; Bartak I, Rutter M, 1976; Gillberg C, Coleman M, 2000; Tuchman R, Rapin I, 2002; Steffenburg
S et al., 2003
Autismus: Ursachen
• 4 Zwillingsstudien, in denen die Konkordanzrate
für Autismus untersucht wurde:
• monozygote Zwillinge:
• dizygote Zwillinge:
60% / 92% breiter Phänotyp
0% / 10% breiter Phänotyp
(Wiederholungsrisiko für Geschwister: 2 – 8%)
psychische Störung mit der stärksten genetischen
Komponente
• bisher sind die Autismus verursachenden Gene nicht bekannt
Folstein S, Rutter M. J Child Psychol Psychiatry 1977; 18:297-321. Ritvo ER et al..Am J Psychiatry 1985; 142: 74-77.
Steffenburg S et al.. J Child Psychol Psychiatry 1989; 30:405-416. Bailey A et al.. LeCouteur A et al.. J Child Psychol
Psychiatry 1996; 37:785-801
Psychol Med 1995; 25:63-77
Autismus: Ursachen
diagnostizierbare genetische Syndrome und ätiologische
Faktoren - autistisches Spektrum (z.B.):
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
–
Tuberöse Sklerose Komplex
Hypomelanosis Ito
Fragiles X-Syndrom
partielle Tetrasomie 15
Angelman – Syndrom
Rett – Syndrom
interauterine Röteln – Infektion
Herpes simplex – Enzephalitis
intrauterine Valproat – Exposition
intrauterine Thalidomid – Exposition
intrauterine Alkohol – Exposition
neurometabolische Erkrankungen (z.B. GAMT-Defekt)
angeborene-, früh erworbene Sehstörungen
Muhle R, Trentacoste SV, Rapin I , Pediatrics 2004; 113: e472-e486
<10%
Tuberöse Sklerose Komplex (TSC)
Tuberöse Sklerose Komplex (TSC)
•
autosomal dominant vererblich
•
Gesamtprävalenz :
•
dem TSC liegt eine Störung der zellulären Proliferation, Differenzierung und
Migration zugrunde
•
Genetik:
– TSC 1 (9q34)
– TSC 2 (16p13.3)
ca. 1: 30 000
> Hamartin
> Tuberin
• synergistische Wirkung von Tuberin und Hamartin auf zellulärer Ebene
• >Erkrankung einer gestörten Funktion von Tumor Suppressor-Genen
•
am häufigsten befallene Organe: Gehirn, Haut, Nieren, Herz
Shepherd CW, in: Gómez MR, Sampson JR, Whittemore VH (Eds),Tuberous Sclerosis Complex 1999. pp 24-28
Osborne JP, Fryer A, Webb D, Ann NY Acad Sci 1991; 615: 125-127.
Northrup H; Au K-S, in: Gómez MR, Sampson JR, Whittemore VH (Eds),Tuberous Sclerosis Complex 1999. pp 263-274
Kwiatkowski DJ, in: Gómez MR, Sampson JR, Whittemore VH (Eds),Tuberous Sclerosis Complex 1999. pp 275-287
Tuberöse Sklerose Komplex (TSC)
• Intelligenzminderung:
50-60% der TSC-Fälle
• Epilepsie:
84% der TSC-Fälle
(nahezu 100%, wenn eine Intelligenzminderung vorhanden ist)
• Autismus (autistic spectrum disorders = ASD):
40-50% der TSC-Fälle
– TSC + Intelligenzminderung: 76% Autismus
– TSC - Intelligenzminderung: 24% Autismus
•
Häufigkeit des TSC bei ASD: 1-5%
•
14 % der Menschen mit ASD und Epilepsie sind von einem TSC betroffen
Asato MR, Hardan MD, J Child Neurol 2004; 19: 241-249. Smalley SL et al, J Autism Dev Disord 1992; 22: 239-255. Hunt A, J Intell Disab Res 1993;
37: 41-51
Tuberöse Sklerose Komplex (TSC)
Tuberöse Sklerose Komplex (TSC)
subependymäres Riesenzellastrozytom
Selbstaggressives Verhalten
Selbstaggressives Verhalten
Häufigkeit bei geistiger oder mehrfacher Behinderung
• bei 8-15% der geistig behinderten Bewohnern von
Spezialeinrichtungen
• bei 39% der Patienten mit geistiger Behinderung, Cerebralparese
und Epilepsie
Steffenburg S1996, Arch Neurol; 53: 904-912Kebbon L, Widahl SI 1986, Science and Service in Mental Retardation; pp
142-148.
Selbstaggressives Verhalten
• häufig schwerer und chronischer Verlauf
• psychosoziale Mechanismen bzw. Umgebungsfaktoren oft schwer
zu identifizieren
• medikamentös oft schwer zu behandeln
Murphy G et al 1993, Research to Practice? Implications of Research on Challenging Behaviour of People with
Learning Disability; pp 1-35.Schroeder et al 1986, Advances in Learning and Behavioural Disabilities; 5:
Fallbeispiel Patient T.B., geb. 1973
Krankheitsentwicklung:
• perinatale intrazerebrale Blutung (Shunt-versorgter Hydrocephalus)
• schwere geistiger Behinderung, tetraspastische Cerebralparese,
Epilepsie
• ausgeprägte psychomotorische Unruhe mit ca. 18 Jahren
• schwerstes selbstaggressives Verhalten (Bissverletzungen der
Hände) nach Wechsel in ein Wohnheim mit 23 Jahren
Martin P, Guth C 2005, Psychiatric Bulletin; 29: 108-110
Fallbeispiel Patient T.B., geb. 1973
Krankheitsentwicklung:
• kein Effekt von systematischen pädagogischen Interventionen
• unverändert nach Umzug zurück zu den Eltern
• unverändert unter Neuroleptica (Pipamperon, Levomepromazin)
• unabhängig von der Anfallfrequenz und der antikonvulsiven
Therapie
• unabhängig von der Shunt-Funktion
Martin P, Guth C 2005, Psychiatric Bulletin; 29: 108-110
Fallbeispiel Patient T.B., geb. 1973
Krankheitsentwicklung:
• 2004 völliges und anhaltendes Sistieren des Problemverhaltens unter
Citalopram (20mg p.d.)
• Wiederauftreten der Symptomatik nach Absetzen von Citalopram
(wurde während des stationären Aufenthaltes zur Shuntrevision versehentlich
weggelassen)
• erneuter anhaltender therapeutischer Effekt nachdem Citalopram vom
Patienten wieder eingenommen worden war
Martin P, Guth C 2005, Psychiatric Bulletin; 29: 108-110
Selbstaggressives Verhalten
Nosologie des selbstaggressiven Verhaltens (SAV)
• impulsives SAV
• zwanghaftes SAV
• kontradissoziatives SAV
• automatistisches, stereotypes SAV
• Schmerz induziertes SAV
• psychotisches SAV
• emblematisches SAV
• parasuizidales SAV
Villalba R, Harrington C 2003, Semin Clin Neuropsychiatry; 5: 215-226
Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung
• häufige Ursachen/Lokalisationen von akuten oder chronischen
Schmerzen bei Menschen mit Entwicklungsstörungen/geistiger
Behinderung
– Schmerzen bei Entzündungen der Ohren und im Nasen-Rachen Raum –
besonders häufig bei z.B.:
• Down Syndrom (Trisomie 21)
• Cornelia De Lange Syndrom
– Zahn- und Kieferschmerzen
– Bauchschmerzen bei chronischer Obstipation
– Schmerzen bei gastro-oesophagealem Reflux
– Schmerzen des Bewegungsapparates – z.B. im Rahmen von
Cerebralparesen
– Schmerzen durch Skoliose besonders häufig bei:
• Cerebralparesen
• bestimmten Syndromen – z.B. Rett-Syndrom
Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung
• auch an seltenere Ursachen von Schmerzen in speziellen Situationen ist
zu denken, z.B.:
– Schmerzen durch Schrumpfung (Druckminderung) des Augapfels bei
früh erworbenen Augenerkrankungen (Phtisis bulbi)
– abdominale Schmerzen durch Zystenbildung am Kathederende bei
ventrikulo-peritonealem Shunt
– abdominale Schmerzen durch verschluckte Gummihandschuhe
(Salzsäure des Magens reagiert mit Weichmacher) – mit der Folge
eines Ileus
Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung
häufig ist eine sehr aufwendige Diagnostik notwendig, um Klarheit darüber
zu erhalten, ob selbstverletzendes Verhalten von Patienten mit schwerer
geistiger Behinderung durch Schmerzen verursacht ist
Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung
Möglichkeiten der Schmerzerfassung bei Menschen mit
Entwicklungsstörungen
• Verhaltensbeobachtung in Kenntnis des „normalen“ Verhaltens des
Patienten (unter Einbeziehung von Personen, die die/den Betroffene(n)
sehr gut kennen)
• gezielte klinische Untersuchung (standardisierte Instrumente)
• Screening-Untersuchung mit der Infrarot-Kamera
• Screening-Untersuchung mit der Ganzkörper-Szintigrafie
• Behandlungsversuch mit Analgetica (z.B. Ketamin oder Morphin titriert)
• gezielte Untersuchung (Röntgen-Nativ, CT, MRI) „verdächtiger“
Körperregionen
Selbstaggressives Verhalten
häufigste Lokalisation von impulsivem und stereotypen
selbstaggressivem Verhalten bei Personen mit geistiger
Behinderung:
• Kopf
– Schlagen auf den Kopf
– Kopf anschlagen
• Hände
– Beißen in den Handrücken
Breau LM et al 2003, J Pediatr; 142: 498-503. Symons FJ, Thompson T 1997, J Intellect Dis Res; 41: 456-468
Selbstaggressives Verhalten
mit stereotypem selbstaggressivem Verhalten verbundenes
Problemverhalten bei Personen mit schwerer geistiger
Behinderung:
• Fremdaggressionen
• Aggressionen gegen Sachen
• Stereotypien
• unangemessenes Sexualverhalten
Matson JL 2008, Res Dev Disabil; 24:141-148
Selbstaggressives Verhalten
selbstverletzendes Verhalten bei genetischen Syndromen
• Lesch-Nyhan-Syndrom (X-Chromosom; Purinstoffwechsel)
• Smith-Magenis-Syndrom (Chromosom 17)
• Prader-Willi-Syndrom (Chromosom 15)
• Fragiles X-Syndrom (X-Chromosom)
• Cri du chat-Syndrom (Chromosom 5)
Elsea SH, Girirajan S 2008, Eur J Hum Genet; 16: 412-421. Symons FJ et al 2003, Am J Med Genet; 118A: 115121. Dykens EM et al 2000 Genetics and Mental Retardation Syndromes.
Selbstaggressives Verhalten
nach eingehender Verhaltensanalyse – z.B.:
– Selbststimulation ?
– Vermeidung aversiver Stimuli (Veränderungen in der Routine,
Anforderungen)?
Subtilste Veränderungen im alltäglichen Umfeld können zu
stärksten Verhaltensänderungen führen!
– erlerntes Verhalten?
Selbstaggressives Verhalten
Systematische Verhaltensanalyse
• SORK (SORCK)
– Stimulus
• intern, extern
– Organismus
• biologische Einflüsse, psychologische Variablen
– Respondentes Verhalten
• emotional, kognitiv, verhaltensmäßig, physiologisch
– Häufigkeit
– Konsequenz
• positiv/negativ, kurz-/langfristig usw.
Selbstaggressives Verhalten
pädagogische / psychotherapeutische Interventionen
• Dialektisch-behaviorale Therapie (angepasst an die Situation von
Personen mit Intelligenzminderung – leichter Ausprägung)
• Unterstützung positiven Verhaltens
• Wut - Management Training
• bei schwerer Intelligenzminderung:
– Reduktion der Grundanspannung (Umgebungsfaktoren – z.B.
Wohngruppe, Fördergruppe)
– Bewegung
– basale Stimulation
– Aromatherapie
Sturmey P 2004, Clin Psychol Psychother; 11: 222-232. Carr EG et al. 2003, Am J Ment Retard; 108: 32-55. Horner
et al 2002, J autism Dev Disord; 32: 423-446
Selbstaggressives Verhalten
medikamentöse Behandlung von impulsivem selbstaggressiven
Verhalten
• parallel zu pädagogischen / psychotherapeutischen Interventionen
• pharmakologische Therapie:
– selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z.B. Citalopram)
– Neuroleptica (einschl. Clozapin)
– Lithium
– β-Blocker, Clonidin
– Opiat – Antagonisten (Naltrexon)
psychopharmakologische Medikation bei Menschen
mit geistiger Behinderung
allgemeine Grundsätze:
• möglichst klare Indikationsstellung, Begründung für die gewählte
Therapie
• so wenig wie möglich, so viel wie nötig
– > Absetzen von Substanzen, die sich als ungenügend wirksam erwiesen
haben
• auf mögliche Nebenwirkungen (über die die Patienten selbst nicht
berichten können) achten
• auf Interaktionen (z.B. mit Antikonvulsiva) achten
• regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit einer
psychopharmakologischen Therapie
Fazit
die Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen bei
Menschen mit schwerer geistiger Behinderung erfordert:
• Kenntnisse über die besondere Situation und die besonderen
Bedürfnisse dieser Personengruppe und die Fähigkeit, auf diese
einzugehen
• Möglichkeit, Einflussgrößen, die weit über den neuropsychiatrischen
Bereich hinausgehen zu berücksichtigen (v.a. allgemeinmedizinischinternistisch)
• die Bereitschaft, Angehörige und Betreuer der Patienten intensiv mit
einzubeziehen
Fazit
die Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen bei Menschen
mit schwerer geistiger Behinderung erfordert
• Bereitschaft zu einem hohen Maß an interdisziplinärer Zusammenarbeit
• die Bereitschaft, viel Zeit einzusetzen
• die Möglichkeit, dem Mangel (aufgrund der starken Heterogenität dieser
Patientengruppe) an evidenzbasierten Leitlinien (auch persönliche)
Erfahrung entgegenzusetzen
Vielen Dank
für Ihre Aufmerksamkeit !
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