Aspekte psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung von Menschen mit schwerer geistiger oder mehrfacher Behinderung Fachtagung „ Menschen mit Intelligenzminderung und psychischen Erkrankungen “ Freiburg, 21. März 2009 P. Martin Séguin-Klinik für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung Epilepsiezentrum Kork Häufigkeit von geistiger Behinderung industrialisierte Länder: 1 – 2,5 (3) % bis zu 5-fach höhere Prävalenzraten in nicht industrialisierten Ländern Australian`s Health 2004, AIHW. Gillberg C, Soderstrom H 2003, Lancet; 362: 811-821. Munro JD 1986, Psychiatr Clin North Am; 9: 91-624. WHO 1986 Häufigkeit der schwereren (mittelschwer bis schwerst) geistigen Behinderung industrialisierte Länder: 0.1 – 0.3 % • Prävalenzraten (in westlichen Ländern) sehr konstant in unterschiedlichen Studien • Männer überwiegen leicht Roeleveld N 1997, Dev Med CHild Neurol; 39: 125-132 Einteilung der Intelligenzminderungen • leicht: IQ 50 – 70 viele Erwachsene können arbeiten und soziale Kontakte Pflegen • mittelschwer: IQ 36 – 49 Erwachsene benötigen Unterstützung bei der Arbeit und im Alltag • schwer: IQ 20 – 35 dauernde Unterstützung ist notwendig meist nur minimaler Sprachgebrauch möglich • schwerst: IQ < 20 eigene Versorgung, Sinnesfunktionen, Beweglichkeit und Kontinenz meist hochgradig beeinträchtigt keine Sprachentwicklung / sehr geringes Sprachverständnis Entwicklung der Lebenserwartung – Menschen mit geistiger Behinderung Abhängigkeit der Lebenserwartung von der Schwere der geistigen Behinderung: (8724 Personen im Jahr 2000; Australien) • mittlere Lebenserwartung: – leichte geistige Behinderung: 74.0 J – mittelschwere geistige Behinderung: 67.6 J – schwere/schwerste geistige Behinderung: 58.6 J Bittles AH et al.. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2002; 57:470-472 Entwicklung der Lebenserwartung – Menschen mit geistiger Behinderung mit Trisomie 21 assoziierte Sterblichkeit (USA, Australien) • Anfang des 20. Jahrhunderts: • 1983: • 1997: mittleres Sterbealter: 9 J mittleres Sterbealter: 25 J mittleres Sterbealter: 49 J • seit 2000 – Lebenserwartung – Männer mit Down Syndrom: 61.1 J – Frauen mit Down Syndrom: 57.8 J • => Anstieg der Lebenserwartung um 1.7 Jahre pro Jahr • hauptsächlich infolge einer besseren medizinischen Versorgung Yang Q et al.. Lancet 2002; 359:1019-1025. Duy SM et al.. Dev Med Child Neurol 2005: 47:171-176 Bittles AH et al (2007) Eur J Public Health; 17: 221-225. Glasson EJ et al (2003) Am J Hum Biol; 15:192-195. Penrose LS (1949) J Ment Sci; 95: 685-688 Medizin für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung • besondere Anfälligkeit für Erkrankungen – auf die früh entstandene Gehirnschädigung zurückgehend – mit einem bestimmten genetischen Syndrom verbunden – ohne klare Beziehung zur Gehirnschädigung • besonders häufig Mehrfacherkrankungen • besondere Ausprägung / Symptomatik der Erkrankungen • besondere Wege der Diagnostik • besondere Erkrankungsverläufe Psychische Störungen und geistige Behinderung Diagnostik Faktoren, die die Anwendbarkeit üblicher psychiatrischer Diagnosefindung bei Menschen mit geistiger Behinderung begrenzen: • eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit • konkretes Denken • fehlende soziale Fertigkeiten in der Interview-Situation • akzentuierte, nicht pathologische Verhaltensmerkmale, die psychopathologische Symptome überschatten • „untypische“ Symptome; gleiche Symptome bei unterschiedlichen Erkrankungen Sovner R 1996, Semin Clin Neuropsychiatry; : 90-93. Sovner R 1986, Psychopharmacol Bull; 2: 1055-1059. Martin P, Guth C 2005, Geistige Beh; 44:4-11 Auffälliges Verhalten bei schwerer geistiger Behinderung Dimensionen auffälligen Verhaltens, die häufig bei schwerer geistiger Behinderung gefunden werden • aggressives (und antisoziales) Verhalten; häufig verbunden mit Selbstverletzungen • stereotypes Verhalten • Hyperaktivität • repetitive Verbalisierung • Einnässen und Einkoten (trotz ungestörter Sphinkterfunktionen) • Essstörungen Steinhausen HC 2001, Eine behinderte Medizin!? Kongress der Bundesvereinigung Lebenshilfe 8.-10.2.2001, Kassel. Einfeld SL, Aman M 1995, J Autism Dev Disord; 25: 143-167 Psychische Störungen und geistige Behinderung - Diagnostik psychiatrische Klassifikationssysteme und Untersuchunginstrumente, speziell für Personen mit geistiger Behinderung z.B.: • Diagnostic Criteria for Psychiatric Disorders for the Use with Learning Disabilities / Mental Retardation (DC-LD) • Diagnostic Manual – Intellectual Disability (DM-ID) • Aberrant Behavior Checklist (ABC) • Diagnostic Assessment for the Severely Handicapped (DASH II) • Psychiatric Assessment Schedule for Adults with Developmental Disabilities (PAS- ADD; Checklist, Mini-PAS-ADD Interview, PAS-AD Interview) – nicht für schwere Formen der geistigen Behinderung Psychische Störungen und geistige Behinderung - Diagnostik Häufigkeit von psychischen Störungen bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung: • Studie von Cooper und Mitarbeitern (2007) • N = 1023 – – – – 184 193 247 399 schwerst geistig behindert schwer geistig behindert mittelschwer geistig behindert leicht geistig behindert • Ergebnis: – psychische Störungen insgesamt: 40.9% – Gruppe mit der größten Häufigkeit von psychischen Störungen: Frauen mit mittelschwerer bis schwerster geistiger Behinderung 48.7% Cooper SA et al 2007, Br J Psychiatry; 190: 27-35 Psychische Störungen und geistige Behinderung – Besonderheiten notwendig für eine zielführende Diagnostik und Therapie sind: • spezielle Kenntnisse der Besonderheiten in der Kommunikation • spezielle Kenntnisse der Symptome • spezielle Kenntnisse der Komorbidität • spezielle Untersuchungsmethoden/-instrumente (z.B. Demenz bei geistiger Behinderung) • spezielle Untersuchungsbedingungen • spezielle therapeutische Ansätze (auch Besonderheiten der Pharmakotherapie) Kommunikation „Schwierigkeiten in der Kommunikation mit geistig behinderten Patienten stellen eine der wichtigsten Hürden auf dem Weg zu einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung dar.“ Lennox N, Diggens J, Ugoni A, J Intellect Diabil Res 1997; 6: 242-249 Kommunikation Was machen Ärzte falsch, wenn sie sich mit geistig behinderten Patienten unterhalten? – Kritik der Patienten • sie schreien • sie reden über die Betroffene (hinweg), so, als ob sie gar nicht da wäre • sie erklären nicht, was passiert • sie behandeln die Patientin, als ob sie blöd wäre • sie hören gar nicht zu, wenn der Patient etwas sagen möchte • sie tun so, als ob sie verstehen würden, obwohl sie offensichtlich gar nichts von dem verstehen, was der Patient sagt • sie geben der Patientin nicht genug Zeit, um sich auszudrücken M. Barbridge. In: Lennox N, Diggens J (eds). Management Guidelines – People with Developmental and Intellectual Disabilities 1999 Kommunikation Meist werden die Fähigkeiten der Patienten, das was zu ihnen gesprochen wird zu verstehen, erheblich unterschätzt! Geistige Behinderung und Komorbidität - Neurologie neurologische Störungen bei geistiger Behinderung (IQ < 50): • schwere Cerebralparesen: 63% • erhebliche Sehstörungen: 36% • erhebliche Hörstörungen: 22% • schwere Sprachstörungen: 17% • Epilepsien: 30 - 40% Corbett JA 1990, Epilepsy and mental retardation. In: Dam M, Gram L (eds): Comprehensive Epileptology: pp271-280 Epilepsien und Intelligenzminderung • Häufigkeiten – Unterschiede nach der Ausprägung der Intelligenzminderung: – IQ 50 – 70 : 3 – 20 % Epilepsien – IQ 20 - 49 : 32 – 44 % Epilepsien – IQ 50 % Epilepsien < 20 : Lhatoo SD, Sander JWAS 2001, Epilepsia; 42 (suppl1): 6-9. Corbett JA 1990, Epilepsy and mental retardation. In: Dam M, Gram L (eds): Comprehensive Epileptology: pp271-280 Besonderheiten in der Ausprägung epileptischer Syndrome • epileptische Anfälle sind häufig schwer gegenüber nicht epileptischem Verhalten zu differenzieren • z.B. beim Rett-Syndrom: Differenzierung gegenüber (Rett-Syndrom typischen) Verhaltensauffälligkeiten Martin P 2008. In: Kerr M, Rett-Syndrom klinische Symptomatik • normale Entwicklung in den ersten 6 bis 18 Lebensmonaten • Regression im Alter zwischen ½ und 2 ½ Jahren – Verlust erworbener Fingerfeinmotorik – Handstereotypien (Waschbewegungen) – Verlust bereits erworbener sprachlicher Fähigkeiten – Autismus typische Symptome – abnehmendes Kopfwachstum – progrediente motorische Störungen (Rigor, Spastik > Skoliosen) Hagberg B et al 2002, Eur J Paed Neurol; 6: 293-297 Rett-Syndrom • Inzidenz: Inzidenz 1 : 10 000 – 15 000 Frauen • nach der Trisomie 21 die zweit häufigste genetische Ursache von schwerer geistiger Behinderung bei Frauen • unterschiedliche Genetische Ursachen: – MECP2-Gen Mutation (X-Chromosom) in 80 – 90% der Fälle – CDKL5- (X-Chromosom) und FOXG1- (Chromosom 14) Mutation Hagberg B und Hagberg G 1997, Eur Child Adolesc Psychiatr; 6: 12-13. Ariani F et al 2008, Am J Hum Genet; 83: 8993. Weaving LS et al 2005, J Med Genet; 42: 1-7. Charman T et al 2005, Eur J Hum Genet; 13: 1121-1130. Laccone F et al 2004, Hum Mut; 23: 234-244 Ariani F et al 2008, Am J Hum Genet; 83: 89-93 Rett – Syndrom Rett – Syndrom: Epilepsie • Häufigkeit von epileptischen Anfällen: 50 – 90 % der Patienten Witt Engerström I 1992, Brain Dev; 14 Suppl: S11-S20 • Video-EEG-Analyse: – 82% berichteter „Anfälle“ sind nicht epileptisch – i.R. von Verhaltensstörungen – 12% tatsächlicher epileptischer Anfälle werden nicht erkannt Glaze DG, Schultz RJ, Frost JD 1998, Electroencephalogr Clin Neurophysiol; 1006: 79-83 Autismus und geistige Behinderung Autismus und geistige Behinderung diagnostische Kriterien des frühkindlichen Autismus • soziale Defizite – v.a. Ausbildung reziproker Beziehungen • Kommunikation / kommunikatives Verhalten • eingeengte repetitive Interessen und Verhaltensweisen (Stereotypien) • Manifestation vor dem 3. Lebensjahr (ICD 10; DSM IV) Autismus und geistige Behinderung Häufigkeitsangaben in neueren Studien: • Autismus: ca. 20 pro 10 000 • autistisches Spektrum: ca. 45 pro 10 000 • Überwiegen des männlichen Geschlechtes m : f = 3 (-5) : 1 • vermutlich wird bei Personen mit schwerer geistiger Behinderung die Diagnose eines Autismus zu selten gestellt Fombonne E. JAMA 2003; 289:87-89. Yeargin-Allsopp M. JAMA 2003; 289: 49-55 Chakrabarti S, Frombonne E, 2001; Braid G et al., 2000; Arvidsson T et al., 1997; Rapin I, 1996 Autismus und geistige Behinderung häufige neuropsychiatrische Komorbidität des Autismus • Depression • Angststörungen • Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis • ADHS, Tic-Störungen • Epilepsien Ghaziuddin M 2005, Mental health aspects of autism and Asperger syndrome,J Kingsley Publishers, London, Philadelphia Autismus und geistige Behinderung • IQ unter 70 in ca. 70% der Menschen mit Autismus • Epilepsiehäufigkeit bei Autismus: 5 – 40% • Häufigkeit der Epilepsie korreliert invers mit dem Intelligenzniveau von autistischen Menschen Rutter M, 1970; Bartak I, Rutter M, 1976; Gillberg C, Coleman M, 2000; Tuchman R, Rapin I, 2002; Steffenburg S et al., 2003 Autismus: Ursachen • 4 Zwillingsstudien, in denen die Konkordanzrate für Autismus untersucht wurde: • monozygote Zwillinge: • dizygote Zwillinge: 60% / 92% breiter Phänotyp 0% / 10% breiter Phänotyp (Wiederholungsrisiko für Geschwister: 2 – 8%) psychische Störung mit der stärksten genetischen Komponente • bisher sind die Autismus verursachenden Gene nicht bekannt Folstein S, Rutter M. J Child Psychol Psychiatry 1977; 18:297-321. Ritvo ER et al..Am J Psychiatry 1985; 142: 74-77. Steffenburg S et al.. J Child Psychol Psychiatry 1989; 30:405-416. Bailey A et al.. LeCouteur A et al.. J Child Psychol Psychiatry 1996; 37:785-801 Psychol Med 1995; 25:63-77 Autismus: Ursachen diagnostizierbare genetische Syndrome und ätiologische Faktoren - autistisches Spektrum (z.B.): – – – – – – – – – – – – – Tuberöse Sklerose Komplex Hypomelanosis Ito Fragiles X-Syndrom partielle Tetrasomie 15 Angelman – Syndrom Rett – Syndrom interauterine Röteln – Infektion Herpes simplex – Enzephalitis intrauterine Valproat – Exposition intrauterine Thalidomid – Exposition intrauterine Alkohol – Exposition neurometabolische Erkrankungen (z.B. GAMT-Defekt) angeborene-, früh erworbene Sehstörungen Muhle R, Trentacoste SV, Rapin I , Pediatrics 2004; 113: e472-e486 <10% Tuberöse Sklerose Komplex (TSC) Tuberöse Sklerose Komplex (TSC) • autosomal dominant vererblich • Gesamtprävalenz : • dem TSC liegt eine Störung der zellulären Proliferation, Differenzierung und Migration zugrunde • Genetik: – TSC 1 (9q34) – TSC 2 (16p13.3) ca. 1: 30 000 > Hamartin > Tuberin • synergistische Wirkung von Tuberin und Hamartin auf zellulärer Ebene • >Erkrankung einer gestörten Funktion von Tumor Suppressor-Genen • am häufigsten befallene Organe: Gehirn, Haut, Nieren, Herz Shepherd CW, in: Gómez MR, Sampson JR, Whittemore VH (Eds),Tuberous Sclerosis Complex 1999. pp 24-28 Osborne JP, Fryer A, Webb D, Ann NY Acad Sci 1991; 615: 125-127. Northrup H; Au K-S, in: Gómez MR, Sampson JR, Whittemore VH (Eds),Tuberous Sclerosis Complex 1999. pp 263-274 Kwiatkowski DJ, in: Gómez MR, Sampson JR, Whittemore VH (Eds),Tuberous Sclerosis Complex 1999. pp 275-287 Tuberöse Sklerose Komplex (TSC) • Intelligenzminderung: 50-60% der TSC-Fälle • Epilepsie: 84% der TSC-Fälle (nahezu 100%, wenn eine Intelligenzminderung vorhanden ist) • Autismus (autistic spectrum disorders = ASD): 40-50% der TSC-Fälle – TSC + Intelligenzminderung: 76% Autismus – TSC - Intelligenzminderung: 24% Autismus • Häufigkeit des TSC bei ASD: 1-5% • 14 % der Menschen mit ASD und Epilepsie sind von einem TSC betroffen Asato MR, Hardan MD, J Child Neurol 2004; 19: 241-249. Smalley SL et al, J Autism Dev Disord 1992; 22: 239-255. Hunt A, J Intell Disab Res 1993; 37: 41-51 Tuberöse Sklerose Komplex (TSC) Tuberöse Sklerose Komplex (TSC) subependymäres Riesenzellastrozytom Selbstaggressives Verhalten Selbstaggressives Verhalten Häufigkeit bei geistiger oder mehrfacher Behinderung • bei 8-15% der geistig behinderten Bewohnern von Spezialeinrichtungen • bei 39% der Patienten mit geistiger Behinderung, Cerebralparese und Epilepsie Steffenburg S1996, Arch Neurol; 53: 904-912Kebbon L, Widahl SI 1986, Science and Service in Mental Retardation; pp 142-148. Selbstaggressives Verhalten • häufig schwerer und chronischer Verlauf • psychosoziale Mechanismen bzw. Umgebungsfaktoren oft schwer zu identifizieren • medikamentös oft schwer zu behandeln Murphy G et al 1993, Research to Practice? Implications of Research on Challenging Behaviour of People with Learning Disability; pp 1-35.Schroeder et al 1986, Advances in Learning and Behavioural Disabilities; 5: Fallbeispiel Patient T.B., geb. 1973 Krankheitsentwicklung: • perinatale intrazerebrale Blutung (Shunt-versorgter Hydrocephalus) • schwere geistiger Behinderung, tetraspastische Cerebralparese, Epilepsie • ausgeprägte psychomotorische Unruhe mit ca. 18 Jahren • schwerstes selbstaggressives Verhalten (Bissverletzungen der Hände) nach Wechsel in ein Wohnheim mit 23 Jahren Martin P, Guth C 2005, Psychiatric Bulletin; 29: 108-110 Fallbeispiel Patient T.B., geb. 1973 Krankheitsentwicklung: • kein Effekt von systematischen pädagogischen Interventionen • unverändert nach Umzug zurück zu den Eltern • unverändert unter Neuroleptica (Pipamperon, Levomepromazin) • unabhängig von der Anfallfrequenz und der antikonvulsiven Therapie • unabhängig von der Shunt-Funktion Martin P, Guth C 2005, Psychiatric Bulletin; 29: 108-110 Fallbeispiel Patient T.B., geb. 1973 Krankheitsentwicklung: • 2004 völliges und anhaltendes Sistieren des Problemverhaltens unter Citalopram (20mg p.d.) • Wiederauftreten der Symptomatik nach Absetzen von Citalopram (wurde während des stationären Aufenthaltes zur Shuntrevision versehentlich weggelassen) • erneuter anhaltender therapeutischer Effekt nachdem Citalopram vom Patienten wieder eingenommen worden war Martin P, Guth C 2005, Psychiatric Bulletin; 29: 108-110 Selbstaggressives Verhalten Nosologie des selbstaggressiven Verhaltens (SAV) • impulsives SAV • zwanghaftes SAV • kontradissoziatives SAV • automatistisches, stereotypes SAV • Schmerz induziertes SAV • psychotisches SAV • emblematisches SAV • parasuizidales SAV Villalba R, Harrington C 2003, Semin Clin Neuropsychiatry; 5: 215-226 Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung • häufige Ursachen/Lokalisationen von akuten oder chronischen Schmerzen bei Menschen mit Entwicklungsstörungen/geistiger Behinderung – Schmerzen bei Entzündungen der Ohren und im Nasen-Rachen Raum – besonders häufig bei z.B.: • Down Syndrom (Trisomie 21) • Cornelia De Lange Syndrom – Zahn- und Kieferschmerzen – Bauchschmerzen bei chronischer Obstipation – Schmerzen bei gastro-oesophagealem Reflux – Schmerzen des Bewegungsapparates – z.B. im Rahmen von Cerebralparesen – Schmerzen durch Skoliose besonders häufig bei: • Cerebralparesen • bestimmten Syndromen – z.B. Rett-Syndrom Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung • auch an seltenere Ursachen von Schmerzen in speziellen Situationen ist zu denken, z.B.: – Schmerzen durch Schrumpfung (Druckminderung) des Augapfels bei früh erworbenen Augenerkrankungen (Phtisis bulbi) – abdominale Schmerzen durch Zystenbildung am Kathederende bei ventrikulo-peritonealem Shunt – abdominale Schmerzen durch verschluckte Gummihandschuhe (Salzsäure des Magens reagiert mit Weichmacher) – mit der Folge eines Ileus Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung häufig ist eine sehr aufwendige Diagnostik notwendig, um Klarheit darüber zu erhalten, ob selbstverletzendes Verhalten von Patienten mit schwerer geistiger Behinderung durch Schmerzen verursacht ist Schmerzen bei Menschen mit geistiger Behinderung Möglichkeiten der Schmerzerfassung bei Menschen mit Entwicklungsstörungen • Verhaltensbeobachtung in Kenntnis des „normalen“ Verhaltens des Patienten (unter Einbeziehung von Personen, die die/den Betroffene(n) sehr gut kennen) • gezielte klinische Untersuchung (standardisierte Instrumente) • Screening-Untersuchung mit der Infrarot-Kamera • Screening-Untersuchung mit der Ganzkörper-Szintigrafie • Behandlungsversuch mit Analgetica (z.B. Ketamin oder Morphin titriert) • gezielte Untersuchung (Röntgen-Nativ, CT, MRI) „verdächtiger“ Körperregionen Selbstaggressives Verhalten häufigste Lokalisation von impulsivem und stereotypen selbstaggressivem Verhalten bei Personen mit geistiger Behinderung: • Kopf – Schlagen auf den Kopf – Kopf anschlagen • Hände – Beißen in den Handrücken Breau LM et al 2003, J Pediatr; 142: 498-503. Symons FJ, Thompson T 1997, J Intellect Dis Res; 41: 456-468 Selbstaggressives Verhalten mit stereotypem selbstaggressivem Verhalten verbundenes Problemverhalten bei Personen mit schwerer geistiger Behinderung: • Fremdaggressionen • Aggressionen gegen Sachen • Stereotypien • unangemessenes Sexualverhalten Matson JL 2008, Res Dev Disabil; 24:141-148 Selbstaggressives Verhalten selbstverletzendes Verhalten bei genetischen Syndromen • Lesch-Nyhan-Syndrom (X-Chromosom; Purinstoffwechsel) • Smith-Magenis-Syndrom (Chromosom 17) • Prader-Willi-Syndrom (Chromosom 15) • Fragiles X-Syndrom (X-Chromosom) • Cri du chat-Syndrom (Chromosom 5) Elsea SH, Girirajan S 2008, Eur J Hum Genet; 16: 412-421. Symons FJ et al 2003, Am J Med Genet; 118A: 115121. Dykens EM et al 2000 Genetics and Mental Retardation Syndromes. Selbstaggressives Verhalten nach eingehender Verhaltensanalyse – z.B.: – Selbststimulation ? – Vermeidung aversiver Stimuli (Veränderungen in der Routine, Anforderungen)? Subtilste Veränderungen im alltäglichen Umfeld können zu stärksten Verhaltensänderungen führen! – erlerntes Verhalten? Selbstaggressives Verhalten Systematische Verhaltensanalyse • SORK (SORCK) – Stimulus • intern, extern – Organismus • biologische Einflüsse, psychologische Variablen – Respondentes Verhalten • emotional, kognitiv, verhaltensmäßig, physiologisch – Häufigkeit – Konsequenz • positiv/negativ, kurz-/langfristig usw. Selbstaggressives Verhalten pädagogische / psychotherapeutische Interventionen • Dialektisch-behaviorale Therapie (angepasst an die Situation von Personen mit Intelligenzminderung – leichter Ausprägung) • Unterstützung positiven Verhaltens • Wut - Management Training • bei schwerer Intelligenzminderung: – Reduktion der Grundanspannung (Umgebungsfaktoren – z.B. Wohngruppe, Fördergruppe) – Bewegung – basale Stimulation – Aromatherapie Sturmey P 2004, Clin Psychol Psychother; 11: 222-232. Carr EG et al. 2003, Am J Ment Retard; 108: 32-55. Horner et al 2002, J autism Dev Disord; 32: 423-446 Selbstaggressives Verhalten medikamentöse Behandlung von impulsivem selbstaggressiven Verhalten • parallel zu pädagogischen / psychotherapeutischen Interventionen • pharmakologische Therapie: – selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z.B. Citalopram) – Neuroleptica (einschl. Clozapin) – Lithium – β-Blocker, Clonidin – Opiat – Antagonisten (Naltrexon) psychopharmakologische Medikation bei Menschen mit geistiger Behinderung allgemeine Grundsätze: • möglichst klare Indikationsstellung, Begründung für die gewählte Therapie • so wenig wie möglich, so viel wie nötig – > Absetzen von Substanzen, die sich als ungenügend wirksam erwiesen haben • auf mögliche Nebenwirkungen (über die die Patienten selbst nicht berichten können) achten • auf Interaktionen (z.B. mit Antikonvulsiva) achten • regelmäßige Überprüfung der Notwendigkeit einer psychopharmakologischen Therapie Fazit die Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung erfordert: • Kenntnisse über die besondere Situation und die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppe und die Fähigkeit, auf diese einzugehen • Möglichkeit, Einflussgrößen, die weit über den neuropsychiatrischen Bereich hinausgehen zu berücksichtigen (v.a. allgemeinmedizinischinternistisch) • die Bereitschaft, Angehörige und Betreuer der Patienten intensiv mit einzubeziehen Fazit die Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung erfordert • Bereitschaft zu einem hohen Maß an interdisziplinärer Zusammenarbeit • die Bereitschaft, viel Zeit einzusetzen • die Möglichkeit, dem Mangel (aufgrund der starken Heterogenität dieser Patientengruppe) an evidenzbasierten Leitlinien (auch persönliche) Erfahrung entgegenzusetzen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !