Das Gleiche und das Andere

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n Yvonne Sophie Thöne
Das Gleiche und das Andere
Die Tierordnungen der Tora
n Es gibt Tiere, die wir streicheln, und Tiere, die wir essen, Tiere, die
wir bewundern, und Tiere, die wir abstoßend finden. Bei unserer
Wahrnehmung von Tieren legen wir – meist unbewusst – verschiedene, kulturell geprägte Klassifikationsraster („Haustier“ vs.
„Nutztier“, „Nützling“ vs. „Schädling“ usw.) übereinander. Auch
das Alte Testament entwirft unterschiedliche Tierordnungen, die
uns plausibel, aber auch fremd erscheinen können.
Alltägliche und
wissenschaftliche Ordnungen
Ordnungen helfen, die Welt zu verstehen
und erleichtern, sich darin zu orientieren. Sie
sind insofern „weltbildend“, da die Welt immer so erscheint, wie man sie segmentiert, sortiert und kategorisiert.1 Dabei sind Ordnungen
nicht naturgegeben, sondern von der jeweiligen Kultur bestimmt. Sie entwickeln sich parallel zu sozio-kulturellen Veränderungen und
werden erschaffen, neu arrangiert und wieder
verworfen. Im Spannungsfeld von Similarität
und Alterität (Gleichheit und Andersheit) geht
es darum, Ähnlichkeiten und Unterschiede
zwischen Dingen und Lebewesen ausmachen,
diesen Bedeutung beizumessen und daraufhin
eine Klassifizierung vorzunehmen.
Im 18. Jh. hat der schwedische Naturforscher Carl von Linné mit der binären Nomenklatur die Grundlagen der modernen
botanischen und zoologischen Taxonomie
geschaffen. Tiere – wie auch Pflanzen und
Mineralien – werden in seinem Werk Systema Naturae (1735) in den fünf aufeinander
aufbauenden Rangstufen Klasse, Ordnung,
Gattung, Art und Varietät klassifiziert. Die
linnésche Systematik wurde in der Biologie
208 n Bibel und Kirche 4/2016
bis heute prinzipiell beibehalten, dabei jedoch stärker differenziert und präzisiert.
In Bezug auf die Ordnung der Tierwelt
begegnen uns jenseits dieser biologischen
Systematik machtvolle Alltagsordnungen,
die unsere Wahrnehmung zutiefst prägen.
Beispielsweise unterscheiden wir zwischen
den uns nahen und den uns fernen Tierarten, was sich etwa darin äußert, welche Tiere wir mit Leckerbissen verwöhnen („Haustiere“) und welche dazu verarbeitet werden
(„Nutztiere“). Auf diese Art werden Hierarchien innerhalb der Tierwelt entworfen.
Dass unterschiedliche Kulturen je andere
Eigenschaften als Gleichheits- oder Differenzmerkmal herausgreifen, die mitunter der
gewohnten Logik widerlaufen, macht die von
Michel Foucault in seinem Werk Die Ordnung
der Dinge zitierte (fiktive) „chinesische Enzyklopädie“ deutlich. Diese kennt: „a) Tiere, die
dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere,
c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f)
1
Vgl. Mieke Roscher, „Tiere, die dem Kaiser gehören…“. Das Tier
als politisches und kulturelles Ordnungswesen, in: Fehlmann,
Meret/Michel, Margot/Niederhauser, Rebecca (Hg.), Tierisch!
Das Tier und die Wissenschaft. Ein Streifzug durch die Disziplinen, Zürich 2015, 173-182.
Das Gleiche und das Andere
Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese
Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus
Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter,
m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n)
die von weitem wie Fliegen aussehen“2.
Die Klassifikationsraster muten paradox
an, scheinen sie sich doch einem einheitlich
durchlaufenden System zu entziehen. Foucault zeigt hiermit, dass Ordnungssysteme
von einer Außenperspektive willkürlich oder
abstrus wirken können, wenn sie „konventionellen Vorstellungen über Struktur und Funktion solcher Auflistungen widersprechen.“3
Auch im Alten Testament werden verschiedene Tierordnungen entworfen, die ganz diverse Kriterien anlegen, aber die auch einander überlappen können. Es wird u.a. zwischen
Wildtieren und Haustieren unterschieden (z.B.
Lev 26,22), zwischen Großvieh (d.h. Rindern)
und Kleinvieh (d.h. Schafen und Ziegen; z.B.
Lev 1,2) und in narrativen Texten werden implizit Ordnungen und Hierarchien entfaltet.4
Die beiden wichtigsten Tier-Kategorien des
Alten Testaments zeigen bereits die unterschiedliche Vereinbarkeit mit unserer Logik:
Während die Systematisierung der Lebewesen
in Wasser-, Himmels- und Landtiere (Gen 1)
2
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie
der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main 1974, 17.
Roscher, Tiere, 175.
4
Als plastisches Beispiel hierfür kann etwa die Erzählung von
Bileam und seiner Eselin (Num 22,21-35) dienen. Siehe Yvonne
Sophie Thöne, Vegetarische Löwen und sprechende Esel. Beziehungsgefüge im Alten Testament, in: Forschungsschwerpunkt Tier
– Mensch – Gesellschaft: Vielfältig verflochten. Interdisziplinäre
Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität, Bielefeld 2016 (im Druck).
5
Vgl. Markus Wild, Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg
2008, 26-28. Als bekanntes Beispiel kann die Beobachtung Jane
Goodalls aus dem Jahr 1960 dienen, einer Zeit, in der die Werkzeugherstellung als anthropologische Differenz galt. Die Primatenforscherin beobachtete den männlichen Schimpansen David
Greybeard, wie er sich aus Grashalmen ein Werkzeug bastelte,
um damit nach Termiten zu angeln. Auf ihren Bericht antwortete
ihr Mentor, der Anthropologe Louis Leakey, mit dem mittlerweile
berühmten Telegramm: „Jetzt müssen wir entweder ‚Mensch‘ neu
definieren oder Werkzeug neu definieren oder Schimpansen als
Menschen akzeptieren“ (siehe Wild, Tierphilosophie, 19).
3
mit gegenwärtigen Konzepten dialogfähig erscheint, offenbart die Unterteilung der Tierwelt
in reine und unreine Tiere (Lev 11; Dtn 14) eher
die Schwierigkeit des Denkens in anderen Ordnungssystemen.
Die Ordnung von Tieren betrifft letztlich auch Fragen nach der Beziehung zum
Menschen. Seit der Antike ist die Diskussion
um die Frage nach der sogenannten anthropologischen Differenz (Besonderheit des
Menschen) belegt, die mit fortschreitendem
Wissen zu jeder Zeit anders beantwortet
worden ist. Der Mensch wurde als einziges
Tier mit Sprache und politischem Bewusstsein (Aristoteles), mit einer Seele (Descartes)
oder Vernunft (Kant) verstanden. Die jeweils
vermeintliche Differenz ist immer wieder ins
Wanken geraten und mittlerweile ist deutlich, dass es keinen einzelnen Aspekt X gibt,
der die Spezies Mensch von allen anderen
Tieren unterscheidet.5 Dem entspricht, dass
bereits in biblischen Texten die grundsätzliche Nähe von tierlichen und menschlichen
Geschöpfen Ausdruck findet (s.u.).
Die dreigliedrige Kosmologie:
Wasser-, Himmels- und Landtiere
Die Ordnung an sich ist das zentrale Thema der priesterlichen Schöpfungserzählung
(Gen 1), die den Kanon eröffnet und damit
die gesamte Tora unter das Vorzeichen von
Systematik und Klassifikation setzt.
Zentral ist hier die Gliederung der gesamten Schöpfung und aller Geschöpfe gemäß
der dreiteiligen Kosmologie. Himmel, Wasser und Erde stellen die drei Lebensbereiche
dar, denen alle lebendigen Wesen zugeordnet
werden. Dabei fällt eine konsequent parallele
Gestaltung der Schöpfungstage auf. Während
an den Tagen eins bis drei jeweils ein Lebensraum im „Haus“ der Erde (erez) erschaffen
wird, wird dieser innenarchitektonisch an den
Bibel und Kirche 4/2016 n 209
Yvonne Sophie Thöne
Tagen vier bis sechs mit passender „Einrichtung“ und Lebewesen ausgestattet.6 So sind
Tag 1 (Gen 1,3-5) und Tag 4 (Gen 1,14-19)
den Strukturen und den sichtbaren Zeichen
der Zeit gewidmet. An Tag 2 (Gen 1,6-8) und
Tag 5 (Gen 1,20-23) erfolgt die Trennung von
Wasser und Himmel sowie die Erschaffung
der Wasser- und Himmelstiere. Tag 3 (Gen
1,9-13) schließlich liefert mit der Trennung
von Wasser und Land sowie der Erschaffung
der Pflanzen die Voraussetzung für die Erschaffung der landlebenden Lebewesen an
Tag 6 (Gen 1,24-31), den Landtieren und den
Menschen. Die Korrespondenz zwischen Tag
3 und Tag 6 geht noch weiter, denn es ist an
diesen Tagen nicht allein Gott, der als Schöpfer auftritt, sondern die Erde hat eine zentrale Rolle als Mitschöpferin von Pflanzen und
Landtieren inne.7 Zudem werden die Pflanzen,
die am dritten Tage von der Erde hervorgebracht werden, am sechsten Tag ihren Lebewesen von Gott zur Nahrung zugeteilt.
Die Schöpfung gipfelt in der Etablierung,
Segnung und Heiligung des Schabbats am
siebten Tag, was bedeutet, dass nicht der
Mensch Ziel der Schöpfung ist, sondern „(d)
er siebente Tag, der Sabbat, ist die Krone der
Schöpfung. Daraufhin ist sie ausgerichtet“8.
Insgesamt ist der Text davon geprägt,
die Similarität und Alterität der Geschöpfe
auszutarieren. Die Gleichheit von menschlichen und tierlichen Lebewesen offenbart
sich zunächst darin, dass sie alle den Status
als Geschöpfe Gottes innehaben, die nicht
aus eigener Kraft existieren, sondern allein
aus Gottes Willen. Eine besondere Nähe besteht zwischen der Kategorie der Landtiere
und den Menschen. Beide teilen sich als Geschöpfe des sechsten Tages den Lebensraum
Erde (erez). Die Tiere werden „lebendige
Kehle“ (nefesch chajah) genannt – die Bezeichnung nefesch wird außerhalb von Gen
1 auch auf Menschen (z.B. Gen 12,5; 14,21;
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Ex 1,5; Lev 2,1), aber nie auf Pflanzen angewendet. Beachtenswert ist außerdem, dass
im Rahmen der göttlichen Nahrungszuweisung (Gen 1,29f) sowohl Menschen als auch
Land- und Himmelstieren ausschließlich
pflanzliche Kost zugeteilt wird, was eine
gegenseitige Tötung zu Ernährungszwecken
ausschließt.
Der Unterschied zwischen Menschen und
Tieren wird am auffälligsten konstruiert,
indem erstere dezidiert als Bild und Gleichnis Gottes erschaffen werden (1,26). Diese
Vorstellung vom Menschen als Bild Gottes
greift die altorientalische Königsideologie
auf und verändert diese dahingehend, dass
nicht nur der König, sondern jeder Mensch
als Repräsentant Gottes auf Erden gilt. Diese darin enthaltene herrschaftskritische und
demokratisierende Tendenz setzt sich in dem
folgenden Differenzkriterium fort: Die Menschen – Männer wie Frauen – werden zum
Einnehmen der Erde und zum Herrschen
über die Tiere aufgefordert.9 Die gegenüber
der potentiell bedrohlichen Tierwelt in der
Minderheit befindliche Menschheit soll in
Gottes Namen das Chaos hin zum Guten
bändigen. Das hierarchische Gefälle wird
zwischen Menschen als den Herrschenden
und Tieren als den Beherrschten besonders deutlich. Dennoch soll diese Herrschaft
durch die Repräsentanten Gottes im Sinne
dessen verantwortlich ausgeübt werden, der
qua Nahrungszuweisung eine gegenseitige
6
Vgl. Erich Zenger, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungs-
theologien, Düsseldorf 1997, 145.
Siehe dazu insbesondere Norman Habel, The Birth, the Curse
and the Greening of Earth. An Ecological Reading of Genesis
1-11 (The Earth Bible Commentary 1), Sheffield 2011.
8
Rainer Hagencord, Die Würde der Tiere. Eine religiöse Wertschätzung, Gütersloh 2011, 107.
9
Zur Semantik der hier verwendeten Verben und der Forschungsgeschichte dazu siehe insbesondere Bernd Janowski,
Herrschaft über die Tiere. Gen 1,26-28 und die Semantik von
hdr, in: Ders.: Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 33-48.
7
Das Gleiche und das Andere
Tötung seiner Geschöpfe ausschließt. Auch
wenn Gen 1 das Bild einer wohlgeordneten
Welt als Lebenshaus für alle Geschöpfe skizziert, wird hier trotzdem literarisch eine Hierarchie zugunsten der Menschen entworfen.
Die kultische Klassifikation:
Reine und unreine Tiere
Die biblische Klassifizierung der Tierarten
als „rein“ und „unrein“ – und damit als essbar oder nicht – in Lev 11 und Dtn 14 ist
in besonderer Weise kulturbewegend, gehen
aus ihr doch die Bestimmungen zu koscheren Tieren in den jüdischen Speisegesetzen
(Kaschrut) hervor.
Problematisch ist, dass mit dem Gegensatzpaar rein/unrein heute ganz andere Konnotationen verbunden sind – nämlich vorrangig
Hygiene und Moral – als ursprünglich intendiert. Bei den alttestamentlich-altorientalischen Vorstellungen von Reinheit geht es
„darum, Eindeutigkeiten nicht zu zerstören,
Sphären nicht zu vermischen, Ordnungen nicht
durcheinanderzubringen“10. Reinheit steht eng
in Verbindung mit der Heiligkeit Gottes, der im
Kult wie im Alltag durch physische Ordnung –
und damit Reinheit – ein sichtbarer Ausdruck
verliehen wird.11 Unreinheit hingegen bedeutet
eine Störung des geordneten, vollkommenen
Normalzustandes durch die Überschreitung
von Grenzen physischer oder sozialer Art (vgl.
Lev 15; 18,20) und beinhaltet eine Lebensminderung12, wird jedoch nicht zwangsläufig
moralisch negativ beurteilt, was auch für die
unreinen Tierarten gilt.
10
Thomas Staubli, Die Bücher Levitikus, Numeri (NSK AT 3),
Stuttgart 1996, 90.
Vgl. Mary Douglas, Purity and Danger. An analysis of concept
of pollution and taboo, London/New York 2007 [1966], 63-65.
12
Vgl. Jacob Milgrom, Leviticus. A Book of Ritual and Ethics (A
Continental Commentary), Minneapolis 2004, 101.
13
Vgl. Mary Douglas, Leviticus as Literature, Oxford/New York
1999, 138.
11
Der auf Heiligkeit abzielenden Reinheitskonzeption entsprechend stehen auch in Lev
11 und Dtn 14 Vollkommenheit, Ganzheit
und Ordnung im Hintergrund der Regularien. Die Tierarten gelten als rein, d.h. vollkommen, wenn sie ihrer Gruppe vollständig
entsprechen bzgl. ihrer Erscheinungsweise,
ihrem Verhalten und ihrer Fortbewegung:
Die vierfüßigen Landtiere müssen gespaltene
Klauen haben und wiederkäuen (Lev 11,3),
die Wassertiere müssen Flossen und Schuppen haben (Lev 11,9). Für die Vögel fehlt
solch eine Formel. Entspricht die Tierart in
keinem oder nur in einem Punkt dieser Kategorie, gilt sie als unvollkommen, als unrein.
Auch Tiere mit vier oder mehr Beinen, die
fliegen, d.h. geflügelte Insektenarten (Lev
11,20), widersprechen diesem System und
stehen für die Überschreitung von Grenzen,
sind es doch für gewöhnlich zweibeinige Vögel, die fliegen. Zusätzlich wird deutlich, dass
die Speisegebote formal auf die kosmologische Kategorisierung der Tierarten in Land-,
Wasser- und Himmelstiere zurückgreifen.
Die Zuschreibung der Reinheit der Tierarten geht mit einer Freigabe des Fleischkonsums einher. Unreinheit impliziert zusätzlich
noch ein Verbot, die toten Tierkörper zu berühren. Jeder Begegnung mit der Tierwelt ist
so eine theologische Dimension eigen durch
die Wahrnehmung des jeweiligen Tieres als
rein oder unrein, als der Vollkommenheit
JHWHs entsprechend oder nicht. Die Speisegebote demonstrieren auch, dass Alltag
und Kult kaum voneinander zu trennen sind
– selbst die alltägliche Nahrungsaufnahme
ist religiös aufgeladen.13 Auch die göttliche
Erwählung Israels unter den Völkern spiegelt sich in den Speisebestimmungen wider.
Denn in einem als unrein wahrgenommenen
sozialen, politischen und religiösen Umfeld
werden bestimmte Menschen – das Volk Israel – sowie bestimmte Tiere abgesondert
Bibel und Kirche 4/2016 n 211
Yvonne Sophie Thöne
und als heilig bzw. rein qualifiziert. Die Reinheitsbestimmungen im Allgemeinen wie die
Speisegebote im Speziellen dienen somit der
Bestimmung kultureller und religiöser Identitäten.14
Bemerkenswert ist außerdem, dass
durch die rigorosen Bestimmungen der
menschliche Zugriff auf Tiere erheblich
eingeschränkt wird15 – zumindest was die
Vielfalt an erlaubten Arten betrifft, denn
freilich gehen Lev 11 und Dtn 14 nicht so
weit, den Tierfleischkonsum generell zu tabuisieren. Insofern sind für die als „unrein“
deklarierten Tierarten existentielle Vorteile
auszumachen, da diese nicht gegessen oder
anderweitig verarbeitet werden dürfen und
entsprechend kaum ein Interesse daran besteht, sie zu töten16, woraus folgt, dass die
biblischen Speisegebote als ein Beitrag zum
Artenschutz gelesen werden können.17
Die biozentrische Ordnung:
Tiere (und Menschen) als Fleisch
„Das Schicksal der Menschenkinder und
das Schicksal der Tiere ist eines: wie diese
sterben auch jene, und sie haben alle einen Geist. Und es gibt keinen Vorzug des
Menschen vor den Tieren, denn alles ist ein
Windhauch.“ (Koh 3,19) So wie Kohelet in
seinen philosophischen Betrachtungen eine
grundsätzliche Ähnlichkeit von Menschen
und Tieren feststellt, lösen auch andere alttestamentliche Texte vermeintlich trennscharfe Linien zwischen Menschen und Tieren auf. Menschliche und tierliche Geschöpfe
werden als miteinander verwandt begriffen,
wenn sie als Geschöpfe des gleichen Tages
und Lebensraums dargestellt (Gen 1, s.o.),
als aus dem gleichen Material (nämlich dem
Erdboden) bestehend beschrieben (Gen 2)
oder gleichermaßen als „Kehle/Lebewesen“
(nefesch) bezeichnet werden (Gen 9,15f).
212 n Bibel und Kirche 4/2016
Als lebendige Geschöpfe im Gegenüber zu
Gott geraten ebenfalls Menschen und Tiere
in der Bezeichnung als „Fleisch“ (basar) in
den Blick. So wird etwa in der Sintfluterzählung festgestellt, dass „alles Fleisch“ auf
Erden verdorben ist (Gen 6,12) und meint
damit Menschen und Tiere. Diese Gemeinschaftsbezeichnung von Menschen und
Tieren als „Fleisch“ zieht sich durch die gesamte Sintfluterzählung (Gen 7,21; 9,11.1517) und wirft damit die modern anmutende
Frage nach der Schuldfähigkeit von Tieren
und deren Status als moral agents auf.
Der Begriff basar zielt auf die fleischlichkörperliche Materie ab, aus der Menschen
und Tiere bestehen, und ist in seiner Bedeutung ambivalent: Einerseits steht Fleisch für
Lebendigkeit, andererseits für Vergänglichkeit – ein Grund, wieso der ewige Gott nicht
aus Fleisch ist. Fleisch repräsentiert also das
Leben in seiner Hinfälligkeit, steht darüber
hinaus auch für Verwandtschaft (vgl. Gen
2,23; Ri 9,2; 2 Sam 5,1).18
Auch außerhalb der Sintfluterzählung
werden Menschen und Tiere häufig unter
dem Begriff basar subsumiert. In den Psalmen – wo mitunter explizit Tiere zum Gotteslob aufgefordert werden (Ps 69,35; 148,7.10)
– ist etwa davon die Rede, dass alles Fleisch
Gottes Namen preisen solle (145,21) oder
dass dieser allem Fleisch, d.h. all seinen
Geschöpfen, Nahrung gibt (136,25). JHWH
stellt sich als der Gott allen Fleisches vor (Jer
32,27) oder bringt Unheil über alles Fleisch
14
Vgl. Reinhard Achenbach, Zur Systematik der Speisegebote
in Leviticus 11 und in Deuteronomium 14, in: Zeitschrift für
Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 17/2011, 161209, hier: 161.
15
Vgl. Milgrom, Leviticus, 733.
16
Vgl. Douglas, Literature, 157.
17
Wobei das Konzept „Artenschutz“ in der Antike freilich als
solches noch nicht existierte.
18
Vgl. Silvia Schroer/Thomas Staubli, Die Körpersymbolik der
Bibel, Darmstadt ²2005, 161-170.
Das Gleiche und das Andere
(Jer 45,5).19 So stellt basar, ähnlich wie der
Begriff nefesch, eine gemeinsame Kategorie
für menschliche und tierliche Geschöpfe dar,
deren Geschöpflichkeit in Abgrenzung zu
Gott ausgedrückt wird.
Ordnung, Wahrnehmung
und Wirklichkeit
Jede Wahrnehmung von Tieren und jedes
Wissen über sie ist kulturhistorisch vorgeformt.
Durch die Ordnungsraster der jeweiligen Epoche, Kultur und Gesellschaft werden Tiere je
unterschiedlich bewertet, dargestellt und behandelt. Ein Esel kann beispielsweise im Horizont
von Gen 1 als landlebendes Geschöpf Gottes in
der Nähe zum Menschen wahrgenommen werden, im Licht von Lev 11/Dtn 14 als unreines,
kultunfähiges Tier. Er kann als Haustier unter
dem Aspekt seiner Arbeitsleistung oder aber
als handlungsmächtige Figur mit theologischer
Sensibilität20 betrachtet werden. Relevant für
das jeweilige reale Tier bzw. die Tierart sind insbesondere die konkreten, materiellen Folgen,
die sich aus den Kategorisierungen ergeben,21
beispielsweise das Interesse an der Tötung für
kultische und Nahrungszwecke, die an die Zuschreibung als reines Tier gekoppelt ist.
So wird deutlich, dass hinter den jeweiligen Ordnungen bestimmte Interessen stehen;
sie prägen den praktischen Umgang und die
Erfahrungen mit Tieren und gründen gleichzeitig darin. „Nichts ist tastender, nichts ist
empirischer (wenigstens dem Anschein nach)
als die Einrichtung einer Ordnung unter den
Dingen“22 – gleiches gilt für eine Ordnung
unter den Tieren.
19
Zusammenfassung
In den Texten der Tora werden Tiere in einer
kosmologischen Klassifikation eingeteilt und
nach kultischen Gesichtspunkten in reine und
unreine Tiere unterteilt. Der Beitrag erläutert
diese Ordnungen.
Dr. Yvonne Sophie Thöne
ist PostDoc im LoeweSchwerpunkt „Tier – Mensch
– Gesellschaft“ der Universität Kassel mit einem
Projekt zu Tier­ordnungen in
der Tora. 2012 erschien ihre
Dissertation Liebe zwischen Stadt und Feld.
Raum und Geschlecht im Hohelied. Weitere
Arbeitsschwerpunkte sind Sexualität und
Körperwahrnehmung, Tierethik, Narratologie
und Ikonographie.
Unser Tipp
Folgendes Spiel von Yvonne Thöne können Sie
bei uns im Downloadbereich finden: gehen Sie
dazu auf www.bibelwerk.de
- Materialpool - Biblische Themen - Tiere in
der Bibel
Vgl. Hermann-Josef Stipp, „Alles Fleisch hatte seinen Wandel
auf der Erde verdorben“ (Gen 6,12). Die Mitverantwortung
der Tierwelt an der Sintflut nach der Priesterschrift, in: ZAW
111/1999, 167-186.
20
So in der Bileamerzählung, s.o.
21
Vgl. Roscher, Tiere, 181.
22
Foucault, Ordnung, 22.
Bibel und Kirche 4/2016 n 213
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