n Yvonne Sophie Thöne Das Gleiche und das Andere Die Tierordnungen der Tora n Es gibt Tiere, die wir streicheln, und Tiere, die wir essen, Tiere, die wir bewundern, und Tiere, die wir abstoßend finden. Bei unserer Wahrnehmung von Tieren legen wir – meist unbewusst – verschiedene, kulturell geprägte Klassifikationsraster („Haustier“ vs. „Nutztier“, „Nützling“ vs. „Schädling“ usw.) übereinander. Auch das Alte Testament entwirft unterschiedliche Tierordnungen, die uns plausibel, aber auch fremd erscheinen können. Alltägliche und wissenschaftliche Ordnungen Ordnungen helfen, die Welt zu verstehen und erleichtern, sich darin zu orientieren. Sie sind insofern „weltbildend“, da die Welt immer so erscheint, wie man sie segmentiert, sortiert und kategorisiert.1 Dabei sind Ordnungen nicht naturgegeben, sondern von der jeweiligen Kultur bestimmt. Sie entwickeln sich parallel zu sozio-kulturellen Veränderungen und werden erschaffen, neu arrangiert und wieder verworfen. Im Spannungsfeld von Similarität und Alterität (Gleichheit und Andersheit) geht es darum, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Dingen und Lebewesen ausmachen, diesen Bedeutung beizumessen und daraufhin eine Klassifizierung vorzunehmen. Im 18. Jh. hat der schwedische Naturforscher Carl von Linné mit der binären Nomenklatur die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie geschaffen. Tiere – wie auch Pflanzen und Mineralien – werden in seinem Werk Systema Naturae (1735) in den fünf aufeinander aufbauenden Rangstufen Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät klassifiziert. Die linnésche Systematik wurde in der Biologie 208 n Bibel und Kirche 4/2016 bis heute prinzipiell beibehalten, dabei jedoch stärker differenziert und präzisiert. In Bezug auf die Ordnung der Tierwelt begegnen uns jenseits dieser biologischen Systematik machtvolle Alltagsordnungen, die unsere Wahrnehmung zutiefst prägen. Beispielsweise unterscheiden wir zwischen den uns nahen und den uns fernen Tierarten, was sich etwa darin äußert, welche Tiere wir mit Leckerbissen verwöhnen („Haustiere“) und welche dazu verarbeitet werden („Nutztiere“). Auf diese Art werden Hierarchien innerhalb der Tierwelt entworfen. Dass unterschiedliche Kulturen je andere Eigenschaften als Gleichheits- oder Differenzmerkmal herausgreifen, die mitunter der gewohnten Logik widerlaufen, macht die von Michel Foucault in seinem Werk Die Ordnung der Dinge zitierte (fiktive) „chinesische Enzyklopädie“ deutlich. Diese kennt: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) 1 Vgl. Mieke Roscher, „Tiere, die dem Kaiser gehören…“. Das Tier als politisches und kulturelles Ordnungswesen, in: Fehlmann, Meret/Michel, Margot/Niederhauser, Rebecca (Hg.), Tierisch! Das Tier und die Wissenschaft. Ein Streifzug durch die Disziplinen, Zürich 2015, 173-182. Das Gleiche und das Andere Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen“2. Die Klassifikationsraster muten paradox an, scheinen sie sich doch einem einheitlich durchlaufenden System zu entziehen. Foucault zeigt hiermit, dass Ordnungssysteme von einer Außenperspektive willkürlich oder abstrus wirken können, wenn sie „konventionellen Vorstellungen über Struktur und Funktion solcher Auflistungen widersprechen.“3 Auch im Alten Testament werden verschiedene Tierordnungen entworfen, die ganz diverse Kriterien anlegen, aber die auch einander überlappen können. Es wird u.a. zwischen Wildtieren und Haustieren unterschieden (z.B. Lev 26,22), zwischen Großvieh (d.h. Rindern) und Kleinvieh (d.h. Schafen und Ziegen; z.B. Lev 1,2) und in narrativen Texten werden implizit Ordnungen und Hierarchien entfaltet.4 Die beiden wichtigsten Tier-Kategorien des Alten Testaments zeigen bereits die unterschiedliche Vereinbarkeit mit unserer Logik: Während die Systematisierung der Lebewesen in Wasser-, Himmels- und Landtiere (Gen 1) 2 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main 1974, 17. Roscher, Tiere, 175. 4 Als plastisches Beispiel hierfür kann etwa die Erzählung von Bileam und seiner Eselin (Num 22,21-35) dienen. Siehe Yvonne Sophie Thöne, Vegetarische Löwen und sprechende Esel. Beziehungsgefüge im Alten Testament, in: Forschungsschwerpunkt Tier – Mensch – Gesellschaft: Vielfältig verflochten. Interdisziplinäre Beiträge zur Tier-Mensch-Relationalität, Bielefeld 2016 (im Druck). 5 Vgl. Markus Wild, Tierphilosophie zur Einführung, Hamburg 2008, 26-28. Als bekanntes Beispiel kann die Beobachtung Jane Goodalls aus dem Jahr 1960 dienen, einer Zeit, in der die Werkzeugherstellung als anthropologische Differenz galt. Die Primatenforscherin beobachtete den männlichen Schimpansen David Greybeard, wie er sich aus Grashalmen ein Werkzeug bastelte, um damit nach Termiten zu angeln. Auf ihren Bericht antwortete ihr Mentor, der Anthropologe Louis Leakey, mit dem mittlerweile berühmten Telegramm: „Jetzt müssen wir entweder ‚Mensch‘ neu definieren oder Werkzeug neu definieren oder Schimpansen als Menschen akzeptieren“ (siehe Wild, Tierphilosophie, 19). 3 mit gegenwärtigen Konzepten dialogfähig erscheint, offenbart die Unterteilung der Tierwelt in reine und unreine Tiere (Lev 11; Dtn 14) eher die Schwierigkeit des Denkens in anderen Ordnungssystemen. Die Ordnung von Tieren betrifft letztlich auch Fragen nach der Beziehung zum Menschen. Seit der Antike ist die Diskussion um die Frage nach der sogenannten anthropologischen Differenz (Besonderheit des Menschen) belegt, die mit fortschreitendem Wissen zu jeder Zeit anders beantwortet worden ist. Der Mensch wurde als einziges Tier mit Sprache und politischem Bewusstsein (Aristoteles), mit einer Seele (Descartes) oder Vernunft (Kant) verstanden. Die jeweils vermeintliche Differenz ist immer wieder ins Wanken geraten und mittlerweile ist deutlich, dass es keinen einzelnen Aspekt X gibt, der die Spezies Mensch von allen anderen Tieren unterscheidet.5 Dem entspricht, dass bereits in biblischen Texten die grundsätzliche Nähe von tierlichen und menschlichen Geschöpfen Ausdruck findet (s.u.). Die dreigliedrige Kosmologie: Wasser-, Himmels- und Landtiere Die Ordnung an sich ist das zentrale Thema der priesterlichen Schöpfungserzählung (Gen 1), die den Kanon eröffnet und damit die gesamte Tora unter das Vorzeichen von Systematik und Klassifikation setzt. Zentral ist hier die Gliederung der gesamten Schöpfung und aller Geschöpfe gemäß der dreiteiligen Kosmologie. Himmel, Wasser und Erde stellen die drei Lebensbereiche dar, denen alle lebendigen Wesen zugeordnet werden. Dabei fällt eine konsequent parallele Gestaltung der Schöpfungstage auf. Während an den Tagen eins bis drei jeweils ein Lebensraum im „Haus“ der Erde (erez) erschaffen wird, wird dieser innenarchitektonisch an den Bibel und Kirche 4/2016 n 209 Yvonne Sophie Thöne Tagen vier bis sechs mit passender „Einrichtung“ und Lebewesen ausgestattet.6 So sind Tag 1 (Gen 1,3-5) und Tag 4 (Gen 1,14-19) den Strukturen und den sichtbaren Zeichen der Zeit gewidmet. An Tag 2 (Gen 1,6-8) und Tag 5 (Gen 1,20-23) erfolgt die Trennung von Wasser und Himmel sowie die Erschaffung der Wasser- und Himmelstiere. Tag 3 (Gen 1,9-13) schließlich liefert mit der Trennung von Wasser und Land sowie der Erschaffung der Pflanzen die Voraussetzung für die Erschaffung der landlebenden Lebewesen an Tag 6 (Gen 1,24-31), den Landtieren und den Menschen. Die Korrespondenz zwischen Tag 3 und Tag 6 geht noch weiter, denn es ist an diesen Tagen nicht allein Gott, der als Schöpfer auftritt, sondern die Erde hat eine zentrale Rolle als Mitschöpferin von Pflanzen und Landtieren inne.7 Zudem werden die Pflanzen, die am dritten Tage von der Erde hervorgebracht werden, am sechsten Tag ihren Lebewesen von Gott zur Nahrung zugeteilt. Die Schöpfung gipfelt in der Etablierung, Segnung und Heiligung des Schabbats am siebten Tag, was bedeutet, dass nicht der Mensch Ziel der Schöpfung ist, sondern „(d) er siebente Tag, der Sabbat, ist die Krone der Schöpfung. Daraufhin ist sie ausgerichtet“8. Insgesamt ist der Text davon geprägt, die Similarität und Alterität der Geschöpfe auszutarieren. Die Gleichheit von menschlichen und tierlichen Lebewesen offenbart sich zunächst darin, dass sie alle den Status als Geschöpfe Gottes innehaben, die nicht aus eigener Kraft existieren, sondern allein aus Gottes Willen. Eine besondere Nähe besteht zwischen der Kategorie der Landtiere und den Menschen. Beide teilen sich als Geschöpfe des sechsten Tages den Lebensraum Erde (erez). Die Tiere werden „lebendige Kehle“ (nefesch chajah) genannt – die Bezeichnung nefesch wird außerhalb von Gen 1 auch auf Menschen (z.B. Gen 12,5; 14,21; 210 n Bibel und Kirche 4/2016 Ex 1,5; Lev 2,1), aber nie auf Pflanzen angewendet. Beachtenswert ist außerdem, dass im Rahmen der göttlichen Nahrungszuweisung (Gen 1,29f) sowohl Menschen als auch Land- und Himmelstieren ausschließlich pflanzliche Kost zugeteilt wird, was eine gegenseitige Tötung zu Ernährungszwecken ausschließt. Der Unterschied zwischen Menschen und Tieren wird am auffälligsten konstruiert, indem erstere dezidiert als Bild und Gleichnis Gottes erschaffen werden (1,26). Diese Vorstellung vom Menschen als Bild Gottes greift die altorientalische Königsideologie auf und verändert diese dahingehend, dass nicht nur der König, sondern jeder Mensch als Repräsentant Gottes auf Erden gilt. Diese darin enthaltene herrschaftskritische und demokratisierende Tendenz setzt sich in dem folgenden Differenzkriterium fort: Die Menschen – Männer wie Frauen – werden zum Einnehmen der Erde und zum Herrschen über die Tiere aufgefordert.9 Die gegenüber der potentiell bedrohlichen Tierwelt in der Minderheit befindliche Menschheit soll in Gottes Namen das Chaos hin zum Guten bändigen. Das hierarchische Gefälle wird zwischen Menschen als den Herrschenden und Tieren als den Beherrschten besonders deutlich. Dennoch soll diese Herrschaft durch die Repräsentanten Gottes im Sinne dessen verantwortlich ausgeübt werden, der qua Nahrungszuweisung eine gegenseitige 6 Vgl. Erich Zenger, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungs- theologien, Düsseldorf 1997, 145. Siehe dazu insbesondere Norman Habel, The Birth, the Curse and the Greening of Earth. An Ecological Reading of Genesis 1-11 (The Earth Bible Commentary 1), Sheffield 2011. 8 Rainer Hagencord, Die Würde der Tiere. Eine religiöse Wertschätzung, Gütersloh 2011, 107. 9 Zur Semantik der hier verwendeten Verben und der Forschungsgeschichte dazu siehe insbesondere Bernd Janowski, Herrschaft über die Tiere. Gen 1,26-28 und die Semantik von hdr, in: Ders.: Die rettende Gerechtigkeit. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 2, Neukirchen-Vluyn 1999, 33-48. 7 Das Gleiche und das Andere Tötung seiner Geschöpfe ausschließt. Auch wenn Gen 1 das Bild einer wohlgeordneten Welt als Lebenshaus für alle Geschöpfe skizziert, wird hier trotzdem literarisch eine Hierarchie zugunsten der Menschen entworfen. Die kultische Klassifikation: Reine und unreine Tiere Die biblische Klassifizierung der Tierarten als „rein“ und „unrein“ – und damit als essbar oder nicht – in Lev 11 und Dtn 14 ist in besonderer Weise kulturbewegend, gehen aus ihr doch die Bestimmungen zu koscheren Tieren in den jüdischen Speisegesetzen (Kaschrut) hervor. Problematisch ist, dass mit dem Gegensatzpaar rein/unrein heute ganz andere Konnotationen verbunden sind – nämlich vorrangig Hygiene und Moral – als ursprünglich intendiert. Bei den alttestamentlich-altorientalischen Vorstellungen von Reinheit geht es „darum, Eindeutigkeiten nicht zu zerstören, Sphären nicht zu vermischen, Ordnungen nicht durcheinanderzubringen“10. Reinheit steht eng in Verbindung mit der Heiligkeit Gottes, der im Kult wie im Alltag durch physische Ordnung – und damit Reinheit – ein sichtbarer Ausdruck verliehen wird.11 Unreinheit hingegen bedeutet eine Störung des geordneten, vollkommenen Normalzustandes durch die Überschreitung von Grenzen physischer oder sozialer Art (vgl. Lev 15; 18,20) und beinhaltet eine Lebensminderung12, wird jedoch nicht zwangsläufig moralisch negativ beurteilt, was auch für die unreinen Tierarten gilt. 10 Thomas Staubli, Die Bücher Levitikus, Numeri (NSK AT 3), Stuttgart 1996, 90. Vgl. Mary Douglas, Purity and Danger. An analysis of concept of pollution and taboo, London/New York 2007 [1966], 63-65. 12 Vgl. Jacob Milgrom, Leviticus. A Book of Ritual and Ethics (A Continental Commentary), Minneapolis 2004, 101. 13 Vgl. Mary Douglas, Leviticus as Literature, Oxford/New York 1999, 138. 11 Der auf Heiligkeit abzielenden Reinheitskonzeption entsprechend stehen auch in Lev 11 und Dtn 14 Vollkommenheit, Ganzheit und Ordnung im Hintergrund der Regularien. Die Tierarten gelten als rein, d.h. vollkommen, wenn sie ihrer Gruppe vollständig entsprechen bzgl. ihrer Erscheinungsweise, ihrem Verhalten und ihrer Fortbewegung: Die vierfüßigen Landtiere müssen gespaltene Klauen haben und wiederkäuen (Lev 11,3), die Wassertiere müssen Flossen und Schuppen haben (Lev 11,9). Für die Vögel fehlt solch eine Formel. Entspricht die Tierart in keinem oder nur in einem Punkt dieser Kategorie, gilt sie als unvollkommen, als unrein. Auch Tiere mit vier oder mehr Beinen, die fliegen, d.h. geflügelte Insektenarten (Lev 11,20), widersprechen diesem System und stehen für die Überschreitung von Grenzen, sind es doch für gewöhnlich zweibeinige Vögel, die fliegen. Zusätzlich wird deutlich, dass die Speisegebote formal auf die kosmologische Kategorisierung der Tierarten in Land-, Wasser- und Himmelstiere zurückgreifen. Die Zuschreibung der Reinheit der Tierarten geht mit einer Freigabe des Fleischkonsums einher. Unreinheit impliziert zusätzlich noch ein Verbot, die toten Tierkörper zu berühren. Jeder Begegnung mit der Tierwelt ist so eine theologische Dimension eigen durch die Wahrnehmung des jeweiligen Tieres als rein oder unrein, als der Vollkommenheit JHWHs entsprechend oder nicht. Die Speisegebote demonstrieren auch, dass Alltag und Kult kaum voneinander zu trennen sind – selbst die alltägliche Nahrungsaufnahme ist religiös aufgeladen.13 Auch die göttliche Erwählung Israels unter den Völkern spiegelt sich in den Speisebestimmungen wider. Denn in einem als unrein wahrgenommenen sozialen, politischen und religiösen Umfeld werden bestimmte Menschen – das Volk Israel – sowie bestimmte Tiere abgesondert Bibel und Kirche 4/2016 n 211 Yvonne Sophie Thöne und als heilig bzw. rein qualifiziert. Die Reinheitsbestimmungen im Allgemeinen wie die Speisegebote im Speziellen dienen somit der Bestimmung kultureller und religiöser Identitäten.14 Bemerkenswert ist außerdem, dass durch die rigorosen Bestimmungen der menschliche Zugriff auf Tiere erheblich eingeschränkt wird15 – zumindest was die Vielfalt an erlaubten Arten betrifft, denn freilich gehen Lev 11 und Dtn 14 nicht so weit, den Tierfleischkonsum generell zu tabuisieren. Insofern sind für die als „unrein“ deklarierten Tierarten existentielle Vorteile auszumachen, da diese nicht gegessen oder anderweitig verarbeitet werden dürfen und entsprechend kaum ein Interesse daran besteht, sie zu töten16, woraus folgt, dass die biblischen Speisegebote als ein Beitrag zum Artenschutz gelesen werden können.17 Die biozentrische Ordnung: Tiere (und Menschen) als Fleisch „Das Schicksal der Menschenkinder und das Schicksal der Tiere ist eines: wie diese sterben auch jene, und sie haben alle einen Geist. Und es gibt keinen Vorzug des Menschen vor den Tieren, denn alles ist ein Windhauch.“ (Koh 3,19) So wie Kohelet in seinen philosophischen Betrachtungen eine grundsätzliche Ähnlichkeit von Menschen und Tieren feststellt, lösen auch andere alttestamentliche Texte vermeintlich trennscharfe Linien zwischen Menschen und Tieren auf. Menschliche und tierliche Geschöpfe werden als miteinander verwandt begriffen, wenn sie als Geschöpfe des gleichen Tages und Lebensraums dargestellt (Gen 1, s.o.), als aus dem gleichen Material (nämlich dem Erdboden) bestehend beschrieben (Gen 2) oder gleichermaßen als „Kehle/Lebewesen“ (nefesch) bezeichnet werden (Gen 9,15f). 212 n Bibel und Kirche 4/2016 Als lebendige Geschöpfe im Gegenüber zu Gott geraten ebenfalls Menschen und Tiere in der Bezeichnung als „Fleisch“ (basar) in den Blick. So wird etwa in der Sintfluterzählung festgestellt, dass „alles Fleisch“ auf Erden verdorben ist (Gen 6,12) und meint damit Menschen und Tiere. Diese Gemeinschaftsbezeichnung von Menschen und Tieren als „Fleisch“ zieht sich durch die gesamte Sintfluterzählung (Gen 7,21; 9,11.1517) und wirft damit die modern anmutende Frage nach der Schuldfähigkeit von Tieren und deren Status als moral agents auf. Der Begriff basar zielt auf die fleischlichkörperliche Materie ab, aus der Menschen und Tiere bestehen, und ist in seiner Bedeutung ambivalent: Einerseits steht Fleisch für Lebendigkeit, andererseits für Vergänglichkeit – ein Grund, wieso der ewige Gott nicht aus Fleisch ist. Fleisch repräsentiert also das Leben in seiner Hinfälligkeit, steht darüber hinaus auch für Verwandtschaft (vgl. Gen 2,23; Ri 9,2; 2 Sam 5,1).18 Auch außerhalb der Sintfluterzählung werden Menschen und Tiere häufig unter dem Begriff basar subsumiert. In den Psalmen – wo mitunter explizit Tiere zum Gotteslob aufgefordert werden (Ps 69,35; 148,7.10) – ist etwa davon die Rede, dass alles Fleisch Gottes Namen preisen solle (145,21) oder dass dieser allem Fleisch, d.h. all seinen Geschöpfen, Nahrung gibt (136,25). JHWH stellt sich als der Gott allen Fleisches vor (Jer 32,27) oder bringt Unheil über alles Fleisch 14 Vgl. Reinhard Achenbach, Zur Systematik der Speisegebote in Leviticus 11 und in Deuteronomium 14, in: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 17/2011, 161209, hier: 161. 15 Vgl. Milgrom, Leviticus, 733. 16 Vgl. Douglas, Literature, 157. 17 Wobei das Konzept „Artenschutz“ in der Antike freilich als solches noch nicht existierte. 18 Vgl. Silvia Schroer/Thomas Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt ²2005, 161-170. Das Gleiche und das Andere (Jer 45,5).19 So stellt basar, ähnlich wie der Begriff nefesch, eine gemeinsame Kategorie für menschliche und tierliche Geschöpfe dar, deren Geschöpflichkeit in Abgrenzung zu Gott ausgedrückt wird. Ordnung, Wahrnehmung und Wirklichkeit Jede Wahrnehmung von Tieren und jedes Wissen über sie ist kulturhistorisch vorgeformt. Durch die Ordnungsraster der jeweiligen Epoche, Kultur und Gesellschaft werden Tiere je unterschiedlich bewertet, dargestellt und behandelt. Ein Esel kann beispielsweise im Horizont von Gen 1 als landlebendes Geschöpf Gottes in der Nähe zum Menschen wahrgenommen werden, im Licht von Lev 11/Dtn 14 als unreines, kultunfähiges Tier. Er kann als Haustier unter dem Aspekt seiner Arbeitsleistung oder aber als handlungsmächtige Figur mit theologischer Sensibilität20 betrachtet werden. Relevant für das jeweilige reale Tier bzw. die Tierart sind insbesondere die konkreten, materiellen Folgen, die sich aus den Kategorisierungen ergeben,21 beispielsweise das Interesse an der Tötung für kultische und Nahrungszwecke, die an die Zuschreibung als reines Tier gekoppelt ist. So wird deutlich, dass hinter den jeweiligen Ordnungen bestimmte Interessen stehen; sie prägen den praktischen Umgang und die Erfahrungen mit Tieren und gründen gleichzeitig darin. „Nichts ist tastender, nichts ist empirischer (wenigstens dem Anschein nach) als die Einrichtung einer Ordnung unter den Dingen“22 – gleiches gilt für eine Ordnung unter den Tieren. 19 Zusammenfassung In den Texten der Tora werden Tiere in einer kosmologischen Klassifikation eingeteilt und nach kultischen Gesichtspunkten in reine und unreine Tiere unterteilt. Der Beitrag erläutert diese Ordnungen. Dr. Yvonne Sophie Thöne ist PostDoc im LoeweSchwerpunkt „Tier – Mensch – Gesellschaft“ der Universität Kassel mit einem Projekt zu Tier­ordnungen in der Tora. 2012 erschien ihre Dissertation Liebe zwischen Stadt und Feld. Raum und Geschlecht im Hohelied. Weitere Arbeitsschwerpunkte sind Sexualität und Körperwahrnehmung, Tierethik, Narratologie und Ikonographie. Unser Tipp Folgendes Spiel von Yvonne Thöne können Sie bei uns im Downloadbereich finden: gehen Sie dazu auf www.bibelwerk.de - Materialpool - Biblische Themen - Tiere in der Bibel Vgl. Hermann-Josef Stipp, „Alles Fleisch hatte seinen Wandel auf der Erde verdorben“ (Gen 6,12). Die Mitverantwortung der Tierwelt an der Sintflut nach der Priesterschrift, in: ZAW 111/1999, 167-186. 20 So in der Bileamerzählung, s.o. 21 Vgl. Roscher, Tiere, 181. 22 Foucault, Ordnung, 22. Bibel und Kirche 4/2016 n 213