Johannes Brahms (1833-1897) Ein Deutsches Requiem

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Johannes Brahms (1833-1897)
Ein Deutsches Requiem
Claus L. Heitmann
Im Jahre 1853 ergriff Robert Schumann erstmals nach 10-jährigem Schweigen wieder
das Wort in der „Neuen Zeitschrift für Musik“, deren verantwortlicher Redakteur er
lange Jahre gewesen war, und veröffentlichte unter dem Titel „Neue Bahnen“ einen
Aufsatz, in dem er den damals 20-jährigen Johannes Brahms als einen Künstler
vorstellte, „der den höchsten Geist der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen“
sei. In seiner Begeisterung über den Hamburger Stadtpfeifersohn, den er erst wenige
Tage zuvor kennengelernt hatte, ließ er sich dabei zu einer Prophezeiung hinreißen, die
für den damals noch völlig unbekannten Musiker alles andere als unproblematisch sein
mußte „Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird“, so schrieb Schumann, „wo
ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns
noch wunderbare Blicke in die Geisterwelt bevor.“ Wie wir heute wissen, ist die –
damals noch ziemlich gewagte – Prognose durch die tatsächliche Entwicklung
vollständig bestätigt worden. Allerdings sollte der zurückhaltende junge Mann bis
dahin noch eine lange und mitunter dornenreiche Strecke zurückzulegen haben. Der
erste und zugleich gewaltige Meilenstein auf diesem Weg war das „Requiem“. Brahms
wagte sich damit erst 15 Jahre nach Schumanns publizistischem Paukenschlag an die
Öffentlichkeit.
Das Werk hat nicht nur deswegen viel mit Schumann zu tun, weil Brahms damit den
ersten Schritt zur Einlösung von Schumanns Versprechen aus dem Jahre 1853 tat. Es
gibt auch sonst zahlreiche Hinweise darauf, dass der Komponist beim Abfassen des
Werkes an seinen Mentor dachte. So entstand der zweite Satz, die Keimzelle des
ganzen Werkes, in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit Schumanns Tod im
Jahre 1856. Dabei verwendete Brahms offensichtlich Themen, die eine Beziehung zu
Schumann hatten, Material, das sich dann durch das ganze Requiem zieht. In den
folgenden Jahren ruhte das Werk. Brahms war auf der langen Suche nach seiner Form
zur Bewältigung der Massen von Chor- und Orchester, wobei er auch
schmerzhafte Misserfolge – etwa bei seinem ersten Klavierkonzert – hinnehmen
musste.
Wiederaufgenommen wurde die Arbeit am Requiem in der Zeit um Schumanns
fünften Todestag, blieb dann aber wieder mehrere Jahre liegen. Unter dem Eindruck
des Todes seiner Mutter im Jahre 1865 komponierte Brahms den vierten Teil des
Werkes, um es im zehnten Todesjahr Schumanns schließlich zu einem vorläufigen
Ende zu führen. Im Sommer 1866 setzte er den Schlussvermerk unter die damals noch
6-teilige Partitur und trug die Komposition in sein persönliches Werkverzeichnis ein.
Bis zur ersten Aufführung des Requiems vergingen noch einmal über eineinhalb Jahre.
Brahms, der sich seiner Sache keineswegs sicher war, verschickte die Partitur zunächst
an Freunde, um deren Meinung zu erfahren. Clara Schumann, der er zu Weihnachten
1866 einen Klavierauszug sandte, schrieb ihm im Januar 1867. „Ich bin ganz und gar
entzückt von Deinem Requiem, er ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen
Menschen in einer Weise wie wenig Anderes“. Dabei kennzeichnete sie das Werk mit
der Formulierung „tiefer Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie“, die man
geradezu als das Motto des Werkes bezeichnen kann.
Eine (Teil)Voraufführung fand unter eher ungünstigen Bedingungen – man hatte nicht
genügend Probenzeit – im Dezember 1867 in Wien unter der Leitung des
Hofkapellmeisters Herbeck statt. Da man glaubte, dem Publikum nicht zu viel schwere
Musik zumuten zu können, spielte man nur die ersten drei Sätze. Davor kam –
erstmalig komplett übrigens – die außerordentlich liebenswürdige und eingängige
Musik zu Rosamunde von Schubert zu Gehör. Die Meinungen der Konzertbesucher
über das Requiem waren dabei – sicherlich nicht zuletzt auf Grund des merkwürdigen
Kontrastes – stark geteilt. Insbesondere die Fuge über dem Orgelpunkt des tiefen D am
Ende des dritten Satzes, eines der gewaltigsten Stücke, die Brahms geschaffen hat,
stieß auf Ablehnung, zumal der Pauker das Geschehen offenbar so dominierte, dass
das komplexe Geflecht der anderen Stimmen weitgehend unterging. Selbst der Wiener
Kritiker Eduard Hanslick, Brahms wichtigster Parteigänger in den kommenden
Auseinandersetzungen mit den Wagnerianern, war ratlos und verglich den Orgelpunkt
mit „der beängstigenden Empfindung, die man beim Eisenbahn-Fahren durch einen
sehr langen Tunnel hat“. (Brahms, der seine Kompositionen gerne bei Spaziergängen
vorbereitete, schrieb darüber später: „Was ich an Stiefeln in Winterthur und Baden
durchlaufen habe, um den berüchtigten Orgelpunkt zu finden.“).
Die Uraufführung des sechsteiligen Werkes fand schließlich am Karfreitag des Jahres
1866 im Bremer Dom statt, wobei Brahms selbst die Leitung übernahm und für eine
sorgfältig Einstudierung sorgte. Anwesend waren viele Freunde des Komponisten und
zahlreiche bekannte Musiker, darunter Max Bruch und Joseph Joachim. Auf das
Erscheinen von Clara Schumann, die die lange Reise von Baden-Baden trotz
psychischer Probleme auf sich genommen hatte, hatte Brahms besonderen Wert gelegt.
Ihre Anwesenheit, so hatte er ihr geschrieben, wäre ihm „eine unglaubliche und große
Freude. Dies wär mir die halbe Aufführung.“
Die Besucher der Aufführung einschließlich der Kritik waren sich einig, Zeugen eines
großen Ereignisses der Musikgeschichte geworden zu sein. Clara Schumann etwa
schrieb in ihr Tagebuch: „Mich hat dieses Requiem ergriffen, wie noch nie eine
Kirchenmusik. …Ich mußte immer wieder, wie ich Johannes so da stehen sah mit dem
Stab in der Hand, an meines teuren Robert Prophezeiung denken, ´lass den mal den
Zauberstab ergreifen und mit Chor und Orchester wirken`- welche sich heute erfüllte.
Der Stab wurde wirklich zum Zauberstab und bezwang alle, selbst seine Feinde.“
Zwei Monate nach der ersten Bremer Aufführung fügte Brahms – wohl ebenfalls dem
Angedenken an seine Mutter – noch den 5. Satz mit dem ergreifenden Sopransolo
hinzu. Damit wollte er ohne Zweifel auch der Tendenz entgegenwirken, das Werk mit
Stücken anderer Komponisten zu unterteilen, die sich nach den ersten Aufführungen
abzuzeichnen begann. Bereits in der Uraufführung hatte man zwischen den dritten und
vierten Satz Violin-Soli von Bach, Tartini und Schumann, die Joseph Joachim spielte,
sowie je eine Arie aus Bachs Matthäus-Passion und Händels Messias geschoben. Mit
den Arien s0llte die Aufführung des Werkes in der Kirche legitimiert werden.
Kirchliche Kreise hatten nämlich bemängelt, dass der Text des Werkes zwar der Bibel
entnommen sei, aber keinen Bezug zu Christus habe. Der praktische Nebeneffekt des
eingeschobenen Satzes war, dass dem Chor, der durchgehend in außerordentlich
anspruchsvollem Einsatz war, eine gewisse Ruhepause verschafft wurde. Die
Uraufführung des gesamten Werkes erfolgte schließlich am 18.2.1869 im Gewandhaus
in Leipzig.
Das “Deutsche Requiem“ geht anders als die meisten anderen Werke dieser attung
nicht von der katholischen Totenmesse mit ihrem lateinischen Textkanon aus, mit der
die Ruhe des Toten erbeten wird. Vielmehr geht es Brahms in letztlich
überkonfessioneller Absicht darum, an Hand von Bibelstellen, die er selbst auswählte,
den Hinterbliebenen Trost zu spenden. Dahinter stehen vor allem die Erfahrungen, die
Brahms im Zusammenhang mit der Tragödie Schumanns machte und die zu dem
Motto führten: „Das Leben raubt einem mehr als der Tod.“ Welche Bedeutung
Schumanns Tod für die Entstehung des Requiems hatte, zeigt nicht zuletzt ein Brief
des Komponisten an Joseph Joachim aus dem Jahre 1873. Seinerzeit rechtfertigte
Brahms die Ablehnung, ein neues Werk für eine Schumann-Gedenkveranstaltung zu
schreiben, mit den Worten: „Dächtest Du der Sache und mir gegenüber einfach, so
wüsstest Du, wie sehr und innig ein Stück wie das Requiem überhaupt Schumann
gehört. Wie es mir also im geheimen Grunde ganz selbstverständlich erscheinen
musste, dass es ihm auch gesungen werden würde“.
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