Werkbeschreibung - Figuralchor

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„ … EUER HERZ SOLL SICH FREUEN UND EURE FREUDE SOLL NIEMAND VON EUCH
NEHMEN.“
JOHANNES 16,22
Überlegungen zu Johannes Brahms‘ „Ein Deutsches Requiem“ nach Worten der
Heiligen Schrift für Soli, Chor und Orchester (Orgel ad lib.) op.45
Brahms‘ „Deutsches Requiem“ hat mit der aus der katholischen Kirche bekannten
Totenmesse lediglich gemeinsam, daß es sieben Sätze umfaßt, ansonsten steht es
quer zur Gattung: seine Sprache ist nicht lateinisch, sondern deutsch; und Brahms
folgt nicht dem in der katholischen Liturgie vorgegebenen Text, sondern er wählt
Bibelstellen aus, die er in einer bestimmten Reihenfolge anordnet und so sein ganz
persönliches Verhältnis zu Sterben und Tod dem Hörer preisgibt.
Das Werk hat eine lange Entstehungsgeschichte, die mit leidvollen persönlichen
Erlebnissen des Komponisten in Beziehung zu sehen ist. Während der fünfzehn
Jahre, in denen ihn die Arbeit an dem Requiem beschäftigte, mußte er 1854 den
Selbstmordversuch seines Freundes und Förderers Robert Schumann miterleben,
sowie in den zwei folgenden Jahren dessen Krankheit und Tod. In diese Zeit fiel
eine Phase der Entfremdung mit Clara Schumann, mit der Brahms gut befreundet
war. 1865 starb seine Mutter, die ihm sehr viel bedeutet hatte. Außerdem
beschäftigte ihn – der sich politisch nie geäußert hatte, aber trotz allem das
Zeitgeschehen intensiv verfolgte – der 1866 beginnende Krieg zwischen Preußen
und Österreich.
Brahms hatte in dieser Zeit immer wieder an dem Requiem gearbeitet, hatte aber
zwischen 1861 und 1865 die Komposition zugunsten von a-cappella-Chorwerken
zurückgestellt. Nun nahm er die Arbeit wieder auf und sandte die fertigen Sätze an
Clara Schumann. Er schrieb ihr dazu, daß er überlege, „ … eine Art deutsches
Requiem …“ zu komponieren. Sie ermutigte ihn, weiterzumachen: „ Der tiefe Ernst,
vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und
besänftigend.“
Erst ein Jahr später entschloß sich Brahms, einige der bis dahin fertiggestellten
Sätze einem größeren Publikum vorzustellen und er hatte dabei schon im Vorfeld
mit dem Unverständnis seiner Zeitgenossen zu kämpfen: bei der ersten Aufführung
1867 in Wien erklangen nur drei Sätze seines Requiems, verbunden mit Musik aus
Franz Schuberts „Rosamunde“. Und die eigentliche Uraufführung am Karfreitag
1868 in Wien erlebte das Werk auch nicht in der vom Komponisten erwünschten
Form, sondern es wurde mit Teilen aus Bachs Matthäuspassion und Händels
Messias ergänzt. Auch in Bremen, wo das Requiem positiv aufgenommen und das
Konzert wiederholt werden mußte, traute man ihm keinen eigenständigen Wert zu
und ließ zusätzlich noch die Sopranarie „Wie nahte mir der Schlummer“ aus Carl
Maria von Webers „Freischütz“ erklingen. Brahms sah sich mit dem Vorwurf
konfrontiert, in seinem Requiem fehle der Gedanke an den Erlösungstod Jesu
Christi, das Ganze sei nicht religiös genug für ein Requiem. Ein Jahr zuvor schon
hatte ihn sein Freund Karl Reinthaler mit dem Pauluszitat gewarnt: „Ist Christus
nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel.“
Brahms reagierte zunächst nicht auf die Kritik des Freundes, aber sie schien ihn
wohl nachdenklich gemacht zu haben. Auch nach der Uraufführung arbeitete er
weiter an seinem Requiem und schrieb im Mai 1868 den Satz „Ihr habt nun
Traurigkeit“, im Gedenken an seine Mutter. Die nun sieben Sätze wurden am 18.
Februar 1869 in Leipzig aufgeführt. Das war eine doppelte Premiere: nicht nur
erklang das Requiem zum ersten Mal in seiner heutigen Form, mit dieser
Aufführung trat auch der neu gegründete Leipziger Gewandhauschor zum ersten
Mal öffentlich auf.
Die katholische Totenmesse spiegelt in ihren Texten das Glaubensverständnis des
Mittelalters: das Konzil von Trient hatte 1545 den Ablauf der Liturgie festgelegt, die
einzelnen Teile des Requiems waren schon früher entstanden. Inhaltlich liegt der
Schwerpunkt auf dem „dies irae“: Angst vor dem Fegefeuer, ewiger Verdammnis
und Furcht und Schrecken vor dem Jüngsten Gericht. Im Gegensatz dazu steht
Brahms mit der Auswahl seiner Texte, die er zum Teil auch aus dem Neuen
Testament nimmt. Statt Furcht, Angst und der flehentlichen Bitte „Libera me“
stehen hier neben der Klage um die Vergänglichkeit allen Seins Trost und Freude
im Mittelpunkt. Immer wieder weisen die Textstellen darauf hin, sei es der Vers aus
den Seligpreisungen der Bergpredigt („Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen
getröstet werden“), oder auch die Worte aus Jesaja 66, 13: „Ich will euch trösten,
wie einen seine Mutter tröstet.“ Die Schrecken des Jüngsten Gerichts haben keinen
Platz in Brahms‘ Komposition.
Ungewöhnlich ist auch Brahms‘ Auffassung vom „ewigen Leben“, das seiner Ansicht
nach in der Erinnerung der Lebenden liegt: sein Requiem schließt mit den Worten
aus der Offenbarung des Johannes: „Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer
Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach.“ Kein Verweis auf das Jenseits, allein
der über-lebende Mensch steht im Mittelpunkt dieses Werkes. Kein Bittgebet für die
Toten, sondern eine Totengedenkfeier für die Lebenden, die sich mit dem Verlust
eines geliebten Menschen abfinden müssen.
Daß aber Trost nur dem gegeben wird, der das tiefste Leid durchmessen hat, das
macht Brahms‘ Musik deutlich:
Wie aus dem Nichts steigt der erste Klang auf: tiefe Streicher entfalten sich über
lang gehaltenen Tönen der Hörner und weichen dann dem Chor, der ebenfalls wie
aus der Ferne einsetzt: „Selig sind, die da Leid tragen.“ Weite, zum Teil
ungewöhnliche Intervalle bewirken eine Stimmung, die von Sehnsucht und
Hoffnung getragen ist: das irdische Leid ist real, aber darauf sollen Trost und
Freude folgen, so ist es versprochen.
Der zweite Satz gehört zu den ältesten Teilen der Kompostion: um 1855 hatte
Brahms an mehreren Werken gleichzeitig gearbeitet, darunter war ein Konzert für
zwei Klaviere. Brahms hat dieses Konzert nicht vollendet, stattdessen hat er die
einzelnen Sätze in anderen Kompositionen eingearbeitet, einer davon wurde zum
„Totentanz“ seines Requiems. Die Jesaja-Worte „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“
werden in starrem unisono deklamiert, dessen Unerbittlichkeit durch die folgenden
Jakobus-Verse aufgelockert wird, bevor der erste Teil wiederholt wird. Durch diese
Düsternis bricht ein jäher Lichtstrahl: „Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit“.
Nun leuchtet in der Musik Freude und Zuversicht strahlend auf.
Der dritte Satz wendet sich weg vom Allgemeinen: die Solostimme lenkt den Blick
auf inneres Reflektieren über das persönliche Ende des einzelnen Menschen. Der
Chor steht hier ebenfalls für das Individuum, er hat keinen Trost parat. Hier findet
die Furcht jedes einzelnen Menschen vor dem Tod ihren Ausdruck: „Nun, Herr, wes
soll ich mich trösten?“ Aber die Antwort ist bald gefunden: „Ich hoffe auf dich.“
Der vierte Satz gibt einen Blick in das Paradies frei. Mit „Wie lieblich sind deine
Wohnungen“ folgt auf die erschütternde und aufwühlende Musik der beiden
vorausgegangenen Sätze ein idyllisch-entrücktes Klangbild.
Darauf folgt quasi eine Stimme aus dem Himmel: der Solosopran singt Worte des
Trostes und der Freude. Wie verklärt schwebt die Melodie, fern von Erdenschwere
und Schmerz, und die dreimalige Wiederholung des Wortes „wiedersehen“ ist wie
ein Versprechen.
Im sechsten Satz flackern Furcht und Schrecken noch einmal auf, Pauken und
Posaunen erinnern an das „dies irae“ der Totenmesse. Der Solobariton kündigt die
Verwandlung an: „Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle
verwandelt werden.“ Der „Klang der letzten Posaune“ ist aber nicht das Signal für
den Sturz in die ewige Nacht, sondern die Ankündigung der Auferstehung. Dieser
Satz endet mit einer feierlichen Lobpreisung des Herrn.
Der letzte Satz nimmt die Seligpreisungen aus dem ersten Satz wieder auf. Die
heftige Bewegung der Musik kommt hier zur Ruhe und eine heitere Gewißheit stellt
sich ein, daß die Verheißung von Frieden und Seligkeit sich erfüllen wird. Das Werk
schließt, wie es begonnen hat: mit dem verschwebenden Klang „selig“.
Die Uraufführung des Werkes war nicht besonders glücklich verlaufen, auch bei
den vorausgegangenen Aufführungen einzelner Teile hatte es Probleme gegeben:
1867 in Wien hatte der Pauker sich seinem Part so intensiv hingegeben, daß er im
dritten Satz alle anderen übertönte und das Publikum außerordentlich irritierte.
Der Musikkritiker Eduard Hanslick schrieb über diese Aufführung, er hätte „die
Empfindungen eines Passagiers“ gehabt, „der im Schnellzug einen Tunnel
durchrasselt“.
Trotz aller anfänglicher Schwierigkeiten und Mißverständnisse hat Brahms‘
Requiem aber sehr schnell sein Publikum gewonnen: in den zehn Jahren nach
seiner kompletten Uraufführung ist es allein im deutschsprachigen Raum über
hundert Mal aufgeführt worden. Der in Wien lebende Hamburger hat sich mit
seinem Werk durchgesetzt: diese Musik ist sowohl Ausdruck tiefster Trauer als
auch größter Hoffnung: daß da kein Ende sein möge, sondern die Liebe ewig währt.
Wetzlar, im Oktober 2009
Gisela Lutzenberger
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