Die babylonische Sprachverwirrung überwinden

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Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
Die babylonische Sprachverwirrung überwinden
Die Begriffe Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft und Dritter Sektor haben in der internationalen (Fach)Öffentlichkeit Konjunktur. Ihre Renaissance verdanken sie den Alternativ- und Umweltbewegungen der
70/80er Jahre in Westeuropa und den osteuropäischen Menschenrechtsbewegungen der 80er Jahre. Die
Begriffe sind aber merkwürdig ambivalent und analytisch unscharf geblieben. Das beruht erstens auf
kulturellen Diversitäten. Wird zwar englisch von ‚civil society’, französisch von ‚société civile’ und
polnisch von ‚spoleczenstwo abywatelskie’ gleichlautend gesprochen, differieren soziologische oder
politologische Wissenschaftsverständnisse oder gar nationale gesellschaftspolitische Diskurse über diese
Termini doch gewaltig. Der wechselnde Sprachgebrauch deutet zweitens auf eine wissenschaftliche
Unschärfe hin: Bspw. werden im bundesdeutschen Diskurs ‚Zivilgesellschaft’, ‚Bürgergesellschaft’ oder
‚Dritter Sektor’ synonym verwendet, oder gelegentlich sogar die Steigerungsform ,zivile Bürgergesellschaft’
gebraucht.1 Die in jüngster Zeit zahlreich erschienene wissenschaftliche Literatur, die sich mit
Begriffklärung und gesellschaftlichem Mehrwert von Zivilgesellschaft befassen, haben drittens
unterschiedliche strategische Ziele: So begreift die tagespolitische Diskussion um den „Aktivierenden
Staat“ das Thema unter dem Aspekt der Kürzung staatlicher Kompensations- und Ersatzleistungen, die
der Sozialstaat nicht mehr bereitstellen will oder kann2 (gemäßigter Sozialstaatsabbau mit neoliberalem
Paradigma = Agenda 2010 bei Rot/Grün gegenüber neo-konservativem, radikalem Sozialstaatsabbau nach
Thatcher-Vorbild = Steuer- und Sozialreform mit Kopfpauschale bei Schwarz/ Gelb). Dem Potenzial
bürgerschaftlicher Arbeit wird von den politischen Lagern unterschiedliches Gewicht beigemessen: Die
sächsisch-bayrische
ehrenamtliche,
d.h.
Zukunftskommission
unbezahlte
Arbeit;
bspw.
im
begreift
Bericht
der
bürgerschaftliches
Engagement
Enquetekommission
zur
als
Zukunft
Bürgerschaftlichen Engagements der aktuellen Bundesregierung wird dessen Potenzial dagegen höher und
professioneller eingeschätzt. Dabei bleibt in beiden Vorstellungswelten die Möglichkeit der doppelten
Funktionalisierung bürgerschaftlichen Engagements: (1) zur Kompensation sinkender staatlicher
Wohlfahrtsleistungen; (2) zur Schaffung von Sozialkapital als „Schmiermittel“ für den Markt. Innerhalb
des Praxisdiskurses sozialer Bewegungen gilt Zivilgesellschaft dagegen viel weitgehender als Ort der
gleichberechtigten emanzipatorischen Auseinandersetzung von NGO’s, Wirtschaft und Staat über die
gesellschaftliche Entwicklung.3
Diese Hausarbeit versucht zuerst eine Begriffsbewertung von ‚Zivilgesellschaft’, ‚Bürgerschaftlichem
Engagement’ und ‚Drittem Sektor’ vor dem Hintergrund des Diskurses über Bürgerbeteiligung und
Gesellschaftsumbau innerhalb der sozialen Bewegungen. Erst auf dieser Grundlage kann die
soziokulturelle Landschaft Sachsens als Ort zivilgesellschaftlichen Engagements vorgestellt und die sich
aus ihr ergebenden Perspektiven für Erwerbsarbeit umrissen werden. Diese Arbeit will also zweierlei
vgl. Maecenata-Institut für Dritter-Sektor-Forschung / Bertelsmann Stiftung (2001): Expertenkommission zur Reform des Stiftungs- und
Gemeinnützigkeitsrechts. (Zugriff: 3. 4. 2004, 19.46 MESZ), http://www.bertelsmann-stiftung.de
2 „... in Deutschland wird unter dem Stichwort Bürgergesellschaft große Hoffnung in das Reformpotential des Dritten Sektors gesetzt. Selbständigkeit und
Solidarität sind dabei zentrale Elemente der Dritte Sektor Organisationen, die [...] maßgeblich auf solidarische Unterstützung in Form von
ehrenamtlichem Engagement und privaten Spenden angewiesen sind. Da die Organisationen des Dritten Sektors eine Zwischen- bzw. Mittlerstellung
zwischen den Sektoren Staat, Markt und Familie einnehmen, sind sie prädestiniert, als Motor einer gesamtgesellschaftlichen Modernisierung zu
fungieren.“ Rundbrief Aktive Bürgerschaft (4/2003): "Theorie der Bürgergesellschaft". (Zugriff: 3. 4. 2004, 19.50 MESZ), http://www.aktivebuergerschaft.de/dsf/publikationen/ glossar/drittersektor.php
3 vgl. z.B. Korgel (1999); Kahane (2000); Bringt (2000); ZDK (2000); Friedrich Ebert Stiftung (2002); u.v.a.
1
Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
leisten: Sie will (1) Zivilgesellschaft als Ort selbstBEWUSSTer Bürgerarbeit definieren und (2)
Bürgerarbeit als Erwerbsmodell am Beispiel der Arbeit soziokultureller Netzwerke in Sachsen vorstellen.
Zivilgesellschaft (ZG)4
Der Begriff Zivilgesellschaft (ZG) verknüpft deskriptiv-analytische und normative
Bedeutungsschichten.5 Nach TAYLOR lässt sich ZG in unterschiedlicher Bedeutung und
Qualität beschreiben:
1.
als bloße Existenz von „freien Vereinigungen, die nicht von einer Staatsmacht bevormundet werden“
2.
gibt es, enger gefasst, eine Zivilgesellschaft nur dort, „wo die Gesellschaft als Ganze sich durch
Vereinigungen, die nicht von der Staatsmacht bevormundet werden, strukturieren und ihre Handlungen
koordinieren kann“
3.
(Ergänzung zu 2.) liegt eine Zivilgesellschaft dann vor, wenn die „Gesamtheit der Vereinigungen den Gang
der staatlichen Politik signifikant bestimmen kann“6
TAYLOR zufolge ist eine Zivilgesellschaft im Sinne der ersten Beschreibung im Westen bereits
gut ausgebildet. In Osteuropa fehlte sie dagegen gänzlich und wurde dort primäres Ziel der
Menschenrechtsbewegungen der 80er Jahre. Die beiden anderen Bedeutungen von
Zivilgesellschaft sind weltweit noch nicht verwirklichte Ziele.
Eine herausragende Stellung hat der Begriff ZG in der Kommunitarismus-Theorie Michael
WALZERs. Für ihn ist das „gute Leben“ nur in der Zivilgesellschaft zu führen. Allerdings sind
dafür auch gesellige und gemeinschaftsliebende Menschen nötig.7
KOCKA schlägt eine ZG - Definition in dreifacher Weise vor.8
1. ZG als Typus sozialen Handelns:
Als spezifischer Typus sozialen Handelns ist Zivilgesellschaft dadurch charakterisiert, dass sie:
-
auf Konflikt, Kompromiss und Verständigung (durch Diskurs) in der Öffentlichkeit ausgerichtet ist,
-
individuelle Selbständigkeit und gesellschaftliche Selbstorganisation betont,
-
Pluralität, Differenz und Spannung anerkennt (toleriert),
-
Gewaltfrei und friedlich verfährt und
-
von eigenen Erfahrungen/Interessen ausgehend sich für das Allgemeinwohl engagiert.
Im Begriff Zivilgesellschaft schwingt das Wort ‚Zivil’ mit; also die Erinnerung an eine demokratische
Kultur9 des mündigen, friedlichen, selbständigen, nicht egoistischen Denkens, Handelns und
Kommunizierens.
nachstehend folgt eine Auswahl von Zivilgesellschaftsdefinitionen, mit denen der Autor sich innerhalb der letzten 5 Jahre auseinandergesetzt hat. Die
Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
5 Kocka, Daele, Rucht, Gosewinkel (2004), In: WZB-Mitteilungen März/2004, S. 18
6 Taylor (1991), S. 57
7 vgl. Walzer (1996a), S. 78
8 Kocka (2002), S. 32
9 Demokratische Kultur bedeutet die Anerkennung der Würde und Freiheit jedes Menschen kraft seines Menschseins. Sie ist zugleich Voraussetzung
dafür, dass ich mich selbst als Wesen mit Würde begreifen kann. Aus der Gleichheit der Menschen folgt der Anspruch in gleicher Weise an der Steuerung
der gesell. Verhältnisse teilzunehmen. Das demokratische Menschenbild geht zudem von der grundsätzlichen Freiheit des einzelnen aus. Beschränkungen
4
Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
2. ZG als Bereich zwischen Wirtschaft, Staat und Privatsphäre:
Diese oben handlungslogisch beschriebene Art sozialer Interaktion ist vor allem in der sozialen Sphäre
anzutreffen, die „in modernen ausdifferenzierten Gesellschaften zwischen Staat, Wirtschaft und
Privatsphäre zu lokalisieren“10 ist, also im Raum der sozialen Bewegungen, NGO’s und Vereine. Zwar gibt
es sie auch in der staatlichen Verwaltung, den Wirtschaftsunternehmen und den Familienbeziehungen
(dann sind diese auch teil der ZG), doch kommen in diesen Bereichen Primär andere Handlungsmodi
(Kampf & Krieg; Tausch & Markt; Herschafft und hierarchische Beziehungen; private Sphäre &
persönliche Beziehungen) zum Tragen.
3. ZG als Kern ein sich absetzender Gesellschaftsentwurf mit utopischen Zügen:
ZG kann sich nur dann nachhaltig etablieren, wenn sie „eingebettet ist in ein Bukett sich wandelnder
ökonomischer, sozialer, politischer und kultureller Bedingungen, deren Sicherung und Bekräftigung sie
umgekehrt dient“.11 ZG etabliert sich an und durch die Kritik an bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnissen:
1)
gegen den übermächtigen, einengenden Staat
2)
gegen die Ökonomisierung des der gesellschaftlichen Interaktionen (als Alternative zur Omnipräsenz und –
potenz der Marktlogik)
3) ein Gemeinsinn betonendes Gegenprogramm zu Formen der Unterdrückung, Diskriminierung oder der
Ungleichheit und gegen die Fragmentarisierung und Endsolidarisierung der Gesellschaft.
Somit ist ZG Teil einer umfassenden Gesellschaftsutopie, die von der Aufklärung bis heute uneingelöste
Züge enthält. Die Entwicklung der ZG ist, wie KAHANE es beschreibt, ein Prozess, „in dem die
Individuen und gesellschaftliche Gruppen ihre Möglichkeiten der Freiheit zwischen Staat und Ökonomie
[stetig – d. Verf.] weiterentwickeln“12: Gegen die absolutistische Macht des Königs sprach Locke von
Zivilgesellschaft als Schutz des Einzelnen durch ein lebendiges Parlament. Später meinte Montesquieu,
dass es zwischen dem Einzelnen und dem Parlament große vermittelnde Organisationen geben muss
(Parteien, Gewerkschaften, seit dem Laizismus auch die Kirchen), die ebenfalls zur Zivilgesellschaft
gehören. Tocqueville sagte, das reiche nicht und lebendige Innovation durch kleine freiwillige
Assoziationen gehöre ebenfalls dazu, wir nennen sie heute NGO´s. Gramscis revolutionäres Konzept
schloss die Meinungsführer aller Ebenen des kulturellen Alltags ein und HABERMAS schließlich findet,
dass es keine Zivilgesellschaft gibt, ohne öffentliche Kommunikation, die es erlaubt, herrschaftsfrei über
Werte zu reden. Nach HABERMAS bilden „nicht-staatliche und nicht-ökonomische Zusammenschlüsse
und Assoziationen auf freiwilliger Basis“ den „institutionellen Kern“ einer Zivilgesellschaft: „Die Zivilgesellschaft setzt sich aus mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und
Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten
Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit
der Freiheit sind stets legitimationsbedürftig. Die Freiheit des Einzelnen erweist sich schließlich als notwendiges Prinzip zur Lösung individueller und
gesellschaftlicher Probleme. Demokratische Kultur zielt somit auf die Entwicklung der Gesellschaft unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen auf
der Grundlage des demokratischen Menschenbildes. Eine solche politische Kultur der Beteiligung und des Dialoges ist nur mittels breiter Information und
Transparenz von Entscheidungsstrukturen möglich. Demokratische Kultur hat dort Grenzen, wo universelle Menschenrechte nicht anerkannt, wo
rassistische oder völkische Wertevorstellungen offen propagiert werden. (vgl. Bringt 2000)
10 e.b.d., S. 33
11 e.b.d.
12 Kahane (2000), S. 94ff
Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
weiterleiten.“13 Der diskursive Charakter der Zivilgesellschaft steht auch bei DUBIEL im Vordergrund.
Für ihn ist die Zivilgesellschaft Kommunikationspraxis und öffentliche Arena zugleich.14 Dort soll um die
Einheit der Gesellschaft gestritten werden, was allerdings auch er angesichts funktionaler
Differenzierungsprozesse für eine schwierige Angelegenheit hält. Auch bei RÖDEL stiftet „die Kette der
in der Geschichte der modernen Gesellschaften tatsächlich erzielten Konventionen (...) allein das Band
des Zusammenhalts dieser Gesellschaften“.15 Der Ort dieser Übereinkünfte ist eine Zivilgesellschaft als
„Netzwerk von Handlungszusammenhängen, die von sich assoziierenden Mitgliedern der Gesellschaft
gebildet werden.16
So unterschiedlich wie die historischen und perspektivischen Zusammenhänge sind auch die Interessen
der Akteure, die den Begriff ‚Zivilgesellschaft’ gebrauchen. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie aus
unterschiedlichen Motiven jeweils die Ausdehnung der Rechte und der Freiheit der Individuen gegenüber
der herrschenden Struktur des Staates zum Ziel haben. Seit der französischen Revolution ist die
Demokratie und mit ihr die ZG verbunden mit den universellen Menschenrechten, die von der Freiheit,
Gleichwertigkeit und Würde aller Menschen und ihrer Assoziationen ausgehen. Auf dem Weg zu einer
lebendigen Demokratie kann die ZG demnach eine wichtige Dimension des Handelns im Sinne der
Menschenrechte sein.
Die ZG braucht demnach viele Bedingungen und Strukturen, damit aus der Masse von Bürgern mit
unterschiedlichsten Interessen und Motiven, ‚citoyens’ werden, die eine demokratische Kultur und deren
Standards zu verteidigen bereit sind.17 Dennoch wird nur in der lebendigen Zivilgesellschaft immer wieder
die Öffentlichkeit für menschenrechtliche Themen hergestellt und durch alle gesellschaftliche Schichten
hindurch der Prozess des gesellschaftlichen Diskurses neu angeregt. ZG ringt in allen ihren Dimensionen
bis heute ständig um die Ausformung von Menschenrechten: durch Individuen in ihrer Freiheit und
Gleichwertigkeit, durch vermittelnde Organisationen, durch NGOs und die demokratische, kritische
Öffentlichkeit.
ZG ist demnach niemals identisch mit der real existierenden Gesellschaft. Sie ist vielmehr ein
Strukturelement derselben, die immer auch anderes enthalten: Staat und Herrschaft, Tausch und Markt,
Intimität, aber auch Gewalt und Krieg, Fanatismus und Chaos. Zivilgesellschaft be- und entsteht in der
Affinität zu den von ihr kritisierten Zuständen bzw. Typen sozialen Handelns. Sie ist nicht Markt, aber sie
ist auch nicht ohne Markt. „Die Entstehung und der Erfolg von Marktwirtschaften wird von
zivilgesellschaftlichen Strukturen erleichtert, wenn nicht gar ermöglicht.“18
Insgesamt decken alle genannten Theorien die entscheidenden Themenbezüge der
internationalen Zivilgesellschaftstheorie der 1990er Jahre ab. Es lassen sich folgende Elemente,
wenn auch in abgewandelter Form, in allen Variationen der Theorieansätze finden:19
Habermas (1992), S. 443
vgl. Dubiel (1994), S. 97
15 Rödel (1994), S. 135
16 e.b.d., S. 127
17 Kahane (2000), S. 96
18 Kocka (2002), S. 34
19 vgl. Bringt (2000), S. 40
13
14
Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
•
Die Zivilgesellschaft besteht aus nicht-staatlichen Vereinigungen und sozialen Bewegungen, die eine
zwischen Staat und Gesellschaft vermittelnde Sphäre bilden.
•
Diese Vereinigungen und Bewegungen stärken des demokratische System, da sie Totalitarismen abwehren,
indem sie die Artikulation verschiedener Standpunkte zulassen und Solidarität in der Bürgerschaft
entwickeln. Totalitäre Systeme zeichnen sich durch die Abwesenheit bzw. Unterdrückung des
zivilgesellschaftlichen Diskurses aus.
•
Das entscheidende Moment der Zivilgesellschaft ist die freie Kommunikation, bzw. der Diskurs über
gesellschaftliche Problemstellungen und Lösungsansätze.
•
Jede Zivilgesellschaftstheorie enthält bestimmte Existenzbedingungen, die entweder als Normen und Werte
oder als Regeln der demokratischen Praxis formuliert werden.
Uneinheitlich wird die Rolle der Ökonomie innerhalb der verschiedenen Konzeptionen eingeschätzt.
Insgesamt wird sie jedoch im Zusammenhang mit Zivilgesellschaft als gesellschaftswirksame Kategorie zu
wenig analysiert.
‚Bürgergesellschaft’, ‚bürgerschaftliches Engagement’ und ‚Ehrenamt’
DAHRENDORF legt in seinem Konzept der Bürgergesellschaft20 den Fokus auf nicht-staatliche und
dezentrale „Organisationen und Institutionen als Organe des Volkswillens“21 und will „das schöpferische
Chaos der vielen, vor dem Zugriff des (Zentral-)Staates schützen.“22 Parteien, Gewerkschaften,
Industrieunternehmen, soziale Bewegungen, NGO’s, Universitäten, Kirchen, Stiftungen, etc. sind für ihn
Teil der Bürgergesellschaft. Die Sphäre in der diese Institutionen operieren, muss von Vielfalt
(Pluralismus), Autonomie und Gewaltlosigkeit geprägt sein. Herausragendes Merkmal der Bürgergesellschaft ist für DAHRENDORF der „Bürgersinn“23, womit er Tugenden wie „Bürgerstolz“ und
„Zivilcourage“24 meint. Der Bürgersinn sei jedoch in Gefahr, weil eine Vielzahl von Menschen von
soziokultureller Partizipation ausgeschlossen seien. Das Problem dieser Marginalisierten sei das der
‚Unvollständigkeit‘, die sich in unvollständigen Familien, unvollständigen Arbeitsverhältnissen,
unvollständigen Staatsbürgern (bspw. Einwanderern) und unvollständigen politischen und sozialen
Rechten manifestiere.25 Diese „Unvollständigkeit“ sei das zentrale Problem der westlichen
Bürgergesellschaften, denn die so entstandenen unpolitischen (unbeteiligten) Unterschichten seien eine
„ständige Anklage gegen die Zivilität unserer Gesellschaft“.26
Die Enquete-Kommission „Zukunft bürgerschaftlichen Engagements“ definiert Bürgergesellschaft als:
„(...) ein Gemeinwesen, in dem sich Bürgerinnen und Bürger nach demokratischen Regeln selbst
organisieren und auf die Geschicke des Gemeinwesens wirken können. Im Spannungsfeld von Markt,
Staat und Familie wird Bürgergesellschaft überall dort sichtbar, wo sich freiwillige Zusammenschlüsse
Dahrendorf übersetzt den englischen Begriff civil society (Zivilgesellschaft) ausschließlich mit „Bürgergesellschaft“.
Dahrendorf (1991), S. 262 In: Bringt (2000), S. 37
22 Dahrendorf (1992), S. 69 In: e.b.d.
23 Dahrendorf (1992), S. 70 In: e.b.d.
24 e.b.d.
25 Dahrendorf (1991), S. 251 In. e.b.d.
26 Dahrendorf (1991), S. 252 In: e.b.d.
20
21
Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
bilden, wo Teilhabe und Mitgestaltungsmöglichkeiten genutzt werden und Bürgerinnen und Bürger
Gemeinwohlverantwortung übernehmen.“27 Bürgerschaftliches Engagement sei dabei Angelegenheit von
gemeinnützigen Organisationen und staatlichen Institutionen. Denn im Spannungsfeld von Staat und
Bürgerschaft müssten Verantwortlichkeiten ständig neu verhandelt werden. Erforderlich wäre eine klare
Festlegung öffentlicher Aufgaben und Ziele bei weitgehender Offenlassung der Mittel und Wege zu ihrer
Erfüllung. Bei der Aktivierung der Bürgergesellschaft ginge es um einen Lernprozess, der auch ein
verändertes staatliches Selbstverständnis einschlösse. Der Staat müsse lernen, wie er als ermöglichender
Staat wirken könne, wie er intermediäre Strukturen, die öffentliche Sphäre und neue Formen der
Selbstorganisation fördern und stützen könne. Bürgerinnen und Bürger müssten lernen, dass der Staat
nicht die Lösung aller Probleme bedeute. Diesen Aushandlungsprozess begleiteten auch soziokulturelle
Zentren, Initiativen und Netzwerke.28 Eine staatliche Aufgabe, einen ermöglichenden Staat zu
konstituieren, sei es, Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich Bürgergesellschaft entfalten
könne. Dazu gehörten u. a.:29
•
Verwaltungen bürgerorientiert gestalten und entbürokratisieren, verbunden mit Entscheidungen
darüber, welche Aufgaben zwingend von staatlicher Seite erledigt werden müssen und welche qua
Subsidiaritätsprinzip z. B. an freie Träger gegeben werden können;
•
Beteiligungsmöglichkeiten schaffen im direktdemokratischen und informellen Bereich;
•
Möglichkeiten zur Anerkennung, Wertschätzung und Qualifizierung schaffen;
•
Voraussetzungen zur Bildung von Netzwerken schaffen und Infrastrukturen und finanzielle
Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement vorhalten;
Wichtig ist, hier die Unterschiede und Nuancen in den Begrifflichkeiten herauszuarbeiten: Es geht
DAHRENDORF und auch der Enquete-Kommission um den Begriff ‚bürgerschaftliche Engagement’,
nicht um den Begriff ‚Ehrenamt’. Ehrenamt oder auch ehrenamtliches Engagement hat seit den 50er
Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Form- und Qualitätswandel durchlaufen, der für die Entwicklung
einer zeitgemäßen Bürgergesellschaft einerseits und für die Beschreibung heutigen soziokulturellen
Arbeitens andererseits neue Ressourcen freisetzt. Nach Evers/Olk30 hat sich das Engagement der
Bürgerinnen und Bürger aus dem Bereich des traditionellen Ehrenamtes, das in erster Linie sozial verfasst
und vom Willen zum (unentgeltlichen) Helfen geprägt war zu einer lebenslangen (bezahlten) Aufgabe
gewandelt und darüber hinaus in weitere gesellschaftliche Bereiche verlagert. Das Verständnis
ehrenamtlicher Arbeit wandelte sich vom Heilsversprechen jenseits der gelebten Biographie (Über dem
Haupteingang des Dresdner Diakonissenkrankenhauses steht noch heute: „Mein Lohn ist das ich dienen
darf.“) hin zu einem aktiven biographischen Gestaltungselement mit Lohnerträgen im Hier und Jetzt.
Heute zerfällt der Bereich zivilgesellschaftlicher Arbeit in einen wachsenden Anteil hauptamtlicher
Professionen und einen Teil ehrenamtlicher, unentgeldlicher Arbeit. Damit einher ging eine Veränderung
in der Qualität des Engagements: Bürgerschaftliches Engagement hat im Vergleich zum klassischen
Ehrenamt immer eine politische Mitgestaltungs- und Veränderungskomponente.
Während die sächsisch-bayrische Zukunftskommission im alten Verständnis von Ehrenamt im Sinne des
Dienens für die Gesellschaft verharrt, bekommt der Begriff Bürgerschaftliches Engagement bei
BTDrs. 14/8900 (2002), S. 4
vgl. Anmerkungen zu den gesellschaftlichen Funktionen soziokultureller Zentren und Initiativen In: BTDrs. 14/8900 (2002), S. 30
29 vgl. e.b.d., S. 6-8
30 Evers, A./Olk, T. (Hrsg.): Wohlfahrtspluralismus, Opladen 1996, S. 47 ff.
27
28
Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
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DAHRENDORF und der Enquete-Kommission eine qualifizierte, gesellschaftsgestaltende und damit
politische Konnotation.
1.2
Dritter Sektor
1.3.1 Dritter Sektor - Definition
In der Debatte zum bürgerschaftlichen Engagement31 kommt dem Ansatz des „Dritten Sektors“
und der Theorie des „Sozialen Kapitals“ eine wichtige Bedeutung zu.
Die Dritte-Sektor-Forschung ist ein interdisziplinäres, heuristisches Forschungsmodell32, das
davon ausgeht, dass es neben dem marktlichen und staatlichen Handeln einen dritten Bereich
gibt, dessen Handlungslogik sich von den beiden erstgenannten unterscheidet.
Staat
Dritter Sektor
Familie /
Gemeinschaft
Markt
Abb: Dritter Sektor zwischen Markt, Staat und Familie (nach Priller, E. ; Modul 6-ZPSA, Datum)
Gemeinnützige Organisationen unterscheiden sich nach diesem Ansatz von der öffentlichen Verwaltung
durch ein geringeres Maß an Amtlichkeit; im Gegensatz zu Firmen streben sie nicht nach
Gewinnmaximierung, sondern verfolgen ideelle Ziele und orientieren sich dabei am Gemeinwohl.33 Die
Differenz zur Familie, in die man hineingeboren wird, liegt in der Freiwilligkeit von Mitgliedschaft und
Mitarbeit. Selbständigkeit und Solidarität sind dabei zentrale Elemente gemeinnütziger Organisationen, die
- aufgrund der Freiwilligkeit von Mitgliedschaft und Mitarbeit - maßgeblich auf solidarische Unterstützung
in Form von ehrenamtlichem Engagement und privaten Spenden angewiesen sind. Ihre Handlungslogik
basiert dementsprechend nicht in erster Linie auf individuellen Nutzenkalkülen, sondern beruht vorrangig
auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit.34 In modernen Industriegesellschaften deckt der Dritte Sektor ein
weites
Spektrum
von
Organisationen
Nachbarschaftsvereinigungen,
ab,
soziokulturellen
das
von
Initiativen
(Bürger-)Initiativen,
und
NGOs,
Selbsthilfegruppen,
Sportvereinen
über
Stiftungen, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Gewerkschaften, Kindergärten und Krankenhäuser in freier
Trägerschaft bis zu Kunst und Kultur im allgemeinen reicht.35
vgl. Zimmer/Nährlich 2000; Olk/Heinze 2001; Braun 2001a, Politische Bildung Heft 4 2000;Kistler et. al 1999
Arbeitshypothese; vorläufige Annahme zum Zweck des besseren Verständnisses eines Sachverhalts
33 Nährlich, Stefan (2002): Zukunft Bürgerstiftung! Warum die Bürgerstiftungen genau die richtigen Organisationen zur richtigen Zeit sind. (Zugriff: 6. 2.
2004, 23.20 MESZ) <http://archiv.hamburger-illustrierte.de/arc2002/inland/buergergesellschaft/zukunftbuergerstiftung.html
34 Zimmer, Annette (2002): Dritter Sektor und Soziales Kapital. Münsteraner Diskussionspapiere zum Nonprofit-Sektor – Nr. 19 (Zugriff: 6. 4. 2004),
<http://www.aktive-buergerschaft.de/vab/resourcen/diskussionspapiere/wp-band19.pdf>
35 vgl. dazu Priller/Zimmer (2001b)
31
32
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Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
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Der Siegeszug des Dritten Sektor-Begriffs in Politik und Wissenschaft
Den Anlass zur "Entdeckung" des Dritten Sektors in den USA gab die sich in den 70er Jahren
abzeichnende „Neo-Konservative Wende“ vom Keynesianismus der Nachkriegszeit zum Neoliberalismus
von Weltbank und internationalem Währungsfonds der Reagan- und Thatcher-Ära. Hinsichtlich der
Reform des Wohlfahrtsstaates und der Neuorientierung der ‚Policies’ warnte der amerikanische Soziologe
ETZIONI frühzeitig vor „Patentrezepten“. Nach seiner Einschätzung waren Innovation und Reform
weder ausschließlich vom Staat noch vom Markt zu erwarten. Vielmehr verwies ETZIONI bereits damals
auf eine dritte Alternative „a third alternative, indeed sector (...) between the state and the market“.36 Als
Begründung des komparativen Vorteils des Dritten Sektors gegenüber Staat und Markt verwies er auf die
Fähigkeit
seiner
Organisationen,
die
Effizienz
der
Unternehmen
des
Marktes
mit
der
Gemeinwohlorientierung des Staates zu verbinden und als private Organisationen im öffentlichen
Interesse tätig zu sein.
Eine Studie der Johns Hopkins Universität erfasste erstmalig 1997 einheitlich unter dem Begriff ‚Dritter
Sektor’ Daten aus acht Industrieländern.37 Diese Untersuchung ergab, dass unabhängige, nichtstaatliche,
nicht erwerbswirtschaftliche Organisationen, so die Dritte Sektor-Definition des Projekts, in allen
untersuchten Ländern einen bedeutenden Anteil am gesamten Wirtschaftsgeschehen hatten, der
überproportional zum Beschäftigungswachstum beitrug. Mit den Ergebnissen dieses Projekts wurden
außer dem "non-profit sector" der USA erstmals die gemeinnützigen Wirtschaftsbereiche von Frankreich,
Großbritannien, Deutschland, Italien, Japan, Schweden und Ungarn zu einer quantifizierbaren, und damit
analysierbaren Größe.
Im Rahmen der Studie wurde eine 12 Bereiche umfassende Classifikation (International Classification of
Nonprofit Organizations – ICNPO) entwickelt, die den Dritten Sektor in „Branchen“ einteilt.38 Diese
reichen von „Kultur und Freizeit“ über „Bildung und Forschung“, „Gesundheit“, „Soziale Dienste“,
„Umwelt- und Naturschutz“, „Entwicklungsförderung“, „Rechts- und Interessenvertretung, Politik",
„Stiftungen und Förderung des Ehrenamts“, „Internationale Entwicklungshilfe“, „Religion“, „Berufs- und
Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften“ bis „Sonstiges“.39 Diese globale Klassifikation dient heute als
Grundlage für eine regelmäßige statistische Erfassung des Dritten Sektors auf globaler Ebene, denn unter
wissenschaftspolitischen Gesichtspunkten ist der Dritte Sektor-Begriff ein expansives Forschungsfeld.
Aus amerikanischer Perspektive spielte dabei eine Rolle, dass mit der "non-profit sector" Forschung
analytische Modelle entwickelt werden, die in einer spezifisch amerikanischen Tradition des
Wohlfahrtsstaates entstanden und nun auf einer globalen Ebene Anwendung finden können.40 Nicht nur
für den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in der sog. Dritten Welt sondern auch für deren
Rekonstruktion in den einst staatsautoritären Gesellschaften Osteuropas und Asiens ist die Frage nach
den Mechanismen privater und staatlicher Kooperation von zentraler Bedeutung. Hier besteht weiterhin
eine große Nachfrage nach beratender und gestaltender Forschung.
Etzioni (1973): S. 314
Salamon, Lester M./Anheier Helmut K. (1997): Defining the Nonprofit Sector. A Cross National Analysis. (Zugriff: 3. 3. 2004, 16.45 MEWZ),
<http://www.jhu.edu/~ips/civil.soc.html>
38 International Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project In: Salamon, Lester M./Anheier Helmut K. (1997): Defining the Nonprofit Sector. A
Cross National Analysis. (Zugriff: 3. 3. 2004, 16.45 MEWZ), <http://www.jhu.edu/~ips/civil.soc.html>
39 Rundbrief Aktive Bürgerschaft (4/2003): "Theorie der Bürgergesellschaft". (Zugriff: 3. 4. 2004, 19.50 MESZ), http://www.aktivebuergerschaft.de/dsf/publikationen/glossar/drittersektor.php
40 vgl. bsp. die Übersichten des "Journals of Philanthropy" <www.philanthropy.com>, November 1998]
36
37
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Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
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Effekte auf politischer Ebene gab es schnell: So sah sich die EU-Kommission unter explizitem Bezug auf
die genannte Studie zu einer Mitteilung über die "Förderung gemeinnütziger Stiftungen und Vereine in
Europa" veranlasst.41 Damit wurde der dort definitorisch umrissene ‚Dritte Sektor’ zu einem
gesellschaftspolitischen Betätigungsfeld transnationaler Forschung und Politik, das über die bislang
vorherrschenden, rein wirtschaftlichen Fragen hinausreichte.
Der amerikanische Wissenschaftskritiker Jeremy RIFKIN beschwört den "Dritten Sektor" gar als
„Gegenmacht, die die Wirtschaft bändigen und den Staat zu freiheitlichen Konzessionen zwingen wird“.42
Nahm der dritte Sektor früher eine Entlastungs- und Unterstützungsfunktion gegenüber dem Staat bei der
Erfüllung seiner staatlichen Aufgaben wahr, könnten Aufgaben des Dritten Sektors heute die
Mobilisierung sozialen Kapitals, Partizipation und Integration sein, meint der Direktor des Maecenata
Instituts für Dritter-Sektor-Forschung, Berlin.43
Plädoyer für die Zivilgesellschaft - kritische Auseinandersetzung mit dem Dritten SektorBegriff
Diese Hausarbeit will ein Plädoyer für den Vorrang normativer vor rein deskriptiv-analytischen Begriffen
sein, denn der wichtige Stellenwert zivilgesellschaftlicher Organisationen für die anstehenden
Gesellschaftsreformen bedarf eines eigenen (normativen) Profils von NGO’s als politischen Akteuren.
Dazu ist die „Herausbildung eines Sektorbewusstseins, einer organisationsspezifischen Dritte-SektorIdentität
notwendig,
die
das
dem
Sektor
innewohnende
Potenzial
zur
Selbstorganisation,
Interessenartikulation, Partizipation und Integration aktiviert“.44 Diese Politisierung aber bedarf eines
eigenen politischen SebstBEWUSSTseins von NGO’s, die der Dritte-Sektor-Begriff, meiner Meinung
nach nicht fördert:
A) dem Dritter-Sektor-Begriff fehlt ein (politisches) Bewusstsein seiner selbst
In Abgrenzung zu dem, was die Sache selbst nicht ist: in Abgrenzung zu Staat (erster Sektor) und
Wirtschaft (zweiter Sektor), bezeichnet der Begriff ‚Dritter Sektor’ einen heterogenen Bereich, der weder
von staatlichen noch von wirtschaftlichen Institutionen verwaltet und betrieben wird. Eine Definition ex
negativo ist aber nicht zureichend, „um den Dritten Sektor umfassend zu beschreiben und ihn mit den
Eigenschaften auszustatten, die ihm bislang fehlen: ein eigenes Profil, eigene Kompetenzfelder sowie ein
eigenes, scharf umrissenes Bewusstsein von sich selbst und von seiner gesellschaftspolitischen
Bedeutung.“45 Bei der Suche nach diesem eigenen Profil ist ein Blick auf die grundsätzlichen
Wirkungsfelder von Staat und Wirtschaft hilfreich:
vgl.: EU Kommission (Nov. 1998): <europa.eu.int/comm/off/com/orgfnd.htm> (Zugriff: 4. 3. 2004, 19.23 MEWZ)
R. Strachwitz (1998): Dritter Sektor - Dritte Kraft (Zugriff: 6. 4. 2004, 14.20 MESZ) http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen
43 http://www.bertelsmann-stiftung.de/medien/doc/Protokoll7Colloquium191201.doc
44 Priller (2004), S. 26
45 Kloepfer, Albrecht (2001): "Verschenken - beschenkt werden. Kernkompetenzen und Ökonomie der »Wachstumsbranche Dritter Sektor" (Zugriff: 6. 4.
2004, 12.33 MESZ) http://www.gruene-berlin.de/positionen/stach_arg/129/verschenken.html
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Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
Das Wirtschaftsleben wendet sich in seinen Ursprüngen der Befriedigung der physischen Bedürfnisse der
Menschen zu. Bis heute richtet sich sein Tun vor allem auf die Herstellung und den Vertrieb von
Produkten. Es ist damit seinem Wesen nach objektorientiert.
Dem Staat obliegt dagegen im Kern die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung (besonders
markant in der Gesetzgebung und im Steuerrecht). Staatliches Denken und Handeln ist also im
wesentlichen strukturorientiert.
Der Dritte Sektor schließlich stellt vor allem die Fähigkeiten des Menschen ins Zentrum. Er formt, pflegt,
reaktiviert, befriedigt und verwendet letztlich vor allem dasjenige, was den Menschen zu einem
gemeinschaftsfähigen, sozialen Wesen macht. Daher lässt sich der Dritte Sektor in seinem Kern als
subjektorientiert beschreiben, und es gehört untrennbar zu dieser Eigenschaft, dass in ihm nichts
"produziert" wird, was einem unmittelbaren "Verkauf" zugeführt werden könnte.
Wenn gegenwärtig von staatlicher Seite versucht wird, sich der Institutionen und Aufgaben zu entledigen,
die originär in die Kompetenz des Dritten Sektors gehören, wird erkennbar, dass dem Dritten Sektor in
immer stärkerem Maße gesellschaftliche Gestaltungsmacht zugewiesen wird. Er wird diese Verantwortung
aber nur dann einlösen können, wenn er über sich selbst, seine Kompetenzfelder, seine Wirkungsgesetzte
und seine ökonomischen Grundlagen fundiert Rechenschaft abzulegen vermag. In Anlehnung an MARX
bedarf es also eines Bewusstwerdungsprozesses um aus einem heuristischen Begriff an sich eine
gesellschaftsgestaltende (Gesellschaft verändernde) Struktur für sich zu machen.
B) die Dritte-Sektor-Forschung fokussiert auf scheinbar strukturelle und quantitative Faktoren
Die Sektorenzuschreibungen der Dritten-Sektor-Forschung sind sehr starr und nach wie vor umstritten.
So ist bspw. fraglich, ob Unternehmensstiftungen wirklich in den dritten Sektor gehören, obwohl sie tlw.
sehr unternehmensorientiert (Marketing und Produktorientierung) denken und fördern.46 Des Weiteren
können quantitative Beschreibungen von Institutionen im Dritten Sektor (Zählung von Organisationen,
Mitarbeiterzahlen, Auslastung, ehrenamtliche Mitarbeiter, etc.) keine Aussagen über die Qualität von
Organisationen (und den in ihnen geführten Diskursen) machen, die außerhalb der Sektoren Wirtschaft
und Staat liegen. Es ist z. B. für die Qualität einer zivilgesellschaftlichen Sphäre wenig aussagekräftig, dass
„1995 im bundesdeutschen Non-Perofit-Sektor mit einem Beschäftigungsanteil von 5% rund 2,1 Mio.
Personen hauptamtlich und 17 Mio BürgerInnen regelmäßig [...] ehrenamtlich tätig waren.“47
C) der Dritte Sektor-Begriff vergleicht (überträgt??) amerikanische
Wohlfahrtswesens auf gänzlich anders gewachsene Gesellschaften
Strukturen
des
Ein spezifisch amerikanisches Verständnis von Wohlfahrtswesen als privatem/zivilgesellschaft-lichem
Prozess auf philantophischer48 Basis auf Verhältnisse bspw. in der BRD zu übertragen scheint mir
kurzfristig unmöglich. Europa hat eine lange Tradition erkämpfter zivilgesellschaftlicher Institutionen und
Aushandlungsprozesse, die allein über Marktgesetze nicht regulierbar sind. Die Finanzierung
gemeinnütziger Organisationen durch Markt, Philantrophie oder Staat birgt die Gefahr der
46 „Ich habe darauf hingewirkt, dass das Programm verstärkt den Interessen des Unternehmens dient, das sie finanziert. Eine Stiftung kann sehr hilfreich
für das Image eines Unternehmens sein. Die BMW Group hat sich globalisiert, wichtige Märkte sind heute Asien, Osteuropa und die USA. Daher war es
gut, genau diese Märkte auch in die Stiftungsprogramme einzubeziehen.“ (Horst Teltschik, ehem. Außenpol. Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl,
von 1993 bis 2003 Leiter der BMW-Stiftung IN: BMW Magazin 2003, S. 41)
47 Priller (2004), S. 23
48 Philantrophie = Spendenwesen (Spenden, Stiftungsmittel, Mitgliedsbeiträge)
Friedemann Bringt, Juni 2004
Zivilgesellschaft, bürgerschaftliches Engagement, Dritter Sektor
– eine ORTSBESTIMMUNG im Dschungel der Begriffe
machtgelenkten Transformation in sich: nämlich Zielverschiebung und Bürokratisierung bzw.
Kommerzialisierung. Hierin sieht HORCH die Gefahr der Selbstzerstörung für freiwillige
Vereinigungen.49 Andererseits ist der Anteil der öffentlichen Finanzierung bürgerschaftlichen
Engagements und gemeinnütziger Organisationen aus geschichtlichen Gründen gerade in der BRD sehr
hoch. Die letzte vergleichende Dritte Sektor-Studie zeigt darüber hinaus, dass die philanthropischen
Gelder in allen untersuchten Ländern nach wie vor eine untergeordnete Rolle spielen. Der Dritte Sektor in
den 22 untersuchten Ländern bezieht seine finanziellen Mittel zu 47 Prozent aus Gebühreneinnahmen
und zu 42 Prozent aus öffentlichen Zuwendungen. Die Philanthropie nimmt mit 11 Prozent eine lediglich
marginale Rolle ein. Selbst die USA liegen mit 13 Prozent nur knapp über dem ermittelten
Länderdurchschnitt. In Deutschland macht der Anteil der philantrophischen Zuwendungen lediglich 3
Prozent bei der Finanzierung des Nonprofit Sektors aus, in den Niederlanden sogar nur 2 %.
Dementsprechend wäre die Stärkung philanthropischer Strukturen und hier insbesondere der Stiftungen
eine eher langfristig orientierende Chance für non-Profit-Organisationen.50
d) Fazit:
Soll nun hier für den Begriff der Zivilgesellschaft plädiert werden, so liegt dessen Stärke in einem politisch
formulierten und historisch tradierten Selbstverständnis: Der Zivilgesellschaftsbegriff (civil society)
entstand in der politischen Auseinandersetzung von Menschen und ihrer Assoziationen gegenüber dem
Staat. Er legt seinen Schwerpunkt auf die gesellschaftliche Entwicklung (Leitbilder) und die zu dieser
Entwicklung notwendigen Diskursformen und –orte. Der wissenschaftliche Zivilgesellschaftsdiskurs
macht darüber hinaus deutlich, dass es bei Gesellschaftsgestaltung immer auch um Machtverhältnisse geht
(Deutungs- & Definitionsmacht, Handlungsmacht, ökonomische Macht, etc.) Definitions- und
Handlungsmacht muss immer wieder neu angeeignet werden (Empowermentprozesse51). Erst dadurch
entsteht gesellschaftliche Entwicklung und Partizipation von BürgerInnen am Gemeinwesen. Diese
Machtverhältnisse werden beim rein organisationstheoretischen Blick der Dritten Sektor-Forschung auf
non profit-Organisationen außer Acht gelassen.
Das strukturelle Problem der Zivilgesellschaft liegt insbesondere darin, dass sie nicht über genug
Eigenkapital, nachhaltige, flexible und „nachwachsende“ Beteiligungsstrukturen verfügt. Kurz: die
Selbstorganisationsfähigkeit (besonders der deutschen) ZG ist unzureichend entwickelt. Eine Stärkung
von Beteiligungsstrukturen, Selbstorganisation und Eigenkapital erfordert aber ist einen langfristig
steuerbaren Prozess. Er ist nicht per Dekret von oben herab (durch staatliche Ansage) sondern nur als
bottom up-Prozess (bspw. Förderung und Entwicklung von Bürgerstiftungen, Umbau des Spendenrechts,
Entwicklung neuer Netzwerke und Bewegungen) umsetzbar. Solche Transformationsprozesse bedürfen
einer
langfristigen
Planungssicherheit
(bei
Förderung,
Personalwesen)
durch
die
bisherigen
Zuwendungsgeber.
vgl. Horch (1995),
vgl. Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project. In: Priller/Zimmer (2001a, 2001b)
51
Empowerment bedeutet, die Eigenverantwortlichkeit von Bürgerinnen und Bürgern zu ermöglichen, zu fördern und zu fordern. Für Führungskräfte und
MultiplikatorInnen bedeutet es, Verantwortung abzugeben, um Eigenverantwortung zuzulassen. Die Idee hinter dem Konzept des Empowerments ist, dass
Menschen, die Verantwortung tragen, motivierter und leistungsbereiter sind. Sie können in ihrem Wirkungsbereich selbst entscheiden, entwickeln eigene
Ideen und Konzepte und können diese auch umsetzen.
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Friedemann Bringt, Juni 2004
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