Düsseldorfer Bündnisses gegen Depression Wege aus der Depression 08. November 2005 Wolfgang Tress Klinisches Institut und Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Depressive Störungen ! Hohe Morbidität, weltweite Verbreitung ! Häufiges Vorkommen in allgemeinärztlicher Praxis ! Vielfach unerkannt, unzureichende Behandlung ! Assoziiert mit erhöhter Mortalität (Suizid, kardiale Komplikationen) ! Verbunden mit hohen (indirekten) Kosten ! Vielfältige Möglichkeiten wirksamer Behandlung Symptome der Depression Suizidgedanken / Suizidale Handlungen Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven Gefühl über Schuld und Wertlosigkeit Verlust von Interesse u. Freude Depressive Stimmung / Leere Verminderter Antrieb Schlafstörungen Vermindertes Selbstvertrauen Appetitminderung Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit Das Erleben der Depression ! ! ! ! ! Sinnhaftigkeit der Existenz nicht mehr erkennbar Perspektivlosigkeit, Zukunftslosigkeit Wertlosigkeit, Überflüssigkeit, Strafwürdigkeit Insuffizienzerleben Verlorenheit und Einsamkeit Das Erleben der Depression Mit dem depressiven Selbsterleben verbundene Emotionen: ! Depressive Gestimmtheit ! Ängstlicher Gestimmtheit ! Schulderleben (Selbstvorwürfe, Selbstzweifel, Schuldgefühle) ! Schamerleben (Wertlosigkeit, Beschämung) Das Erleben der Depression Zentrale Angst Depressiver: ! Herausfallen aus der Geborgenheit, d.h. Bedrohung der Symbiose, ! Verlust von Selbst- und Fremdachtung, z.B. durch Leistungsabnahme, ! Schuld und „Schulden“ Folge: Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Nicht-geliebt-Werden, Existenzunfähigkeit Grunderfahrung der Depressiven Grunderfahrung: ! Um mich kümmert sich niemand, „also bin ich niemanden etwas wert, also bin ich wertlos, und es fällt gar nicht auf, wenn es mich nicht mehr gibt“ ! „Mich versteht keiner, mich liebt keiner, ich bin keinem etwas wert, also bin ich nichts“ ! Minderwertigkeitsgefühl und emotionale Mangelsituation, Enttäuschung und Zuwendungsbedürftigkeit Basales Ziel der Persönlichkeitsentwicklung Integration von Bindung (mitmenschlich, kulturell, spirituell) und Individualität und Eigenständigkeit Persönlichkeitsentwicklung depressiver Menschen - Bindung überstark - eigenständiger Individualität eingeschränkt, unterentwickelt (kannst du nicht, brauchst du nicht, zu gefährlich) Folge: Erleben der Unfähigkeit, Abhängigkeit, Unterdrückung eigener Aktivität, passive Aggressivität, Forderungen, Ambivalenz bei Trennungen: Wendung der Wut gegen eigene Person (=Depression), um das gute Bild der Abhängigkeitsfigur zu retten, Stillstand, Suizidalität, Körperstörungen a) - Bindungsbrüche (Tod, Trennungen, Krieg, Umzüge) - forcierte Selbstständigkeit, Not-Reife, „Das machen doch ganz viele durch“, „Darüber sprechen wir nicht“ Folge: depressive Einbrüche im „Vorruhestand“ aus Mangel an innerem Getragen-Sein, Bindungsmangel kommt an Oberfläche ! Therapie - bei akuter Symptomatik Allgemeine Grundsätze: ! emotionale Wärme, akzeptierende Wertschätzung, Stützung, Präsenz ! gezielte Entlastung, depressiv sein dürfen ! Erklärungsmodell anbieten ! Vermittlung von Hoffnung und Besserungschance ! Schutz vor Suizidalität ! Überprüfung des depressiven Denkens ! Anregung zu Aktivität, Ablenkung, Tagesstruktur planen ! Über- oder Unterforderungen im Alltag betrachten ! Besprechung von eigenverantwortlichen Anteilen und Anregung zur Änderung depressiogener Lebensund Beziehungsbedingungen ! häufige kurze Termine ! medikamentöse Behandlung Fehler im Umgang mit depressiven Patienten ! Mangelnde Einfühlung, unterkühlte Distanziertheit ! Übergroße Nähe und Überidentifikation (Verschmelzen) ! Kritisierendes Verhalten und Besserwisserei ! Übernahme von Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Perspektivlosigkeit (Es ist ja alles so schlimm) bzw. der Sichtweise (Brille) des Patienten ! Diskutierendes Argumentieren, wer Recht hat ! Nicht-ernst-Nehmen des depressiven Erleben des Patienten ! ! Versuche, dem Patienten einzureden, es gehe ihm besser oder gut (schön reden) Versprechungen, diese oder jene Maßnahme werde dem Patienten helfen ! Ratschläge, jetzt diese oder jene lebenswichtige Entscheidung zu treffen ! Bagatellisierung, Abwertung und/oder Überdramatisierung von Erleben und Situationen Die therapeutische Arbeit ! Reflektierender Umgang mit – der eigenen Geschichte – der aktuellen Lebenssituation/Veränderungen/Belastungen – der aktuellen Entwicklungsaufgaben des Lebens – der Beziehungsbereitschaft und Konfliktbereitschaften – der inneren Situation Therapeutische Aufgabe: Selbstwahrnehmung erlernen ! Emotionale Daueranspannung wahrnehmen ! Fehlende emotionale Entlastung spüren ! Fehlende kommunikative Entlastung spüren (niemanden brauchen, niemanden trauen, sich an niemanden wenden) ! Selbstverleugnung und Selbstüberforderung spüren (nie zu sich selber stehen) ! Emotionen der Traurigkeit, des Ärgers und andere Affekte differenzieren lernen ! Bedürftigkeit und Enttäuschung eingestehen gegenüber wichtigen anderen ! Hilfe suchen und Hilfe annehmen ! Sich kommunikativ und regressiv entlasten ! Für sich sorgen, etwas von sich halten ! Selbstbehauptung und Selbstabgrenzung entwickeln ! Kommunikation üben: Mitteilung von Emotionen und Bedürfnissen statt wortloser Erwartungen Zugang zu negativen biografischen Erfahrungen ! Schmerzliche biografische Erfahrungen zulassen ! Verluste und Einschränkungen ertragen und betrauern ! Biografische und aktuelle Erfahrungen voneinander unterscheiden ! Versöhnung mit biografischen Verlusten und Traumatisierungen: – sie sind nicht Schuld des Patienten – sie sind nicht immer Schuld der Objekte – sie sind Ergebnis schuldhaft-schuldloser Verstrickungen über Generationen hinweg Auseinandersetzung mit den bevorzugten eigenen Bewältigungsversuchen ! Forciertes Angebot an Leistung und Altruismus ! Schizoider Rückzug und Emotionsvermeidung ! Bemühen um überhöhte Leistungen und gleichzeitiger zwischenmenschlicher Rückzug ! Selbstentwertung und Selbstvorwürfe (Selbstschädigung und Selbstbestrafung) Sicherheit in der Bindung erfahren ! Sichere Überzeugung, dass es wichtige Andere gibt, an die man sich notfalls wenden kann ! Erfahrung, dass Rückhalt geboten wird, ohne dass daraus Unfreiheit resultiert ! Erfahrung, dass das innere Bild des wichtigen Anderen erhalten werden kann, trotz aggressiver Konflikte ! Verantwortung dafür übernehmen, dass wichtige Beziehungen geschützt und nicht gefährdet werden ! Die Erfahrung, sich von wichtigen Anderen auch verabschieden zu können, wenn es die Umstände erfordern Umstrukturierung des depressiv-hilflosen Selbst ! Selbstakzeptanz statt Selbstvorwurf ! Selbstverantwortung statt Selbstüberforderung und Selbstbeschädigung ! Selbstbestimmung statt Unterwerfung