VORWORT Die Idee zu der vorliegenden Arbeit über den Stand der britischen Regulierung der Humangenetik nach der Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Human Rights Act 1998 entstand infolge der kontroversen Diskussion und des Klärungsbedarfs, inwiefern die bereits praktizierten und zukünftig möglichen Anwendungen an menschlichen Embryonen zu legitimieren sind. Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 2003 von der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Inaugural-Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Rainer Arnold für seine Betreuung der Arbeit und für seine Tätigkeit als Erstgutachter. Herr Prof. Dr. Rainer Arnold gab mir die Möglichkeit, meinem großen Interesse am britischen Recht, insbesondere am Recht der Humangenetik, und am Menschenrechtsschutz nachzugehen. Mein Dank gilt weiter Frau Prof. Dr. Sibylle Hofer für die Erstattung des Zweitgutachtens im Promotionsverfahren. Darüber hinaus danke ich Frau Prof. Dr. Helen Christomanou, die mich zu der Anfertigung einer Dissertation motivierte. Schließlich möchte ich mich bei Herrn Diplom-Kaufmann Dr. Mehdi Mostowfi bedanken, der mir während der Entstehungszeit der Arbeit moralische Unterstützung gab und sich darüber hinaus für das Korrekturlesen zur Verfügung stellte. München im Februar 2004 Christine Miedl 13 14 1. Kapitel Einleitung A. Humangenetik in der Legitimationskrise? Die Biotechnologie, insbesondere die in der vorliegenden Arbeit interessierende Humangenetik als Teilbereich der Biotechnologie, stellt einen revolutionären Fortschritt im Rahmen wissenschaftlicher Forschung dar und eröffnet neue Dimensionen für Wissenschaft und Medizin. Aufgrund der intensiven und bedeutenden Entdeckungen in den letzten vier Jahrzehnten hat sich dieser Wissenschaftszweig zu einer der vielversprechendsten und wichtigsten Technologien entwickelt. Daher wird die Biotechnologie - neben der Kernenergie, der Raumfahrt und der Mikroelektronik - als „Schlüsseltechnologie“ zur Problemlösung der kommenden Jahrzehnte bezeichnet, die in zahlreichen unterschiedlichen Sektoren und Industriezweigen konventionelle Forschungs- und Produktionsmethoden ergänzt oder gar substituiert.1 Die Biotechnologie spielt beispielsweise eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Therapeutika und Diagnostika.2 Vor allem dem jüngsten Zweig der Biotechnologie, der darauf abzielt, Lebewesen mittels der Verfahrensform 1 2 Vgl. F. Nicklisch, Rechtsfragen der Anwendung der Gentechnologie unter besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, S. 112, in: R. Lukes, Rechtsfragen der Gentechnologie, Köln 1986. Nach Ansicht von K. Kelly wird die Biotechnologie die Bedeutsamkeit mechanischer Technologie in den Schatten stellen; siehe K. Kelly, Das Ende der Kontrolle, Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, S. 599, Regensburg 1997. Siehe auch S. Wörner/T. Reiss, Indirekte Effekte sind groß, Handelsblatt vom 26.09.2001, S. B 15 sowie R. Moufang, Genetische Erfindungen im gewerblichen Rechtsschutz, München 1988, S. 3 ff. Siehe T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, Berlin 1991, S. 26. Vgl. dazu A. Schaub, Biotechnologie in der Rechtsordnung der Europäischen Union, S. 61 f., in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1994, Gesellschaft für Rechtspolitik Trier, München 1994. Siehe S. Shohet, Clustering and UK Biotechnology, S. 200, in: The Dynamics of Industrial Clustering, Oxford 1998. 15 1. Einleitung der Gentechnik auf bestimmte Funktionen hin zu verändern, wird große Bedeutung beigemessen.3 Dennoch wird des öfteren von Skeptikern behauptet, daß die Humangenetik in der Legitimationskrise sei. Diese Behauptung stützt sich vor allem auf die Problematik, die Grenze zwischen der Bekämpfung und Verhütung schweren Leidens und den Verbesserungen der menschlichen Genausstattung zu ziehen.4 So wird die Macht der Gentechnik, neben der Manipulation von Lebewesen auch neue Lebensformen erschaffen zu können, z.T. als die Macht „Gott zu spielen“ oder als Eingriff in die Schöpfung beschrieben und erzeugt naturgemäß neben Hoffnungen auch Ängste.5 Es sei an dieser Stelle die Furcht vor gezielter Menschenzüchtung genannt. Das exponentielle Wachstum medizinischer Möglichkeiten in Diagnostik, Therapie und Prävention, sowie die darauf begründete Einführung neuer Arzneimittel im Bereich der Genmedizin haben folglich Fragestellungen nach den Grenzen der wissenschaftlichen Forschung im allgemeinen zur Konsequenz. Die bereits praktizierten und künftig möglichen Anwendungen am Menschen bzw. an menschlichen Embryonen werfen die fundamentale Frage auf, ob und unter welchen Bedingungen derartige Anwendungen zu legitimieren sind. Es besteht mithin ein besonders aktueller Klärungsbedarf. Für die Bewältigung derartiger Konflikte bedienen sich Verfassungsstaaten westlicher Prägung vornehmlich des Instrumentariums rechtlicher Regulierung. Daher kommt dem komplexen Thema der Genforschung am Menschen zunehmende Bedeutung für das Rechtsleben zu. 3 4 5 Dieser Bereich wird z.T. als „neue Biotechnologie“ bezeichnet. Die Terminologie ist nicht einheitlich. Hier wird den Definitionen der OECD (Hrsg.), Biotechnology. Economic and Wider Impacts, 1989, S. 4 gefolgt (zit. nach M. Schröder, Gentechnikrecht in der Praxis, Baden-Baden 2001, Fn. 77): „(...) Since the late 1970s, the discovery, particularly of recombinant DNA-Techniques and of cell fusion, has led to a radical acceleration of progress and to a multiplication of both tools and applications. This is called New Biotechnology (NBT).“ Siehe auch J. Harris, Clones, Genes and Immortality, Oxford 1998, S. 3, der den Begriff der Biotechnologie ebenfalls weit faßt, d.h. einschließlich der Anwendung der Gentechnik. Unser gegenwärtiges Zeitalter der künstlichen genetischen Revolution scheint dazu bestimmt zu sein, die Evolution selbst zu verändern. Zum ersten Mal in der evolutionären Geschichte spielt die planerische Voraussicht eine Rolle. Siehe aber zur Gefahr der positiven Eugenik: J. Glover, Eugenics and Human Rights, S. 101 ff., in: J. Burley, The Genetic Revolution and Human Rights, Oxford 1999. Siehe etwa A. Dyson, J.Harris, Ethics and Biotechnology, London 1994, S. 1. Zu den Ängsten vgl. z.B. L. Cavalli-Sforza, Gene, Völker und Sprachen, München 2001, S. 224 ff. sowie A. Kimbrell, Ersatzteillager Mensch, S. 118 ff., S. 134 ff., München 1997. 16 1. Einleitung Der britische Biotechnologiebereich nimmt in Europa eine Sonderstellung ein6 und ist für die europäische Rechtswissenschaft von besonderem Interesse. Früher als beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland hatte in Großbritannien sowohl die technische Entwicklung7 begonnen als auch eine umfassende öffentliche Diskussion über ethische wie juristische Aspekte der neuen Biotechnologien stattgefunden. Diese Domäne Großbritanniens hat sich in jüngster Zeit im Bereich des sogenannten therapeutischen Klonens wieder bestätigt. Den Human Fertilisation and Embryology (Research Purposes) Regulations 2001, die diese Klonierungstechnik zulassen, kommt international eine Vorreiterrolle zu. Sie haben für weltweites, aber auch nationales Aufsehen gesorgt. B. Problemstellung und Zielsetzung Die Beschäftigung mit dem Humangenetikrecht zwingt zu einer Auseinandersetzung mit fundamentalen Prinzipien der Ethik und dem Schutz der Menschenrechte. Die Humangenetik, die es der Menschheit ermöglicht, eine artifizielle Veränderung ihres genetischen Materials vorzunehmen,8 basiert auf Erkenntnissen, die ihrer Qualität nach den direkten Durchgriff auf die Subjektivität zulassen. Traditionell ist die Kultur des Menschen stets auch durch 6 7 8 Englische Biotechnologiefirmen nehmen im europäischen Vergleich bei der Entwicklung von neuen Arzneimittelsubstanzen eine führende Stellung ein. Eine Studie von Ernst & Young führte aus, daß sich in Großbritannien im Jahre 1999 bereits 29 aktive Ingredienzien im klinischen Stadium befanden (zum Vergleich: in Deutschland konnten gelistete start-upFirmen nur zwei aufweisen). Weitere 75 Substanzen hatten die drei klinischen Testphasen bestanden, wobei elf davon praktisch bereit zur Markteinführung waren. Ein Grund dafür könnte sein, daß in England Subventionen zu einem sehr frühen Zeitpunkt erhältlich waren, wohingegen etwa in Deutschland Biotechnologie sehr lange mit Skepsis betrachtet wurde; siehe H. Bengs/K. Conradi, The New British Biotechnology Boom, Leading the Way in Europe, S. 73 f, Going Public, a.a.O. Siehe zum dominanten Einfluß der englischen Wissenschaft und der daraus resultierenden industriellen Überlegenheit Englands gegenüber dem Kontinent: R. Kleindiek, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, Berlin 1998, S. 54 f. Lee Silver verweist beispielsweise auf die zwischenzeitlich eingetretenen Fortschritte auf dem Gebiet der genetischen Veränderung: „When genetic engineering of animals was first accomplished in 1980, it was both ineffective and unsafe. (...) What`s happened over the past 20 years is that the technology has become much more efficient, and we can already imagine a way in which it can be done safely and efficiently, which is what anyone would demand before it is practiced on human beings.“ Siehe L. Silver, Princeton University, Video Forum Nr. 1 – Genetic Enhancement, The Genomic Revolution, American Museum of Natural History. 17 1. Einleitung Eingriffe in die Natur geprägt worden. Naturbeherrschung als Baconisches9 Ideal und Subjektbeherrschung treffen im Rahmen der Humangenetik zusammen.10 Die heftig geführte gesellschaftliche Diskussion um die Chancen und Risiken der Humangenetik ist hierauf zurückzuführen. In Anbetracht der umfassenden Eingriffsmöglichkeiten in den Embryo in vitro begann die Rechtswissenschaft sich insbesondere für die Methoden der extrakorporalen Fertilisation und zuletzt für die Klonierung zu interessieren. Hierbei stellt sich die Frage, ob mit dem Embryo ein Mensch zerstört wird und ob sich der Mensch demiurgischen Rang anmaßen darf.11 Demzufolge handelt es sich bei der Humangenetik um einen Bereich, bei dem Recht, Naturwissenschaft, Medizin und Ethik in besonderem Maße miteinander verbunden sind. Der mittelbare Wert philosophisch-ethischer, soziologischer, psychologischer und vereinzelt auch moraltheologischer Arbeiten für die rechtswissenschaftliche - insbesondere rechtspolitische - Diskussion ist nicht zu unterschätzen.12 Vor allem in den letzten Jahren ist ein verstärktes gesellschaftliches Interesse für ethische Fragen bezüglich der bislang zu verzeichnenden Fortschritte und der ubiquitären Anwendungsmöglichkeiten der Biotechnologie in ganz Europa zu Tage getreten. Verordnungen, Richtlinien, Gesetze, sowie nationale und internationale Enquête- und Ethikkommissi- 9 F. Bacon, der Begründer des englischen Empirismus, erachtete das Zusammentragen theoretischen Wissens als Mittel, praktische Herrschaft über die Natur zu gewinnen. Siehe T. Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, Berlin 1991, S. 23. 10 So R. Kleindiek, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, Berlin 1998, S. 110. Die mit den neuartigen Technologien einhergehenden Risiken sind stets zu berücksichtigen. Zu leichtfertig erscheint die Einschätzung von David Rothman und Craig Venter: „To many people there seems something unnatural about enhancement technologies (...). But the drive of science has always been to improve on nature, to tamper with nature, to see how far we can go in improving on nature. We´ve done it in disease, and we´ll do it in enhancement as well.“ Vgl. D. Rothman, Columbia University, Video Forum No. 1 – Genetic Enhancement, a.a.O. „The two number-one fears that we hear from the public, aside from discrimination, are in genetic enhancements and cloning – both of which are based on science fiction views of our own biology.“ So C. Venter Celera Genomics, Video Forum Nr. 1 – Genetic Enhancement, a.a.O. 11 Vgl. auch R. Zuck, Wie führt man eine Debatte? Die Embryonennutzung und die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG), NJW 2002, Heft 12, S. 869. 12 Vgl. zur zunehmenden Bedeutung der Interdisziplinarität für das britische Verfassungsrecht im allgemeinen: D. Oliver, The Changing Constitution in the 1990s, S. 17 ff, in: M.D.A. Freeman/Lewis, A.D.E., Current Legal Problems 1997, Oxford 1997. Siehe zur Bedeutung der Interdisziplinarität für die Biomedizin A. Eser et al., Klonierung beim Menschen, S. 246 f., in: Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg im Breisgau u.a. 1989. 18 1. Einleitung onen wurden geschaffen, die divergierende Ansichten und Traditionen der europäischen Länder aber auch die Pluraliät der innerstaatlichen ethischen Einschätzungen zum Ausdruck bringen. Diese konträren ethischen Überzeugungen, die in der Bioethik aufeinandertreffen, sind mit Glaubenskonflikten früherer Zeiten vergleichbar und nicht minder heftig geführt. So kommt der Frage der Bioethik in dieser Arbeit eine besondere Bedeutung zu, insbesondere vor dem Hintergrund, daß die Tradition des Common Law im Gegensatz zur kontinentaleuropäischen Rechtstradition bei fehlenden Gerichtsentscheidungen den Rückgriff auf anerkannte ethische Prinzipien gestattet.13 Das vorliegende Thema mit seiner interdisziplinären Aufgabenstellung ist mithin exemplarisch dafür, daß sich der Jurist angesichts der komplexen Vielfalt des modernen Lebens mit anderen Wissenschaftsbereichen auseinanderzusetzen hat, um zu einem tragbaren Ergebnis zu gelangen.14 So versteht die Verfasserin diese Arbeit auch als einen Beitrag zu interdisziplinärem Denken im Rahmen der rechtswissenschaftlichen und bioethischen Diskussion der Fragestellungen, die die Humangenetik als Anwendung der gewachsenen biotechnologischen Möglichkeiten in der Medizin aufwirft. Das Hauptziel der vorliegenden Arbeit ist es, den augenblicklichen Stand des Humangenetikrechts in Großbritannien nach der Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998 (HRA) zu bestimmen. Der HRA, dessen Erlaß als bahnbrechende Entwicklung im britischen Recht angesehen wird, bildet den Bezugsrahmen der Untersuchung. Das britische Humangenetikrecht soll auf seine Vereinbarkeit mit dem HRA überprüft werden. Vor diesem Hintergrund sind die rechtlichen Rahmenbedingungen zur biotechnologischen Forschung, eingegrenzt auf den herausragenden Bereich der Humangenetik als Kerndis- 13 Vgl. L. Honnefelder, Gentechnik und Politik, Zur bioethischen Konsensfindung in Europa, S. 26, in: Internationale Politik, Nr. 12, Dezember 2000. 14 Siehe die Forderung von K. Segbers/K. Imbusch nach stärkerer Vernetzung von Politik und Wissenschaft sowie die Kritik hinsichtlich mangelnder Interdisziplinarität in: Designing Human Beings? Politikwissenschaftliche Annäherungen an eine neue Leitwissenschaft („Life Science“). Vgl. auch C. Crawford, Medicine and the Law, S. 1636 f. Siehe zur Entwicklung der Interaktion zwischen Bioethik und Recht W. van der Burg, Bioethics and Law: a Developmental Perspective, S. 45 ff., in: M. Freeman, Ethics and Medical Decision-Making, Aldershot 2001. Siehe dazu auch P. Zatti, Towards a Law for Bioethics, S. 56, in: C.M. Mazzoni, A Legal Framework for Bioethics, Den Haag u.a. 1998. 19 1. Einleitung ziplin der Biomedizin, in der Rechtsordnung Großbritanniens15 systematisch in einer Gesamtschau zu erfassen. Deren Wirksamkeit soll hinterfragt und die damit verbundene bioethische Problematik aufgezeigt werden. Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich freilich auf die für das britische Humangenetikrecht bedeutsamen Vorschriften des HRA. So untersucht die Arbeit, ob und welche Bedeutung der HRA für Rechtsfragen hat, die sich im Zusammenhang mit den biomedizinischen Erkenntnissen stellen. Der Problematik, wie „menschliches Leben“ zu definieren ist, und ob Embryonen darunter zu subsumieren sind, kommt hierbei besondere Bedeutung zu. Das fundamentale Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK i.V.m. Sec. 1 (1) (a) HRA ist mithin wesentlicher Bestandteil der Untersuchung. Gleiches gilt für das Recht auf Privatleben nach Art. 8 EMRK i.V.m. Sec. 1 (1) (a) HRA, das aus seinem Schattendasein herausgetreten ist und von den Straßburger Organen in zunehmendem Maße als Prüfungsmaßstab herangezogen wird.16 Die Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen der Humangenetik im britischen Recht bezieht sich schwerpunktmäßig auf den die Embryonenforschung grundsätzlich normierenden Human Fertilisation and Embryology Act 1990. Mit den zum sogenannten therapeutischen Klonen im Januar 2001 erlassenen, das Gesetz von 1990 ergänzenden, Human Fertilisation and Embryology (Research Purposes) Regulations 2001 hat sich die Zulässigkeit der Erzeugung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken als Schwerpunkt der britischen Humangenetikdiskussion herauskristallisiert. Diese jüngsten Entwicklungen in der Embryonenforschung werfen erneut die Frage nach dem rechtlichen und ethischen Status des Embryos auf, d.h. ob dem Embryo das hochrangige Rechtsgut des Lebensrechts oder eine andere Art von Schutz zusteht oder ob er als Zellanhäufung jeglicher eigener Rechte entbehrt. Die britische Entscheidung, das therapeutische Klonen zuzulassen, ist unter diesem entscheidenden Aspekt zu untersuchen. Im Rahmen der Thematik des Klonens liegt ein weiteres Anliegen der Arbeit darin, auf den Diskussionsstand im angelsächsischen Rechtskreis unter Berücksichtigung des Human Reproductive Cloning Act 2001 hinsichtlich des Verbots reproduktiven Klonens einzugehen. Der Prozeß der juristischen 15 Die Darstellung inhaltlicher Regelungen beschränkt sich auf England, d.h. Sondervorschriften von Schottland bleiben unberücksichtigt. 16 Vgl. A. Frowein/W. Peukert, EMRK-Kommentar, Stand: 1995, Art. 8, Rdnr. 1. 20 1. Einleitung Erfassung der neuen Verfahren ist jedoch noch nicht abgeschlossen, da der technische Fortschritt der Rechtsetzung vorauseilt, wie sich anhand der Problematik des Klonens in Großbritannien wieder gezeigt hat. Das Rechtssystem Großbritanniens ist prädestiniert für eine eingehende Untersuchung, da dieser Staat, wie eingangs erläutert, in der Biotechnologie eine Vorreiterrolle innerhalb Europas einnimmt, und zugleich über eine ihm eigene Regelungspraxis verfügt. Die atmosphärischen Rahmenbedingungen stellen sich zudem als günstig dar, da die „Schaffung eines gentechnikrechtlichen Regimes“ ohne ausufernde gesellschaftspolitische Kontroversen oder massive öffentliche Protestaktionen oder gar Demonstrationen gelungen ist. Die frühzeitige Einbeziehung der Öffentlichkeit und die Bemühungen der Forschung, Industrie und Regierung, eine gewisse Vertrauensbasis gegenüber dem Wissenschaftsbetrieb in der Bevölkerung zu schaffen und ein vernunftbetontes Verhältnis zu Chancen und Risiken der neuen Technologien zu fördern, hat einen bemerkenswerten Anteil an der Aufgeschlossenheit der Bürger und einem gewissen Integrationsprozeß der Genforschung. So existiert in Großbritannien keine breite Ablehnungsfront gegenüber der Biotechnologie, auch nicht gegenüber der Humangenetik im besonderen, mit Ausnahme der Keimbahntherapie.17 Ein sozial tief verankertes Mißtrauen gegenüber der Genmedizin, die eine bislang unbekannte Eingriffstiefe besitzt, da sie sich an eine zuvor unzugängliche Strukturebene des Organismus wendet,18 war in Großbritannien darüber hinaus nie in dem Maße verbreitet, wie dies in Deutschland aufgrund der Verbrechen im vergangenen Jahrhundert der Fall ist. Ob es der britischen Gesetzgebung gelungen ist, der Ambivalenz von Technik, Wissenschaft und Medizin rechtlich gesehen Rechnung zu tragen, soll ebenfalls Gegenstand der Untersuchung sein. Es ist zum Gesamtverständnis unerläßlich, in der gebotenen Kürze auch auf die Vorschriften des Völkerrechts einzugehen. Die Lebenswissenschaften und die Biomedizin sind in besonderem Maße einem Prozeß der Internationalisierung unterworfen, da wissenschaftliche Forschung in der globalen Informations- und Wissensgesellschaft nicht mehr auf einen Kulturkreis beschränkt ist, sondern auf internationale Kooperation angewiesen ist, wes- 17 Vgl. M. Herdegen, IP-GenTR, Einführung, Rdnr. 258 ff. 18 So I. Härtel, Genmedizin als Auftrag für die Wissenschaftspolitik, S. 396, in: S.F. Winter et al., a.a.O. 21 1. Einleitung wegen stets über den nationalen Rahmen hinaus gedacht werden muß.19 Angesichts des zu beobachtenden europäischen „Patiententourismus“ in der Reproduktionsmedizin, d.h. von den Patienten wird der Staat mit der liberalsten Gesetzgebung zur Behandlung ausgewählt, entsteht die Notwendigkeit zur Schaffung bzw. Weiterentwicklung harmonisierender gemeinsamer biomedizinethisch-rechtlicher Schutznormen.20 Die Bioethik-Konvention des Europarates ist Ausdruck des Bewußtseins, daß Forschung nicht an nationalstaatliche Grenzen gebunden ist und staatenübergreifende Regelungen erforderlich sind. Auf dieser Grundlage kann dann im Wege einer kritischen Auseinandersetzung überprüft werden, ob die britische Gesetzgebung mit dem so beschriebenen Bereich der Humangenetik21 und der damit eng verbundenen Bioethik22 kompatibel und zur Lösung der mit den durch den wissenschaftlichen Fortschritt einhergehenden Probleme tauglich ist und sich letztendlich nicht der Spirale der Begehrlichkeiten ausliefert. Dies ist vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, daß die Gesellschaft ein Recht hat, von den Entscheidungsträgern verläßliche adäquate Rahmenbedingungen zu fordern, die den erforderlichen Fortschritt zur Verbesserung der Biomedizin ermöglichen, aber zugleich das ethisch Vertretbare und Wünschenswerte garantieren.23 Hergebrachte rechtliche Regulationsmechanismen sind infolge der medizinisch-technischen Entwicklung nicht mehr a priori verläßlich, sondern müssen mit der Entwicklung Schritt halten. Sonst droht der vielver- 19 Siehe C. M. Mazzoni, A Legal Framework for Bioethics, Den Haag 1998, S. 17. 20 Ebd., S. 61. Siehe auch L. Nielsen, From Bioethics to Biolaw, S. 40, in: C.M. Mazzoni, A Legal Framework for Bioethics, Den Haag 1998. 21 Vorliegende Arbeit befaßt sich, wie bereits dargelegt, nur mit dem Teilbereich der Humanmedizin, in dem Biotechnologie, insbesondere Gentechnologie, Bioethik und Medizin zum Schutz der Person in eine sinnstiftende Relation gebracht werden. 22 Von der zeitgemäßen Bioethik als Lehre vom Wert des Lebens werden vor allem die Chancen und Risiken moderner Biotechnik und moderner medizinischer Verfahrenstechnik näher untersucht. Der Wert des Lebens im Sinne der Bioethik ist nicht notwendigerweise mit dem Wert, den das Leben für menschliches Leben hat, identisch. So ist er beispielsweise bezüglich pränatalen menschlichen Lebens nicht unbedingt mit dem Nutzungspotential gleich, den derartiges Leben für postnatales menschliches Leben oder für die gesamte Gesellschaft hat. Siehe W. Bottke, Strafbare Eingriffe in fremde Genomhoheit, S.191, in: T. Hausmanninger/R. Scheule (Hrsg.), ... geklont am 8. Schöpfungstag, Augsburg 1999. 23 Vgl. S.F. Winter/H. Fenger/H.-L. Schreiber, Genmedizin und Recht, München 2001, S. XVII. 22 1. Einleitung sprechende „Aufbruch ins Genparadies (...) zu einer Reise ins Ungewisse mit unsicherem Ausgang zu werden“24. Nicht Gegenstand der Untersuchung sind die sonstigen Regelungen im Bereich der Biotechnologie25, insbesondere die biopatentrechtlichen Normen26 und die Regelung der „grünen“ Biotechnologie, d.h. der gentechnischen Veränderung mikrobieller Spezies oder von Pflanzen. C. Gang der Untersuchung Der Aufbau der Arbeit ist wie folgt angelegt: Das zweite Kapitel soll dem Juristen das zum Verständnis der rechtlichen Betrachtung erforderliche medizinisch-wissenschaftliche Grundwissen vermitteln. Die rechtlichen Probleme, die sich im Rahmen der Humangenetik stellen, erfordern eine Auseinandersetzung mit den medizinisch-wissenschaftlichen Grundlagen. Ein detailliertes Gesamtbild der Humangenetik vermögen die Ausführungen dieses Kapitels freilich nicht zu entwerfen. Insoweit wird auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen. Das dritte Kapitel wird mit einer Einführung zur Rechtsentwicklung in Großbritannien im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz eingeleitet. Zum besseren Verständnis des nicht in den Traditionen und Denkgewohnheiten 24 Vgl. T. Zoglauer, Konstruiertes Leben, Ethische Probleme der Humangentechnik, Darmstadt 2002, S. 8. 25 Vgl. etwa zu den Auswirkungen der „genetischen Revolution“ auf das strafrechtliche Verständnis C. Wells, „I Blame the Parents“: Fitting New Genes in Old Criminal Laws, S. 724 ff., MLR, Bd. 61, Nr. 5, Human Genetics and the Law: Regulating a Revolution, Oxford, September 1998. 26 Siehe dazu z.B. das Standardwerk von P.W. Grubb, Patents for Chemicals, Pharmaceuticals and Biotechnology, Oxford 1999. Vgl. dazu auch A. Pottage, The Inscription of Life in Law: Genes; Patents, and Bio-Politics, S. 740 ff., MLR, a.a.O, der auch auf die sozialen und politischen Implikationen des Patentrechts hinweist. Siehe beispielsweise die lehrreiche Abhandlung zu Biotechpatenten in Großbritannien von P. Gilbert/A. Wilson, Broad Biotech Patents in the United Kingdom after Amgen, S. 108-112, BSLR, Bd. 4, Heft 3, 2000/2001. Vgl. dazu auch D. Beyleveld/R. Brownsword/M. Llewelyn, The Morality Clauses of the Directive on the Legal Protection of Biotechnological Inventions: Conflict, Compromise and the Patent Community, S. 157-185, in: R. Goldberg/J. Lonbay, Pharmaceutical Medicine, Biotechnology and European Law, Cambridge 2000. 23 1. Einleitung des Vereinigten Königreichs aufgewachsenen Betrachters soll hierbei in der gebotenen Kürze auf die britische Verfassungsrechtslehre eingegangen werden. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die allgemeine Darstellung des HRA als Inkorporation der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht und seiner normativen Bedeutung für dieses Recht. Das vierte Kapitel, das Hauptkapitel der Arbeit, dient zum einen der Darstellung der Regulierung der Humangenetik in Großbritannien; zum anderen wird diese Regulierung auf ihre Vereinbarkeit mit den Rechten der EMRK i.V.m. dem HRA untersucht. Im Anschluß an einen historischen Überblick über die Regulierung der Embryonenforschung wird auf das normative Gefüge des Human Fertilisation and Embryology Act 1990 (HFE Act) eingegangen. Zunächst erfolgt eine begriffliche Klärung der Embryonenforschung i.S.d. HFE Act. Anschließend wird die zentrale Vorschrift des Sec. 3 HFE Act vorgestellt, die die Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken im Frühstadium der Embryonalentwicklung bis zur Nidation (bzw. bis zum 14. Tag nach der Befruchtung) legalisiert. In diesem Zusammenhang wird die ständige Kontroll- und Genehmigungsbehörde Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA) besprochen, die für sämtliche Genehmigungsverfahren bezüglich der Embryonenforschung zuständig ist, insbesondere für die Einhaltung der gesetzlich bestimmten Schranken der Forschung an menschlichen Embryonen. Im Abschnitt B des Kapitels wird die Vereinbarkeit der Embryonenforschung mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 EMRK i.V.m. Sec. 1 (1) (a) HRA untersucht. Dabei wird der fundamentalen Frage nachgegangen, wann menschliches Leben beginnt. Am Beispiel des besonders wichtig zu erachtenden Falles Diane Blood wird das Recht auf Privatleben nach Art. 8 EMRK i.V.m. Sec. 1 (1) (a) HRA, und das Recht auf Familiengründung nach Art. 12 EMRK i.V.m. Sec. 1 (1) (a) HRA unter dem Aspekt der Garantie der Reproduktionsfreiheit untersucht. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Regulierung des therapeutischen Klonens (Human Fertilisation and Embryology (Research Purposes) Regulations 2001) unter Berücksichtigung des Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK i.V.m. Sec. 1 (1) (a) HRA, mit der sich Abschnitt H. des Kapitels befaßt. Die ethischen Implikationen werden dargestellt sowie deren rechtliche Auswirkungen. Hierbei werden die bedeutenden Stellungnahmen der britischen Kommissionen und der HFEA sowie die Debatte des äußerst umstrittenen Gesetzesentwurfs und der Bericht des Select Committee zur Überprüfung der in Kraft getretenen Regulations überblickartig aufgezeigt. Die Frage nach der Regulierung reproduktiven Klonens, die sich unmittelbar im Anschluß an das therapeutische 24 1. Einleitung Klonen stellt, bildet einen weiteren Schwerpunkt der Arbeit. Der Human Reproductive Cloning Act 2001 wird unter dem Aspekt der Vereinbarkeit mit der Fortpflanzungsfreiheit nach Art. 8 und 12 EMRK erörtert. Dabei wird auch auf die Frage eingegangen, ob überhaupt eine Regelungslücke hinsichtlich reproduktiven Klonens besteht. Des weiteren wird im vierten Kapitel auf die grundsätzlich bedeutsame Frage nach der Verwendung genetischer Information aufgrund von Gentests, etwa im Bereich des Versicherungsrechts, sowie auf das fundamentale Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung (informed consent) eingegangen. Im fünften Kapitel wird die Vereinbarkeit der erörterten britischen Regulierung der Humangenetik mit der Bioethik-Konvention einschließlich des Zusatzprotokolles über das Verbot des Klonens von Menschen untersucht. Angesichts der Bedeutsamkeit der Konvention für den europäischen Integrationsprozeß spielt die Frage eines eventuellen Beitritts Großbritanniens zur Konvention eine entscheidende Rolle. Den Abschluß der Arbeit bildet im sechsten Kapitel eine Zusammenfassung der Ergebnisse. 25 26 2. Kapitel Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe A. Gentechnik Einführend in das hier interessierende Forschungsgebiet der Humangenetik soll zunächst der Begriff Gentechnik erklärt werden. Wohl kaum ein wissenschaftlicher Fortschritt ist im vergangenen Jahrhundert von Beginn an von einer solchen öffentlichen Aufmerksamkeit begleitet worden, mit derartigen Ängsten bekämpft und mit so viel Erwartungen propagiert worden wie die Gentechnik. Dies wird sich auch in diesem Jahrhundert nicht ändern. Die Genforschung bedeutet einen revolutionären Fortschritt in der Wissenschaft vom Leben, insbesondere bezüglich der Mutationsmöglichkeiten der spezifischen Lebensformen. Unter Gentechnik als Teilgebiet der Biotechnologie27 ist die „Gesamtheit der Methoden zur Charakterisierung, Isolierung, gezielten Veränderung, Vermehrung und Übertragung von genetischem Material“28 zu verstehen. Somit umfaßt die Gentechnik verschiedene Bereiche, nämlich die Humangenetik, die für vorliegende Arbeit von Interesse ist und sich mit gentechnischen Eingriffen am Menschen befaßt, sowie die hier außer Betracht bleibende Umweltgenetik, die ihrerseits die Bereiche der Pflanzenproduktion, der Tierzucht und der biologischen Stoffumwandlung und 27 Wörtlich übersetzt ist sie die Kenntnis von der Technik des Lebendigen. Vgl. H. Gareis, Anwendungsfelder und wirtschaftliche Bedeutung der Biotechnologie, S. 7, in: Biotechnologie und gewerblicher Rechtsschutz, München 1988. Nach dem umfassenden Biotechnologiebegriff werden sowohl industrielle Verfahren zur Herstellung von Stoffen mit Hilfe von lebenden Zellen als auch die gezielte Neukombination des genetischen Materials von Lebewesen darunter subsumiert. Vgl. E.S. van de Graaf, Patent Law and Modern Biotechnology, S. 7. 28 Siehe T. Paulsen/M. Fröhlich, a.a.O., S. 85; vgl. auch T. von Schell/H. Mohr, Biotechnologie - Gentechnik: eine Chance für neue Industrien, Berlin u.a. 1995, S. 1; vgl. auch D. Ricke, Gentechnik und Umweltverträglichkeit, Frankfurt am Main 1996, S. 54. Gentechnologie ist nicht mit dem Begriff Gentechnik gleichzusetzen. Technologie bezeichnet, wenn man den so adaptierten Sinn von logos bemüht, die Gesamtheit des Wissens über das, was an Technik zur Verfügung steht. Sie erklärt und lehrt also technische Vorgänge und zeigt deren Wirkungsweise auf; siehe W. Bottke, a.a.O., S. 190. 27 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Rohstoffversorgung berührt. Für das bessere Verständnis der Humangenetik sollen mit den folgenden Abschnitten kurz die Grundlagen der Gentechnik dargestellt werden. I. Das Erbgut (Genom) Die natürlichen Grundlagen des Lebens auf der Erde sind für sämtliche Lebewesen (Organismen) die Gleichen. Bei jedem Lebewesen ist die kleinste in sich lebende, also organische Einheit die Zelle.29 Stoffwechsel, Vermehrung und Gestaltswandel erfolgen von den Mikroorganismen (Bakterien und höhere Einzeller) über Pflanzen und Tiere bis zu den Menschen nach den gleichen Grundsätzen. Selbst die einfachsten Lebensformen, die Viren, die keinen eigenen Stoffwechsel besitzen und sich daher in den Zellen anderer Lebewesen als Parasiten befinden, sind auf diese grundlegenden Gesetzmäßigkeiten angewiesen. Jede Lebensform ist ein System, das mit der Umwelt in Zusammenhang steht. Ihre Erbinformation legt die Gestalt und das Verhalten zum großen Teil fest. Jedoch ist die individuelle Ausformung mit von der jeweiligen Umwelt bestimmt, d.h. ein Lebewesen wird durch zwei Faktoren geprägt, nämlich seine Erbanlagen und die Umwelt. Demnach benötigt und gestaltet jeder Organismus seinen Lebensraum: Er versucht, sich ihm anzupassen, auf ihn einzuwirken und wird zugleich von ihm beeinflußt. Das Erbgut gewährleistet in der Vermehrung die biologische Kontinuität von Generation zu Generation und hat so die weitgehende Konstanz der Arten zur Folge. Grundsätzlich kommte es nämlich nur innerhalb einer Art zu einer Vermehrung (sog. Artgrenze). Gleichzeitig enthält das Erbgut Variationsmöglichkeiten für die Anpassung an neue Lebensräume und insbesondere für die Entstehung veränderter Lebewesen durch Veränderung im Erbgut selbst (Mutationen und Genaustausch). Es ist nicht einmal hundert Jahre her, als Wissenschaftler damit begannen, das Mysterium der Vererbung zu entschlüsseln, Einzelheiten über die DNS (Desoxyribonukleinsäure), diese einzigartige Substanz zu erkunden, die in einer geheimnisvollen Schrift die Merkmale jedes Lebewesens aufschreibt und die bei jeder Zellteilung, bei jeder Vermehrung eines Organismus präzise kopiert und auf die neue Tochterzelle übertragen werden muß. Dabei stehen 29 Der Begriff Zelle ist auf den Briten Robert Hooke zurückzuführen, der 1667 mit einem Mikroskop Schnitte durch Flaschenkorken untersucht und dabei Strukturen gesehen hat, die Bienenwaben-Zellen glichen; so W. Hingst, Zeitbombe Gentechnik, S. 120, Wien 1988. 28 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe der Natur lediglich vier „Buchstaben“ zur Verfügung, wobei die Information nicht in den Buchstaben selbst liegt, sondern – wie bei unserer Sprache - durch eine bestimmte Buchstabenabfolge bestimmt wird. Bei diesen Buchstaben handelt es sich um bestimmte chemische Bausteine, sogenannte Basen. Um genau zu sein, setzt sich die DNS aus einfachen Grundbausteinen, den sogenannten Mononucleotiden zusammen, die ihrerseits aus je einem Zuckermolekül (Desoxyribose), einem Phosphorsäurerest und einer von vier verschiedenen stickstoffhaltigen Basen bestehen.30 Die vier Basen sind mit Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T) benannt.31 1869 entdeckte Friedrich Miescher die chemische Substanz DNS in weißen Blutkörperchen des Menschen.32 Die „Geburtsstunde der Molekularbiologie“33 kann 1944 mit der Erkenntnis benannt werden, daß die DNS und nicht das Protein auf molekularer Ebene der Träger der Erbinformation ist (Avery). Jedoch erst im Jahre 1953 konnten die Biochemiker Watson und Crick das Geheimnis lüften, wie die Natur vor jeder Zellteilung eine identische Kopie dieser Basenfolge herstellen kann. Sie stellten fest, daß die Erbinformation nicht in einer einfachen Basenfolge festgelegt ist, sondern in einer schraubig gewundenen Doppelkette, der sogenannten „Doppelhelix“, in der jeweils eine Base einer ganz bestimmten anderen Base gegenüberliegt. Die Erbinformation wird dadurch weitergegeben, daß vor jeder Zellteilung der DNS-Doppelstrang auseinander geht und jede Hälfte eine neue Hälfte ergänzt.34 Das Erbgut der Organismen besteht aus langen Kettenmolekülen von dieser DNS, engl. DNA. In der DNA ist die genetische Information nach einem speziellen Code verschlüsselt. Darin ist die chemische Substanz des Erbguts 30 Vgl. R. Moufang, a.a.O., S. 29 ff. 31 Hierbei bilden A und T und C und G ein Basenpaar. Die Paarung zum Doppelstrang wird dabei durch Wasserstoffbrückenbindungen ermöglicht. Siehe dazu J. Kinderlerer/D. Longley, Human Genetics: The New Panacea?, S. 606, Fn. 15, MLR, Bd. 61, Nr. 5, September 1998, Human Genetics and the Law: Regulating a Revolution. 32 Siehe R. Unterhuber, Imagene: AMGEN`s biotech glossar, S. 35 f, München 1998, der auch darauf verweist, daß die gesamte DNS einer menschlichen Zelle etwa zwei Meter lang wäre, wenn man sie linearisieren würde. Sie besteht aus etwa sechs Milliarden einzelnen Bausteinen, wobei sich ausgedruckt eine Bibliothek mit 2.000 Büchern von jeweils 1.000 Seiten mit jeweils 3.000 Buchstaben ergäbe. 33 Siehe Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, Entwurf des Berichtsteils der Themengruppe 3 (Stand 26. Oktober 2001), S. 4. 34 Siehe dazu M. Koch/A. Weber, Sicherheits- und Umweltfragen in der Gentechnologie, in: U. Steger, a.a.O., S. 187. Vgl. auch M. Ridley, Alphabet des Lebens, München 2000, S. 14 f. 29 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe bei sämtlichen Arten gleich. Aber sie liegt für jede Art und jedes Individuum in einer spezifischen Zusammensetzung vor und besitzt folglich einen spezifischen Informationsgehalt. Die genomische DNS ist in den Zellen in Form von Chromosomen35 organisiert. Bei Bakterien befindet sich das einzige Chromosom frei in der Zelle, während die Chromosomen bei höheren Organismen im Zellkern eingeschlossen sind. Die Gesamtheit der im betreffenden Lebewesen vorhandenen Erbanlagen wird als Genom36 bezeichnet. Beim Menschen besteht das Erbgut aus etwa drei Milliarden DNS-Bausteinen, die auf 46 Chromosomen (bzw. 23 Chromosomenpaare) verteilt sind, die sich im Zellkern jeder Körperzelle befinden. Die kleinste Einheit der Vererbung ist das Gen, d.h. diejenigen längenmäßig variablen Abschnitte auf der DNS-Kette, die die Information für ein Protein (Strukturgen) oder ein Steuersignal (Regulatoren) enthalten.37 Die genetische Information der Strukturgene wird in der Zelle abgelesen und für die Synthese von Eiweißstoffen benutzt. Diese Eiweißstoffe (Proteine38) bilden die Strukturen der Zellen und Lebewesen aus oder sie haben die Wirkung von Enzymen (Biokatalysatoren), die spezifische biochemische Reaktionen beschleunigen. Im Rahmen natürlicher Vererbungsvorgänge werden die Gene grundsätzlich zusammen mit anderen Bereichen des Genoms auf die Nachkommenschaft weitergegeben. Die geschätzte Anzahl der menschlichen Gene liegt bei etwa 80.000 bis 100.00039, wobei das Genom der Hefe im Vergleich dazu ungefähr 6.000 Gene enthält.40 35 Ein Chromosom ist ein abgegrenzter Teil des Erbmaterials im Zellkern einer Zelle, auf dem eine bestimmte Anzahl von Genen lokalisiert ist; vgl. R. Unterhuber, a.a.O., S. 28, München 1998. 36 Genom ist also die Gesamtheit des genetischen Materials; vgl. Römpp, Lexikon Biotechnologie, S. 317; siehe auch P. Hieter/M. Boguski, Functional Genomics: It`s All How You Read It, 278 Science 1997, S. 601. 37 Der dänische Biologe Wilhelm Johannsen (1857-1927) führte den Begriff „Gen“ 1909 ein, d.h. ein Erbfaktor, der eine einzelne Einheit hereditären (erblichen) Materials bildet; siehe Freiburger Genforum, Chancen und Risiken der Gentechnologie, eine Veranstaltung des Südwestfunk-Landesstudio Freiburg, 1997, S. 34. Vgl. zur Definition des Gens auch US Department of Energy, Office of Energy Research, Office of Health and Environmental Research, A Primer on Molecular Genetics, Washington 1992, S. 36. 38 Die Proteine sind wiederum für alle Lebensfunktionen verantwortlich: Sie sind Strukturbestandteil von Haut, Haaren, Muskeln und Knochen und regulieren als Hormone und Enzyme den Stoffwechsel und vieles mehr. Vgl. E.-L. Winnacker et al., Gentechnik: Eingriffe am Menschen, München 1999, S. 21. 39 Siehe G. Kahl, The Dictionary of Gene Technology, Weinheim 2001, S. 324, „Gene number“. 40 Vgl. E.-L. Winnacker et al., Gentechnik: Eingriffe am Menschen, S. 21 f. 30 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe II. Historische Entwicklung der Gentechnik Erkenntnisfortschritte in der Grundlagenforschung, vor allem in der Molekularbiologie führten zur Entwicklung der Gentechnologie. Vereinfacht kann man dabei die Gentechnologie als die gezielte Veränderung des Erbmaterials von Organismen, sei es durch Austauschen von Genen oder durch Hinzufügen von Genen, bezeichnen, d.h. ein Organismus besitzt dann neue, bewußt eingebaute und vorher bekannte Eigenschaften.41 Das Jahr 1973 wird im allgemeinen als das Geburtsjahr der Gentechnik bezeichnet, da in diesem Jahr erstmalig die Rekombination von DNS unterschiedlicher Herkunft sowie deren Klonierung gelang.42 Jedoch waren die Erkenntnisse der vorangegangenen Jahre, also etwa die Entschlüsselung des Geheimnisses der Vererbung durch die bereits erwähnte geniale Entdeckung von Watson und Crick43 und die Entdeckung der Restriktionsenzyme im Jahre 1971 unabdingbare Vorläufer dieses Experimentes. Bereits die Mendelschen 41 A. Weber, Biotechnologie und Gentechnologie, S.14, in: U. Steger, die Herstellung der Natur, Chancen und Risiken der Gentechnologie, Bonn 1985. 42 Dieses erste Klonierungsexperiment wurde 1973 von Stanley N. Cohen und H. Boyer an der kalifornischen Stanford Universität durchgeführt. Dort wurden bereits 1972 wesentliche Vorarbeiten zu diesem Experiment (die Neukombination von Nukleinsäuren) von Berg und Gilbert geleistet. Das Fazit des Versuchs war, daß es möglich ist, DNS unterschiedlicher Herkunft mit Restriktionsenzymen zu schneiden und die entstehenden Fragmente zu neuen, biologisch funktionierenden DNS-Molekülen zu rekombinieren, d.h. man konnte einen Organismus gezielt mit neuen, vererbbaren Eigenschaften versehen. Der Schritt der Verknüpfung ist dabei reversibel. Durch die Behandlung mit den obigen Enzymen kann die rekombinante DNS wieder in ihre vorherigen Ausgangsteile getrennt werden. Dieses Experiment bewirkte eine Revolution in den biologischen Wissenschaften. Siehe M. RegenassKlotz, Grundzüge der Gentechnik, 1998, S. 71. Vgl. auch E.-L. Winnacker, Gene und Klone, Weinheim 1985, S. 125 f. 43 Siehe J.D. Watson/F.H.C. Crick, A Structure for Desoxy-ribose Nucleic Acid, 171, Nature 1953, S. 737. Vgl. auch S. Sarkar, Genetics and Reductionism, Cambridge 1998, S. 138 ff. 31 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Vererbungsgesetze44, die die Basis für die Vererbungslehre bilden, gaben einen Hinweis darauf, daß allen Organismen der gleiche Mechanismus zu Grunde liegen muß; denn die Gesetze von Gregor Mendel aus dem Jahre 1865 sind wie der genetische Code für sämtliche Organismen gültig. Aber die im April 1953 veröffentlichte Entdeckung von Watson und Crick legte den Grundstein für einen neuen Wissenschaftszweig, die Molekularbiologie. Die genetischen Grundlagen von Erbmerkmalen wurden besser bekannt. So hatte man erkannt, daß bestimmte DNS-Abschnitte (Gene) mit Erbmerkmalen korreliert werden können und man konnte die Basenabfolge eines Gens herausfinden. Zahlreiche Erbkrankheiten45 waren besser verständlich, wenngleich man noch nicht wußte, wie ein krankes durch ein gesundes Gen ersetzt werden sollte. Insgesamt führte dies zu einem enormen Erkenntnisschub in der Genetik. Global wird derzeit an der generellen Struktur, der individuellen Zusammensetzung und den daraus sich ergebenden Funktionen des Erbguts geforscht. Zur Zeit ist es bereits möglich (oder tatsächlich absehbar), die verschiedenen Erbanlagen, also Gene, innerhalb eines Genoms zu isolieren, jedes einzelne Gen für sich darzustellen und seinen Informationsgehalt zu 44 Gregor Mendel, der gelehrte österreichische Augustinerpater, machte 1865 seine Untersuchungsergebnisse an Erbsen bekannt. Er entdeckte die „Uniformitätsregel“ und die „Spaltungsregel“ der Vererbung und ist damit Begründer der modernen Genetik: Kreuzt man Pflanzen miteinander, die sich nur in einem Merkmal unterscheiden (z.B. Blütenfarbe Rot oder Weiß), haben die Nachkommen der ersten Generation einheitlich gefärbte Blüten: rot oder weiß, soweit eine der Farben „dominant“, rosafarben, wenn das Merkmal Blütenfarbe „mischerbig“ ist (Uniformitätsregel). Kreuzt man die Pflanzen der ersten „Filialgeneration“ untereinander, sind zwei Varianten möglich: bei Mischerbigkeit sind die Farben der Nachkommen Rot, Rosa und Weiß im Verhältnis 1:2:1. Ist Rot dominant, entstehen nur rote und weiße Pflanzen im Verhältnis 3:1 (Spaltungsregel). Soweit die Kreuzung mehrere Merkmale betrifft, werden diese wie unabhängige Einheiten weitervererbt. Diese Einheiten nennt man heute Gene; siehe H. Rose, Der Griff nach dem Keim, S. 57, GEO Wissen, Sex Geburt Genetik, März 1998; vgl. auch W. Botsch, Herausforderung Gentechnologie, Stuttgart 1989, S. 6 ff, 46 sowie S. Winter et al., a.a.O., S. 9 f. 45 Mutationen, d.h. bei der Verdoppelungsreaktion im Rahmen einer Zellteilung auftretende nicht korrigierte Fehler in der Reihenfolge der DNS-Bausteine, sind dafür verantwortlich, daß die Information eines Gens nicht korrekt ist und es zur Synthese eines eventuell nicht funktionsfähigen oder auch gar keines Proteins kommt, wenn z.B. beide Genkopien fehlerhaft sind. Solche Mutationen können in Körperzellen die Entstehung einer Krebszelle zur Folge haben, sind aber nicht vererbbar, während Gendefekte in Keimzellen an die Nachkommen weitergegeben werden können. Soweit von der Mutation ein wichtiges Protein betroffen ist, können die Symptome einer Krankheit aufttreten. Derzeit sind etwa 7.000 solcher Erbkrankheiten bekannt. Vgl. E.-L. Winnacker, Gentechnik: Eingriffe am Menschen, S. 23. 32 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe bestimmen, sowie man Gene in einen anderen Empfängerorganismus (auch unter Überspringung der Artgrenze) einbringen kann. Des weiteren ist die Zerlegung jedes einzelnen Gens und die Rekombination - eventuell mit anderem Erbmaterial - möglich. Auf Grund des hohen Arbeitsaufwands für die Genomanalyse beschränkt sich die Isolation von Genen sowie die Erstellung von Genkarten, auf denen sämtliche DNS-Abschnitte und daher alle Erbmerkmale eines Lebewesens erfaßt sind, zunächst auf diejenigen Arten, die wissenschaftlich, ökonomisch und medizinisch für die Menschen interessant sind. Das menschliche Genom steht freilich im Mittelpunkt des Interesses; zum einen besteht ein theoretisches Interesse, mehr über die genetischen Voraussetzungen, wie etwa das Verhalten und die Physiologie, zu erfahren, zum anderen besteht ein praktisches Interesse, Krankheiten, Gesundheitsgefährdungen etc. zu erkennen und diese zu heilen. 1990 wurde diesbezüglich mit dem Human Genome Project (HGP) die weitreichende Entscheidung getroffen, das ganze menschliche Genom zu sequenzieren. Dies ist das größte Forschungsprojekt, das jemals in der Absicht begonnen wurde, die Struktur der menschlichen DNS zu analysieren.46 Die erste Phase des Projekts ist mit der Erstellung einer detaillierten Karte des menschlichen Erbgutes und der ersten Veröffentlichung der Komplettsequenzierung im Jahre 2001 inzwischen abgeschlossen. Damit wurde ein Meilenstein auf dem Wege zu einer Optimierung medizinischer Diagnose-, Therapie- und Präventionsmöglichkeiten zurückgelegt. Auch in Zukunft werden bedeutende Impulse von diesem Projekt ausgehen, das hier der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollte, aber nicht Gegenstand dieser Arbeit ist.47 46 Nach Hieter und Boguski wird die sich aus diesem Projekt ergebende Information von enormem Nutzen für die Medizin sein. Sie wird dazu beitragen, viele der mehr als 4.000 Genkrankheiten, an denen die Menschheit leidet sowie die zahlreichen multi-faktoriellen Krankheiten, bei denen die genetische Prädisposition eine entscheidende Rolle spielt, besser zu verstehen und möglicherweise zu behandeln. Vgl. Human Genome News (1998) 9, 1-2, abrufbar unter http.//www.ornl.gov/TechResources/HumanGenome/project/project.html, Stand 03.07.2001; siehe auch J. D. Watson, Das „Human Genome Project“, S. 156, in: E.P. Fischer/W.-D. Schleuning, Vom richtigen Umgang mit Genen, München 1991, der auch darauf hinweist, daß Großbritannien diesbezüglich u.a. neben den USA, der Sowjetunion, Italien und Japan Humangenom-Programme eingerichtet hat. Vgl. ebenso M. Kemme, Gentechnik in der Humanmedizin – Perspektiven einer modernen Gesundheitsfürsorge, S. 252 ff., in: Gentechnik, Die Wachstumsbranche der Zukunft, Frankfurt am Main 1996. 47 Ausführlich dazu S. Winter et al., Genmedizin und Recht, München 2001, S. 269 ff. 33 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe III. Zusammenfassende Bewertung Insgesamt ist die Anwendung der Gentechnologie aus zwei verschiedenen Gründen denkbar. Der Hauptgrund könnte als Gentechnologie um der Heilung willen bezeichnet werden, d.h. die Fälle, in denen neues intaktes genetisches Material zum menschlichen Genom hinzugefügt wird oder defekte Gene ausgetauscht werden, um einen bereits existierenden Defekt im Erbgut des Individuums zu korrigieren48, wie etwa die Einbringung neuer Haemoglobin-Gene bei Menschen mit Sichelzellenanämie. Damit wird das technisch Neuartige an der Gentechnik, nämlich die Möglichkeit zur gezielten Isolierung und Einführung individueller, charakterisierter Gene oder Genbruchstücke in einen Organismus, der mit dem des Spenders nicht identisch sein muß,49 zu Behandlungszwecken ausgenutzt. Die ethische Vertretbarkeit ist bezüglich dieser Therapieform sicher gegeben, da die Erbkrankheiten oder -mißbildungen, die Fehlsteuerungen des Zellwachstums oder der Immunreaktion derartig schweres Leiden zur Folge haben, daß Forschung und Therapie gerechtfertigt erscheinen.50 Die andere denkbare Art des Genetic Engineering betrifft eine Verbesserung des Menschen im Vergleich zur menschlichen Norm. Dabei kann es sich um Gene handeln, die die Intelligenz steigern, die Körpergröße oder die physische Kraft steigern, oder um Gene, die den Einzelnen mit einer natürlichen Resistenz gegenüber Infektionskrankheiten – im allgemeinen oder gegen spezifische Krankheiten - ausstatten im Sinne einer Art Genimpfung. Diese Form des Genetic Engineering könnte somit für zweifelhafte Zwecke, wie das Erzeugen von Kindern mit einer bestimmten physischen Ausstattung, verwendet werden.51 Durch die Möglichkeit des gezielten Eingriffs in genetisches Material kann es außerdem zu fehlerhaften Entwicklungen kommen. Derartige Schäden oder unerwünschte Nebenwirkungen sind wegen des Eingriffs in 48 Damit ermöglicht die Gentechnik ein gezieltes Einbringen fremden, gegebenenfalls sogar artfremden genetischen Materials in den zu verändernden Organismus, so daß ausgewählte genetische Eigenschaften gezielt verändert werden können. 49 Vgl. H. Domdey, Grundlagen der Gentechnik. Entstehung, Entwicklung und Gestalt eines neuen wissenschaftlich-technologischen Fachgebietes, S. 21, in: T. Hausmanninger/R. Scheule, ... geklont am 8. Schöpfungstag, Augsburg 1999. 50 Siehe hierzu L. Siep, Ethische Probleme der Gentechnologie, S. 151, in: J. S. Ach/A. Gaidt, Herausforderung der Bioethik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993. 51 Siehe S. Holm, Genetic Engineering and the North-South Divide, S. 48 f. in: A. Dyson/J. Harris, a.a.O. 34 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe biologisches Material jedoch weitaus gefährlicher als z.B. ein technischer Unfall. Die Gentechnologie kann also als Technik zur Beeinflussung der Natur und der Menschen im positiven wie im negativen Sinne bezeichnet werden. B. Humangenetik im weiteren Sinn Die Bedeutung der Gentechnologie für die Humanmedizin52 ist nicht zu unterschätzen. Sie trägt dazu bei, die Lebensqualität des Menschen zu verbessern.53 Denn durch die Gentechnologie werden unsere Kenntnisse von der Steuerung der Wachstums- und Differenzierungsprozesse der Zellen so erweitert, daß die Ursachenerforschung von genetisch bedingten krankheitserregenden Prozessen, wie etwa Krebs, und die Entwicklung von Therapien54 möglich erscheint. So fragt sich die Gendiagnostik, ob der Mensch einen Gendefekt hat, ob er ein Gen zuwenig oder zuviel hat, oder ein falsch funktionierendes Gen besitzt, das einen Defekt im Körper steuert. Ein weiterer Anwendungsbereich der Gentechnologie im Zusammenhang mit der pränatalen und der postnatalen Diagnostik ist die Genomanalyse, die die Untersuchung der genetischen Disposition eines Menschen einschließlich seiner Krankheiten und Anlagen umfaßt. Mittels genetischer Analyse kann man z.B. erkennen, daß Faktor VIII, der für das Stillen der Blutgerinnung verantwortlich ist, nicht oder falsch gebildet wird, so daß sich die Bluterkrankheit entwickelt. Ebenso können Infektionen erkannt werden, weil jeder Infektionserreger (Bakterien, Viren, Pilze, Protozoen u.a.) seine genetische Spur im Körper hinterläßt. Früher konnten lediglich statistische Angaben über die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines erbkranken Kindes gemacht werden, wohingegen heute absolute Sicherheit gegeben ist und somit der Schwan- 52 Humangenetik ist die Wissenschaft von den menschlichen Vererbungsvorgängen und gehört zur allgemeinen Genetik. Siehe A. Eser, Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg im Breisgau, Humangenetik, S. 514 f. 53 Kritisch äußert sich P. Kitcher zu dem Versuch, die Qualität menschlichen Lebens anhand der Summe seiner angenehmen oder schmerzhaften Erfahrungen einzuschätzen in: ders., Genetik und Ethik, S. 319 ff, 1998. 54 Siehe zur Gentherapie L. Siep, Gesteuerte Evolution?, philosophische Probleme der Gentechnologie, S. 128, in: U. Steger, a.a.O. Vgl. auch W. Buselmaier/G. Tariverdian, Humangenetik, Berlin 1999, S. 360 ff. 35 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe gerschaftsabbruch als Alternative in Erwägung gezogen werden kann.55 Dies bedeutet allerdings auch eine Entscheidung über Leben oder Tötung, die ethisch nicht unbedenklich ist. Insbesondere gilt es, die Gefahr des eugenischen Mißbrauchs der Methode zu minimieren. Die Revolution auf dem Gebiet der Embryonenforschung war durch die Methode der In-vitro-Fertilisation (IVF)56 eingeleitet worden: Mittels dieser Technik gelang es - zum ersten Mal im Fall der Geburt von Louise Brown am 25. Juli 1978 in England - in bestimmten Fällen mütterlicher Sterilität, Eizellen dem Körper einer Frau direkt zu entnehmen, diese außerhalb des Körpers im Reagenzglas (in vitro) zu befruchten und die in der „Retorte“ befruchteten Eizellen, wenn sie das 4-Zellstadium ihrer Entwicklung erreichen, in die Gebärmutter der Frau mit der Methode des Embryonentransfers (ET) einzubringen.57 Die IVF erregte Ende der siebziger und in den achtziger Jahren mindestens soviel Widerspruch wie das Klonen heute – wenn nicht sogar mehr, weil die Menschen mit High-Tech-Befruchtungsbehandlungen weniger vertraut waren.58 55 Siehe E.-L. Winnacker, das Genom als „Schlüssel“ zum Geheimnis des Lebens?, S. 26, in: N. Knoepffler, am Ursprung des Lebens, München 1998; siehe auch H. Markl, Wir können noch nicht, was wir können müßten, S. 85, in: E.P. Fischer/W.-D. Schleuning, a.a.O. 56 IVF wurde entwickelt, um Frauen mit fehlenden Eileitern oder nicht wiederherstellbaren Eileiterfunktionen die Chance zu geben, schwanger zu werden. Die IVF ist dann auch auf andere Gebiete der Sterilitätstherapie ausgeweitet worden (Indikationen); siehe In-vitroFertilisation (IVF), in: W. Korff et al., Lexikon der Bioethik, S. 291 ff., Gütersloh 1998. Siehe zur Entwicklung des IVF-Verfahrens C. Langer-Rock, Der strafrechtliche Schutz des überzähligen in-vitro-gezeugten Embryos, Bayreuth 1998, S. 2 ff. 57 Vgl. K. Sperling, Gentherapie und Manipulation menschlicher Keime: Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Möglichkeiten, S. 10, in: R. Lukes, a.a.O.; wissenschaftliche „Väter“ des ersten außerhalb eines Frauenkörpers gezeugten Kindes sind der Gynäkologe Patrick Steptoe und der Physiologe Robert Edwards; vgl. H. Rose, S. 58, GEO Wissen, a.a.O; siehe dazu auch S. Fritsch-Oppermann, Neue Technologien der Reproduktionsmedizin aus interkultureller Sicht, S. 23, Augsburg 1999. Auch dürfen Ärzte in Großbritannien mit menschlichen Embryonen experimentieren und damit beispielsweise neue Verfahren testen, Erbkrankheiten im Reagenzglas noch außerhalb des Mutterleibes zu diagnostizieren; vgl. S. Dickman, Embryonenselektion: Menschen nach Maß, S. 67, GEO Wissen, a.a.O. 58 Vgl. I. Wilmut/K. Campbell/C. Tudge, a.a.O., S. 336 ff. 36 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Mit der Geburt des Schafes Dolly59 war die Kombination von Gentechnik und Reproduktionsmedizin vollzogen worden. Die modernen reproduktionsmedizinischen Techniken ermöglichen es zudem, „überzählige“ Embryonen durch künstliche Vermehrung zu produzieren und die frühe Keimentwicklung außerhalb des Körpers ablaufen zu lassen, so daß die embryonalen Zellen für gentechnische Methoden zur Verfügung stehen. Die diversen Methoden der Reproduktionstechnologie, wie die extrakorporale Befruchtung60, die Embryonenforschung, die Kryokonservierung, das Klonen, werden in der Literatur daher auch unter den Terminus der „Humangenetik“ subsumiert.61 Diesem weiten Verständnis des Begriffs Humangenetik schließt sich vorliegende Arbeit an. Besonderes Augenmerk kommt hierbei dem sogenannten therapeutischen Klonen zu, das auch in den Medien aufgrund des erheblichen therapeutischen Potentials in das Zentrum der Diskussion gerückt ist. Freilich sind diese Methoden aufgrund der Risiken sowie der Kontrollierbarkeit, Regulierbarkeit und Manipulierbarkeit der Entstehung menschlichen Lebens nicht unumstritten und begegnen gesellschaftlichem Mißtrauen. In Diskurs miteinander treten Naturwissenschaftler, Ärzte, sowie Juristen, Philosophen und Theologen. Einerseits erscheinen gentherapeutische Eingriffe beim Menschen als besonders schmerz- und leidempfindlichen Wesen sehr schwierig und folgenreich. Andererseits kommen spezifische Risiken und 59 Der Embryologe Ian Wilmut und seine Kollegen vom Roslin Institute bei Edinburgh präparierten aus dem Euter eines Schafes eine Zelle heraus und kultivierten sie unter Nährstoffentzug im Reagenzglas. Dadurch versetzten sie die Zelle gleichsam wieder in einen Urzustand, in dem sie Vorlage für ein neues Tier sein konnte. Daraufhin fusionierten sie die Euterzelle und eine entkernte Eizelle und pflanzten das Gebilde einem Ammenschaf ein. Die Geburt des Schafs „Dolly“, dessen Erbgut dem seiner Mutter völlig identisch ist, im Jahr 1996 war das Ergebnis und bedeutete eine Revolution in der Tierproduktion; siehe J. von Campenhausen, a.a.O., S. 157, sowie R. Klingholz, Der Klon im Schafspelz, S. 22, beides in: GEO Wissen, a.a.O. 60 Daneben existieren die Methoden der technisch assistierten Reproduktionsmedizin, bei denen die Zeugung innerhalb des mütterlichen Körpers stattfindet, d.h. die artifizielle Insemination (AI), der Gametentransfer (GT), der intratubare Zygotentransfer (ZIFT), sowie der Transfer befruchteter Eizellen im Vorkernstadium (PROST: Pronuclear stage tubal transfer); siehe E. Iliadou, Forschungsfreiheit und Embryonenschutz, Berlin 1999, S. 25. 61 Vgl. etwa E. Benda, Humangenetik und Recht – eine Zwischenbilanz, NJW 38 (1985), S. 1730, der unter Humangenetik „jede den Menschen betreffende Maßnahme, die sich entweder gentechnischer Methoden bedient (Genmanipulation, Genomanalyse auf molekularem Niveau) oder die eine nicht natürliche Fortpflanzungsmedizin darstellt (künstliche Insemination, IVF, Klonen)“ versteht. A.A. z.B. M. Koechlin Büttiker, a.a.O., S. 49, die den entscheidenden Unterschied darin sieht, daß sich die Reproduktionsmedizin im Gegensatz zur Humangenetik nicht primär mit der Erforschung und Veränderung der Gene befaße. 37 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Mißbrauchsmöglichkeiten hinzu, wie etwa die Möglichkeit der genetischen Überwachung des Menschen („gläserner Mensch“)62, die durch „Gen-Pass“ und „Genetic Screening“63, d.h. die exakte Ablesbarkeit und Registrierbarkeit des genetischen Programms eines Menschen, gegeben ist und die Problematik der Grenzüberschreitung zwischen Therapie und „Verbesserung“ der menschlichen Eigenschaften,64 insbesondere bei der Keimbahntherapie. Die Einschätzung eines Menschen auf Grund seines Genotyps ist sehr bedenklich, insbesondere, wenn es sich um die Vergabe von Arbeitsplätzen oder die Aufnahme in Lebens- und Krankenversicherungen65 handelt. So könnten Gentests Anlaß zu einer neuen Diskriminierung durch Dritte geben und damit zu einer „Dehumanisierung der Gesellschaft“66 führen. Jürgen Habermas spricht hierbei vom Verlust moralischer Verantwortungsmöglichkeit für moderne Biotechnologien67, die auf Grund ihrer Unüberschaubarkeit nicht mehr kontrolliert und verantwortet werden könnten.68 Diese Fragen werden somit die Juristen, insbesondere auf dem Gebiet des Medizinrechts, des Versicherungs-, Arbeits und Strafrechts, beschäftigen. Auch kann die frühzeitige 62 Siehe B. Klees, a.a.O., S. 91. 63 Siehe dazu B. Klees, a.a.O., S. 84. 64 Siehe D. J. Kevles/L. Hood, Schlußbetrachtungen, S. 324, in: D. J. Kevles/L. Hood (Hrsg.), a.a.O.; vgl. dazu auch S.B. Primrose, Biotechnologie, S. 200 f, Heidelberg 1990. 65 Siehe E.-L. Winnacker, a.a.O., S. 26; J. Murken, Naturwissenschaftliche und medizinische Grundlagen, S. 53, in: R. Lukes, a.a.O. Durch Anforderung von genetischen Untersuchungen als Voraussetzung für eine Einstellung könnten Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer danach auswählen, ob sie gegenüber bestimmten Arbeitsstoffen genetisch bedingt anfällig sind. Versicherer könnten unter Einforderung von genetischen Tests günstige Tarife für die „attraktiven“ potentiellen Kunden anbieten und die restliche Klientel könnte Schwierigkeiten haben, die geeignete Versicherung zu finden; vgl. M. Elstner, Einführung: Technikkonflikte und Technikentwicklung - zum gesellschaftlichen Umgang mit der Gentechnik, S. 18 f, in: M. Elstner, Gentechnik, Ethik und Gesellschaft, Heidelberg 1997. Siehe auch T. Smith, Ethics in Medical Research, Cambridge 1999, S. 235. 66 Siehe R. Martinsen, Einleitung: Politik und Biotechnologie, Zukunft als Bezugspunkt von Entscheidungen unter Ungewißheit, S. 10, in: R. Martinsen (Hrsg.), Politik und Biotechnologie: Die Zumutung der Zukunft, Baden-Baden 1997. 67 Vgl. zur Unterscheidung zwischen „moralisch“ und „ethisch“: D.R.J. Macer, Biotechnology and Bioethics: What is Ethical Biotechnology?, S. 123 f., in: H.-J. Rehm/G. Reed, Biotechnology, der darauf verweist, daß oftmals unethische Praktiken von einer Gesellschaft toleriert werden und sie daher der gemeinen Moral entsprechen, also „moralisch akzeptiert“ sind. Das Recht basiere auf dieser allgemeinen Moralvorstellung eines Landes, weshalb in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche Gesetzgebungen beispielsweise im Bereich der der Embryonenforschung existieren. 68 Siehe M. Keilbart, Verantwortung und Arbeitsteilung in der Humangenetik, S. 15, Saarbrücken 1999. 38 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Kenntnis einer eventuell im späteren Alter auftretenden unheilbaren Krankheit für den betroffenen Menschen zu einer beinahe unerträglichen Belastung werden.69 Außerdem ist es denkbar, daß mutierte Erbanlagen aufgedeckt werden, die nur in Kombination mit anderen, möglicherweise nicht aufdeckbaren, Anlagen oder nur unter bestimmten ungünstigen Umweltkonditionen zur Erkrankung führen.70 Vor der Untersuchung der rechtlichen Aspekte der Humangenetik sollen die Verfahrensarten im Bereich der Genetik im engeren Sinne und der Reproduktionsbiologie skizziert und - soweit erforderlich - voneinander abgegrenzt werden. I. Prädiktive Genanalyse In dieser Arbeit geht es hauptsächlich um die rechtliche Zulässigkeit der Veränderung des menschlichen Genoms. Jedoch sei zum besseren Verständnis kurz auf die dafür unerläßliche Analyse, d.h. die Entschlüsselung der menschlichen Erbinformationen, hingewiesen. Prädiktive Diagnostik soll präsymptomatisch die Anlageträgerschaft für eine Krankheit, die im Laufe eines Lebens mit erhöhter oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausbrechen wird, konstatieren.71 Sie bezweckt folglich, Personen vor Krankheiten zu schützen, für die sie von der genetischen Struktur her anfällig sind und will die Weitergabe der genetischen Disponiertheit an die Nachkommen vermeiden.72 Dabei stellt die prädiktive Genanalyse eine Untersuchungsmethode dar, die die Gene eines Menschen auf potentielle krankhafte Fehlentwicklungen hin überprüft (sog. Screening Test), und präzisestmögliche Sicherheit und Wahrscheinlichkeit der Vorhersage anstrebt. Neben unmittelbar nach außen erkennbaren Schäden am menschlichen 69 Siehe E. Benda, Bericht über die Interministerielle Kommission „In-vitro-Fertilisation, Genom-Analyse und Gentransfer“, S. 68, in: R. Lukes, a.a.O. 70 Vgl. M. Balkenohl, Exkurs zur Genomanalyse, S. 229 f., in: R. Rösler, Biologie im Horizont der Philosophie, der Entwurf einer europäischen „Bioethik“-Konvention, Frankfurt am Main 1997. 71 Siehe dazu C.R. Bartram et al., Humangenetische Diagnostik, Berlin u.a. 2000, S. 66 f. Siehe auch Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, a.a.O., S. 11. 72 So die Auffassung der Kommission der europäischen Gemeinschaften. Davon sind nach ihrer Ansicht Pränatales bzw. Präkonzeptionelles Screening und die Präimplantationsdiagnostik begrifflich zu unterscheiden; siehe 6. Stellungnahme der Beratergruppe der Kommission vom 20.02.1996, S. 2. 39 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Erbgut können so konstitutionelle Anlageschwächen -im angelsächsischen Sprachgebrauch „inborn errors“73 benannt - aufgedeckt werden. Der meist eingesetzte Screening Test ist der biochemische Test des mütterlichen Blutes, um das Risiko der Weitergabe eines Down Syndroms festzustellen.74 Die genetische Beratung75 ermöglicht es ratsuchenden Eltern, eine Familienberatung aufzusuchen, bevor sie sich dazu entschließen, ein Kind zu bekommen. Mittels der Pränataldiagnostik76 (durch Entnahme von Fruchtwasser - Amniozentese in der Regel zwischen der 15. und 17. Schwangerschaftswoche oder durch die Entnahme von Zellen aus der Embryonalhülle - Chorionzottenbiopsie in der Regel zwischen der 9. und 12. 73 Siehe M. Kemme, a.a.O., S. 280. 74 Vgl. dazu OECD, Genetic Testing, Paris 2001, S. 24 f. Screening ist eine im Vereinigten Königreich übliche Praxis und wird insbesondere zur Feststellung von HaemoglobinErkrankungen durchgeführt. Ebd., S. 25 ff. 75 Siehe zum Genetic Counselling: OECD, Genetic Testing, Paris 2001, S. 27 ff. 76 Davon abzugrenzen ist die Präimplantations-Diagnostik (PID), also die genetische Diagnose eines durch In-vitro-Fertilisation entstandenen Embryos, vor dem intrauterinen Transfer, also vor der Einpflanzung in den Mutterleib. Genetisch kranke Paare haben so die Chance zu erfahren, ob der Embryo unter einer erheblichen Erbkrankheit leidet. Dazu entnimmt man dem sich entwickelnden Embryo im 4 bis 8-Zellstadium eine Zelle und unterzieht diese einer genetischen Diagnostik. Soweit sich kein Gendefekt feststellen läßt, wird der Embryo in die Gebärmutter der entsprechenden Frau implantiert. Es wird also nicht in das Genom eingegriffen, sondern lediglich der genetische Status des Embryos analysiert. Die PID wird vor allem bei Familien mit familiärem Risiko für eine bestimmte Erbkrankheit durchgeführt, um die Implantation eines Embryos zu vermeiden, welcher nach späterer Diagnostik der Erkrankung durch Fruchtwasseruntersuchung möglicherweise abgetrieben wird. Kritisch dazu äußert sich J. Rifkin, Das biotechnische Zeitalter, München, 1998, S. 206 f., der darin eine Form der „elterlichen Eugenik“ sieht. Diese Technik wurde im Hammersmith Hospital in London vor gut zehn Jahren entwickelt; vgl. zu Begriff und Verfahren auch K. Faßbender, Präimplantationsdiagnostik und Grundgesetz, S. 2746 f. Vgl. zur PID auch den ausführlichen, im Dezember 1999 veröffentlichten Bericht der European Society of Human Reproduction and Embryology (ESHRE) PGD Consortium Steering Committee (1999), ESHRE Preimplantation Genetic Diagnosis (PGD) Consortium: Preliminary Assessment of Data from January 1997 to September 1998, Journal of Human Reproduction, Bd. 14, S. 3138-3148. Siehe auch das gemeinsame Beratungsdokument der HFEA und des Advisory Committee on Genetic Testing, abrufbar unter http://www.doh.gov.uk/genetics/acgt.htm, Stand 06.06.2001. 40 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Schwangerschaftswoche und durch Fetoskopie)77 kann man während der Schwangerschaft ein spezifisch erbliches Erkrankungsrisiko für die Eltern selbst und ihre etwaigen Nachkommen feststellen.78 Diese diagnostischen Tests werden eingesetzt, um das Ergebnis eines Screening Tests zu bestätigen oder um so früh wie möglich festzustellen, ob ein genetischer Defekt der Eltern an den Fötus weitergegeben wurde.79 Insgesamt sind nach der Auffassung des Royal College of Physicians und der British Medical Association (BMA) die vornehmlichen Ziele der Pränataldiagnose folgende: Frauen und Paaren, bei denen das Risiko eines Nachwuchses mit einer Abnormalität besteht, die weitest mögliche „informed choice“ innerhalb der von der Gesellschaft anerkannten Grenzen anzubieten, d.h. etwaige Ängste im Bezug auf Reproduktion zu reduzieren, eine optimale Behandlung kranker Kinder mittels frühzeitiger Diagnose sicherzustellen.80 77 Vgl. zu Begriffsbestimmung und Techniken der pränatalen Diagnostik: C. Breuer, Pränatale Diagnostik und Therapie, S. 243 ff., in: T. Hausmanninger/R. Scheule (Hrsg.), a.a.O.; C. Mainardi-Speziali, Ärztliche Aufklärungspflichten bei der pränatalen Diagnostik, 1992, S. 2 ff., die darauf hinweist, daß der Begriff „pränatale Diagnostik“ die pränatal-diagnostischen Methoden bezeichnet, während unter „pränatale Diagnose“ das Resultat der Anwendung dieser Methoden im konkreten Einzelfall verstanden wird. Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages, a.a.O., S. 15 ff. Siehe auch B. Klees, a.a.O., S. 54; sowie M. Kemme, a.a.O., S. 273; vgl. auch N. Wexler, In die Zukunft blicken und Zurückhaltung üben: Das Genomprojekt und seine Folgen, S. 250, sowie R. Schwartz Cowan, Gentechnik und die Entscheidungsfreiheit bei der Fortpflanzung: Eine Ethik der Selbstbestimmung, S. 265, in: Der Supercode: die genetische Karte des Menschen, München 1993; siehe dazu auch D. B. Resnik/H. B. Steinkraus/P. J. Langer, Human Germline Gene Therapy: Scientific, Moral and Political Issues, S. 39, 1999 sowie G. P. Smith, The New Biology, Law, Ethics and Biotechnology, S. 73.; B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung, Berlin 1993, S. 31 f. Siehe zur Bedeutung pränataler Diagnostik auch C. Hofmann, Rechtsfragen der Genomanalyse, Frankfurt am Main 1999, S. 60 ff. 78 Vgl. zu den Vorteilen der Pränataldiagnostik H. Häyry, How to Asess the Consequences of Genetic Engineering, S. 144 f., in: A. Dyson/J. Harris, a.a.O. Jedoch sollte die Pränataldiagnostik nicht zu einer neuen Form der Eugenik führen. Es erscheint sehr fragwürdig, die Kosten dieser Diagnostik und der präventiven Beendigung der Schwangerschaft mit den Kosten der besonderen Pflege und Erziehung der Menschen, die Gendefekte aufweisen, zu vergleichen. Ein Bericht zur Pränataldiagnostik des Londoner Ärztekollegs macht sich aber genau diesen Vergleich zu eigen, indem er auf die finanziellen Daten verweist, die für eine Abtreibung von Föten mit Down-Syndrom als sehr effektiver Kosten-Nutzen-Intervention sprechen; siehe Royal College of Physicians´Working Party, Report on Prenatal Diagnosis and Genetic Screening: Community and Services Implications, London: Royal College of Physicians, 1989. 79 Siehe zur Unterscheidung pränataler Tests in Screening und diagnostische Tests: J. Gunning, Preimplantation Genetic Diagnosis, S. 17 f., in: J. Gunning, Assisted Conception: Research, Ethics and Law, Aldershot 2000. 80 Vgl. BMA, Human Genetics: Choice and Responsibility, Oxford 1998, S. 48 f. 41 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Die Möglichkeit der Pränataldiagnose wirft die Frage auf, ob diejenigen, bei denen ein hohes Risiko der Weitergabe einer schweren genetischen Anomalie besteht, die Verpflichtung gegenüber ihrem Partner und zukünftigen Generationen haben, keine Kinder zu bekommen oder sich Tests zu unterziehen und im Falle der Weitergabe die Schwangerschaft zu beenden. Nach Harris ist die moralische Pflicht gegenüber zukünftigen Generationen sowohl positiv als auch negativ. Danach müssten wir nicht nur jede gezielte Schadenszufügung von unseren Nachkommen unterlassen, sondern auch Gefahren abwenden, die Schaden hervorrufen könnten.81 Eine derartige ethische Verpflichtung zur pränatalen Diagnose und gegebenenfalls zum Schwangerschaftsabbruch widerspricht gerade dem Prinzip der „informed choice“ des Einzelnen. Vielmehr muß den Paaren auch die Freiheit gelassen werden, sich gegen eine Diagnose zu entscheiden, um nicht in die Situation der Entscheidungsfindung über das Leben des zukünftigen Kindes zu gelangen oder auf unerwartete Neuigkeiten zu stoßen. Ebensowenig darf der Zugang zur Diagnose auf diejenigen Paare beschränkt werden, die im Falle eines Gendefekts des Kindes abtreiben würden, wie dies in der Vergangenheit von einigen Medizinern gefordert wurde.82 Zum einen kann die Diagnose eine Absicherung der Gesundheit des zukünftigen Kindes bieten, zum anderen können Vorbereitungen für die Behandlung sowie für die Geburt eines behinderten Kindes getroffen werden. 1. Abgrenzung der prädiktiven Genanalyse zur somatischen Gentherapie Die Gentherapie stellt eines der sich am schnellsten entwickelnden Gebiete in der modernen medizinischen Forschung dar. Unter Gentherapie versteht man gezielt ausgeführte Veränderungen des menschlichen Genoms zur Korrektur erblich bedingter Erkrankungen. Ausschließliche Motivation ist der Heilungserfolg. Die Veränderung kann vor allem dadurch erfolgen, daß das defekte Gen durch ein intaktes ersetzt wird (Gensubstitution), dem Erbgut des Empfängerorganismus zusätzlich zum defekten Gen ein intaktes Gen zugeführt wird (additiver Gentransfer) oder durch Einbringen eines Gens die Auswirkungen des defekten Gens ausgeglichen werden (Genkompensation).83 81 Ebd., S. 49. 82 Ebd., S. 52. 83 Vgl. W. Eberbach et al., GenTR/BioMedR, Einf., Rdnr. 11 f. Siehe auch M. Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung, Baden-Baden 1997, S. 85. 42 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Unter der noch jungen Anwendungsform der Gentechnik, der somatischer Gentherapie, versteht man das gezielte Einbringen von Genen und Polynukleotiden in menschliche Körperzellen (Somazellen) in therapeutischer Absicht.84 Dabei wird ein funktionsfähiges Gen in Patientenzellen außerhalb des Körpers eingeführt, diese Zellen vermehrt und wieder in den menschlichen Körper zurückverpflanzt.85 Körperzellen sind die Zellen eines Organismus, die weder Keimzellen sind noch zu solchen werden können. Keimzellen sind solche Zellen, die zur Reproduktion des gesamten Organismus bestimmt sind oder deren Vorläufer sind. Diese Zellen können sich nämlich teilen und in eine Vielzahl von Zelltypen differenzieren, die das Gewebe und die Organe des Körpers bilden. Zweck der somatischen Gentherapie ist es, Fehlfunktionen von Genen des Patienten zu heilen oder fehlerhafte Genprodukte auszutauschen. Überdies soll durch einen Gentransfer gegen Krankheitssymptome dadurch vorgegangen werden, daß die Herstellung eines therapeutisch wirksamen Stoffes im 84 Vgl. ausführlich zur somatischen Gentherapie R. Paslack, Die somatische Gentherapie: technische Optionen zwischen Skepsis und Zuversicht, S. 9 ff., in: R. Paslack/H. Stolte, Gene, Klone und Organe: neue Perspektiven der Biomedizin, Frankfurt am Main 1999. Siehe auch A. Laufs, Entwicklungslinien des Medizinrechts, S. 1617, NJW 1997; ebenso H. Hoffmann, Biomedizin – Neue Therapiemöglichkeiten durch Gentechnik, 1998, S. 46. Vgl. dazu auch K. Dierickx, The Impact of Human Gene Therapy on Genetic Screening and Testing: Ethical and Societal Considerations, S. 141 f., in: A. Nordgren, a.a.O.; D. Voss, a.a.O., S. 40 ff. Siehe auch unter dem Begriff somatic cell genetic engineering (somatic gene therapy), in: G. Kahl, Dictionary of Gene Technology, S. 454, Weinheim 1995; vgl. auch J. Kinderlerer/D. Longley, Human Genetics: The New Panacea, S. 614 ff., in: R. Brownsword et al., a.a.O.; E.-L. Winnacker et al., a.a.O., S. 28; M. Hallek et al., Ethische und juristische Aspekte der Gentherapie, München 1999, S. 11. 85 Siehe P. Starlinger, Stichwort Gentechnik – Der naturwissenschaftliche Aspekt, S. 17, in: E.P: Fischer/W.-D. Schleuning, Vom richtigen Umgang mit Genen, München 1991, sowie S. Graumann, Some Conceptual Questions about Somatic Gene Therapy and their Relevance for an Ethical Evaluation, S. 68 f., in: A. Nordgren, a.a.O. Siehe auch zur Gentherapie bei Krebspatienten S. J. Cleator/P. Price, Management Problems in Oncology, S. 7, in: N. A. Habib, Cancer Gene Therapy, Past Achievements and Future Challenges, 2000, sowie A.M. Gewirtz, The c-myb Protooncogene: A Novel Target for Human Gene Therapy, S. 217 ff., in: T. Blankenstein, Gene therapy: principles and aplications, 1999. Vgl. zur Gentherapie bei Autoimmunkrankheiten C. G. Fathman/C. M. Seroogy, Application of Gene Therapy in Autoimmune Disease, S. 189 ff., in: C. G. Fathman, Biologic and Gene Therapy of Autoimmune Disease, 2000. Siehe zu den generellen Möglichkeiten des Einbringens neuen genetischen Materials in die Zellen des menschlichen Körpers: S. Holm, Genetic Engineering and the North-South Divide, S. 50, in: G. P. Smith, The New Biology, Law, Ethics and Biotechnology. 43 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Körper des Patienten selbst stattfindet86. So wird beispielsweise die Information für ein immunstimulierendes Protein in Krebszellen eingebracht. Ebenso will man beispielsweise bei Blutern das in ihrer Geninformation fehlende Gen für die Erzeugung des Blutgerinnungsfaktors VIII in bestimmte Körperzellen einschleusen, damit diese den Blutgerinnungsfaktor selbst erzeugen.87 Bislang erfolgt der Gentransfer fast gänzlich ex vivo; dem Patienten werden also Zellen zur gentechnischen Veränderung der Erbinformation in Kulturschalen entnommen. Nach gelungener Veränderung werden die Zellen wieder in den Patienten eingebracht. Um die Polynukleotide in die entnommenen Zellen zu implantieren, werden physikalisch-chemische – wie Mikroinjektionen - oder biologisch-virale Methoden angewandt.88 Dabei hatten von den ersten 2.300 Patienten, bei denen die Behandlung durchgeführt wurde, nur zehn Prozent monogene Krankheiten, für die die Gentherapie ursprünglich vorgesehen war, sechzig Prozent Krebs und ungefähr achtzehn Prozent Infektionskrankheiten, vor allem AIDS.89 Die bei weitem überwiegende Zahl von Krankheiten wird also polygen oder multifaktoriell verursacht. Es besteht die Hoffnung, mit dieser Methode bislang unheilbare Krankheiten besiegen zu können. Der Begriff „somatisch“ grenzt den Gentransfer in Körperzellen vom Gentransfer in menschlichen Keimbahnzellen ab. Letzterer hat im Gegensatz zu ersterem die Weitervererbung an die nachfolgende Generation zur Konsequenz. Aus biomedizinischer Sicht wird immer häufiger die These vertreten, die somatische Gentherapie sei einer Organ- oder Gewebetransplantation90 gleichzusetzen, bei der dem Patient ebenfalls fremde Gene eingepflanzt werden. Somit wirft die somatische Gentherapie keine neuen ethischen Probleme auf,91 sondern ist vielmehr Teil des natürlichen medizinischen Fortschritts. Sie bedeutet in Zielsetzung und Folgen der Behandlung keine Problematisierung 86 87 88 89 90 91 Siehe H. Wagner/B. Morsey, Rechtsfragen der somatischen Gentherapie, NJW 1996, S. 1566. Vgl. C. Hofmann, Rechtsfragen der Genomanalyse, Mannheim 1999, S. 5. Vgl. A. Laufs, Medizinrecht im Wandel, NJW 1996, S. 1579. Abrufbar unter http://www.wiley.co.uk/genetherapy/diseases.htm, Stand: 5.03.2002. Siehe B. Morsey, a.a.O, S. 20. Vgl. bereits S. Trotnow, Reproduktionsbiologischer Teil, S. 11, in S. Trotnow/D. CoesterWaltjen, Möglichkeiten, Gefahren und rechtliche Schranken befruchtungstechnischer und gentechnischer Eingriffe unter besonderer Berücksichtigung des Entwurfs eines Embryonenschutzgesetzes, Bergisch Gladbach 1990. 44 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe ärztlichen Handelns, solange sie Therapie von Krankheiten bezweckt und mit der Einwilligung des Patienten vorgenommen wird. 2. Chancen und Risiken der somatischen Gentherapie Der Gentransfer in somatische Zellen ist erst am Anfang seiner Entwicklung und die einzige Form genetischer Veränderung, die nicht sehr umstritten ist. Inzwischen wird neben der Therapie von monogen verursachten Erkrankungen, die bei lediglich ca. zwei von hundert aller erkrankten Menschen vorkommen92 - wie z.B. Cystische Fibrose (Mukoviszidose), Hämophilie A und B oder Chorea Huntington -, insbesondere an die Behandlung multifaktoriell verursachter Krankheiten mit großer Verbreitung, bei denen Gendefekte und Umweltfaktoren zusammenwirken (z.B. Asthma oder die meisten Krebsarten) gedacht. Daneben ist eine sowohl prophylaktische als auch kurative gentherapeutische Behandlung von Infektionserkrankungen wie AIDS denkbar. Ebenso wird der präventive Einsatz etwa bei gesicherter familiärer Veranlagung für die Manifestation von Herz-Kreislaufkrankheiten, Krebs und Erbleiden angedacht.93 Auch die somatische Gentherapie in utero, d.h. beim Ungeborenen, wird in Betracht gezogen, da sich genetische Defekte schon beim Ungeborenen durch pränatale Diagnostik oder Präimplantationsdiagnostik feststellen lassen. Damit hätten die Eltern neben der Annahme eines geschädigten Kindes oder dem Schwangerschaftsabbruch eine dritte Wahlmöglichkeit. Auf die juristische Problematik wird im folgenden noch eingegangen. Allerdings ist wegen des Zeitpunkts der gentherapeutischen Behandlung das Risiko einer Keimbahnveränderung größer. Im Hinblick auf die genetische Eingriffstiefe existieren keine Unterschiede zu einer Gentherapie beim Geborenen. Diese Art der Therapie wird derzeit im Tierexperiment erprobt. Risiken existieren insofern für den Patienten, als die Möglichkeit besteht, daß die Therapie fehlschlägt oder unbeabsichtigte Nebenwirkungen auftreten, sowie darin, daß als Transportmittel für das therapeutische Gen vielfach gentechnisch veränderte Viren benutzt werden müssen. Diese gewährleisten 92 Siehe P. Dixon, Die Genetische Revolution, S. 135, Essen 1994. 93 Vgl. D. Voss, a.a.O., S. 43. 45 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe ein effektiveres Einschleusen in die DNS der Zelle. Man ist zwar bemüht, die viralen Vektoren gentechnisch so zu verändern, daß sie unschädlich sind, aber ein Restrisiko kann nicht ausgeschlossen werden.94 Es verbleibt das Risiko der Infektion des Zellstammes bis hin zur Krebserkrankung und die Gefahr der Übertragung auf andere Personen. Die Zielgenauigkeit bezüglich der Zielzelle und des zu behandelnden Organs ist ebenfalls noch nicht garantiert,95 so daß theoretisch auch die Keimzellen von der Therapie betroffen sein können.96 Solange dieser unerwünschte Nebeneffekt nicht auszuschließen ist, sind für die verantwortliche breite Anwendung dieser Behandlungsmethode weitere Forschungsergebnisse abzuwarten. Daher ist die Anwendung der Gentherapie bisher auf schwere Krankheiten, vor allem solche, die sonst unheilbar sind, beschränkt.97 So befindet sie sich gegenwärtig ausschließlich im Stadium präklinischer Forschung oder klinischer Versuche. Der große klinische Durchbruch läßt derzeit noch auf sich warten.98 Als komplexe Therapieform ist sie unmittelbar in Zusammenhang mit den Fragen zum informed consent (Einwilligung nach Aufklärung) zu sehen, von dem später die Rede sein wird. Denn die Information, die den Patienten gegeben werden sollte, wird immer komplizierter, so daß die medizinische Praxis diesbezüglich große Herausforderungen zu bewältigen hat. Die rechtliche und ethische Diskussion hat sich in den letzten Jahren verstärkt auf den betroffenen Patienten fokusiert. Aus ethischer Sicht wird jedoch die Entwicklung der somatischen Gentherapie - im Gegensatz zur Keimbahntherapie, bei der der Versuch verbessernder Eingriffe („slippery slope“)99 befürchtet wird - heute überwiegend für relativ 94 So P. Liese, Ethische Fragen in der Gen- und Biotechnologie, S. 15, EVP Schriftenreihe 1/96, Biotechnologie in der EU, 1996. 95 Siehe dazu auch J. Kinderlerer/D. Longley, Human Genetics: The New Panacea?, S. 610, MLR, a.a.O.; M. Hallek/E.-L. Winnacker, a.a.O., S. 16; S. Graumann, Some Conceptual Questions about Somatic Gene Therapy and their Relevance for an Ethical Evaluation, S. 68 f., in: A. Nordgren, a.a.O. 96 Laut einem in der englischen Wissenschaftszeitung „New Scientist“ am 14.03.1998 erschienen Artikel ist dieses Risiko in den USA scheinbar eingetreten; siehe den im Internet veröffentlichten Artikel unter: http://www.netlink.de/gen/Zeitung/1998/980314.htm, Stand 03.03.2002. Siehe hierzu auch E.-L. Winnacker, a.a.O., S. 28. 97 Vgl. C. I. E. Smith, Gene Therapy: A Molecular Perspective, S. 22, in: A. Nordgren, Gene Therapy and Ethics, Uppsala 1998. 98 Siehe D. Voss, a.a.O., S. 41. 99 Siehe dazu M. L. Reiss/R. Straughan, Improving nature? The Science and Ethics of Genetic Engineering, Cambridge 1999, die sich allerdings für die vorsichtige Anwendung der Keimbahntherapie zur Vermeidung von Leiden aussprechen. 46 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe unproblematisch erachtet und trägt die Hoffnung auf zukünftige bedeutsame Heilerfolge in sich.100 II. In-vitro-Fertilisation Eine juristisch abschließende Betrachtung gentechnologischer Methoden ist ohne Einbeziehung der Reproduktionstechniken nur schwer denkbar, weshalb vorliegend Humangenetik als Oberbegriff auch für die technischen Mittel der Reproduktionsbiologie angesehen wird. Die Verbindung beider Gebiete eröffnet neue Dimensionen für Medizin und Forschung, deren Risiken jedoch auch bei der rechtlichen Würdigung nicht zu vergessen sind. Die Zeugung und Aufzucht von Leben in der Retorte, also gänzlich außerhalb des Körpers, begründete eine „biologische Revolution“ und könnte vielleicht der erste Schritt über den Rubikon gewesen sein. Sie ist für die Analyse und Therapie von Keimzellen erforderlich und kann daher als „Einstiegstechnik“ für die Genmanipulation gesehen werden.101 So gilt die In-vitro-Fertilisation (Reagenzglasbefruchtung)102, die embryonales Leben im Labor verfügbar macht, als Basiswissenschaft für die Molekulargenetik, die Techniken entwickelt hat, mit denen Eingriffe in Zellen, Zellkerne und die DNS vorgenommen werden 100 Vgl. S. Graumann, Die somatische Gentherapie, Tübingen 2000, S. 13; Kriterien für eine ethische Bewertung der somatischen Gentherapie werden ausführlich auf S. 165 ff. dargestellt. 101 Siehe S. Vollmer, Genomanalyse und Gentherapie, S. 5, Konstanz 1989. 102 Bei dieser Methode werden Eizellen aus dem Eierstock entnommen und diese außerhalb des Körpers (extrakorporal) im Reagenzglas befruchtet. 15 bis 20 Stunden nach dem Zusammenbringen von Samen- und Eizellen im Reagenzglas ist unter dem Mikroskop ersichtlich, ob eine Befruchtung der Eizelle stattgefunden hat. Es sind der männliche und der weibliche Vorkern (Pronukleus) erkennbar und zusätzlich zwei Polkörperchen. Nach weiteren 10 bis 15 Stunden erfolgt die erste Zellteilung. Zwei Tage nach Gewinnung der Eizelle, nach erwiesener Befruchtung und den ersten Zellteilungen bis zum 4 bis 8-Zell-Stadium, wird der Embryo in die Gebärmutter der Patientin transferiert. Dieser Vorgang wird Embryotransfer genannt. Wird die IVF mit anschließendem Embryonentransfer bei einem Ehepaar mit den Eizellen der Frau und den Samenzellen des Mannes durchgeführt, liegt eine homologe IVF vor. Hingegen werden bei der heterologen IVF entweder die Eizelle einer Eizellspenderin oder die Samenzellen eines Samenzellspenders verwendet. Bei dem gleichfalls neuartigen Verfahren der Sterilitätsbehandlung, dem intratubaren Gametentransfer, werden die Eizellen ähnlich wie bei der IVF durch Punktion der Eibläschen aus dem Eierstock entnommen und dann gemeinsam mit den Samenzellen in den Eileiter zurückgesetzt. Vgl. A. Eser et al., Lexikon Medizin, Ethik, Recht, Freiburg im Breisgau 1989, In-vitro-Fertilisation, S. 560. Siehe auch E. Deutsch, Medizinrecht, Berlin u.a. 1999, S. 311 f. 47 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe können und somit auch potentielle genetische Veränderungen am menschlichen Embryo.103 Die Möglichkeit der bereits erwähnten In-vitro-Fertilisation, durch die am 25. Juli 1978 in England das erste Retortenbaby, d.h. außerhalb des menschlichen Körpers erzeugte Kind, zur Welt gekommen ist, hat sowohl in Großbritannien als auch auf internationaler Ebene heftige Debatten ausgelöst, die zum einen auf der Artifizialität der Zeugung, zum anderen mit der hohen Mißerfolgsrate der Methode (die Erfolgsrate liegt bei ca. 12 %, bezogen auf die Geburtsrate pro Zyklus)104 und der Frage des Stellenwerts embryonalen Lebens zusammenhing. Allerdings wurde die Darstellung in den Medien, daß bis zur Geburt von Louise Brown ca. 200 Embryos „verbraucht“ worden seien, von wissenschaftlicher Seite insofern korrigiert, als Edwards und Steptoe nach dem Abschluß zahlreicher Tierversuche nicht mit verbrauchender Embryonenforschung, sondern mit klinischen Studien fortgefahren seien. Jeder Versuch der IVF hätte auf die Geburt eines Kindes und nicht auf Forschungszwecke abgezielt. Nichtsdestotrotz führte die Möglichkeit an sich, über extrakorporal gewonnene Embryonen unmittelbar zu verfügen, und damit in die Entwicklung des menschlichen Lebens eingreifen zu können, und menschliche Embryonen ausschließlich zu Forschungszwecken zu erzeugen, zur Fragwürdigkeit der IVF. Diese inzwischen zur klinischen Routine gehörende Technik bedingte schließlich auch die Frage, ob Embryonenforschung an überzähligen, also nicht transferierten (beispielsweise bei medizinischer Unmöglichkeit der Implantation des Embryos in den Uterus der Eizellspenderin oder unerwarteter Verweigerung des Transfers durch die Mutter) oder nicht transferfähigen Embryonen zulässig sein soll. Diese Problematik wurde nunmehr im Hinblick auf das therapeutische Klonen erneut vorgebracht. Eine Parallelität zwischen Reproduktionsmedizin und Gentechnik im engeren Sinn liegt außerdem in der Gefahr des „Medizintourismus“, die besteht, wenn bestimmte Methoden in einem Staat verboten, in einem anderen Staat allerdings zugelassen sind, und in dem Risiko der Auswanderung der Wissenschaftler in den weniger restriktiven Staat. Ebenso trifft die Furcht vor 103 Siehe D. Voss, a.a.O., S. 60 f. Vgl. auch C. Langer-Rock, a.a.O., S. 20; U.E. Binder, a.a.O., S. 12. 104 Siehe U.E. Binder, Die Auswirkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und des UN-Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 auf Rechtsfragen im Bereich der medizinisch assistierten Fortpflanzung, Frankfurt am Main 1998, S. 8. 48 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe gezielter Menschenzüchtung, die die Kombination von Reproduktionsmedizin und Gentechnologie im engeren Sinn schon von Anfang an erweckt hatte, erst recht auf das reproduktive Klonen zu. III. Keimbahntherapie Keimbahntherapie ist der gezielte Transfer von Genen oder Polynukleotiden in die Keimbahnzellen selbst, wobei eine Weitergabe der genetischen Veränderung der Keimbahn an zukünftige Generationen erfolgt; grundsätzlich können dabei genetische Veränderungen der Keimbahn durch Eingriffe in Samenzellen, Eizellen, befruchteten Eizellen (Zygoten) oder embryonalen Stammzellen erfolgen.105 Diese Therapie stellt zweifellos eines der umstrittensten Themen der biomedizinischen Forschung dar, da die Grenze zwischen der Therapie schwerer Krankheiten und der Eugenik verschwimmen könnte. Es ist zudem grundsätzlich unkalkulierbar, welche Neben- und Negativkonsequenzen Keimbahneingriffe am Menschen auslösen können. Derzeit wird die Keimbahntherapie wegen der Dauerhaftigkeit der Veränderung und der mangelnden Präzision beim Gebrauch dieser Technologie zumeist als nicht akzeptabel angesehen.106 Zusammenfassend werden fünf Hauptargumente gegen die Keimbahnintervention angeführt: 1. die bislang bestehende wissenschaftliche Unsicherheit und klinische Risiken; 2. sog. „slipery slope“ (schiefe Ebene)-Argumente, die auf der Angst basieren, daß die Keimbahntherapie letztendlich zur Verbesserung des Menschen mißbraucht wird; 3. die Unmöglichkeit, die Einwilligung der zukünftigen betroffenen Generation zu erhalten; 4. Argumente, die die anderweitige Verwendung der finanziellen Ressourcen präferieren; 5. die Bedeutung des Erhalts des genetischen Erbes, d.h. Keimbahninterventionen würden die Rechte nachfolgender Generationen auf ein genetisches Erbe verletzen, das nicht absichtlich verändert worden 105 Vgl. E-L. Winnacker et al., a.a.O., S. 36 ff., I. Petersen, Konzepte und Bedeutungen von „Verwandtschaft”; Herbolzheim 2000, S. 48; J.-W. Vesting, Somatische Gentherapie - Regelung und Regulierungsbedarf in Deutschland, S. 21 ff, ZRP 1997; vgl. auch R. Schwartz, Genetic Knowledge: some Legal and Ethical Questions, S. 26, in: D.C. Thomasma/T. Kushner, Birth to Death, Cambridge 1996; S.D. Pattinson, Regulating Germ-Line Therapy to Avoid Sliding Down the Slippery Slope, Medical Law International 2000, Bd. 4, S. 213. 106 So BMA, Our Genetic Future, Oxford 1992, Kap. 13, S. 187; J. Kinderlerer/D. Longley, a.a.O., S. 615; A.E. Sippel, Gene Therapy - A New Medical Technique, S. 46, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 1996; insbesondere im Hinblick auf die ungewissen Auswirkungen auf zukünftige Generationen äußert sich Q. Renzong kritisch in seinem Aufsatz The Eugenics of the Future, S. 113 ff., in: E. Agius/S. Busuttil, Germ-Line Intervention and our Responsibilities to Future Generations, 1998. 49 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe ist.107 Die Wahrung der personellen Identität sei durch einen derartigen Eingriff gefährdet, da der auf diese Weise zur Welt kommende Mensch nur noch das Erzeugnis der Ärzte sei, die auf sein Genom Einfluß genommen hätten. Nach Ansicht von Befürwortern der Keimbahntherapie kann man nicht davon ausgehen, daß ein gesunder Mensch einen Eingriff in seine Personqualität bemängeln wird, wenn er ohne die Keimbahntherapie eine schwere Krankheit geerbt hätte, oder sogar an ihr im Säuglingsalter gestorben wäre. Je lebensbedrohlicher die Krankheit gewesen wäre, umso mehr verwirklicht der gentherapeutische Eingriff in seiner Konsequenz den Wunsch aller Eltern, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen. Der Behauptung der Menschenwürdewidrigkeit im Sinne der europäischen Menschenrechtskonvention und des Eingriffs in das Recht auf privacy könnte entgegengehalten werden, daß die natürliche Erschaffung menschlichen Lebens den eindringlichsten Fall von Fremddetermination bedeutet. So häufen sich auch Stimmen, die sowohl bei der Keimbahn-, als auch bei der Körperzellenintervention auf therapeutische, heilende Eingriffe einerseits und positiv-eugenische Eingriffe andererseits abstellen.108 Auch auf die Kostenersparnis für das Gesundheitswesen, die sich ergeben würde, wenn Erbkrankheiten bereits im Keim beseitigt würden, wird hingewiesen.109 Die Keimbahntherapie zur Vermeidung mitochondrialer Gendefekte könnte den Weg zu einem breiten Einsatz in der klinischen Praxis weisen. Dabei wird der Zellkern einer befruchteten Eizelle in eine entkernte Eizelle einer anderen Frau transferiert, um dadurch einen mütterlichen mitochondrialen Gendefekt bei dem Kind auszuschließen. Dieses Beispiel zeigt, 107 Siehe R.B. Dworkin, Genetic Therapy and the Legal Process, S. 51, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, 1996; vgl. zu 5. E.T. Juengst/L. Walters, Ethical Issues in Human Gene Transfer Research, S. 702, in: T. Friedmann, The Development of Human Gene Therapy, New York 1999. 108 Vgl. dazu J. Wood-Harper, Manipulation of the Germ-Line, Towards elimination of major infectious diseases?, S. 121 ff., in: A. Dyson, Ethics and Biotechnology, 1994; kritisch zu der Unterscheidung zwischen Behandlung und „Verbesserung”: E.T. Juengst, Anticipating Enhancement: A Conceptual and Ethical Challenge for Gene Therapy Regulation, S. 98 ff., in: A. Nordgren, a.a.O.. Lediglich das letztere, das „enhancement genetic engineering”, sei illegitim; J. Möller, Die rechtliche Zulässigkeit der Gentherapie, S. 39 f., in: M. Hallek/E.-L. Winnacker, a.a.O.; siehe auch Keimbahnintervention, in: W. Korff, a.a.O., S. 347 ff., 353. Zur Unterscheidung des Gentransfers in somatische Zellen und in Keimbahnzellen vgl. auch W.Ch. Zimmerli, Dürfen wir, was wir können?, S. 46, in: E.P. Fischer/W.-D. Schleuning, a.a.O. 109 Vgl. van den Daele, Freiheiten gegenüber Technikoptionen, KritV 1991, S. 257, 266. 50 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe daß trotz der nach wie vor bestehenden technischen Probleme eine offene Diskussion geführt werden muß.110 Ein solcher Eingiff in das Erbgut von Keimbahnzellen könnte in Zukunft moralisch zu rechtfertigen sein, sofern er zur Vermeidung bzw. Heilung genetisch bedingter Krankheiten dient und soweit die wissenschaftlichen Risiken eindeutig geklärt sind. Die Wissenschaft hat stets ethische Grenzen im Auge zu behalten, aber sie muß sich auch der Verpflichtung gewahr sein, Menschen von ihrem Leid zu befreien. Eine gänzliche Ablehnung der Keimbahntherapie erscheint infolge des erheblichen Restrisikos derzeit noch angebracht, könnte sich zukünftig aber als der falsche Weg erweisen. In jedem Fall ist der meliorative Keimbahneingriff unter ethischen Gesichtspunkten abzulehnen. IV. Klonen Seit Jahrhunderten träumt die Menschheit davon, den Alterungsprozeß aufhalten zu können, sich selbst oder gegenseitig zu irgendeiner Zeit so manipulieren zu können, daß sie ihren Klon, abgeleitet vom griechischen Wort klon, das Zweig bedeutet111, also Duplikate ihrer selbst, zu erzeugen imstande ist. Das Phänomen des Klonens ist uns bereits aus der natürlichen Fortpflanzung bekannt. Wenn sich nämlich der Embryo im Uterus teilt und eineiige Zwillinge bildet, sind diese gemeinsam ein Klon, d.h. jeder ist ein Klon des anderen (in diesem Fall jedoch nicht ein Klon des Elternteils)112. Seit kurzem können Eltern darauf spekulieren, in nicht all zu ferner Zeit das Geschlecht ihrer Kinder, sowie deren Intelligenz, Persönlichkeit, Körperbau, Konstitution oder gar musikalische Fähigkeiten mitzubestimmen.113 Einer der Hauptvorteile der Klonforschung ist die Vertiefung unserer Kenntnisse über 110 Rubenstein et al., Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics, Bd. 4, 1995, S. 317: „The urgency to start this forum is now at hand because a small set of human genetic diseases are now theoretically accessible to germ-line therapy.” 111 Vgl. A. Kimbrell, a.a.O., S. 183. Unter einem Klon versteht man „Nachkommenzellen, die durch asexuelle Vermehrung aus einer Zelle (z.B. der befruchteten Eizelle) hervorgehen und daher genetisch einheitliche Nachkommenzellen sind.“ Siehe T.E. Podschun, Sie nannten sie Dolly, Weinheim 1999, S. 27. Vgl. auch die ausführliche Darstellung zu den ethischen und rechtlichen Aspekten des Klonens bei P. De Cruz, Comparative Healthcare Law, London u.a. 2001, S. 647 ff. 112 Siehe I. Wilmut/K. Campbell/C. Tudge, Dolly: Der Aufbruch ins biotechnische Zeitalter, München 2001, S. 78 f. 113 Siehe P. Dixon, Die Genetische Revolution, S. 21 f., Essen 1994. 51 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe physiologische Prozesse und über den Genotyp an sich. So wird die Hoffnung gehegt, daß dadurch ein besserer Einblick in die Ursprünge von Krebs und anderen zellulären Entwicklungsprozessen, wie das Altern von Lebewesen, ermöglicht wird.114 1. Reproduktives Klonen Die Geburt des weltberühmten ersten aus einer differenzierten, adulten Zelle geklonten Schafs „Dolly“, die in der Fachzeitschrift Nature am 27. Februar 1997115 von den Wissenschaftlern des Roslin Instituts Ian Wilmut, Keith Campbell und Jim Mc Whir sowie den Forschern der PPL Therapeutics116, Angelika Schneike und Alex Kind veröffentlicht wurde117, hat die Debatte 114 Siehe Department of Health, Cloning Issues in Reproduction, Science and Medicine. A Consultation Document. Human Genetics Advisory Commission (HGAC) and Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA), veröffentlicht am 29. Januar 1998. 115 Wilmut et al., Nature 385, 1997, S.810 ff. 116 PPL Therapeutics hat sich auf Forschung spezialisiert, die vormals allein im öffentlichen Bereich durchgeführt wurde. In diesem Falle handelt es sich um ein Verfahren, das zuerst am Roslin Institut entwickelt worden war und vom Agricultural and Food Research Council, jetzt Teil des Biotechnology and Biological Sciences Research Council, unterstützt wurde; vgl. S. Shohet, a.a.O., S. 206. 117 I. Wilmut et al., Viable Offspring Derived from Fetal and Adult Mammalian Cells, Nature, Bd. 385, 27. Februar 1997, S. 810-813; vgl. hierzu auch J. Harris, Clones, genes and Human Rights, S. 62, sowie A. Colman, Why Human Cloning Should not be Attempted, S. 14, in: J. Burley, The Genetic Revolution and Human Rights, 1998. Siehe auch J. Black, Regulation as Facilitation: Negotiating the Genetic Revolution, S. 642, MLR, Bd. 61, Nr. 5, September 1998; E. Bernat, Der menschliche Keim als Objekt des Forschers: rechtsethische und rechtsvergleichende Überlegungen, S. 57 f., in: W. Bender et al., a.a.O.; M. Woods, Ethical Issues of Human Cloning: An Overview, S. 9, in: W. Dudley, The Ethics of Human Cloning, San Diego 2001. I. Wilmut/K. Campbell/C. Tudge, a.a.O., S. 261 ff., sehen aber den Höhepunkt ihrer Arbeit in der Geburt des Schafes „Polly“ im Jahre 1997. „Polly“ ist aus einem fetalen Fibroblasten geklont worden, in den ein Gen vom Faktor IX des Menschen eingeschleust wurde. Ebd., S. 288 ff. 52 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe vor allem im Hinblick auf die Befürchtung der potentiellen Übertragbarkeit dieser Technik auf den Menschen in vielen Bereichen, etwa im wissenschaftlichen, politischen, moralischen, journalistischen, entfacht.118 Das sogenannte reproduktive Klonen stellt die bei weitem am umstrittensten mögliche Klontechnik dar, da es die Vervielfältigung eines Menschen, also die Erzeugung eines lebensfähigen Menschen zum Ziel hat. Dagegen ist Ziel des therapeutischen Klonens, also der Erzeugung von Stammzellen, menschlichem Gewebe oder Organen, auf das im Anschluß eingegangen werden soll, die Heilung oder Erforschung von genetischen Krankheiten. Hinsichtlich der Zielsetzung reproduktiven Klonens gibt es eine Reihe von denkbaren und diskutierten Möglichkeiten.119 Beispielsweise sind Embryo-Splitting zur Vervielfältigung des Nachwuchses zur Steigerung der Chance der Herbeiführung einer Schwangerschaft, Klonen durch Kerntransfer aus differenzierten Zellen zur Vermeidung einer Erbkrankheit der Nachkommen, bzw. zur Abhilfe bei Unfruchtbarkeit oder zur Erzeugung von „Ersatz“ für ein verstorbenes Kind zu nennen. Eher abwegig ist das Klonen durch Kerntransfer aus differenzierten Zellen zur Erzeugung einer wichtigen Persönlichkeit oder von für bestimmte Zwecke vorgesehenen Mannschaften, wie etwa die Erzeugung einer Kampftruppe für den Verteidigungsfall. In letzterem Falle könnte das Klonen also für die Vision mißbraucht werden, die natürliche Evolution in eine von Menschen bestimmte Evolution zu überführen. Die Klonierung kann auf verschiedene Arten erfolgen120: zum einen durch die Abspaltung totipotenter Zellen, die anschließend getrennt zur Entwicklung geführt werden, oder in späteren Stadien durch die Isolierung von noch totipotenten Zellen des sich entwickelnden Embryos, aus denen vollständige 118 Dies bestätigte G.E. Pence in seinem Werk Who´s afraid of Human Cloning, 1998, S. 1: “It took a second for the questions to begin. And another for the condemnations. Actually, there were not many questions, just condemnations, because thought stops when most people hear „cloning humans”. (...) Never in the history of modern science had the world seen such an instant, overwhelming condemnation of the application to humanity of a scientific breakthrough.” Vgl. zu den Debatten in der wissenschaftstheoretischen Literatur im Hinblick auf „Dolly“: E.-L. Winnacker, Das Genom als „Schlüssel“ zum Geheimnis des Lebens?, S. 13 ff., in: N. Knoepffler (Hrsg.), Am Ursprung des Lebens, München 1998. Vgl. auch A. Campbell/G. Gillett/G. Jones, Medical Ethics, Oxford 2001, S. 83 f. 119 Vgl. dazu ausführlich T. Rendtorff et al., Das Klonen von Menschen – Überlegungen und Thesen zum Problemstand und zum Forschungsprozeß, S. 16 ff, in: N. Knoepffler/A. Haniel, Menschenwürde und medizinische Konfliktfälle, Stuttgart u.a. 2000. 120 Siehe dazu eingehend R. Kollek, Klonen ist Klonen – oder nicht?, S. 22 ff., in: C. Runtenberg/ J.S. Ach/G. Brudermüller, Hello Dolly? Über das Klonen, Frankfurt am Main 1998. 53 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Lebewesen hervorgehen können (also vor der Differenzierung), nach den ersten Phasen der Zellteilung, d.h. im Zwei- oder Vier-Zell-Stadium (Embryosplitting). Daraus können eineiige Mehrlinge entstehen, wofür aber eine gewöhnliche Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium die Voraussetzung ist. Zum anderen ist die Transplantation eines Zellkerns aus einer bereits ausdifferenzierten Körperzelle möglich. Der Zellkern eines voll entwickelten Lebewesens wird herbei in eine entkernte Eizelle transferiert, die von ihrem eigenen Zellkern befreit ist (Embryonalklonierung durch Kerntransplantation). Diese Technik wurde beim Schaf Dolly angewendet, so daß ein Säugetier mit dem identischen Genom eines anderen adulten Tieres produziert wurde121 (es wurde also nicht durch das sog. „Embryo-Splitting“ erzeugt).122 Bei dem Klonen durch Kerntransfer wird also das genetische Programm, d.h. das Genom des Zellkerns einer totipotenten Blastomere oder einer nicht mehr totipotenten Zelle, gleich ob embryonale, fötale oder differenzierte Körperzelle, in eine entkernte, unbefruchtete Eizelle übertragen.123 Die wissenschaftliche Sensation daran war, daß sich der aus der adulten Zelle stammende Zellkern 121 Bei der Dolly-Technik erfolgte der Zellkernersatz nämlich durch Kerntransfer einer nicht mehr totipotenten Euterzelle eines Schafes in eine entkernte Eizelle eines anderen Schafes. Über eine Interaktion des Zytoplasmas der Empfängerzelle und des Nukleus der Spenderzelle erfolgte eine Reprogrammierung des verwendeten Zellkerns dahingehend, daß der Zellkern nicht mehr die Merkmale einer ausdifferenzierten somatischen Zelle aufwies, sondern nunmehr im Einklang mit dem Zytoplasma der Empfängerzelle die Fähigkeit einer totipotenten Zelle zur Weiterentwicklung zu einem vollständigen Lebewesen besaß. Da das Zytoplasma der enukleierten Eizelle zwar einige mitochondriale Gene enthält, deren Anzahl jedoch gegenüber den mehr als 100.000 in der DNA des Zellkerns enthaltenen Genen sehr gering ist, besitzt die aus einem Kerntransfer entstandene und sich durch Zellteilungen zu einem kompletten Organismus weiterentwickelnde Zelle in der Regel weitestgehend die gleichen Geninformationen wie die Zellen des Lebewesens, von dem der für die Methode verwendete Nukleus stammt. Siehe S.F. Winter et al., a.a.O., S. 146 f. Vgl. dazu auch R.G. Lee/D. Morgan, a.a.O., S. 91 ff. sowie C. Runtenberg/J.S. Ach/G. Brudermüller, Zur Einführung, S. 7 ff., in: C. Runtenberg/J.S. Ach/G. Brudermüller, Hello Dolly? Über das Klonen, Frankfurt am Main 1998. 122 Vgl. H. Streletz, Bio- und Gentechnologie, S. 22 f., Frankfurt am Main 1999; „New kid on the block”, The Economist, 14. Oktober 2000. Siehe zu den Klonierungsverfahren auch C. Runtenberg/J.A. Ach, Homunklonus: Erst die Tiere, dann der Mensch? Dimensionen der Kritik des Klonens von Tieren und Menschen, S. 95 f., in: R. Paslack/H. Stolte, Gene, Klone und Organe: neue Perspektiven der Biomedizin, Frankfurt am Main 1999; R.. Deech, Family Law and Genetics, a.a.O., S. 709; G. Dohr, Der extrakorporale Keim: Möglichkeiten und Grenzen der Forschung, S. 5 f., in: E. Bernat (Hrsg.), Die Reproduktionsmedizin am Prüfstand von Recht und Ethik; Wien 2000. 123 Siehe BT-Drs. 13/11263, S. 7. Vgl. auch „reproduktives Klonen“ – Versuche an Mensch und Tier, abrufbar unter http://cloning.ch/cloning/reproduktiv.html, Stand 25.04.2002. 54 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe aus seinem hochspezialisierten Zustand in einen Zustand reprogrammieren ließ, der die Bildung eines vollständigen Organismus erlaubte. Die Differenzierung von Zellen konnte also nicht nur vom Embryo zum erwachsenen Zelltyp, sondern auch umgekehrt verlaufen.124 Weltweit besteht ein allgemeiner Konsens, daß jegliches reproduktive Klonen unsicher und unethisch ist und strengstens verboten sein sollte.125 Der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten Bill Clinton äußerte sich dahingehend, daß im großen und ganzen ein einheitlicher Konsens in der wissenschaftlichen Welt darüber bestehe, daß Versuche, diese Klontechniken zum Klonen eines Menschen zu verwenden bislang nicht getestet, unsicher und moralisch inakzeptabel seien.126 Mitglieder des Europäischen Parlaments forderten sogar, daß jeder EU-Mitgliedsstaat eine verbindliche Gesetzgebung bezüglich eines Verbots jeglicher Klonforschung am Menschen und strafrechtliche Sanktionen im Falle eines Verstoßes dagegen erläßt.127 Der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Hiroshi Nakajima stellte fest, daß die WHO den Gebrauch von Klonen für die Vervielfältigung menschlicher Individuen als ethisch nicht vertretbar ansehe, da dies einige der Grundprinzipien, wie etwa Respekt für die Menschenwürde und Schutz der Sicherheit des menschlichen Genmaterials, die die medizinisch assistierte Reproduktion leiten, verletzen würde.128 In der Resolution der Fünften Weltgesundheitsversammlung bekräftigte die WHO, daß das Klonen eines Menschen ethisch nicht zu akzeptieren sei und gegen menschliche Integrität und Moral verstoße.129 Federico Mayor von der UNESCO brachte ebenfalls zum Ausdruck, daß Menschen unter keinen Umständen geklont werden dürfen;130 auch nicht mit dem Argument eines individuellen Rechts auf Klonen bzw. der Wissenschaftsfreiheit.131 Die am 3. Dezember 1997 veröffentlichte UNESCO-Deklaration bestimmt in Art. 11, daß gegen die Menschenwürde verstoßende Praktiken, wie das reproduktive Klonen von Menschen, nicht 124 Vgl. E.-L. Winnacker, Über einige Herausforderungen moderner Biologie, S. 23 ff., in: R. J. Busch/N. Knoepffler (Hrsg.), Grenzen überscheiten, München 2001. 125 Vgl. A. Campbell/G. Gillett/G. Jones, a.a.O., S. 85. 126 Aus der wöchentlichen Radiosendung von B. Clinton, abgedruckt in: Bioworld Today, 9/7, 13. Januar 1998; dieselbe Auffassung vertritt A. Colman, a.a.O., S. 14. 127 Siehe Bio Century: The Bernstein Report on Biobusiness, 19. Januar 1998. 128 Vgl. WHO, Presseveröffentlichung, WHO/20, 11. März 1997. 129 Siehe WHO Dokument, WHO/50.37, 14. Mai 1997. 130 UNESCO, Presseveröffentlichung Nr. 97-29. 131 Siehe J. Harris, a.a.O., S. 64 55 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe erlaubt sein sollen.132 Im Zusatzprotokoll der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarates vom 04.04.1997 (Bioethik-Konvention) wurde ebenfalls ein Klonverbot erlassen. Darauf wird im Rahmen der rechtlichen Erörterung noch im einzelnen eingegangen.133 2. Therapeutisches Klonen Wieder einmal glaubt die moderne Wissenschaft eine Entdeckung gemacht zu haben, welche die Biomedizin revolutionieren könnte. Mit Hilfe der Stammzellentherapie sollen in naher Zukunft unzählige Krankheiten geheilt werden können, denen die Ärzte bis dato mehr oder weniger machtlos gegenüberstanden. Freilich bedarf es in den nächsten Jahren intensiver Forschungsarbeit, einschließlich der Verwendung embryonaler Stammzellen, damit die Hoffnungen zahlreicher Patienten nicht enttäuscht werden. Diese Stammzellen werden vor allem mittels zweier Methoden gewonnen: zum einen können menschliche Föten nach einem Schwangerschaftsabbruch oder „überzählige“ menschliche Embryonen, die im Rahmen einer IVF entstanden sind,134 verwendet werden. Andererseits kann auf menschliche Embryonen zurückgegriffen werden, die ebenfalls mittels einer IVF erzeugt wurden, allerdings mit dem alleinigen Zweck, Forschungsmaterial zu erlangen. Letztendlich gibt es die Möglichkeit Embryonen durch das therapeutische Klonen zu erzeugen, bei dem körpereigene Stammzellen erzeugt werden, die keine Immunreaktion hervorrufen.135 Die embryonale Stammzellforschung setzt also die bewußte Vernichtung von Embryonen voraus, während das therapeutische Klonen nicht nur deren Zerstörung notwendig macht, sondern ihre bewußte Erzeugung für Forschungszwecke, um sie anschließend zu vernichten.136 Die Entwicklung des therapeutischen Klonens ist derzeit der dynamischste Zweig im vorliegend untersuchten Bereich. Zugleich hat es sich zu einem 132 UNESCO; Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights, veröffentlicht von der UNESCO am 3. Dezember 1997. 133 Siehe dazu 5. Kapitel. 134 Die Forschung in England gelangt beispielsweise in den Besitz von überzähligen Embryonen durch „Paid egg-sharing“, d.h. bei den Patientinnen wird die IVF zum Sonderpreis durchgeführt, wenn sie einen Teil ihrer Eizellen der Forschung zur Verfügung stellen. Siehe C. Stolze, Mythos Heilung, Die Woche vom 25. Januar 2002, S. 26. 135 Vgl. Y. Nordmann, Der Mensch – Partner Gottes in der Schöpfung, S. 55, NZZ vom 06./07. April 2002. 136 Siehe dazu F. Fukuyama, Das Ende des Menschen, Stuttgart, München 2002, S. 243. 56 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe zentralen Thema in der öffentlichen Diskussion über die Chancen und Risiken der Biotechnologie und Biomedizin entwickelt. Das therapeutische Klonen ist eine Methode, die die Techniken des Zellkerntransfers und der Keimbahntherapie verbindet, die aber vom Klonen zu Fortpflanzungszwecken zu unterscheiden ist. Bei dem therapeutischen Klonen137 werden die Embryonen nämlich nicht in eine Gebärmutter implantiert. Vielmehr werden sie in Zellkultur zusammen mit spezifischen und insbesondere geeigneten Wachstumsfaktoren in bestimmte Zelltypen und Organe umgewandelt. Diese werden dann als Zell- oder Organersatz in den Organismus, aus dem der Zellkern stammte, wieder zurücktransplantiert. Diese Technik bedient sich menschlicher Stammzellen, d.h. noch nicht ausdifferenzierter Zellen eines Embryos, Fötus oder geborenen Menschen, die Teilungs- und Entwicklungsfähigkeit besitzen. Obwohl zu Beginn der 90er Jahre die Gewinnung menschlicher embryonaler Stammzellen als wenig erfolgversprechend galt, war es Wissenschaftlern im Jahre 1998 erstmals gelungen, menschliche embryonale Stammzellen (ES-Zellen) zu gewinnen.138 Mittlerweile wurden sie zum Zauberwort der Biomediziner und zum derzeit begehrtesten Rohstoff der Biotechnologie aufgrund ihrer leichteren Vermehrbarkeit und größeren Flexibilität im Vergleich zu gewöhnlichen Zellen und ihrer Fähigkeit, sich in viele Richtungen zu den über 200 unterschiedlichen Zelltypen des Körpers zu spezialisieren (= Pluripotenz). Totipotente Stammzellen können sich sogar noch zu einem eigenständigen Individuum ausdifferenzieren, d.h. besitzen die Fähigkeit zur Ganzheitsbildung, und werden insofern als „Sproß des Lebens“ bezeichnet.139 Beim Menschen endet vermutlich die Totipotenz der Blastomeren spätestens im Achtzellstadium, d.h. die Fähigkeit, sich in einen intakten, adulten Organismus zu entwickeln. 137 Siehe auch die anschauliche Darstellung zum therapeutischen Klonen von J.B. Cibelli/R.P. Lanza/M.D. West, The First Human Cloned Embryo, S. 43 f., Scientific American, Bd. 286, Nr. 1, Januar 2002. 138 Science, Bd. 282, vom 06.November 1998, S. 1061: „On the basis of the use and study of mouse ES cells, the research and clinical potential for human ES cells is enormous. They will be important for in vitro studies of normal human embryogenesis (through the generation of cell lines with targeted gene alterations and engineered chromosomes), human gene discovery, and drug and teratogen testing and as renewable source of cells for tissue transplantation, cell replacement and gene therapies.” 139 In der Natur ereignet sich dies spontan, wenn sich ein Embryo zu sogenannten eineiigen Zwillingen teilt und weiterentwickelt. Vgl. Stammzellenproblematik – Herkunft und Anwendungsbereiche, abrufbar unter http://cloning.ch/cloning/stammzellen.html, Stand 09.08.2001. 57 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Pluripotente Stammzellen, die weiter entwickelten Stadien entnommen werden, können immerhin unterschiedliche Gewebe eines Organismus hervorbringen.140 Zum besseren Verständnis sei kurz auf die Entwicklungsstadien der Zellen verwiesen141: Die Zellen durchlaufen während der embryonalen Entwicklung verschiedene Stadien mit wachsender Spezialisierung (Differenzierung). Während der ersten Entwicklungsphase sind die embryonalen Zellen totipotent, d.h. wenigstens theoretisch kann jede dieser Zellen einen vollständigen Organismus ausbilden. Dies stellt die Grundlage für eineiige Mehrlinge dar. Der Embryo kann auf natürlichem Wege oder durch einen Eingriff vollständig geteilt werden, was während der ersten Entwicklungsphasen zur Folge haben kann, daß sämtliche Teile sich zu vollständigen Organismen weiterentwickeln. Allerdings kann eine einzelne Zelle allein sich bereits vom Acht-Zell-Stadium nicht mehr weiterentwickeln. Sie benötigt einen vollständigen Embryo als Umgebung, um die Entwicklungsstadien durchlaufen zu können. Wird eine derartige Zelle in eine anderen Embryo übertragen, so ist sie gleichfalls totipotent. Aus ihr hervorgehende Zellen sind in allen Organen des so entstandenen chimärisierten Organismus nachweisbar. Nach ungefähr vier Tagen (ca. 100 bis 200 Zellen) können innerhalb von ca. 24 Stunden totipotente embryonale Zellen explantiert werden und als sogenannte embryonale Stammzellen in Kultur vermehrt werden. Auch diese Stammzellen können sich nicht isoliert weiterdifferenzieren. Wenn sie sich zu anderen Zelltypen entwickeln sollen, müssen sie zunächst in einen anderen Embryo transferiert werden. Danach geht der Prozeß der Differenzierung weiter, d.h. den embryonalen Zellen kommen in zunehmendem Maße spezialisierte Funktionen zu. Damit verringert sich auch ihre Fähigkeit, sich in andere Zelltypen zu entwickeln. 140 Vgl. M. Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, JZ 15/16 2001, S. 775. 141 Vgl. T. Luchsinger, Vom „Mythos Gen“ zur Krankenversicherung, Basel 2000, S.247 f. 58 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Wenn die Entwicklung des zur Spenderzelle genetisch identischen Embryos nach fünf oder sechs Tagen (im Blastozystenstadium142) aufgehalten wird, können die Stammzellen extrahiert und im Labor multipliziert werden. Die Zellen des Embryoblasten verfügen zwar nicht mehr über die Eigenschaft der Totipotenz143, d.h. aus ihnen kann sich eigenständig und ohne weitere Eingriffe kein Embryo mehr entwickeln. Sie sind jedoch pluripotent; also können sich aus ihnen die verschiedensten der ungefähr zweihundert existierenden Zelltypen des menschlichen Organismus, wie beispielsweise Bindegewebs-, Knochen- oder Blutzellen entwickeln.144 Sie sind beliebig teilbar und können in größeren Mengen hergestellt werden, ohne daß ihre Entwicklungspotenz Schaden erleidet. 142 Die vollständige Anlage zur Entwicklung zu einem Individuum ist bereits mit der Kernverschmelzung einer weiblichen Ei- (Oozyte) und einer männlichen Samenzelle entstanden. Damit fängt der Prozeß der Zellteilungen an. Etwa am vierten Entwicklungstag erreicht der frühe Embryo, d.h. die Zygote, das sogenannte „Morula“-Stadium mit 12 bis 16 Zellen. Er besteht dann aus einer inneren Zellmasse und einer dieser umgebenden äußeren Zellschicht. Die innere Zellmasse ist für die Gewebe für den eigentlichen Embryo zuständig, während die äußere Zellschicht den sogenannten Trophoblasten bildet, der sich zur Plazenta entwickeln wird. Der frühe Embryo ist während dieser Zellteilungsprozesse durch den Eileiter in den Uterus gewandert. Aus der Morula entwickelt sich die Blastozyste mit einer äußeren Zellschicht (Trophoblast) und einer inneren Zellschicht (Embryoblast). Die Blastozyste nistet sich sechs bis sieben Tage nach der Fertilisation in die Uterusschleimhaut ein (Nidation). Die Trophoblastzellen beginnen am Pol der Blastozyste, an dem der Embryoblast liegt, in die Gebärmutterschleimhaut einzudringen. Der Embryo entwickelt sich im Innern der Blastozyte weiter. Nach 11 bis 12 Tagen hat sich der frühe Embryo vollständig in die Gebärmutterschleimhaut eingenistet (vollständige Nidation). Der Trophoblast dringt weiter in die Gebärmutterschleimhaut ein und findet daher Anschluß an die mütterlichen Bluträume. So beginnt der uteroplazentare Kreislauf. Bis zum Ende der zweiten Woche bilden sich die Anlagen zur künftigen Nabelschnur und zum definitiven Dottersack. Der Embryo differenziert sich weiter aus. Vgl. ausführlich zu den Entwicklungsstadien des Embryos, insbesondere zu den Embryonalphasen ab Nidation M. Koechlin Büttiker, Schranken der Forschungsfreiheit bei der Forschung an menschlichen Embryonen, Basel 1997, S. 45 ff. Siehe generell zum Reproduktionsprozeß H.R. Maturana/F.J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern u.a. 1987, S. 63 ff. 143 Vgl. dazu die anschauliche Darstellung bei J.C. Avise, The Genetic Gods: Evolution and Belief in Human Affairs, Harvard 2001, S. 44. Siehe etwa auch HoL, Select Committee on Stem Cell Research – Report, 13. Februar 2002, abrufbar unter http://www.parliament.thestationery-o...a/ld200102/ldselect/ldstem/83/8303.htm, Stand 08.03.2002. 144 Vgl. W. Engel, Gesellschaftliche Grenzfragen der Gen- und Fortpflanzungsmedizin aus medizinischer Sicht, S. 301, in: S.F. Winter et al., a.a.O. Siehe auch J. James, One step too far?, Time, 10. Dezember 2001, S. 61. Besonders anschaulich sind die Begriffe „Totipotenz“ und „Pluripotenz“ bei I. Wilmut/K. Campbell/C. Tudge, a.a.O., S. 80 f. dargestellt. 59 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Die Übertragung der Klontechnik auf menschliche Embryonen/ embryonalen Stammzellen wird als Möglichkeit zur Vermeidung von Erbleiden, also unter Umständen als Hilfe in der Therapie von Erkrankungen wie M. Parkinson, Multiple Sklerose, Herzinsuffizienz oder Diabetes145, sowie als Chance, Embryonen, die nicht ausgetragen werden sollen, als Gewebe- und Organbanken zu verwenden, erachtet.146 Bei der Verwendung embryonischer Stammzellen für den Gewebeaufbau wird der Vorteil darin gesehen, daß keine immunologische Abstoßung erfolgen würde, weil das entstandene Gewebe mit der behandelten Person, von der der Spenderkern entnommen wurde, genetisch kompatibel ist.147 Bislang ist jedoch nicht geklärt, ob die Herstellung von Organen aus embryonalen Zellen vielleicht nur im Kontext eines wachsenden Organismus möglich ist. Trotz dieser Unsicherheiten wird dieser Technik ein großes Anwendungspotential zugeschrieben.148 Da das therapeutische Klonen nicht die Erzeugung genetisch identischer Individuen zum Zweck hat, scheint es zwar das ethische „Minenfeld“149 zu umgehen, auf dem sich das reproduktive Klonen befindet. Durch die Verfahren der Produktion embryonaler Stammzellen und der Klonierung werden aber ethisch problematische Handlungen nicht gänzlich vermieden, weil Embryonen als biologische Ressource zum Zwecke der Ersatzgewebeherstellung verwendet werden.150 145 Vgl. J. Taupitz, Der rechtliche Rahmen des Klonens zu therapeutischen Zwecken, S. 3433, NJW 47, 2001. Siehe auch J.B. Cibelli et al., Somatic Cell Nuclear Transfer in Humans: Pronuclear and Early Embryonic Development, in: E-biomed, The Journal of Regenerative Medicine, Bd. 2-2001, 26. November 2001, S. 30. Vgl. auch EU Embryo Research Ban Rejected, November 29, 2001, abrufbar unter: wysiwyg://18/http://cnn.technology.pri...1333 300348591&partnerID=2016&expire=-1, Stand 09. Februar 2002. 146 So hat sich u.a. wegen dieses therapeutischen Gesichtspunkts auch die Europäische Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der neuen Technologien (EGE) für die Forschung an embryonalen Stammzellen ausgesprochen. Siehe EGE, Ethische Aspekte von Forschungstätigkeiten am menschlichen Embryo, die durch das fünfte Rahmenprogramm gefördert werden, Brüssel 1998, S. 12. 147 Vgl. Department of Health, Stem Cell Research: Medical Progress with Responsibility, Juni 2000, Abschnitt 2.29. siehe auch A. Campbell/G. Gillett/G. Jones, a.a.O., S. 85. 148 So Harry Griffin, stellvertretender Direktor des Roslin Instituts, zit. nach J. James, a.a.O. Nach a.A. ist das therapeutische Klonen unpraktikabel, da hunderte von menschlichen Eizellen für die Erzeugung eines Klons nötig sind. Siehe V. Griffith/D. Firn, Unhealthy Business Climate for Life Sciences, Financial Times vom 18. Juli 2002, S. 7. 149 So A. Campbell/G. Gillett/G. Jones, a.a.O., S. 85. 150 So R. Kollek, a.a.O., S. 41. 60 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Andererseits verweisen Kritiker des Einsatzes früher menschlicher Embryonen auf die Beachtung von Alternativen, wie pluripotenten adulten Stammzellen,151 mit deren Hilfe Organe in der Zellkultur gezüchtet werden könnten. Auch der adulte Körper besitzt Zellen, die zumindest eine eingeschränkte Fähigkeit haben, sich zu verschiedenen Zelltypen zu entwickeln. Diese pluripotenten Stammzellen sind für die Erneuerung von Organen und Geweben im Körper zuständig, in dem sie sich im erforderlichen Fall teilen und die nötigen Zelltypen bereitstellen. In der Gentherapie verwendet worden sind insbesondere die Stammzellen des hämatopoietischen (blutbildenden) Systems.152 Tierversuche haben bestätigt, daß auch diese sogenannten adulten Stammzellen neue Funktionen übernehmen und sich mittels Wachstumsfaktoren zu einem spezialisierten Zelltyp entwickeln können153. Sie können auch manchmal vom Patienten selbst entnommen, behandelt und wieder zurücktransplantiert werden, was Immunreaktionen auf jeden Fall ausschließt.154 Auch enthalten mittels Nukleustranfer geklonte Stammzellen Mitochondrien der Spendereizellen, wobei die Mitochondrien ca. 1% der humanen Erbsubstanz ausmachen. Geklonte Stammzellen enthalten daher doch noch fremde Erbsubstanz im Gegensatz zu den vom Patienten 151 Adulte Stammzellen können anhand spezifischer Oberflächenmerkmake isoliert werden und spielen bereits heute bei Knochenmarkstransplantationen, die als Folge von schweren Blutkrebserkrankungen vorgenommen werden, eine entscheidende Rolle. Siehe E.- L. Winnacker, in: R .J. Busch/N. Knoepffler, a.a.O., S. 24. Vgl. dazu auch S.F. Winter, a.a.O., S. 86 sowie die Stellungnahme von Klaus Cichutek, in: K. Koch, Infizierte Stammzellen?, SZ vom 29. Januar 2002, S. V2/12. Wie Forscher in jüngster Zeit entdeckt haben, sind adulte Stammzellen nicht nur im Knochenmark, sondern auch in knapp einem Dutzend anderer Organe des Menschen, wie Gehirn, Darm, Leber und Muskeln, zu finden. Siehe ders., Muskeln aus Blut, in: Die Woche vom 25. Januar 2002, S. 27. 152 Erfolge sind u.a. bei Patienten mit Lupus, systemischer Sklerose und rheumatoider Arthtritis sowie bei der Bekämpfung diverser Krebsarten, wie metastatischer Retinoblastomie erzielt worden. Das Linacre Centre sieht die Forschung mit adulten Stammzellen daher als zukunftsträchtiger an. Vgl. Rev. David Jones, The Linacre Centre for Healthcare Ethics, Cloning and Stem Cell Research, a Submission to the House of Lords Select Committee on Stem Cell Research, 1. Juni 2001. 153 So übernahmen transplantierte Stammzellen des Nervensystems im Versuch die Funktion der blutbildenden Stammzellen bei Mäusen mit zerstörtem Knochenmark. Siehe Stem cells undergo „identity switch“, Reuters Health E-mail, 21. Januar 1999. 154 Die Einrichtung von Stammzellbanken oder die Verwendung von Arzneimitteln, die Immunreaktionen unterdrücken, sind weitere Alternativen, um die Abstoßungsreaktion gegenüber transplantierten Zellen oder Gewebe zu vermeiden. Siehe HoL, Select Committee on Stem Cell Research – Report, 13. Februar 2002, Kap. 2, a.a.O. 61 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe entnommenen adulten Stammzellen.155 Allerdings ist die Vermehrbarkeit der adulten Stammzellen limitiert. Jüngste Versuche haben gezeigt, daß der Differenzierungsprozeß bei Zellen von Säugetieren nicht irreversibel ist - wie ursprünglich angenommen -, so daß spezialisierte adulte Stammzellen zur Pluripotenz „dedifferenziert“ und das genetische Material anschließend neu programmiert werden kann bzw. adulte Stammzellen direkt in einen anderen Zelltyp verwandelt werden können („Transdifferenzierung“).156 Zudem läßt sich das Potential adulter Stammzellen ohne ausreichendes Verständnis embryonaler Stammzellen nicht vollumfänglich erfassen.157 Man kann also entweder gesunde adulte Stammzellen von einem Patienten entnehmen und mittels Zellkerntransfer genetisch identische Kopien erzeugen, die als perfekt passende Transplantate geschädigte oder erkrankte Gewebe und Organe ersetzen oder regenerieren sollen oder dies geschieht mittels embryonaler Stammzellen, die besonders flexibel sind, da aus ihnen ein kompletter Mensch entstehen soll. Individualspezifische embryonale Stammzellen mit dem Genom des Patienten könnten nach einem Zellkerntransfer einer Körperzelle eines Patienten in eine entkernte Eizelle gewonnen werden. Aus diesen Stammzellen könnte gesundes Gewebe und Zellen produziert werden, das bei der Übertragung auf den Patienten keine immunologischen Abstoßungsreaktionen hervorrufen würde.158 Mit der Verwendung adulter Stammzellen würde das Klonen von menschlichen Embryonen und deren anschließende „Opferung“ umgangen, was ethisch weniger fragwürdig wäre und dem Menschenbild eher Rechnung tragen würde. Nach Ansicht der Kritiker therapeutischen Klonens verstößt es gegen die Menschenwürde, den Menschen bzw. den frühen Embryo als willenloses Objekt, also als bloßes Mittel für die Zwecke anderer zu benutzen. Die gezeugten Embryonen würden zu Zellieferanten degradiert, obwohl ihre Entwicklungsmöglichkeit genauso groß sei wie jene eines auf natürliche Weise gezeugten Embryos.159 155 Siehe Stammzellenproblematik – Herkunft und Anwendungsbereiche, a.a.O. 156 Vgl. HoL, Select Committee on Stem Cell Research – Report, 13. Februar 2002, Kapitel 2, a.a.O. 157 Siehe M. Herdegen, a.a.O., S. 776. So auch HoL, Select Committee on Stem Cell Research – Report, 13. Februar 2002, a.a.O. 158 Siehe hierzu auch D. Voss, a.a.O., S.171 ff. 159 Vgl „therapeutisches“ Klonen – Tierversuche und Versuche am Menschen, abrufbar unter http://cloning.ch/cloning/therapeutisch.html, Stand 24.09.02. 62 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Es besteht zudem die nicht ganz unbegründete Befürchtung, daß therapeutisches Klonen den „Damm in Richtung reproduktiven Klonens brechen“ könnte und damit hin zu einer positiven Eugenik, nämlich einer Erzeugung von Embryonen mit herausragenden Eigenschaften,.160 Ob deshalb unter Berücksichtigung der ethischen Legitimität des Klonens ein kategoriales Verbot der Klonierung als innovativem Verfahren der Reproduktionsmedizin angezeigt ist, soll im Rahmen der rechtlichen Ausführungen dieser Arbeit erörtert werden. Der Fortschritt in der Humangenetik könnte auf sehr bedenkliche Weise „die Erfüllung des Traums vom Wunschkind“161 bedeuten. „Dolly“ und damit das Klonen als fester Bestandteil der modernen Biotechnologie stellt für zahlreiche Kritiker eine Gefahr für die Menschheit, den menschlichen Gen-Pool, die genetische Diversität, das Ökosystem dar. Das Klonen hat weltweit beträchtliche Fragen zu den Menschenrechten und der Menschenwürde aufgeworfen, da nunmehr neu über menschliche Individualität und Würde nachgedacht werden muß.162 So stellt sich die Frage, inwieweit sich das moralische Selbstverständnis einer Person ändern müßte, wenn sie nicht auf natürliche Weise gezeugt, sondern geklont worden wäre.163 Die Biologie von morgen, ausgestattet mit den neuen Verfahren und Erkenntnissen, die ihr die Klonierungstechnik an die Hand geben wird, dürfte eine praktisch unbeschränkte Kontrolle über die Lebensprozesse gewinnen.164 160 A.A. ist beispielsweise R. M. Green, The Ethical Considerations, Scientific American, Bd. 286, Nr. 1, Januar 2002, S. 48. Er ist der Meinung, daß ein Verbot des therapeutischen Klonens unverantwortliche Forscher nicht davon abhalten würde, reproduktive Klonversuche durchzuführen. 161 Siehe J. Renzikowski, Die strafrechtliche Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik, S. 2753, NJW 2001, Heft 38. 162 Siehe dazu D. Beyleveld/R. Brownsword, Human Dignity, Human Rights, and Human Genetics, a.a.O., S. 661 ff. Hingegen nimmt J. Harris kritisch zu den Anmahnungen der Menschenwürde Stellung, die seiner Ansicht sehr unklar gehalten sind; siehe J. Harris, Clones, Genes, and Imortality, S. 31, Oxford 1998. 163 Siehe K. Braun, Menschenwürde und Biomedizin, S. 181; kritische Stimmen der Öffentlichkeit im Hinblick auf das Klonen von Menschen finden sich z.B. bei D. Shickle, Cloning, God, Hitler and Mad Scientists: Arguments Used by the Public in the Cloning Debate on the Internet, S. 157 ff., in: T. A. Caulfield/B. Williams-Jones: The Commercialization of Genetic Research: Ethical, Legal, and Policy Issues, New York 1999. Auch die Umfragestudie des Wellcome Trust gelangte zu dem Ergebnis, daß die Menschen im allgemeinen dem Klonen von Menschen ängstlich gegenüberstehen; vgl. The Wellcome Trust, Medicine in Society Programme 1998, Public Perspectives on Human Cloning, London 1998. 164 Siehe näher dazu I. Wilmut/K. Campbell/C. Tudge, a.a.O., S. 301 ff. 63 2. Naturwissenschaftliche Grundlagen und Begriffe Insgesamt weckt das therapeutische Klonen Hoffnungen, die aufgrund der Immunreaktion bei Transplantationen auftretenden Probleme zu umgehen. Lediglich durch den Transfer des Zellkerns einer Körperzelle (somatischen Zelle) des behandlungsbedürftigen Patienten (beispielsweise einer Hautzelle) in eine entkernte (enukleierte) weibliche Eizelle („Dolly“-Verfahren) könnten Gewebestrukturen erzeugt werden, die genetisch mit den übrigen Zellen des Patienten identisch sind. Damit könnte das Problem der immunologischen Abstoßungsreaktionen gelöst werden.165 Zumeist wird von den Befürwortern dieses Verfahrens außerdem der therapeutische Nutzen betont, den das Klonen vor allem für Familien mit schweren Erbkrankheiten haben könnte, weil das Klonen eine Alternative zur Gentherapie darstellen könnte, die lediglich die Korrektur oder den Austausch von fehlerhaften Gensequenzen an der totipotenten oder adulten Zelle bewirkt. Diese Forschung bringt zugleich den Vorteil mit sich, daß die Wissenschaftler dadurch einen besseren Einblick in die Entstehung von Krebs und anderen zellulären Entwicklungsprozessen, wie etwa das Altern, erhalten werden.166 Das Klonen menschlicher Zellen erscheint insbesondere angesichts des Mangels an menschlichen Spenderorganen und der Heilungschance Schwerstkranker, wie an Alzheimer, Parkinson oder Diabetes Erkrankter, ethisch vertretbar. Forschungsarbeiten an menschlichen Stammzellen sind unerläßlich, um deren Potential im Hinblick auf die Anwendungsmöglichkeiten am Menschen zu untersuchen. Es ist eine strikte Grenze zwischen reproduktivem Klonen, das auf die Erzeugung ganzer Lebewesen abzielt, und therapeutischem Klonen zu ziehen. Das therapeutische Klonen bezweckt nur die Produktion bestimmter Zelltypen mit spezifischen Funktionen, wenngleich durch das „Dolly“-Verfahren für eine kurze Phase ein Embryo im frühesten Stadium seiner Entwicklung mit der Befähigung zur Bildung einer Entität entsteht.167 Freilich ist es per se bedenklich, Stammzellen aus lebenden Embryonen früher Stadien zu gewinnen. Denn diese zumindest theoretisch lebensfähigen Embryonen, also Menschen in statu nascendi, müssen dazu zerlegt und folglich vernichtet werden. 165 Vgl. I. Britton/R. Murton, „Embryo Farm?” A Survey of Developments in the Regulation of Stem Cell Research, BSLR Bd. 4, Heft 5, 2000/2001, S. 215. 166 Vgl. Human Genetics Advisory Commission (HGAC) and Human Fertilisation & Embryology Authority (HFEA), Cloning Issues in Reproduction, Science and Medicine. A Consultation Document, 1998, Department of Health. Siehe auch L. Silver, Das geklonte Paradies, München 1998, S. 172 ff. 167 Vgl. J. Taupitz, a.a.O., S. 3433. 64