Chancen und Risiken - Pharmazeutische Zeitung

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Bio- und Gentechnologie
- Chancen und RisikenNeueste Forschungsergebnisse und Akzeptanz in der Bevölkerung
Hans Günter Gassen und Sabine Perl
Institut für Biochemie der Technischen Universität Darmstadt
1. Einleitung
Als am 25. Juli 1978 mit Louise Joy Brown das erste Reagenzglaskind in England
geboren wurde, machte die Geburt eines außerhalb des Körpers gezeugten Kindes
Schlagzeilen. Rund 20 Jahre später gehört die in-vitro-Fertilisation zu den üblichen
medizinischen Dienstleistungen bei Unfruchtbarkeit der Frau. Die besten IVF-Kliniken
bieten ihren Kunden Erfolgsraten von bis zu 70 % an, doppelt so hoch wie bei der
normalen Zeugung.
Eine andere biologische Sensation blieb der Öffentlichkeit mit Bezug auf ihre sozialen Konsequenzen lange Zeit verborgen, die Publikation der DNA-Doppelstrangstruktur durch James Watson und Francis Crick in der Zeitschrift Nature 1953.
Die Grundlagen der Vererbung haben Menschen über die Jahrtausende hinweg fasziniert. Sie beobachteten bei sich selbst, bei Pflanze und Tier, dass Nachkommen
den Eltern immer ähnlich aber nie gleich sind. Auch die genetische Selektion zum
Besseren hin haben Menschen an sich wie an Tier und Pflanze immer praktiziert bei sich zum Beispiel mit der sorgfältigen Auswahl des Ehepartners, etwa der Mutter
der zukünftigen Kinder. Der erste Betreiber wissenschaftlicher Genetik war der
Mönch Gregor Mendel etwa 1860 in seinem Zuchtgarten in Brünn. Die Mendelschen
Regeln sagten die genetischen Eigenschaften der Nachkommen-Generationen voraus. Fast 100 Jahre lang sprach man allerdings nur vom Erbprinzip, ohne die leiseste Vorstellung von den chemischen Grundlagen der Vererbung zu haben. Die DNADoppelhelix war dann ein Schock: vier einfache chemische Verbindungen, die sog.
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Basen Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin an einen Zucker-Phosphat-Faden angehängt, sind die Programmsprache für das Entstehen und den Betrieb von Leben. Das
Erbprinzip, the transforming principle, wurde reduziert auf eine einfach gebaute chemische Verbindung, die man analysieren und synthetisch herstellen kann. In den 40
Jahre danach führte Experiment für Experiment zur Entmystifizierung des Lebens.
Abb. 1
1972 vereinigten S. Cohen und H. Boyer DNA-Stücke aus verschiedenen Lebewesen
- Bakterien und Maus – im Reagenz und nutzten die Hybrid-DNA, um Bakterienzellen neu zu programmieren. In den USA nannte man die Technik "recombinant DNA",
in Deutschland bevorzugte man den Begriff in-vitro Neukombination von Nucleinsäuren, verkürzt gebraucht als Gentechnik. Der erste praktische Erfolg kam mit der fermentativen Produktion von Humaninsulin – einem Medikament gegen Diabetis. Den
Erbträger, das Gen für Insulin, hatte man chemisch synthetisiert und es zur Neuprogrammierung von Bakterien genutzt.
Während die chemische Herstellung von DNA noch mühsam war und nur von Spezialisten durchgeführt werden konnte, gelang es nach 1980 mit Hilfe der sogenannten
Polymerase-Kettenreaktion, winzigste DNA-Spuren, z. B. aus einer einzigen Haarwurzel, unbeschränkt zu vermehren, zu analysieren und als Programm zu nutzten.
Damit stand dem Gentechniker selbst das Erbmaterial aus ausgestorbenen Tieren –
etwa Mammuts - zur Verfügung.
Mit solchen Techniken war es dann auch möglich, die Entzifferung des Humangenoms – Genom gleich Summe aller Gene – enorm zu beschleunigen. Statt der ursprünglich im HUGO (Human Genom Organisation) veranschlagten zehn Jahre für
die Entschlüsselung der humanen Erbsubstanz schaffte es das Unternehmen Celera
in nur fünf Jahren.
Die medizinischen und sozialen Folgen der Entzifferung des Humangenoms sind zur
Zeit noch nicht in toto abzusehen. Die nun bekannte Sequenz führt zur prädiktiven
Medizin und zu einer Individualisierung der Therapie. Da mittlerweile auch die Genome von Viren, Bakterien, Hefen, Würmern, Fliegen, Mäusen und einer Pflanze
entschlüsselt wurden, können Informatiker die zwei Milliarden Jahre dauernde Evolution am Computer nachvollziehen.
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Abb. 2
Das Schaf Dolly war die nächste Sensation, welche die Entwicklungsbiologen Lügen
strafte und Leben weiter in die Beliebigkeit stellte. Ein Zellkern aus einer Hautzelle
eines erwachsenen Schafs wurde in eine entkernte Eizelle transferiert, das Konstrukt
in die Gebärmutter eines scheinschwangeren Schafs überführt und so wurde nach
normaler Tragezeit Dolly geboren – ein Nutztier ohne Eltern aber mit einem Kernspender. Trotz der Unkenrufe der Dogmatiker war Dolly weder das Produkt eines
Betruges noch starb es verfrüht oder mußte auf Mutterfreuden verzichten. Dolly ist
schrecklich normal, hat Lämmer zur Welt gebracht und freut sich ihres Daseins. Die
Kritiker wurden vollends zum Verstummen gebracht als man in Hawaii mit dieser
Technik Mäuse produzierte, in den USA Schweine und Schafe sowie in München
Rinder.
Wissenschaft und Technik haben in den vergangenen 50 Jahren dem Menschen die
Werkzeuge geliefert, um als Konstrukteur seiner selbst tätig zu werden. Während
Wissen und Technik, einmal in unsere Welt gebracht, sich nicht mehr löschen lassen,
bleibt es zum Glück der Gesellschaft und damit dem Staat überlassen, Ziele und Einsatzbereiche der Biotechnik zu fördern, zu bremsen oder zu verbieten. Es geht also
im Nachfolgenden nicht mehr primär um eine Bewertung der Technik an sich als gut
oder böse, sondern es geht um die Rechtschaffenheit der mit ihr erreichbaren Ziele.
Deshalb sollen in den nachfolgenden Kapiteln zuerst die Fakten dargestellt werden,
bevor der Autor den Versuch einer ethischen Bewertung unternimmt.
2. Die "grüne" Gentechnik
Ein Anwendungsbereich der Gentechnik, der in diesem Beitrag zwar nur kurz angesprochen werden soll, der aber für die weltweite Versorgung der Bevölkerung mit
Nahrung von großer Bedeutung ist, stellt die Pflanzenzüchtung dar.
Bauern betreiben seit ca. 10.000 Jahren Auslesezüchtung und in den letzten 100
Jahren auch Kreuzungszüchtung. Jede unserer heutigen Nutzpflanzen wurde durch
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genetische Manipulation optimiert, vom Blumenkohl bis zum Weizen. Auf die Nutzpflanzen der Antike angewiesen, würde die heutige Weltbevölkerung verhungern.
Die Gentechnik erlaubt in Erweiterung konventioneller Pflanzenzüchtung, auch Gene
aus anderen Arten in Pflanzen einzukreuzen, z. B. aus Bakterien in Zuckerrüben. In
einigen Bereichen der Pflanzenzüchtung, z. B. der Schädlings- und Herbizidresistenz
lassen sich die Erfolge der Gentechnik in der Pflanzenzüchtung bereits dokumentieren. An der Verbesserung der Pflanzen-Inhaltsstoffe, so etwa dem Vitamin A-Gehalt
im Reis oder dem Gehalt an ungesättigten Fettsäuren im Raps, wird zur Zeit gearbeitet. Die Kontrollversuche wie die Zulassung werden etwa sechs Jahre dauern; dann
könnten solche gentechnisch optimierten Nutzpflanzen auf den Markt kommen.
Zur Züchtung von Nutzpflanzen mit ernährungsphysiologisch wertvollen Inhaltsstoffen ist die Gentechnik eine Methode unter vielen anderen, allerdings auch diejenige,
die den besten Erfolg verspricht.
Tab. 1
Eine breite öffentliche Diskussion über Nutzen und Risiken der Anwendungsgebiete
gentechnisch orientierter Pflanzenzüchtung ist unverzichtbar, Verängstigung und
Hysterie helfen jedoch nicht weiter.
3. Molekulardiagnostik und Prävention
Die Erbkrankheit Sichelzellenanämie stellt auch in Zeiten eines entschlüsselten Humangenoms immer noch das beste Beispiel für die pathophysiologischen Konsequenzen einer genetischen Punktmutation dar, d. h. eines falschen genetischen
Buchstabens unter drei Milliarden, aus denen das Humangenom besteht. Dieser winzige Programmfehler führt zum Austausch der Aminosäure Glutaminsäure gegen
Valin im Eiweiß Globin. Als Konsequenz polymerisiert der Blutfarbstoff Hämoglobin
unter Sauerstoffmangel und die gebildeten Fasern verformen Erythrocyten sichelförmig, was zum Verschluß der Blutgefäße führt. Die meisten Erbkrankheiten beruhen
jedoch nicht auf Punktmutationen in einem einzelnen Gen, sondern auf Einfügungen,
Insertionen, Deletionen und Chromosomentranslokationen. So wird es auch in Zu4
kunft in der Molekulardiagnostik ein Nebeneinander von DNA-Diagnostik und konventioneller Karyotyp-Typisierung geben.
Abb. 3
Mit der Entzifferung des Humangenoms wird die Variabilitätsanalyse mit Bezug auf
Risikogene schnell Alltag in der medizinischen Praxis werden. Allerdings muß dabei
unterschieden werden zwischen Individualität und Pathogenität. Müller und Meier
unterscheiden sich voneinander in jedem 500. genetischen Buchstaben aber keiner
von beiden ist krank. Ein anderer Buchstabe mit Bezug auf die Norm sagt ebenso
lange nichts aus, wie die Zuordnung zwischen DNA und dem defekten Protein nicht
geklärt ist. Dabei wird die Erbfehleranalyse bei auffälligem Phänotyp nur einen kleinen Teil der DNA-Analytik ausmachen, gefolgt von Vaterschaftsanalysen und dem
Nachweis von Onkogenen. Eine größere Bedeutung dagegen haben die SNPs (single nucleotide polymorphisms). Die in der Bevölkerung vorkommenden Punktmutationen, die entweder nur Individualität – eben braune oder blaue Augen - bedeuten
oder aber Indikatoren für eine negative Veranlagung oder Medikamentenineffizienz
sind, werden in Zukunft intensiv bearbeitet werden. Punktmutationen in einem Gen
können zum Beispiel das Risiko erhöhen, Darm- oder Brustkrebs zu bekommen. Eine präventive DNA-Diagnose würde damit zu häufigeren Intervallen bei der Tumorvorsorge führen. Ein weiteres Stichwort heißt Individualisierung der Medizin. Durch
Robotik, Miniaturisierung, Automation und der DNA-Chip-Technologie wird es möglich, große Bevölkerungsgruppen zu durchmustern, zu screenen, wie es in der Fachsprache heißt. Diese Praxis wurde zuerst bei Mormonenfamilien – wegen des Kinderreichtums und der oft über vier Generationen hinweg intakten Familienbeziehungen –
ausprobiert und konzentriert sich jetzt aufgrund der verbesserten Technik auf isolierte
Populationen wie z.B. die Isländer. Hoffnung dabei ist, genetisch begründete Krankheitsbilder zu finden - z.B. für Asthma oder rheumatoide Athritis. Dabei vergleicht
man DNA-Analysen mit den vorhandenen Krankenregistern.
Die neue DNA-Diagnostik steht natürlich im Wettbewerb mit traditionellen Methoden
wie der Immundiagnostik oder der Typisierung und mengenmäßigen Bestimmung
von Stoffwechselproduktion und Toxinen.
Während die DNA-Diagnostik Veranlagungen ermittelt, also prädiktive Medizin betreibt, haben die konventionellen Methoden, wie die Toxikologie und die Immundiag5
nostik, den unschätzbaren Vorteil, dass sie schädlich wirkende Produkte analysieren
und damit näher am aktuellen medizinischen Geschehen sind. Allerdings wird die
DNA-Diagnostik in den nächsten 20 Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen.
Nicht nur weil sie dem Arzt eine additive Aussage über den Krankheitszustand seines
Patienten erlaubt, sondern weil DNA-Spuren mit Hilfe der Polymerase-Kettenreaktion
(PCR) beliebig vermehrbar sind und weil DNA-Daten perfekt computerfähig sind. In
zehn Jahren wird es für den Arzt Routine sein, dem Patienten auf dem Bildschirm
eine DNA-Abweichung innerhalb eines Gens oder Chromosoms zu zeigen, ähnlich
wie heute ein Knochenbruch anhand eines Röntgenbildes demonstriert wird. Die medizinische Konsequenz der Abweichung dürfte allerdings nur in Einzelfällen abzusehen sein. In den meisten Fällen ist zur Zeit noch die kausale Korrelation zwischen
Gendefekten und der existierenden oder vermuteten Krankheit unmöglich.
Die Chancen der prädiktiven DNA-Diagnostik liegen gegenwärtig eher in der Vorwarnung bei Tumorveranlagungen oder der Anregung, die Eßgewohnheiten zu verbessern, um die Entstehung von Krankheiten zu vermeiden.
4. Die gentechnische Produktion von therapeutisch nutzbaren
Humanproteinen
Die chemische Synthese eines Humaninsulingens, welches in dem Bakterium E.coli
die Produktion des Peptidhormons Insulin bewirkte, war 1978 eine Sensation. 20
Jahre später werden 80 % des weltweiten Insulinbedarfs mit dem fermentativ hergestelltem Human-Pharmakon gedeckt. Es folgte die Produktion von Interferonen und
Interleukinen zur Krebsbehandlung und vor allem den Wachstumsfaktoren, wie z. B.
des Erythropoetins in Zellkulturen. Dieses Medikament wird zur Behandlung von
Nierendialysepatienten eingesetzt und macht weltweit einen Jahresumsatz von sechs
Milliarden Dollar. Bis 1999 wurden 73 gentechnische Medikamente von der europäischen Zulassungsbehörde, der ENEA, genehmigt. Die Experten erwarten, dass in
Zukunft ca. 25 % aller Medikamente mit gentechnischen Methoden hergestellt werden.
Tab. 2
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Diese Prognose scheint gewagt, da auch Humanproteine im Verdauungstrakt abgebaut und falls sie als Dauermedikamente eingesetzt werden, gegen sie in der Blutbahn Antikörper gebildet werden. Aufgrund der anstehenden technischen Entwicklungen, vor allem der kombinatorischen Chemie wie den automatisierten Testmethoden, sollten chemisch synthetisierte niedermolekulare Substanzen wieder Terrain als
Therapeutika gewinnen.
5. Die Krise der Gentherapie
Die erste Gentherapie, mit der ein Kind von einer Immunschwäche geheilt wurde, der
Adenosin-Desaminase-Ineffizienz, wurde 1990 erfolgreich durchgeführt. Allerdings ist
der Begriff "erfolgreich" immer mit einem Fragezeichen zu sehen, da gentechnisch
behandelte Patienten aus ethischen Gründen gleichzeitig auch konventionell therapiert werden.
In der Zwischenzeit stieg die Zahl der genehmigten und durchgeführten gentherapeutischen Behandlungsprotokolle weltweit auf ca. 300 an und es dürften zwischen 3
und 5.000 Patienten mit vektorieller DNA behandelt worden sein. Mehr als 70 % dieser Patienten befinden sich in den USA. Gentherapie zielt grundsätzlich auf die Wiederherstellung des gesunden Zustandes und nicht auf das Korrigieren von Symptomen.
Angeborene genetische Defekte, die zu Stoffwechseldefekten führen, sind in der Population sehr selten. Die Bedeutung der Gentherapie liegt in der Heilung erworbener
Erkrankungen wie Krebs, Herz-Kreislauf-Versagen und AIDS. In der Entwicklung der
Labormethoden wie den klinischen Studien dominiert bei weitem die Behandlung von
Krebs. Das Gleichgewicht zwischen Zellteilung und Zelltod nach dem DNA gesteuerten Programm ist nicht nur Grundlage für die embryonale und nachgeburtliche Entwicklung zum erwachsenen Organismus, sondern auch wichtige Voraussetzung für
das Erreichen des ebenso programmierten menschlichen Lebensalters von etwa 100
Jahren. Bei einer Zellzahl von Hundertausend mal Milliarden (10 14) aus der sich ein
menschlicher Organismus zusammensetzt, muß das Gleichgewicht aus "Werde und
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Stirb", d. h. aus Zellteilung und Tod exakt reguliert werden. Ansonsten kommt es zu
Katastrophen, die als Degeneration oder Tumorwachstum bekannt sind.
Zum Einschleußen der Reparatur-DNA in das Genom des Patienten benutzt man
zumeist Retroviren als Genfähren. Auch freie DNA läßt sich z. B. direkt in den Herzmuskel einspritzen. Andernfalls entnimmt man dem Patienten weiße Blutzellen, verändert sie mit der Reparatur-DNA, überprüft sie im Reagenzglas und gibt sie in den
Blutstrom des Patienten zurück.
Nach einer leichtsinnigen Euphorie von Wissenschaftlern und Medien zur Effizienz
der Gentherapie ist in den letzten Jahren die gebührende Nüchternheit eingekehrt.
Der Tod eines Patienten nach Überdosierung mit einem retroviralen Vektor darf nicht
überbewertet werden. Leid und Tod von Patienten bei der Erprobung neuer Tumortherapeutika ist fast klinischer Alltag. Leitfaden für die Weiterentwicklung der
Gentherapie sollte die etablierte Prüfung von Arzneimitteln sein. Das Wechselspiel
zwischen Testen in der Klinik am Patienten und nutzen der Ergebnisse zur qualifizierten Forschung im molekularbiologischen Labor ist der richtige Schritt zur geduldigen
Optimierung einer vielversprechenden Methode.
6. Gentherapie versus Zelltherapie
Als Frischzellentherapie vom Lamm zum Menschen ist die zelluläre Therapie in Verruf geraten. Die enormen Fortschritte aber in der Zellzüchtung wie der Gewebetransplantation sollten künftig eine hervorragende Marktposition für die Zelltherapie bedingen. Bereits jetzt vorliegende Beispiele sind der Hautersatz bei Verbrennungen sowie
die Ergänzung von Knorpelgewebe im Kniebereich. Probleme jedoch entstehen bei
Menge und Qualität des Biopsiematerials, der Zellvermehrung ohne Entdifferenzierung sowie bei dem Typ der Zellunterlagen, z. B. Knochenhaut, Polysaccharide oder
Kunststoffe. Bei Patienten zwischen 75 und 90 Jahren eignet sich das Biopsiematerial, vom Krankheitsherd entnommen, nicht zur Anzucht von funktionierendem Gewebe.
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Die Weiterentwicklung der Zelltherapie zur Gewebe- und Organtransplantation bedingt die Kombination von mehreren Methoden aus dem Bereich der Molekularbiologie - etwa dem Gentransfer und vor allem dem Kerntransfer adulter Zellen in Eizellen. Falls diese Kombinationstherapie gelingt, wird die Behandlung mit abstoßungsfreiem Gewebe jede Form von Gentherapie überflügeln.
Abb. 4
7. Der adulte Zellkern – die Neuauflage einer alten Methode
Als Ian Wilmuth 1997 berichtete, dass nach einer Kerntransplantation von einer
Hautzelle in eine entkernte Eizelle ein gesundes Schaf – eben Dolly – geboren wurde, begann ohne Zweifel eine neue Aera der Molekularbiologie wie auch der reproduktiven und therapeutischen Medizin.
So sensationell die Dolly-Ergebnisse sind, so gehen sie doch zurück auf fast 100
Jahre Zellphysiologie. So konnte der deutsche Zoologe Hans Spemann bereits 1920
zeigen, dass man aus einem Amphibienembryo durch Abschnüren mit einem Haar
zwei Embryonen erzeugen kann. Damit war dies das erste Klonierexperiment an einem höheren Lebewesen. Für seine Arbeiten erhielt Hans Spemann als erster Zoologe 1935 den Nobelpreis für Medizin. Ende der 60ziger Jahre führte J. Gurdon bereits ein Kerntransfer-Experiment bei Fröschen durch. Sein Bild von 30 geklonten
Fröschen erlangte Weltruhm, da es bereits damals im Zusammenhang mit Huxleys
"Brave New World" diskutiert wurde. Über 40 Jahre hinweg wurde dann versucht, die
Amphibienexperimente auf Säugetiere, z.B. auf Mäuse zu übertragen. 1979 publizierte Karl Ilmensee Kerntransferexperimente bei der Maus, die aber keine wissenschaftliche Anerkennung fanden. Somit kam das Dolly-Experiment nicht ganz überraschend, sondern es widerlegte nur die Dogmatiker in der Wissenschaft.
Da innerhalb eines Jahres bereits gezeigt werden konnte, dass die Dolly-Methode
auch bei Mäusen, Ziegen, Schweinen und Rindern funktioniert, war es klar, dass nur
das Embryonenschutzgesetz und ethische Schranken die Anwendung des Kerntransfers beim Menschen vorerst verhinderte. Um die Heilungschancen, welche der
Kerntransfer ermöglicht, dennoch nutzen zu können, wird versucht, das Klonierverfahren in zwei Teilbereiche zu zerlegen, nämlich in das reproduktive Klonen und das
therapeutische Klonen. Beim therapeutischen Klonen werden aus der Blastocyste,
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die aus entkernter Eizelle und somatischem Kern entstanden ist, humane ES-Zellen
gewonnen, in vitro zu dem gewünschten Zelltyp differenziert und dem Patienten implantiert. Das direkte Umsetzen der Dolly-Methode auf den Menschen, ist in Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes verboten. Dies gilt auch für alle weiteren Kultur- bzw. Industriestaaten. Nach Auffassung des Autors sollte dieses Verbot
mit Strafbewährung auch beibehalten werden.
Um das therapeutische Klonen jedoch ist trotz Embryonenschutzgesetz besonders in
Deutschland eine kontroverse Diskussion entbrannt. Die projektierten medizinischen
Vorteile liegen bei dem therapeutischen Klonen auf der Hand. Der somatische Kerntransfer verheißt ähnliche Heilungschancen wie die Verwendung totipotenter Embryonalzellen. Solche Zellen erhält man aus einem acht- bis sechzehnzelligen Embryo.
Nach weiteren Zellteilungen des embryonalen Gewebes, die zum Stadium der
Blastocyste führen, spricht man von Pluripotenz, da eine vereinzelte Zelle, implantiert
in den Uterus einer Frau, nicht mehr zur Fetal- bzw. Embryonalentwicklung führen
würde. Dies sollte jedoch bei einer Zelle aus einem Achtzellstadium noch möglich
sein – der Beweis steht natürlich aus, da das Embryonenschutzgesetz solche Experimente verbietet.
Embryonale Stammzellen sind unsterblich, unbegrenzt vermehrungsfähig und können sich theoretisch in jeden Zelltyp des menschlichen Körpers entwickeln. Falls man
diese Zellen mit dem Zellkern aus einer somatischen Zelle eines Patienten programmiert, kann ein Gewebe oder sogar ein Organ entstehen, das abstoßungsfrei transplantiert werden kann. Auf diese künftige Heilungsmethode darf nach Auffassung des
Autors nicht verzichtet werden, obwohl im Zusammenhang mit der Nutzung der
Technik immense ethische und legale Probleme entstehen.
8. Die ersten erfolgreichen Experimente
Die Arbeitsgruppe von J. Thomson des Primate Research Center der Universität von
Wisconsin konnte erstmals humane embryonale Stammzellen aus Blastozysten, die
durch In-vitro-Befruchtung erhalten wurden, isolieren und über Monate hinweg in Kultur halten. Sie kultivierten die menschlichen Embryonen bis zum Blastocystenstadium
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(etwa vier Tage nach der Befruchtung). Die Proben aus fünf verschiedenen Embryonen wurden über einen Zeitraum von 5 – 6 Monaten ohne Veränderung kultiviert.
Auch nach Einfrieren und Auftauen waren sie noch imstande, ungehemmt zu wachsen.
Derartige Experimente sind in Deutschland aufgrund des Embryonenschutzgesetzes
verboten, in den USA oder England aber erlaubt.
Jedoch ist es auch in Deutschland möglich, an primordialen Keimzellen zu experimentieren, die aus frühzeitig abgegangenen oder abgetriebenen Feten isoliert werden können. Hier wird der Umgang über das Transplantationsgesetz geregelt.
Primordiale Keimzellen, auch Urgeschlechtszellen genannt, sind die Vorläufer von Eibzw. Samenzellen. Sie befinden sich in Gonaden (Keimdrüsen) des Embryos, die
sich späterhin zu den Hoden oder Ovarien entwickeln, je nachdem ob die Keimzelle
männliche oder weibliche Geschlechtschromosomen enthalten. Die primordialen
Keimzellen werden nach induziertem oder spontanem Abort aus Feten isoliert und zu
pluripotenten Stammzellen weiterentwickelt. Pluripotente Stammzellen, die im Labor
aus primordialen Keimzellen eines toten Feten erhalten werden, bezeichnet man als
EG-Zellen (embryonic germ cells).
Die Arbeitsgruppe von John Gearhart der John Hopkins Universität in Baltimore
konnte erstmals menschliche EG-Zellinien aus primordialen Keimzellen gewinnen.
Sie kultivierten Gonaden auf einer Bodenschicht von Fibroblasten der Maus durch
Zusatz von humanen gentechnisch hergestellten Wachstumsfaktoren. Das Zellmaterial erhielten sie aus frühzeitig abgegangenen Feten 5 – 9 Wochen nach der Befruchtung. Nach 7 – 21 Tagen Kultivierungsdauer bildeten die primordialen Keimzellen
multizelluläre Kolonien. Aufgrund ihres Ursprunges und den nachgewiesenen Eigenschaften, zeigten die kultivierten primordialen Keimzellen alle Kriterien für humane
pluripotente Stammzellen auf.
Stammzellen, d. h. Zellen die noch nicht ausgereift sind und an sich noch z. B. zu
Blut- oder Muskelzellen entwickeln können, finden sich auch beim erwachsenen
Menschen z. B. im Knochenmark, dem Verdauungstrakt, der Haut oder im Zentralnervensystem. Sie sind in ihrem Differenzierungspotential erheblich eingeschränkt,
da sie bereits die Determination für einen bestimmten Zelltypus erreicht haben. Sie
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erfüllen wesentliche Funktionen bei der ständigen Regeneration von Geweben und
Organen. Auch adulte Stammzellen sind wichtige Materialien zur Entwicklung von
spezialiserten Geweben. Da sie sich aber nicht mehr oder besser noch nicht mit
adulten Zellkernen programmieren lassen, spielen sie in der Molekularbiologie nur
die zweite Geige.
Abb. 5
Eine, wenn nicht sogar die größte medizinische Anwendung humaner pluripotenter
ES-Zellen ist die Gewinnung und Züchtung universeller menschlicher Spenderzellen
für den Zell- und Gewebeersatz, der sogenannten Zelltransplantationstherapie. Viele
Krankheiten und Fehlfunktionen beruhen auf der Unterbrechung zellulärer Funktionen oder der Zerstörung von Geweben. Heutzutage dienen Spendergewebe oder –
organe für den Ersatz. Unglücklicherweise ist die Zahl der Patienten höher als die der
verfügbaren Organe und oft kommt es zu immunologisch bedingten Abstoßungsreaktionen. Des weiteren besteht bei Organtransplantationen die Gefahr, Krankheitserreger zu übertragen.
Humane pluripotente ES-Zellen, die in Kultur zu bestimmten Zelltypen differenziert
werden, könnten zur Erneuerung von defekten Zellen bei einer Vielzahl von Krankheiten, wie beispielsweise der Parkinson- oder Alzheimer-Krankheit, Diabetes, Osteo- und rheumatische Arthritis, Hautverletzungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs
und Schädigungen des Rückenmarks eingesetzt werden. Zusätzlich ergibt sich die
Möglichkeit, sie genetisch so zu verändern, dass Immunreaktionen des Empfängers
verhindert werden.
Nervenzellenerkrankungen und Verletzungen des Gehirns stellen auch heute ein
großes medizinisches Problem dar, denn im Gegensatz zu anderen Gewebezellen
regenerieren sich Nervenzellen nur begrenzt. Die Folgen dieser Schädigung manifestieren sich als Schlaganfall, Multiple Sklerose, Alzheimer-Krankheit, ParkinsonKrankheit und viele andere mehr. Nervenzellen gezielt in die erkrankte Hirnregion zu
verpflanzen, wirft Mengenprobleme auf, denn hierfür werden Spenderzellen von Feten in großer Zahl benötigt.
Erschwerend für die Behandlung neurologischer Erkrankungen ist, dass je nach
Krankheitsbild, unterschiedliche Zellen des Nervensystems betroffen sein können.
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Die Nervenzellen sind in viele Untergruppen gegliedert, die in ihren Funktionen und
Aufgaben voneinander abweichen und verschiedene Botenstoffe benutzen. Im
Krankheitsfall, der eine Transplantation erforderlich macht, muß der passende Zelltyp
ersetzt werden. Die gezielte Herstellung verschiedener Typen von Nervenzellen steht
im Zentrum der Zellkulturexperimente an ES-Zellen.
Abb. 6
Wissenschaftlern am Institut für Neuropathologie der Universität Bonn ist es 1999 als
ersten gelungen, Nervenzellen aus ES-Zellen der Maus in Kultur zu gewinnen und
mit Hilfe dieser myelindefiziente Nervenfasern der Ratte zu reparieren.
Ausgangsmaterial waren embryonale Stammzellen aus drei Tage alten Mäuseembryonen. Sie steuerten die Ausreifung der kultivierten ES-Zellen so, dass gezielt Vorläuferzellen von Oligodendrozyten entstanden, pflanzten sie in das Gehirn und Rückenmark von Ratten mit einem genetischen Defekt: Ihren Nervenfasern fehlte die
schützende Myelinschicht. Wie von ihnen erhofft, entstanden sowohl im Gehirn als
auch im Rückenmark der Tiere Gliazellen, die die Nervenzellen der Ratte mit Myelin
beschichteten.
Diesen Therapieansatz könnte man auf Patienten, die an der PelizaeausMerzbacher-Krankheit (PMD) leiden, anwenden. PMD-Patienten tragen eine Mutation in einem Gen des X-Chromosoms, das für das Myelin Proteolipid Protein (PLP)
kodiert.
Diese blutgefäßbildenden Zellen könnten zur Erneuerung von Blutgefäßen bei Artheriosklerose, ischämischen Bereichen des Herzens, des Gehirns, zur Behandlung von
Schlaganfall-Patienten und bei arterieller Insuffizienz eingesetzt werden.
Herzmuskelzellen teilen sich im adulten Herzen nicht mehr. Kommt es zu einer
Schädigung des Herzmuskels durch Verletzungen oder Ischämie, wird das verletzte
Gewebe durch funktionsloses Narbengewebe ersetzt.
Kardiomyozyten wurden bereits 1996 aus embryonalen Stammzellen der Maus gewonnen. Injizierte man die Kardiomyozyten in die Herzen adulter Mäuse, ersetzen sie
die geschädigten Herzmuskelzellen, indem sie sich stabil in das umliegende Gewebe
integrierten und mit den vorliegenden Zellen zusammenarbeiteten.
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Die Transplantation von gesunden Herzmuskelzellen könnte Herzinfarkt-Patienten
oder Patienten mit chronischem Herzleiden neue Hoffnung geben.
Hautzellen konnten 1996 aus Maus ES-Zellen differenziert werden. Hautzellen aus
humanen embryonalen Stammzellen könnten zur Behandlung von Wundkrankheiten
und Hautverbrennungen verwendet werden. Chondrozyten könnten für Knorpelersatz
bei Osteoarthritis oder rheumatischer Arthritis Verwendung finden.
9. Medizinischer Nutzen der Kerntransplantation
Bevor diese Zellen für die Transplantation genutzt werden können, muß jedoch sichergestellt sein, dass es nicht zu Abstoßungsreaktionen und Immunreaktionen im
Empfänger kommt. Da humane pluripotente Stammzellen aus Embryonen oder fetalem Gewebe gewonnen werden, unterscheiden sie sich genetisch von dem Empfänger und körperfremde Zellen werden gewöhnlich abgestoßen. Eine mögliche Lösungen dieses Problems wäre, die ES-Zellen genetisch so zu modifizieren, dass die Abstoßung reduziert wird. Zwar würden solche Zellen nicht völlig genetisch zu einem
Patienten passen, doch die resultierende Abwehrreaktion wäre wahrscheinlich beherrschbar. Eine weitere Möglichkeit ist die Verwendung von individualspezifischen
Stammzellen. In diesem Fall sind die verwendeten Zellen für die Transplantation genetisch identisch mit denen des Patienten und eine Abstoßungsreaktion bliebe aus.
Ein langfristiges Ziel besteht in der Generierung komplexer Gewebeverbände oder
ganzer Organe, die die derzeitigen Engpässe und immunologisch bedingten Probleme sowie die Risiken einer Krankheitsübertragung bei der Organtransplantation umgehen können.
Untersuchungen an humanen pluripotenten ES-Zellen könnten die Wege, die in der
Arzneimittelforschung und in der Sicherheitsbewertung von Medikamenten oder
Chemikalien durchgeführt werden, dramatisch verändern. Anstatt ein zukünftiges
Medikament an Tiermodellen oder Krebszellen zu testen, könnte dieses an verschiedenen menschlichen Zelltypen erprobt werden. Das würde zwar die Untersuchungen
an Zellinien, Tieren und Menschen nicht aufheben, aber die Entwicklung von Arznei14
mitteln ließe sich besser kanalisieren und nur der sicherste Kandidat würde dann für
Untersuchungen an Tier und Mensch zugelassen werden.
Eventuell wäre es auch möglich, die Kosten für die Entwicklung von sicheren und
wirksamen Arzneimitteln und Chemikalien zu senken.
Humane differenzierte embryonale Zellen könnten für das Arzneimittel-Screening, für
Arzneimittel-Toxikologiestudien sowie zur Identifizierung und dem gezielten Transport von neuen Arzneimittel-Zielmolekülen eingesetzt werden.
Solche an humanen Zellkulturen erzielten Daten werden weit zuverlässiger auf den
Menschen übertragbar sein als die bislang in Tierversuchen gewonnenen Ergebnisse.
10. Die Zukunft der molekularen Medizin
Die Fortschritte in der Linderung und Heilung von Krankheiten sind durch soziale
Faktoren und die Erkenntnisfortschritte in den Naturwissenschaften bestimmt. Menschen werden älter. Wir sprechen bereits vom 4. Lebensabschnitt, der das Alter zwischen 75 und 90 Jahren betrifft und auch diese Personengruppe möchte im hohen
Lebensalter an der Gesellschaft teilhaben. Oft wird dies behindert durch Erkrankungen im Bereich des Bewegungs- und Stützapparates oder Altersdemenzen wie z.B.
Alzheimer. Unter die Rubrik soziale Komponenten gehören dagegen die Behandlungskosten, besonders für ältere Patienten, die von der Allgemeinheit in Zukunft nur
partiell getragen werden können. Somit ist abzusehen, dass es eine Zweiteilung der
Gesellschaft geben könnte, eben in die Medizin für Reiche und die für Arme.
Deshalb muß die Frage gestellt werden, ob die Erkenntnisfortschritte in den Naturwissenschaften, nachfolgend in Diagnose und Therapie umgesetzt, diese Entwicklung fördern oder sie reduzieren.
Patente für Pharmaka haben eine Laufzeit von 20 Jahren. Danach können die Produkte lizenzfrei von Generikaherstellern produziert werden. So läuft z. B. der Patentschutz für die Interferone im Jahr 2004, der Schutz für das Erythropoetin im Jahr
2005 aus. Die entsprechenden Arzneimittel werden dann bei gleicher Qualität um
30 % preiswerter angeboten.
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Generell ist eine medizinische Behandlung bei Neueinführung einer Technik besonders teuer. Dies gilt für bildgebende Verfahren, wie die Tomographie oder die mikroinvasive, Automaten-gesteuerte Chirurgie. Mit der breiteren Anwendung, d. h. der
Perfektionierung der Apparate, der einsetzenden Konkurrenz sowie der kürzeren
Operationszeiten können sich die Kosten reduzieren.
Allerdings ist damit zu rechnen, dass besonders ältere Patienten, da die Technisierung der Medizin rapide fortschreitet, ca. 30 % ihres Einkommens für die Gesundheit
ausgeben müssen. Falls z.B. der Organersatz oder die Gensubstitution zum Regelfall
wird, und dies vielleicht bei einem 80jährigen Patienten, sind die Kosten für die Behandlung wie für die Nachsorge hoch.
Jedes einzelne Problem steht uns klar vor Augen, allgemein akzeptierbare Lösungen
dagegen gibt es nicht. Weder wird sich die Forschung entschleunigen noch regionalisieren lassen noch wird es gelingen, Forschungsergebnisse von der kommerziellen
Anwendung fern zu halten.
Da wir einer allumfassenden Regulierung des Gesundheitssystems durch den Staat
nicht zustimmen können, bleibt uns nur die Hoffnung auf die Selbstregulierungskräfte
des Marktes. Ein Blick in die Medizingeschichte mag uns trösten: Die Gesundheitsfürsorge hat sich von der sozialen und technischen Qualität immer weiter verbessert
und so wird es auch weitergehen – trotz aller Unkenrufe.
11. Techniknutzung und Verantwortung im Sinne des Generationenvertrages
Die Thesen des Clubs of Rome und die Brundland-Erklärung zur nachhaltigen Nutzung von Ressourcen ersetzten den traditionellen Wertbegriff "Fürsorge für unsere
Kinder" durch einen sogenannten auf "Nachhaltigkeit ausgerichteten Generationenvertrag: Jede Generation solle so wirtschaften, dass die Lebensgrundlagen für die
nachfolgende Generation nicht verschlechtert werden". Nachfolgend durch die Konferenzen von Rio de Janeiro und von Carthagena bestätigt, bezieht sich diese Absichtserklärung vor allem auf die Qualität von Luft, Wasser und Boden sowie den
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sparsamen Umgang mit nicht-regenerierbaren Rohstoffen. Den Zielen der Brundland-Erklärung wird jeder vernünftige Mensch zustimmen, der Eintreffwahrscheinlichkeit von langfristig prognostizierten Ereignissen jedoch steht man aus historischer
Erfahrung heraus sehr kritisch gegenüber.
Der Club diagnostizierte eine Zunahme der transatlantischen Kommunikation und
sagte eine Verknappung des Kupfers wegen zusätzlich erforderlicher Überseekabel
voraus. Die technische Entwicklung, die zu Glasfaser und Telesatelliten führte, wurde
nicht bedacht. Ähnliche Fehlprognosen gelten für den Energiesektor, wo die Aussagen über die Kohleverknappung katastrophal falsch waren wie auch wohl die heutigen Bekundungen zur Verknappung von Erdöl kritisch bewertet werden sollten.
Ein ähnlicher Generationenvertrag "Forschung für die nachfolgende Generation" hat
in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung bisher fast perfekt funktioniert.
Vielleicht gerade deshalb, weil er bisher nicht zum öffentlichen Thema wurde.
Der aufopfernde Einsatz von Forschern und Ärzten kommt immer erst den nachfolgenden Generationen zugute, während die Zeitgenossen Risiken, Leid und Tod mit
Bezug auf das Ausprobieren neuer Verfahren auf sich nehmen müssen.
Dies gilt für die von Edward Jenner 1790 entwickelte Pockenimpfung, für das von
Robert Koch 1890 gegen Tuberkulose entwickelte Tuberkulin, für die Entdeckung der
Antibiotika 1928 durch Sir Alexander Flemming und auch die 1978 von Streptoe entwickelte in-vitro- Fertilisation.
Das detaillierte menschliche Skelett des Andreas Verselius in der Renaissance oder
die erste Röntgenaufnahme durch Konrad Roentgen 1985 in Würzburg waren für die
Zeitgenossen ebenso herausfordernde Sensationen wie die Humansequenzierung
oder das therapeutische Klonen im Jahre 2000.
Unsere Generation aber stellt diese ungeschriebenen Verträge in Frage. Sie ist prinzipiell nicht mehr bereit, stellvertretend Risiken, Leid und Tod zum Nutzen der nachfolgenden Generation auf sich zu nehmen.
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Als Beweise für diese These seien genannt: die Widerstände gegen die fermentative
Herstellung von Humaninsulin, gegen die analytische Nutzung der Sequenzdaten
aus dem Humangenom, gegen die in-vitro-Fertilisation, gegen die Gentherapie und
nun in aller Schärfe gegen die pränatale Diagnostik und das therapeutische Klonen.
Diese no-risk-Haltung in großen Teilen der Bevölkerung steht im diametralen Gegensatz zu den Fortschritten in den Biowissenschaften und der Qualität der ärztlichen
Betreuung im Krankheitsfall.
Zwanzig Jahre nach dem Kampf um die Insulinproduktionsanlage wird die gentechnische Herstellung von Medikamenten von der Bevölkerung akzeptiert. Die militanten
Auseinandersetzungen um die Produktionsanlagen für Insulin und Erythropoetin in
Höchst und Marburg werden von den damaligen Kämpfern heute mit Verlegenheitsgesten abgetan. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die AntigentechnikBlockadepolitik bei der pharmazeutischen Industrie einen wirtschaftlichen Schaden
angerichtet hat, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat. Erstaunlicherweise werden bei der Gentherapie weder die ethischen noch wirtschaftlichen Bezüge hinterfragt, obwohl sich gerade bei diesem Gebiet die Diskrepanz zwischen großmäuligen
Versprechungen und den spärlichen Heilerfolgen klar zeigt.
Zur Zeit konzentriert sich die Diskussion, Genfood einmal ausgenommen, auf die
sogenannte Reprogenetik, d. h. in-vitro-Fertilisation, pränatale Diagnostik, das reproduktive Klonen sowie den somatischen Kerntransfer. Selten hat es eine Kontroverse
gegeben, wo Urängste, Heilserwartungen, ethische Wertbegriffe und kommerzielle
Interessen so ineinander verwoben sind, wie bei der jetzt praktizierten, auf Qualität
hin ausgerichteten, Zeugungstechnik.
Wohl seit Kulturzeiten befaßt sich die Menschheit theoretisch wie praktisch mit der
Menschenzüchtung im Sinne der positiven und negativen Eugenik. Falls der Staat
derartige Ziele befürwortete oder sogar in die Realität umsetzte, haben sie stets zu
einer humanen Katastrophe und unendlichem individuellen Leid geführt.
Aus wissenschaftlicher Sicht war bisher jeder Versuch, ob staatlich organisiert oder
privat gewollt, durch Zufallsregeln bestimmt, da niemand wußte, nach welchen Gesetzen die elternlichen Allele im Embryo neu organisiert werden. Somit war das Er18
gebnis eines Züchtungsversuchs immer ein Lotteriespiel, so dass Kinder eines Dichters mit einer Tänzerin ein weder noch waren.
Die Entzifferung des Humangenoms, Genanalyse und Gensubstitution sowie in-vitroFertilisation und Kerntransfer rücken die Menschenzucht in den Bereich des Erfolgreichen und noch schlimmer in den Sektor des finanziell Lukrativen. Der Wettbewerb
der IVF-Kliniken und das katalogmäßige Anbieten von Sperma und Eizellen wie Ammenmüttern sind dafür ein Beleg. Embryoexperimente mit klar erkennbarem eugenischen Charakter sind zur Zeit noch in allen Kulturstaaten unter Strafandrohung verboten. Da nur diese über das nötige technische Repertoire verfügen, haben Dämme,
wie das Embryonenschutzgesetz, noch gehalten. Bei dem Umgang mit Embryonen
wird jedoch die Entscheidung so schwierig, weil der zu befürwortende Kinderwunsch
einer Lebensgemeinschaft, gegen das Gebot des Staates steht, die Würde des Menschen von Anfang an, d.h. mit der Vereinigung von Sperma und Eizelle, zu schützen.
So sieht es jedenfalls das deutsche Grundgesetz wie das Bundesverfassungericht.
Andere Länder, wie die USA oder Großbritannien, bewerten die Dinge aus einer eher
utilitristischer Ethik anders. So erlauben die Engländer die Embryonenforschung für
einen Zeitraum von 14 Tagen mit der Zielsetzung, Verbesserung der Methoden der
in-vitro-Fertilisation und neuerdings der Erforschung von Altersdemenzen.
Beim Umgang mit Embryonen wird die Entscheidung so schwierig, weil man um die
Würde des Menschen von Anfang an, d.h. nach der ersten Zellteilung, zu garantieren, auf das "Heilen wollen" verzichten muß. Die Abwägung ist nicht leicht und lautstarke Töne sind bei diesem Thema nicht angesagt.
Läßt man eine befruchtete Eizelle, egal ob mit einem Sperma befruchtet oder nach
somatischer Kerntransplantation, sich in das 16-Zellstadtium teilen, so ist jede einzelne Zelle noch totipotent und aus jeder Zelle könnte ein Mensch werden. Somit
handelt es sich um eine Klonierung menschlicher Embryonen, die das Embryonenschutzgesetz unter Gefängnisstrafe stellt. Aus diesen Zellen lassen sich auch Gewebe beliebiger Natur züchten, später vielleicht sogar Organe. Falls die Zellen somatisch programmiert sind, kann es sich um abstoßungsfreies, d. h. immunkompetentes
Gewebe handeln.
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Aus der momentanen Sicht der Dinge bietet das therapeutische Klonen den besten
experimentellen Ansatz, um Altersdemenzen wie Alzheimer therapieren zu können.
Auch für eine Organogenese, z.B. von Niere oder Herzmuskel, zeigt das therapeutische Klonen zumindest beschreitbare Wege auf. Andere Verfahren sind möglich, wie
die Nutzung adulter Stammzellen, z.B. aus dem Darm oder den Haarfollikelzellen.
Auch gentherapeutische Ansätze könnten Altersdemenzen lindern oder heilen.
Wissenschaftler stehen in einem Dilemma. In der heutigen Werbegesellschaft müssen sie zur finanziellen Unterstützung ihrer Forschungsvorhaben Positivaussagen
machen, deren Einhaltung sie nicht garantieren können. Auch die Ethiker fordern von
den Naturwissenschaftlern, bereits ihre Ziele offenzulegen, um diese ab initio einer
sozialen und ethischen Bewertung zu unterziehen.
Der diametrale Vorwurf von Gesellschaft und Politik lautet, man hätte den Beweis für
die Rechtschaffenheit in Form des wundersamen Geheilten noch nicht angetreten. In
der komplexen Situation zwischen voreilendem Versprechen und Rückzug in den
Elfenbeinturm scheint für die Wissenschaft ein Mittelweg möglich. Vertrauen in die
guten Absichten des Forschers und Reden erst wenn zumindest der "proof of principle" erbracht ist.
Unter Dogmatikern läßt sich der Gegensatz zwischen dem Menschsein-Status einer
Eizelle und der Ermöglichung des therapeutischen Klonens nicht auflösen. Sie akzeptieren nicht, dass sich zur Menschwerdung ein Embryo in die Uterusschleimhaut
einnisten muß. Nur die Summe aus Mutter plus Embryo ermöglicht die Geburt eines
Kindes. Eine befruchtete Eizelle mit Hilfe von Signalproteinen zum Nervengewebe zu
steuern, tangiert die Menschenwürde nicht, wenn die Ziele moralisch zu akzeptieren
sind. Wer Prinzipientreue über menschliches Leid stellt, handelt inhuman.
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