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der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
St. Annastiftskrankenhaus · Karolina-Burger-Straße 51 · 67065 Ludwigshafen am Rhein · www.st-annastiftskrankenhaus.de
Elterninformation zu tiefgreifenden
Enwicklungs-störungen (Autismusspektrum)
Autismus (v. gr. αυτός „selbst“) ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Zu diesen Formenkreis
der Entwicklungsstörungen zählen neben der autistischen Störung im engeren Sinne (frühkindlicher
Autismus, auch Kanner-Syndrom genannt), das Asperger-Syndrom, das Rett-Syndrom und die desintegrative Psychose des Kindesalters. Von atypischem Autismus spricht
man, wenn nicht alle Diagnosekriterien erfüllt sind oder wenn die Störung
sich erst nach dem dritten Lebensjahr manifestiert.
Neben der kategorialen Auffassung gibt es das Konzept, dass die verschiedenen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen sich nicht qualitativ unterscheiden. Insbesondere im englischsprachigen Raum ist man zunehmend der Ansicht, dass es sich um ein Kontinuum verschiedener Ausprägungen des Autismus handelt. In diesem Sinne wird dann vom autistischem Spektrum
bzw. der Autismusspektrumstörung (ASS) gesprochen.
Begriffsbildung
Geprägt wurde der Begriff Autismus 1911 durch den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler. Autismus
nannte er ein Grundsymptom der Schizophrenie, die Zurückgezogenheit in die innere Gedankenwelt
des an Schizophrenie erkrankten Menschen.
Leo Kanner (1943) und Hans Asperger (1944; Foto links)) nahmen diesen
Begriff – unabhängig voneinander – auf und benannten so ein Störungsbild
eigener Art. Im Unterschied zu Menschen mit Schizophrenie, die sich aktiv in
ihr Inneres zurückziehen, beschrieben Kanner und Asperger jeweils Menschen, die von Geburt an in einem Zustand der inneren Zurückgezogenheit
leben. Damit unterlag der Begriff „Autismus“ einem Bedeutungswandel. Heutzutage wird der Begriff „Autismus“ zur Bezeichnung des von Kanner und Asperger beschriebenen Störungsbildes gebraucht.
Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann
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Kanners Beschreibung, die den Begriff „Autismus“ eng fasste und im Wesentlichen dem heute so
genannten frühkindlichen Autismus entsprach, erlangte internationale Anerkennung und wurde zur
Grundlage der weiteren Autismusforschung. Die Veröffentlichungen Aspergers hingegen, die den
Begriff „Autismus“ etwas anders fassten, wurden zunächst international kaum rezipiert, zum einen
wegen des Zweiten Weltkriegs, und zum anderen, weil Asperger auf Deutsch publizierte und seine
Publikationen jahrzehntelang nicht ins Englische übersetzt wurden. Erst in den 1990er Jahren erlangten die Forschungen Aspergers internationale Bekanntheit in Fachkreisen. Die englische Psychologin
Lorna Wing führte in den 1980er Jahren die Forschungen Aspergers fort und definierte die von Asperger beschriebenen Fälle von Autismus als Asperger-Syndrom. Filme wie Rain Man, die einen Asperger-Autisten in Szene setzen, haben das Thema popularisiert. In den USA findet jährlich am 18.
Juni ein „autistic pride day“ statt.
Das Autismusspektrum
Es werden in der klinischen Praxis meist folgende Formen von Autismus unterschieden:
1. Frühkindlicher Autismus (F84.0)
2. Atypischer Autismus
(F84.1)
3. Asperger-Syndrom (AS) (F84.5)
Diese drei Diagnosen bilden zusammen das Autismusspektrum (engl. autism spectrum). Beim frühkindlichen Autismus unterscheidet man zusätzlich zwischen dem niedrigfunktionalen (engl.: low functioning autism (LFA)) und dem hochfunktionalen (engl.: high functioning autism (HFA)) Autismus.
Allen Zuständen innerhalb dieses Spektrums sind die Merkmale eingeschränkte soziale Interaktion,
eingeschränkte Kommunikation und repetitive Verhaltensmuster gemeinsam. Je nach Intensität der
Ausprägung werden betroffene Personen innerhalb dieses Spektrums eingeordnet.
Zusätzlich finden sich noch das bei Mädchen vorkommende Rett-Syndrom (F84.2) und als Restkategorie eine überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien (F84.3).
Unterscheidung der Formen innerhalb des Spektrums
Während das niedrige Funktionsniveau (LFA) des frühkindlichen Autismus aufgrund der allgemeinen
Entwicklungsverzögerungen, stereotypen Bewegungen sowie der Abkapselung von der Umwelt, mit
schweren Behinderungen einher geht, ist der hochfunktionale (HFA) frühkindliche Autismus und insbesondere das Asperger-Syndrom, für Laien unter Umständen nur schwer von der „Normalität“ zu
unterscheiden.
Beim frühkindlichen Autismus (LFA) tritt nicht selten, neben der allgemeinen und Sprachentwicklungsverzögerung, auch noch geistige Behinderung auf.
Der atypische Autismus ist entweder ein spät (> 3 Jahre) auftretender frühkindlicher Autismus (atypisches Erkrankungsalter) oder es sind nicht alle Symptome des frühkindlichen Autismus ausgeprägt
(atypische Symptomatik), wobei beide Fälle aber auch zusammen auftreten können. Das AspergerSyndrom unterscheidet sich vom frühkindlichen und atypischen Autismus dadurch, dass es nicht zu
Sprachentwicklungsverzögerungen kommt und das Intelligenzniveau immer wenigstens normal (IQ >
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70) bis hin zu überdurchschnittlich ist. Bei den übrigen Autismusformen muss das nicht der Fall sein,
auch ist die durchschnittliche Intelligenz der Betroffenen beim Asperger-Syndrom meist höher. Des
Weiteren kommt es nur beim Asperger-Syndrom zu motorischen Koordinationsproblemen, sofern
sich diese nicht auf andere Erkrankungen zurückführen lassen.
Übersicht: frühkindlicher Autismus vs. Asperger-Syndrom
frühkindlicher Autismus (HFA und LFA)
erste Auffälab dem 10.-12. Lebensmonat
ligkeiten
Asperger-Syndrom (AS)
ab 3. Lebensjahr
Blickkontakt
selten, flüchtig
selten, flüchtig
Sprache
in der Hälfte der Fälle Fehlen einer
Sprachentwicklung; ansonsten verzögerte
Sprachentwicklung, anfangs oft Echolalie,
Vertauschen der Pronomina
frühe Entwicklung einer grammatisch und
stilistisch hoch stehenden Sprache, oft
pedantischer Sprachstil, Probleme beim
Verstehen von Metaphern
Intelligenz
teilweise geistige Behinderung, teilweise
normale Intelligenz
normale bis hohe Intelligenz, teilweise
Hochbegabung
Motorik
keine Auffälligkeiten, die auf den Autismus häufig motorische Störungen, Ungeschickzurückzuführen sind
lichkeit, Koordinations-störungen
Einteilung nach ICD-10 und DSM-IV
Autismus wird in der ICD-10, dem Klassifikationssystem für Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, als tiefgreifende Entwicklungsstörung mit dem Schlüssel F84 aufgeführt
und wie folgt unterteilt:
• F84.0: Frühkindlicher Autismus
Infantiler Autismus, Kanner-Syndrom
• F84.1: Atypischer Autismus
• F84.2: Rett-Syndrom, auch bezeichnet als desintegrative Störung des Kindesalters
• F84.3: Überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien
• F84.5: Asperger-Syndrom, auch bezeichnet als schizoide Störung des Kindesalters
Das DSM-IV, die US-amerikanische Klassifikation psychischer Störungen, führt Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung unter dem Schlüssel 299 auf. Dabei werden zwei Kategorien unterschieden:
• 299.00: autistische Störung
• 299.80: Asperger-Syndrom
Atypischer Autismus kommt im DSM-IV als Diagnose nicht vor.
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Diagnosekriterien Frühkindlicher Autismus (F84.0)
Im DSM-IV wird der frühkindliche Autismus den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zugeordnet
und durch folgende diagnostische Kriterien beschrieben:
A. Es müssen mindestens sechs Kriterien aus (1), (2) und (3) zutreffen, wobei mindestens zwei Punkte aus (1) und je ein Punkt aus (2) und (3) stammen müssen:
(1) qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mindestens zwei der folgenden Bereiche:
• ausgeprägte Beeinträchtigung im Gebrauch vielfältiger nonverbaler Verhaltensweisen wie beispielsweise Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik zur Steuerung sozialer Interaktionen,
• Unfähigkeit, entwicklungsgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen,
• Mangel, spontan Freude, Interessen oder Erfolge mit anderen zu teilen (z.B. Mangel, anderen
Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder darauf
hinzuweisen),
• Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit;
(2) qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche:
• verzögertes Einsetzen oder völliges Ausbleiben der Entwicklung gesprochener Sprache (ohne
den Versuch, die Beeinträchtigung durch alternative Kommunikationsformen wie Gestik oder Mimik zu kompensieren),
• bei Personen mit ausreichendem Sprachvermögen deutliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, ein
Gespräch zu beginnen oder fortzuführen,
• stereotyper oder repetitiver Gebrauch der Sprache oder idiosynkratische Sprache,
• Fehlen von verschiedenen entwicklungsgemäßen Rollenspielen oder sozialen Imitationsspielen;
(3) beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten in mindestens einem der folgenden Bereiche:
• umfassende Beschäftigung mit einem oder mehreren stereotypen und begrenzten Interessen,
wobei Inhalt und Intensität abnorm sind,
• auffällig starres Festhalten an bestimmten nichtfunktionalen Gewohnheiten oder Ritualen,
• stereotype und repetitive motorische Manierismen (z.B. Biegen oder schnelle Bewegungen von
Händen oder Fingern oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers),
• ständige Beschäftigung mit Teilen von Objekten.
B. Beginn vor dem dritten Lebensjahr und Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit in mindestens einem der folgenden Bereiche:
• soziale Interaktion,
• Sprache als soziales Kommunikationsmittel oder
• symbolisches oder Fantasiespiel.
C. Die Störung kann nicht besser durch die Rett-Störung oder die Desintegrative Störung im Kindesalter erklärt werden.
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Darüber hinaus nennt ICD-10 noch unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien,
Schlafstörungen, Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen und selbstverletzendes Verhalten (Automutilation).
Soziale Interaktion
Eine qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion zeigt sich manchmal schon in den ersten
Lebensmonaten durch fehlende Kontaktaufnahme zu den Eltern, insbesondere zur Mutter. Viele Kinder mit frühkindlichem Autismus strecken der Mutter nicht die Arme entgegen, um hochgehoben zu
werden. Sie lächeln nicht zurück, wenn sie angelächelt werden, und nehmen zu den Eltern keinen
angemessenen Blickkontakt auf. Dem gegenüber steht eine starke Objektbezogenheit, die häufig auf
eine bestimmte Art von Gegenständen beschränkt ist. Ihre Aufmerksamkeit ist auf wenige Dinge, wie
Wasserhähne, Türklinken, Fugen zwischen Steinplatten oder kariertes Papier gerichtet, die sie magisch anziehen, so dass alles andere an ihnen vorbeigeht. Oft finden sie in Gegenständen einen für
andere fremden Zweck, sortieren beispielsweise die Einzelteile einer Spielzeugeisenbahn nach Größe und Farbe, oder ihr einziges Interesse an einem Spielzeugauto ist es, die Räder unablässig zu
drehen.
Kommunikation
Etwa jedes zweite Kind mit frühkindlichem Autismus entwickelt keine Lautsprache. Bei den anderen
verzögert sich die Sprachentwicklung. Die Entwicklung der Lautsprache erfolgt oft über eine lange
Phase der Echolalie, manche der betroffenen Personen kommen über diese Phase nicht heraus. Im
Kindesalter werden oft die Pronomina vertauscht (pronominale Umkehr). Sie reden von Anderen als
„ich“ und von sich selbst als „du“ oder in der dritten Person. Diese Eigenart bessert sich üblicherweise
im Laufe der Entwicklung. Zudem gibt es oft Probleme mit Ja/Nein-Antworten, Gesagtes wird stattdessen durch Wiederholung bestätigt. Probleme gibt es auch mit der Semantik: Wortneuschöpfungen
(Neologismen) treten häufig auf. Manche Menschen mit frühkindlichem Autismus haften auch an bestimmten Formulierungen (Perseveration). Am ausgeprägtesten ist die Beeinträchtigung der
Pragmatik: In der Kommunikation mit anderen Menschen haben Menschen mit Autismus Schwierigkeiten, Gesagtes über die genaue Wortbedeutung hinaus zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen. Ihre Stimme klingt oft eintönig (fehlende Prosodie).
Die Probleme in der Kommunikation äußern sich in schwieriger Kontaktaufnahme zur Außenwelt und
zu anderen Menschen. Manche Autisten scheinen die Außenwelt kaum wahrzunehmen und teilen
sich ihrer Umwelt auf ihre ganz individuelle Art mit. Deshalb wurden autistische Kinder früher auch
Muschelkinder oder Igelkinder genannt. Die visuellen und auditiven Wahrnehmungen sind oft deutlich
intensiver als bei neurologisch typischen Menschen, daher scheint als Selbstschutz eine Abschaltfunktion im Gehirn die Reizüberflutung auszublenden. Autisten haben ein individuell unterschiedlich
ausgeprägtes Bedürfnis nach Körperkontakt. Einerseits nehmen manche mit völlig fremden Menschen direkten und teils unangemessenen Kontakt auf, andererseits kann auch jede Berührung für
sie aufgrund der Überempfindlichkeit ihres Tastsinns unangenehm sein.
Vor diesem Hintergrund ist verstehende Kommunikation mit einem Autisten schwer. Emotionen werden oft falsch gedeutet oder gar nicht erst verstanden. Diese möglichen Probleme müssen bei der
Kontaktaufnahme berücksichtigt werden und verlangen ein großes Einfühlungsvermögen.
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Repetitive und stereotype Verhaltensmuster
Veränderungen ihrer Umwelt, wie zum Beispiel umgestellte Möbel oder ein anderer Schulweg, beunruhigen und verunsichern manche autistische Menschen. Manchmal geraten Betroffene auch in
Panik, wenn sich Gegenstände nicht mehr an ihrem gewöhnlichen Platz oder in einer bestimmten
Anordnung befinden, oder es bringt sie ein unangekündigter Besuch oder spontaner Ortswechsel
völlig aus der Fassung. Die Tatsache, dass Menschen mit Autismus eine intensivere Wahrnehmung
für Details haben und daher auch kleine Veränderungen bemerken können, verschlimmert dieses
Problem. Handlungen laufen meist ritualisiert ab und Abweichungen von diesen Ritualen führen zu
Chaos im Kopf, denn autistische Menschen haben bei unerwarteten Veränderungen von Situationen
oder Abläufen keine alternativen Strategien.
Unter stark autistischen Betroffenen anzutreffende repetitive Stereotypien können sein: Jaktationen
(Schaukeln mit Kopf oder Oberkörper), im Kreis umher gehen, Finger verdrehen, Oberflächen betasten, und vereinzelt auch selbstverletzendes Verhalten wie z.b. Finger blutig knibbeln, Nägel bis über
das Nagelbett hinaus abkauen, Kopf anschlagen, mit Hand an Kopf schlagen, sich selbst kratzen,
beißen oder anderes. Dieses selbst verletzende Verhalten hinterlässt mehr oder weniger sichtbare
Spuren wie Biss-Spuren, Narben und verschorfte Wunden auf der Haut und an den Armen, welche
jedoch nicht zu verwechseln sind mit dem bewusst selbstverletzendem Verhalten bei der BorderlinePersönlichkeitsstörung welches aus der Motivation suizidaler Tendenzen heraus entsteht und ein
anderes (suizidales) Verletzungsmuster aufweist.
Atypischer Autismus (F84.1)
Atypischer Autismus, auch psychogener Autismus oder frühkindlicher Autismus mit atypischem Erkrankungsalter oder Symptomatik genannt, unterscheidet sich vom frühkindlichen Autismus dadurch,
dass Kinder nach dem dritten Lebensjahr erkranken (atypisches Erkrankungsalter) oder nicht alle
Symptome aufweisen (atypische Symptomatik).
Autistische Kinder mit atypischem Erkrankungsalter zeigen hinsichtlich der Symptome das Vollbild
des frühkindlichen Autismus, das sich bei ihnen aber erst nach dem dritten Lebensjahr manifestiert.
Autistische Kinder mit atypischer Symptomatik legen Auffälligkeiten an den Tag, die für den frühkindlichen Autismus typisch sind, jedoch die Diagnosekriterien des frühkindlichen Autismus nicht vollständig erfüllen. Dabei können sich die Symptome sowohl vor als auch nach dem dritten Lebensjahr
manifestieren.
Wenn atypischer Autismus zusammen mit erheblicher Intelligenzminderung auftritt, wird manchmal
auch von „Intelligenzminderung mit autistischen Zügen“ gesprochen.
Diagnosekriterien Asperger-Syndrom (F84.5)
Soziale Beeinträchtigung (extreme Ichbezogenheit)
(mindestens zwei der folgenden Merkmale)
1. Unfähigkeit, mit Gleichaltrigen zu interagieren
2. mangelnder Wunsch, mit Gleichaltrigen zu interagieren
3. mangelndes Verständnis für soziale Signale
4. sozial und emotional unangemessenes Verhalten
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Eingegrenzte Interessen
(mindestens eins der folgenden Merkmale)
1. Ausschluss anderer Aktivitäten
2. repetitives Befolgen der Aktivität
3. mehr Routine als Bedeutung
Repetitive Routinen
(mindestens eins der folgenden Merkmale)
1. für sich selbst, in Bezug auf bestimmte Lebensaspekte
2. für andere
Rede- und Sprachbesonderheiten
(mindestens drei der folgenden Merkmale)
1. verzögerte Entwicklung
2. (oberflächlich gesehen) perfekter sprachlicher Ausdruck
3. formelle, pedantische Sprache
4. seltsame Prosodie, eigenartige Stimmmerkmale
5. beeinträchtigtes Verständnis einschließlich Fehlinterpretationen von wörtlichen/implizierten Bedeutungen
Nonverbale Kommunikationsprobleme
(mindestens eines der folgenden Merkmale)
1. begrenzte Gestik
2. unbeholfene oder linkische Körpersprache
3. begrenzte Mimik
4. unangemessener Ausdruck
5. eigenartig starrer Blick
Motorische Unbeholfenheit
Mangelnde Leistung bei Untersuchung der neurologischen Entwicklung
Obwohl viele Verhaltensweisen das soziale Netz der Betroffenen, insbesondere der nächsten Bekannten und der Familie, stark in Anspruch nehmen, sind es nicht nur negative Aspekte, die AS qualifizieren. Es gibt zahlreiche Berichte über das gleichzeitige Auftreten von überdurchschnittlicher
Intelligenz oder auch von – für als normal geltende Menschen unfassbaren – Inselbegabungen.
Leichtere Fälle von AS werden im Englischen umgangssprachlich auch als „Little Professor Syndrome“, „Geek Syndrome“ oder „Nerd Syndrome“ bezeichnet.
Soziale Interaktion
Das wohl schwerwiegendste Problem für Menschen mit AS ist das beeinträchtigte soziale Interaktionsverhalten. Beeinträchtigt sind zwei Bereiche: zum einen die Fähigkeit, zwanglose Beziehungen zu
anderen Menschen herzustellen, und zum anderen die nonverbale Kommunikation.
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Kindern und Jugendlichen fehlt in der Regel der Wunsch, Beziehungen zu Gleichaltrigen herzustellen. Dieser Wunsch entsteht normalerweise erst in der Adoleszenz, meist fehlt dann aber die Fähigkeit dazu.
Die Beeinträchtigungen im Bereich der nonverbalen Kommunikation betreffen sowohl das Verstehen
nonverbaler Botschaften anderer Menschen als auch das Aussenden eigener nonverbaler Signale.
Als besonders problematisch erweist sich die soziale Interaktion, da Menschen mit AspergerSyndrom nach außen hin keine offensichtlichen Anzeichen einer Behinderung haben. So können
selbst Menschen, die sich ansonsten durch Toleranz gegenüber ihren behinderten Mitmenschen
auszeichnen, die Schwierigkeiten von Menschen mit Asperger-Syndrom als bewusste Provokation
empfinden. Wenn etwa eine betroffene Person auf eine an sie gerichtete Frage nur mit Schweigen
reagiert, wird dies oft als Sturheit und Unhöflichkeit gedeutet.
Im Alltag macht sich die schwierige soziale Interaktion vielfältig bemerkbar. Menschen mit AS können
schlecht Augenkontakt mit anderen Menschen aufnehmen oder halten. Sie vermeiden Körperkontakt,
wie etwa Händeschütteln. Sie sind unsicher, wenn es darum geht, Gespräche mit anderen zu führen,
besonders wenn es sich um eher belanglose (Smalltalk) handelt. Soziale Regeln, die andere intuitiv
beherrschen, verstehen Menschen mit AS nicht intuitiv, sondern müssen sie sich erst mühsam aneignen. Daher haben Menschen mit AS oft keine oder kaum Freunde. In der Schule etwa sind sie in
den Pausen lieber für sich, weil sie mit dem üblichen Umgang anderer Schüler untereinander nur
wenig anfangen können. Im Unterricht sind sie in der Regel wesentlich besser im schriftlichen als im
mündlichen Bereich. In der Ausbildung und im Beruf macht ihnen der fachliche Bereich meist keine
Schwierigkeiten, nur der Smalltalk mit Kollegen oder der Kontakt mit Kunden. Auch das Telefonieren
kann Probleme bereiten. Im Studium können mündliche Prüfungen oder Vorträge große Hürden darstellen. Da auf dem Arbeitsmarkt wohl in allen Bereichen Kontakt- und Teamfähigkeit genauso viel
zählen wie fachliche Eignung, haben Menschen mit AS Probleme, überhaupt eine geeignete Stelle zu
finden. Viele sind selbstständig, jedoch können sie sich bei Problemen mit Kunden kaum durchsetzen, etwa wenn ein Kunde nicht bezahlt. In einer Werkstatt für behinderte Menschen indes wären sie
völlig unterfordert. Die meisten Menschen mit AS können durch hohe Schauspielkunst nach außen
hin eine Fassade aufrecht erhalten, so dass ihre Probleme auf den ersten Blick nicht direkt sichtbar
sind, jedoch bei persönlichem Kontakt durchscheinen, etwa in einem Vorstellungsgespräch. Menschen mit AS gelten nach außen hin zwar als extrem schüchtern, jedoch ist das nicht das eigentliche
Problem. Schüchterne Menschen verstehen die sozialen Regeln, trauen sich aber nicht, sie anzuwenden. Menschen mit AS würden sich trauen sie anzuwenden, verstehen sie aber nicht und können
sie deshalb nicht anwenden. Die Empathie ist bei Menschen mit AS eingeschränkt. Menschen mit AS
können sich schlecht in andere Menschen hineinversetzen und deren Stimmungen oder Gefühle an
äußeren Anzeichen ablesen. Überhaupt können sie nur schwer zwischen den Zeilen lesen und nichtwörtliche Bedeutungen von Ausdrücken oder Redewendungen verstehen. Sie ecken an, weil sie die
für andere Menschen offensichtlichen nonverbalen Signale nicht verstehen. Da es ihnen meist
schwer fällt, Gefühle auszudrücken, passiert es oft, dass ihre Mitmenschen dies als mangelndes persönliches Interesse missdeuten. Auch können sie in gefährliche Situationen geraten, da sie äußere
Anzeichen, die auf eine bevorstehende Gefahr - etwa durch Gewalttäter - hindeuten, nicht richtig deuten können.
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Stereotype Verhaltensmuster und Sonderinteressen
Repetitive und stereotype Verhaltensmuster zeigen Menschen mit AS in ihrer Lebensgestaltung und
in ihren Interessen. Das Leben von Menschen mit AS ist durch ausgeprägte Routinen bestimmt.
Werden sie in diesen gestört, können sie erheblich beeinträchtigt werden. In ihren Interessen sind
Menschen mit AS teilweise auf ein Gebiet beschränkt, auf dem sie meist ein enormes Fachwissen
haben. Ungewöhnlich ist das Ausmaß, mit dem sie sich ihrem Interessensgebiet widmen; für andere
Gebiete als das eigene sind sie meist nur schwer zu begeistern. Da Menschen mit AS meist gut logisch denken können, liegen ihre Interessensgebiete oft im mathematisch-naturwissenschaftlichen
Bereich, aber auch andere Gebiete sind möglich.
Differentialdiagnose
Autistische Verhaltensweisen können auch bei anderen Syndromen und Krankheiten auftreten. Von
diesen muss Autismus abgegrenzt werden.
Wesentliches Unterscheidungskriterium zur Schizophrenie ist das Auftreten von Halluzinationen und
Wahn, die bei Autismus nicht vorkommen.
Von autistischem Verhalten bei psychischem Hospitalismus, Kindesmisshandlung und Verwahrlosung unterscheidet sich Autismus dadurch, dass er primär, also von Geburt an, auftritt. Die typischen Verhaltensweisen werden bei Autisten nicht durch falsche Erziehung, mangelnde Liebe, Misshandlung oder Verwahrlosung ausgelöst. In jenen Fällen verschwindet das autistische Verhalten bei
Besserung der äußeren Umstände wieder, wohingegen Autismus nicht heilbar ist.
Bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung tritt im Gegensatz zu atypischem und frühkindlichem Autismus keine Intelligenzminderung auf. Eine Abgrenzung zu hochfunktionalem Autismus und Asperger-Syndrom kann im Einzelfall schwierig sein. Hierbei ist die Anamnese wichtig. [2] Außerdem verschaffen neuropsychologische Testverfahren Klarheit.
Bei Menschen mit Zwangshandlungen (obsessiv-kompulsive Störung) ist die Sozial- und Kommunikationsfähigkeit normal ausgeprägt. Im Gegensatz zu Menschen mit Zwangshandlungen erleben Autisten ihre Routinen nicht als gegen ihren Willen aufgedrängt, sondern sie schaffen ihnen Sicherheit und
sie fühlen sich mit ihnen wohl.
Bei der Bindungsstörung ist das Sprachvermögen – anders als beim atypischen und frühkindlichen
Autismus – intakt. Eine Abgrenzung zu hochfunktionalem Autismus und Asperger-Syndrom kann im
Einzelfall schwierig sein. Der Anamnese kommt hier eine wichtige Rolle zu. Neuropsychologische
Tests sind eine weitere Grundlage einer klaren Differenzierung.
Das Fragiles-X-Syndrom (sog. Martin-Bell-Syndrom: geistige Behinderung bei Jungen, typisches äußeres Erscheinungsbild mit großen Ohren, später großen Hoden) wird durch einen genetischen Defekt ausgelöst, der mit entsprechenden Analysemethoden eindeutig nachgewiesen und vom Autismus unterschieden werden kann.
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Bei Magersucht können rigide Essgewohnheiten und soziale Isolation aufreten, die an hochfunktionalen Autismus oder Asperger-Syndrom erinnern. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zum Autismus ist, dass bei Magersucht beide Symptome nur zeitlich begrenzt auftreten und nach Behebung
der Ursache wieder verschwinden.
Von der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine Abgrenzung leicht möglich, denn obwohl bei
beiden Erscheinungen Aggressionen und selbstverletzendes Verhalten beobachtet werden können,
sind Menschen mit einer BPS in ihrem gesamten Wesen grundverschieden zu Menschen mit Autismus. Zur sicheren Differenzialdiagnostik ist eine länger andauernde Beobachtung, z.B. in einer stationären Einrichtung, ratsam.
Autismus kommt selten wirklich allein… komorbide Störungen
Zusammen mit Autismus können verschiedene komorbide Störungen auftreten. Komorbide Störungen können sein:
• AD(H)S
• Depressionen,
Psychosen,
Phobien,
posttraumatische
Belastungsstörungen,
Zwangsstörungen, Essstörungen, Schlafstörungen; bleibt die autistische Störung lange Zeit
unerkannt und unbehandelt, können sich verschiedenartige zusätzliche Störungen wie ein Fächer
ausbreiten. Dies ist auch der Grund, warum eine frühe Diagnose so wichtig ist.
• Epilepsie
• Nonverbale Lernstörung
• Prosopagnosie (Gesichtsblindheit); Schwierigkeiten, Gesichter zu erkennen. Manche Menschen mit Autismus nehmen Menschen und Gesichter wie Gegenstände wahr. In jüngsten Untersuchungen wurde festgestellt, dass manche Menschen mit Autismus die visuellen Informationen
beim Betrachten von Personen und Gesichtern in einem Teil des Gehirns verarbeiten, der eigentlich für die Wahrnehmung von Objekten zuständig ist. Ihnen fehlt dann die intuitive Fähigkeit, Gesichter im Bruchteil einer Sekunde zu erkennen und Ereignissen zuzuordnen.
• Tourette-Syndrom
• Chromosomenanomalien
• Fragiles-X-Syndrom
• Tuberöse Sklerose
Häufigkeit
Frühkindlicher Autismus tritt mit einer Häufigkeit von 0,5% auf, wobei das Verhältnis von Jungen zu
Mädchen bei 4:1 liegt.
Zur Häufigkeit von atypischem Autismus gibt es keine systematischen Studien.
Über die Häufigkeit des Asperger-Syndroms gibt es nur grobe Schätzungen, wobei sich die Zahlen in
den letzten Jahren mit zunehmendem Bekanntheitsgrad des Syndroms erhöht haben. Vor 1980 Geborene wurden in der Regel – oft bis heute – nicht erkannt. Im Extremfall sind laut Schätzungen bis
zu 1,5% der Bevölkerung betroffen. Das Asperger-Syndrom tritt bei deutlich mehr Männern als Frauen auf, wobei die Angaben des Zahlenverhältnisses von 4:1 bis 8:1 schwanken. Das mag daran liegen, dass sich das Asperger-Syndrom bei Frauen durch ihre andere Sozialisation teilweise unauffälli-
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ger äußert. Möglicherweise können Frauen durch sozialere Verhaltensmuster, Nachahmung und
Schauspielerei, stärkeren Bezug auf Kommunikation und weniger spielende Interaktion die negativen
Aspekte besser ausgleichen, durch weniger auffällige Besonderheiten oder Verwerfungen mit Auffälligkeiten weniger in Erscheinung treten oder schlicht eine bessere Langzeitprognose haben, da sie
besser in der Lage sind zu lernen, wie man mit anderen Menschen umgeht. Insgesamt ist noch einiges an Forschungs- und Aufklärungsarbeit nötig, um angemessenere Zahlen ermitteln zu können.
Schule, Ausbildung, Beruf
Welche Form der Beschulung für Menschen mit Autismus geeignet ist, hängt von Intelligenz, Sprachentwicklung und Ausprägung des Autismus beim Einzelnen ab. Sind Intelligenz und Sprachentwicklung normal ausgeprägt, können Kinder mit Autismus eine Regelschule besuchen. Andernfalls kann
der Besuch einer Lernhilfe- oder Sonderschule in Betracht gezogen werden. Betont werden muss,
dass es hier keine spezielle Schulform für autistische Kinder oder Kinder mit Asperger-Autismus gibt,
sondern dass die betroffenen Kinder – ihrer Begabung entsprechend – im Prinzip in allen Schultypen
unterricht werden können. Ggf. sind zeitlich umschriebene Integrationshilfen sinnvoll; darüber muss
auf Antrag in der Regel das Jugendamt (bzw. das Gesundheitsamt) entscheiden.
Hinsichtlich Ausbildung und Beruf muss ebenfalls der individuelle Entwicklungsstand des Einzelnen
berücksichtigt werden. Sind Intelligenz und Sprachentwicklung normal ausgeprägt, kann ein reguläres Studium oder eine reguläre Berufsausbildung absolviert werden. Andernfalls kann etwa eine Tätigkeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen in Betracht gezogen werden. In jedem Fall ist es
für die Integration und das Selbstwertgefühl autistischer Menschen sehr wichtig, einer Tätigkeit nachgehen zu können, die ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen entspricht.
Problematisch kann der Einstieg ins reguläre Berufsleben werden, da viele Autisten die hohen sozialen Anforderungen der heutigen Arbeitswelt nicht erfüllen können. Verständnisvolle Vorgesetzte und
Kollegen sind für Menschen mit Autismus unerlässlich. Wichtig sind außerdem geregelte Arbeitsabläufe und überschaubare Sozialkontakte.
Therapieansätze
Ausgehend vom individuellen Entwicklungsprofil des Patienten wird ein ganzheitlicher Behandlungsplan aufgestellt, in dem die Art der Behandlung einzelner Symptome festgelegt und die einzelnen
Behandlungsarten aufeinander abgestimmt werden. Bei Kindern wird das gesamte Umfeld (Eltern,
Familien, Kindergarten, Schule) in den Behandlungsplan einbezogen.
Verhaltenstherapie
Die Verhaltenstherapie ist in der Autismustherapie die am besten wissenschaftlich abgesicherte Therapieform. Ziel ist es, einerseits störende und unangemessene Verhaltensweisen wie übermäßige
Stereotypien oder (auto)aggressives Verhalten abzubauen und andererseits soziale und kommunikative Fähigkeiten aufzubauen. Im Prinzip wird dabei so vorgegangen, dass erwünschtes Verhalten
durchgängig und erkennbar belohnt wird (positive Verstärkung). Verhaltenstherapien können entweder ganzheitlich oder auf einzelne Symptome ausgerichtet sein.
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Soziales Kompetenztraining
Erwachsene Autisten mit gut ausgeprägten sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten können soziale und kommunikative Fähigkeiten beispielsweise in Patientengruppen trainieren. Bei sozialem
Kompetenztraining finden sich Menschen mit vergleichbaren Auffälligkeiten zusammen, um unter
fachkundiger Anleitung ihre Sozialkompetenz zu verbessern.
Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie
Die Ergotherapie umfasst handwerkliche, gestalterische sowie spielerische Übungen. Einen elementaren Bereich stellt das Üben lebenspraktischer Tätigkeiten dar. Durch Verbesserung, Wiederherstellung oder Kompensation der beeinträchtigten Fähigkeiten soll dem Patienten eine möglichst große
Selbstständigkeit und Handlungsfreiheit im Alltag ermöglicht werden.
Motorische Defizite können durch Physiotherapie abgebaut werden.
Sprachauffälligkeiten in Lautstärke, Tonlage, Geschwindigkeit und Modulation können durch
Logopädie normalisiert werden.
Medikamentöse Behandlung
Die medikamentöse Behandlung kann eine Komponente im Gesamtbehandlungsplan sein. Beispielsweise bei Hyperaktivität, Wutausbrüchen, selbstverletzendem Verhalten und Depressionen
können Medikamente Besserung verschaffen. Jedoch können durch Medikamente nicht die Ursache
des Autismus behandelt werden.
Bei komorbiden Aufmerksamkeitsstörungen bietet sich die Gabe von Methylphenidat an, bei aggressiv-impulsivem Verhalten die Verordnung von Risperidon, bei Zwängen eines SerotoninWiederaufnahme-Hemmers z. B. Fluctin oder Fevarrin und bei Ängsten auch z.B. von Buspiron.
Ergänzende Maßnahmen
Mögliche ergänzende Methoden sind etwa Musiktherapie, Kunsttherapie, Massagetherapie,
Reittherapie oder Delfintherapie. Sie können die Lebensqualität steigern, indem sie auch positiv auf
das Selbstwirksamkeitserleben der Betroffenen wirken.
Entstehung
Man geht heute davon aus, dass Autismus genetische Ursachen hat. Die noch bis in die 1960er Jahre vertretene These, Autismus entstehe aufgrund der emotionalen Kälte der Mutter bzw. des Vaters,
durch lieblose Erziehung, mangelnde Zuwendung oder psychische Traumata, gilt heute als widerlegt.
Genetische Faktoren
Bei Familienstudien wurde festgestellt, dass es eine familiäre Häufung von Autismus gibt. Genetische
Faktoren sind daher als Ursache für Autismus sehr wahrscheinlich. Zwillingsuntersuchungen aus
Europa und den USA zeigen, dass ein eineiiges autistisches Zwillingskind mit sehr viel größerer
Wahrscheinlichkeit (zirka 95,7%) einen autistischen Zwilling hat, als ein zweieiiges Zwillingskind.
Daraus ließe sich zunächst folgern, dass die Ursache genetischer Art ist. Da aber nicht alle eineiigen
autistischen Zwillingskinder einen autistischen Zwilling haben, lässt sich keine allgemeingültige Erklä-
Herausgeber: Dr. Jochen Gehrmann
Chefarzt Klinik für Kinder- u.
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rung auf genetischer Basis finden. Aber nach den bisherigen Erkenntnissen aus diesen Familien- und
Zwillingsuntersuchungen wird davon ausgegangen, dass die Entstehung der Erkrankung durch eine
Kombination verschiedener spezifischer Gene (sicher mehr als zwei) bedingt ist, die wahrscheinlich
insbesondere während der Gehirnentwicklung aktiv sind.
Morphologische Veränderungen
Verschiedene Studien haben ergeben, dass manche Menschen mit Autismus Hirnschädigungen haben. Jedoch sind hier die Befunde uneinheitlich und es ist auch nicht klar, ob die Hirnschäden Autismus verursachen, ob der Autismus zu Hirnveränderungen führt, oder ob die Hirnschäden lediglich ein
Korrelat des Ereignisses sind, durch das der Autismus verursacht wurde. Festgestellt wurden insbesondere eine Funktionsstörung der linken Gehirnhälfte, abnorme Veränderungen des Stammhirns in
Kombination mit Aufmerksamkeitsdefizit sowie Störungen in der sensorischen Reizverarbeitung. Jedoch besteht in diesem Bereich noch weiterer Forschungsbedarf. Es gibt auch Hinweise darauf, dass
die Spiegelneuronen bei Menschen mit Autismus nicht hinreichend funktionstüchtig sind. Spiegelneurone sind Nervenzellen, die vorrangig aktiviert werden, wenn gesunde Menschen ähnliche Empfindungen (Gedanken, Gefühle, Handlungsimpulse) wie ihr Gegenüber haben.
Biochemische Besonderheiten
Bei Untersuchungen von Menschen mit Autismus wurden Besonderheiten im biochemischen Bereich
festgestellt. Teilweise weisen sie einen erhöhten Dopamin-, Adrenalin-, Noradrenalin- und
Serotoninspiegel auf. Jedoch sind die Befunde in diesem Bereich uneinheitlich und lassen keine allgemeingültigen Schlüsse zu. Es gibt Berichte, nach denen eine kasein- und glutenfreie Diät zu einer
Besserung der Symptome beigetragen hat. Insgesamt ist der Einfluss von Diäten aber umstritten.
Gefühlsblindheit (Mindblindness Theory)
Leo Kanner selbst ging davon aus, dass Kinder mit Autismus Defizite im affektiven Kontakt aufweisen, dass also ihre Fähigkeit, anhand der Körpersprache anderer Menschen deren Gefühle zu erkennen, eingeschränkt ist. Dies wird auf kognitive Defizite (Gefühlsblindheit, engl. mindblindness)
zurückgeführt. Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten zu verstehen, dass Menschen unterschiedliche Empfindungen haben. Außerdem wurde festgestellt, dass Autisten (im Gegensatz zu neurologisch typischen Menschen) Objekte und Menschen in der gleichen Gehirnregion wahrnehmen.
Underconnectivity Theory
Die Underconnectivity Theory sieht die Ursache von Autismus in einem Mangel in der Koordination
unter den verschiedenen Gehirnbereichen. In fMRI-Aufnahmen (funktionelle Kernspintomographie)
wurde festgestellt, dass bei Autisten Verbindungen zwischen Gehirnregionen fehlen. Diese Theorie
erklärt, warum bei Autisten die Intelligenz ungleichmäßig ausgeprägt ist.
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