Nr. 5 (Sep - Nov 2016)

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Reihe 5
Das Magazin der Staatstheater Stuttgart
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett / Schauspiel Stuttgart
Nr.5 Sept – Nov 2016
Probier’s mal!
Ein Heft über die
Kraft der
Grenzüberschreitung
EDITORIAL
SCHWERPUNKT
GRENZ­
ÜBERSCHREITUNG
Neue Territorien,
­unbekannte Orte,
Forschergeist und
Neugier. Willkommen
im Land des aufkom­
menden Kribbelns,
dem Reich außerhalb
der Komfort­zone.
Ein Heft über
das Jenseits hinter den
bekannten Grenzen
www.porsche.de/SocialResponsibility
Kraft ist nichts ohne Eleganz.
Und Eleganz nichts ohne Kraft.
Porsche ist stolz auf die erfolgreiche Partnerschaft mit dem
Stuttgarter Ballett und wünscht Ihnen erstklassige Unterhaltung.
Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 12,6–10,4 · außerorts 6,8–6,7 · kombiniert 9,0–8,0; CO2-Emissionen 208–184 g/km
Titelmotiv: David Wile & April Maciborka Foto: Daniel Seiffert (aus dem Buch »Kraftwerk Jugend«) / www.danielseiffert.com
Ausbruch? Oder Einbruch? Abenteuer? Flucht? Krimi? Spaß?
Des einen Zaun kann des anderen Herausforderung sein
Wir werden, wir sind, wir leben, indem
wir Grenzen überschreiten Michael Matthiass (Seite 18)
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
für uns liegt das Schwerpunktthema auf
der Hand, es hängt in der Luft, in den
Themen der Sparten steckt es sowieso.
Wir könnten es auch »Grenzen durchbrechen« nennen. Grenzen überwinden,
Grenzen einreißen. Ballett, Oper und
Schauspiel: Sie alle setzen sich zurzeit
mit Grenzen auseinander. Es geht um
Internationalität und Offenheit, Leistung
und Fortschritt, Moral und Verantwortung.
Der Begriff »Grenzen« allein wäre zu
pädagogisch, zu brav. Die Überwindung von
Grenzen aber ist ein Bekenntnis, das
wir direkt aus den Gesprächen und Spielplänen ableiten. Die Oper hat es in ihrem
Spielzeit-Motto »Oper ohne Grenzen«
thematisiert. Und mit The Opera Platform
gibt es ein Projekt, das Häuser und Zuschauer in ganz Europa vernetzt (Seite 39).
Ebenso aktuell: Faust, dieser Grenzgänger der Wissenschaften (Seite 34). Das
Programm des Schauspiels steckt voller
Grenzüberschreitungen und Grenzbrecher.
Wie zum Beispiel bringt man Lolita,
Nabokovs Skandalroman über einen Pädophilen, auf die Bühne (Seite 22)?
Und das Ballett? 23 Nationen ­beherbergt
das Stuttgarter Ballett; Nationalität ist
für die Tänzer kein Thema von Belang (Seite 28). Jedoch wenn die ­Compagnie verreist, sollte jeder wissen, wo der Reise­pass
steckt (Seite 43). Unser Heft widmet sich
den Überschreitern von Grenzen, den
Infragestellern, den Reisenden,
den Internationalen, Verschiebern,
Entdeckern, Provokateuren.
Wir alle brauchen Grenzen, um uns
zu spüren. Ob sie welche sind, an denen
wir rütteln, die wir gern setzen oder
überspringen wollen, liegt an uns. Hauptsache, wir bleiben darüber im Gespräch.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen
grenzenlose Unterhaltung. Und freuen
uns auf Sie!
Die Staatstheater Stuttgart
3
INHALT
44
Junge Seite
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer
Oper und einem Musical?
3
Editorial
FOYER
6
12
Momente
13
Das Requisit
14
16
28
Bilder
Virtuose
Grenzgänger
Mein Weg
Strawinsky, Curie, die Bezwinger
des Mount Everest – niemand
ließ sich von einem »Geht nicht«
aufhalten
Erst ein Professor nahm ihr die Angst davor,
im Mittelpunkt zu stehen: In Stuttgart präsentiert Lea Ruckpaul jetzt ihre Paraderolle
Sie war Mozarts Königin der Nacht und
eine Rocksängerin. Doch die Solistin
Ana Durlovski kann auch Barock. Und wie!
BÜHNE: GRENZENLOS
18
Im Stuttgarter Ballett
stehen 23 Nationalitäten
auf der Bühne
Lob der Neugier
22
26
Die vielen Gesichter Lolitas
Lachen ist ein Schock
Der Regisseur Sebastian Hartmann spricht
über Humor auf der Theaterbühne –
und erzählt seinen Lieblingswitz
28
Nationalität: Tanz
Japan, Brasilien, Türkei: Die Tänzerinnen
und Tänzer des Stuttgarter Balletts ver­
körpern die Idee einer Weltgemeinschaft
34
Die Verwandlung des Faust
Wie uns ein alter Stoff immer wieder in
neuer Form begegnet – und was uns das
über den Zustand unserer Welt sagt
Hollywoodreif
Wie Stanley Kubrick den
Schriftsteller Vladimir
Nabokov um ein Drehbuch bat und es nicht
verfilmte. Die Geschichte
einer Täuschung
40
39
Oper für daheim
15 der besten Opernhäuser und Festivals
Europas übertragen ihre Produktionen
auch als Livestream und im Download
In fremden Betten
Wie fühlt man sich unterwegs zu Hause?
Ein Gespräch über das Leben im Hotel
Das Wesen des Lebens besteht darin,
Grenzen zu erkennen – und zu verschieben
Von Nabokovs Roman über Kubricks
Hollywoodverfilmung zur Popikone
22
BACKSTAGE
Fotos: Roman Novitzky; getty images / Moviepix; Jim Rakete / photoselection Illustrationen: von Zubinski; Anje Jager
Vereinte
Nationen
4
18
41
In der Probe
Was eine Zuschauerin bei einer Bauprobe
des Schauspiels erlebte
42
Mein Arbeitsplatz
12
Mein Klang
Wie nur ein Akkord einen Leonard-Cohen-Song prägt
Die lnspizientin Almut Bracher über
die Aufregung eines Opernabends
42
Am Gang
Wie schlüpft Diana Haller in die Rolle eines
Mannes? Indem sie studiert, wie er läuft
43
Hausbericht
Wenn das Stuttgarter Ballett auf Reisen geht
44
Junge Seite
Für neugierige Knirpse – und alle anderen,
die Großes erfahren wollen
46
Was war da los?
Ein Foto und seine Geschichte
46
Impressum
34
Wegweiser
In unruhigen Zeiten
suchen wir Orientierung bei Goethes
Faust. Warum,
erklärt die Schriftstellerin Thea Dorn
5
Völlig losgelöst
Für die einen ist sie Rückzug und
(Be)sinnlichkeit, die anderen
machen sie lieber zum Tag. Zu allen
Zeiten waren Komponisten
fasziniert, wie die Nacht unsere
Stimmung verändert. Einen kleinen
Einblick in den Kosmos ihrer Musik
gibt das 1. Kammerkonzert mit der
Langen Nacht der Nachtmusiken
am 19. Oktober 2016 im Mozartsaal der Liederhalle. Sie sehen
hier: den Himmel im Opernhaus
bei einer Peter Pan-Vorstellung
6
7
Foto: A.T. Schaefer
FOYER
FOYER
Foto: diwafilm / Walter Harrich
Feuerschlange
Man stelle sich vor: Der Tote, Opfer
des mexikanischen Drogenkriegs,
wurde mit einem deutschen Sturmgewehr erschossen, das dort gar
nicht sein dürfte (Auszug aus der
TV-Dokumentation Tödliche Exporte). Man stelle sich vor: Täglich geschieht dies an vielen Orten in der
Welt. In ihrem Theaterstück Feuerschlange zeichnen Philipp Löhle
und Dominic Friedel die verschlungenen Wege deutscher Waffen
nach. Ab 29. Oktober im Nord
8
9
FOYER
Foto: Stuttgarter Ballett
Vorfreude
Endlich! Die widerspenstige
Katharina ist gebändigt, die Freier
dürfen vor die jüngere Schwester
Bianca treten und buhlen. Doch
trifft ihr euphorischer Pas de trois
bald auf ein neues Hindernis,
wenn sie sich durchs enge Schloss­
tor quetschen müssen. Keine
Schlüsselszene aus John Crankos
Ballettkomödie Der Wider­
spenstigen Zähmung – doch eine,
die kein Zuschauer vergisst. Ab
29. September 2016 im Opernhaus
10
11
FOYER
Aufs richtige Pferd gesetzt
Wie flüstert
man, dass man
es auch in der
hintersten
Reihe hört?
MARIETTA MEGUID (51),
Schauspielerin im Ensemble des
Schauspiels Stuttgart, antwortet:
Wichtig ist zunächst eine gute
Akustik im Saal. Und dann
die Bühnensituation: Irgendwie
muss der Fokus auf den
Flüsterer übergehen, durch
eine plötzliche Bewegung,
anderes Licht. Damit richtet
sich die Aufmerksamkeit der
Zuschauer auf den Sprecher.
Als Schauspielerin brauche
ich natürlich eine gute
Sprechtechnik. Die Konsonan­
ten müssen leisen Vokalen
den Absprung ermöglichen,
wie eine Art Trampolin;
bei dem Wort Gott kommt es
also stark auf das G und
das T an. Technik allein reicht
aber nicht: Ich muss den
Gedanken transportieren, der
hinter dem leisen Sprechen
steht, damit mich das Publikum
überhaupt hören möchte.
Ein gutes Beispiel dafür ist
ein leises Ach – mit diesem
Wort lässt sich so viel
ausdrücken! Deshalb freut
es mich besonders, wenn
mir Zuschauer dafür
gratulieren, dass sie mich
sehr gut verstehen.
Wenn Sie auch eine
Frage haben, dann schreiben
Sie uns eine E­Mail an
reihe5@staatstheater­stuttgart.de
12
Mein Klang »Dieser Akkord verändert den
Song Chelsea Hotel #2 von Leonard
Cohen ganz wesentlich: Das vorher positiv
klingende Lied wird sehr melancholisch.
Cohen beschreibt darin eine Nacht, die er
mit der Sängerin Janis Joplin verbrachte.
Sie wusste nicht, wer er war. Die beiden
haben sich nicht wiedergesehen. Diese
Geschichte hat mich sehr berührt. Sie war
der Auslöser für das Projekt Chelsea Hotel.«
HANNA PLASS ist Schauspielerin und entwi­
ckelte gemeinsam mit Sébastien Jacobi und Max
Braun den musikalischen Abend Chelsea Hotel.
Premiere am 23. September im Kammertheater
Mein Moment »Ich liebe es,
das Eröffnungssolo in Edward
Clugs Choreographie Ssss …
zu tanzen! Clugs Stück zu der
Musik von Frédéric Chopins
Nocturnes beschwört die Stimmung um Mitternacht herauf,
wenn die Welt still und in tiefes
Blau getaucht ist. Damit auf
die Bühne zu gehen ist sehr befreiend und ganz ohne Stress.
Es war das erste große Solo, das
ich getanzt habe, auch bei dem
wichtigen Gastspiel des Stuttgarter Balletts in London 2013.«
auf vier höhenverstellbaren Holzbeinen Schwingel. Er empfahl ihn
jungen Burschen, um Sprünge und
Schwünge mit gegrätschten Beinen
zu trainieren. Wo sich normalerweise
der Sattel befände, hat das Seitpferd
Pausche oder Griffholme; bis heute ist
es ein reines Männerturngerät.
Ob Choreograph John Cranko für
seine 1969 in Stuttgart uraufgeführte
Ballettkomödie Der Widerspenstigen
Zähmung den Holzgaul genau
deshalb als Begleiter des Helden
Petruchio wählte? Gut möglich!
In zehn Bildern erzählt Cranko
die auf William Shakespeares The
Taming of the Shrew fußende Geschichte der kratzbürstigen Katharina,
die mit dem Edelmann Petruchio
verheiratet werden soll. Der begegnet
ihr zunächst als Berserker, um sich
analog zu ihrer Verwandlung zum
liebenden Partner zu mausern. Insider
wissen: Cranko nutzte die Komödie,
um Richard Cragun – den ersten
Petruchio – in seiner Beziehung zur
älteren Marcia Haydée zu stärken:
auf der Bühne wie im Privaten.
Das Seitpferd, ergänzt um Kopf,
Mähne und Schweif, hat seinen Auftritt im zweiten Akt: Mehr an dessen
Bauch hängend als auf dem Rücken
reitend, erreicht Katharina die Herberge ihres Mannes als verängstigtes
Weib. Auf einem zweiten Ritt in
umgekehrter Richtung gilt dann: Was
sich (noch uneingestanden) liebt,
das neckt sich. Bei diesen Scherzen
spielt die olle Schindmähre eine tolle
Rolle. Julia Lutzeyer
DER WIDERSPENSTIGEN ZÄHMUNG
Ballett von John Cranko nach William
Shakespeare
Ab 29. September 2016 im Opernhaus
PABLO VON STERNENFELS
ist Solist beim Stuttgarter Ballett.
In Edward Clugs Ssss … tanzt er
im September bei einem Gastspiel
des Stuttgarter Balletts in Maribor
und im Rahmen des Ballettabends
NACHTSTÜCKE ab dem 24. März
2017 im Schauspielhaus
Sprecht leise, haltet euch
zurück, wir sind belauscht
mit Ohr und Blick
Meine Szene »Der Satz stammt aus
Fidelio. Über den Köpfen der Häftlinge
hängen Mikrofone, protokollieren jedes
Wort, Scheinwerfer verfolgen kleinste Bewegungen. Jeder Gedanke, jedes Gespräch
in Fidelio entsteht im Bewusstsein der
Überwachung. Wer lauscht? Eine Maschine,
ein politisches System, Datensammler
oder die vermeintlich Verbündeten? Hier
wird kollektives Misstrauen und Unsicherheit ausgesprochen. Eine Situation, die
mich in Hinblick auf unsere digitale Welt
beklommen macht.«
JOHANNA DANHAUSER ist Dramaturgieassis­
tentin an der Oper Stuttgart. Fidelio ist wieder
im Repertoire ab 23. September im Opernhaus
Fotos: Christoph Kolossa; Stuttgarter Ballett; Martin Sigmund
Hanjo Schmidt (71),
Künstler aus Stuttgart, fragt:
Das Requisit Vom Reittier hat das
Turngerät seinen Namen: Seitpferd.
Das kommt nicht von ungefähr. Mit
einer Wettkampflänge von 1,60 Metern ist es einem Pferderücken nachempfunden. In Zeiten vor der
motorisierten Fortbewegung lernten Adelssprosse das Auf- und
Absitzen an Reitpferd-Attrappen.
Eine Fertigkeit, die nicht nur Offizie­
re beherrschen mussten. Und
Holzpferde ließen sich leichter
bändigen als echte Rosse, die
unerwartet auch mal ausschlagen.
Rein sportlich genutzt wurde
die seit der Antike bekannte und
zunächst nur aus Holz gefertigte
Apparatur erstmals von Friedrich
Ludwig Jahn, dem Erfinder des
Geräteturnens. Der landläufig als
Turnvater bekannte Pädagoge nannte
den mit Leder bezogenen Rumpf
13
FOYER
LEA RUCKPAUL
(29) wechselte von
Dresden an das
Schauspiel Stuttgart.
In Bilder deiner
großen Liebe, der
Theaterfassung
des unvollendeten
Romans von
Best­sellerautor
Wolfgang Herrndorf,
stellt sie sich erst­
mals dem Stuttgarter
Publikum vor
Einladung zur Einlieferung
Consignments always welcome
742 | Moderne & Zeitgenössische Kunst
MEIN WEG
Am Start
16. November 2016
Sie ahnte nicht, dass
eine Schauspielerin in ihr
steckt. Jetzt feiert
Lea Ruckpaul große Erfolge
in der Rolle einer
jugendlichen Ausreißerin
14
Keine Rolle hat sie bisher so mitgenommen wie die der
Isa in Bilder deiner großen Liebe. Sie im Mittelpunkt, in
der Rolle einer jugendlichen Ausreißerin. Keine Kulissen,
kein Nebel, fast nur Monologe. Bei einer Aufführung stritten sich in den vorderen Reihen Teenager um die besten Plätze. Ruckpaul geriet ins Stocken. Ihr Kollege, der
sämtliche Männerrollen spielte, rettete sie, indem er eine
seichte Klaviermelodie pfiff. Ruckpaul fand zurück in ihre
Rolle. Die Situation wurde seither bei jeder Aufführung
wiederholt. Die Resonanz ist überwältigend. »Die Leute
sprechen mich an und sagen, dass sie das, was ich zeige,
selbst genauso empfinden«, so Ruckpaul.
Seit September steht sie als neues Mitglied des Stuttgarter Ensembles auf der Bühne, wieder mit Bilder deiner großen Liebe. Aufregend sei das. Vor allem wegen
der neuen Kollegen. »Als Schauspielerin ist man extrem
abhängig von dem Blick, den andere auf einen haben.
Ändert sich das Team, dann ändert sich auch der Blick«,
sagt Ruckpaul. Bei einem ist sie sich aber sicher: »Ich
habe mit tollen Leuten zu tun.« Saphir Robert
BILDER DEINER GROSSEN LIEBE
nach dem Roman von Wolfgang Herrndorf
Stuttgarter Premiere am 24. September 2016 im Nord
2009
Leipzig
2011
Dresden
2016
Stuttgart
Foto: Fabian Schellhorn
W
enn eine Eigenschaft ganz sicher nicht
zu Lea Ruckpaul passt, dann diese: Abgebrühtheit. Schon am Vortag einer Aufführung steigt die Anspannung, mitunter so stark, dass ihr
übel wird oder sie sich den Hals verrenkt. Steht sie auf
der Bühne, hat sie Fluchtgedanken – und wird am Ende
von Publikum und Kritik mit Lob überhäuft. »Vor allem
vor der ersten Aufführung von Bilder deiner großen Liebe
habe ich echt gelitten«, sagt Ruckpaul. Das Leiden lohnte
sich: »Frisch«, »wandlungsfähig«, »energisch« sind Attribute, die ihr im Feuilleton zugeschrieben werden.
Eigentlich wollte die gebürtige Berlinerin Regisseurin
werden, doch die Aufnahmeprüfung an der Ernst-BuschHochschule verlief katastrophal. Bis auf den Moment,
als sie einen Monolog vorsprechen sollte. Wenige Tage
danach traf ein Brief eines der Professoren bei ihr ein: Ob
sie nicht lieber auf statt hinter der Bühne stehen wolle?
Zum Glück hat sie den Rat befolgt.
Zur Ausbildung ging sie nach Leipzig, später nach
Dresden, bekam dort ein Engagement beim Staatsschauspiel. Sie spielte sich nach vorne, als Ophelia in
William Shakespeares Hamlet, als das Mädchen Rita
Seidel in Der geteilte Himmel von Christa Wolf.
Louis Soutter (1871 - 1942)
„Le cordeau métallique“, 1939.
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FOYER
ANA
DURLOVSKI
(38) singt nicht
nur klassische
Arien, sondern
gern auch
Werke zeitge­
nössischer
Komponisten,
um Gehör und
Stimme immer
wieder neu
zu trainieren
MEIN WEG
Die Königin
Ihre Kinder malen sie grundsätzlich mit Krone. Doch Publikum und Presse
lieben die Sopranistin Ana Durlovski auch wegen ganz unfürstlicher Rollen
16
der La Folie stakst sie mit strubbeligem Lockenhaar
und x-beinig in roten Pumps auf die Bühne, die Gitarre
umgehängt, zwitschert, trällert, röhrt ihre Arie, als gäbe
es kein Morgen. »Zum Wegschmeißen toll«, schrieb die
Stuttgarter Zeitung. »Das ist das Großartige an meinem
Job: Ich kann Dinge machen, die man sonst nicht tut«,
sagt Durlovski. Und lobt die Oper Stuttgart, die bei ihren
Produktionen die Individualität der Sänger miteinbeziehe. »Man kann Charaktere darstellen, richtige Geschichten erzählen. Nur dann glauben die Zuschauer, was man
auf der Bühne macht.«
Ab Oktober singt sie die Titelrolle in Alcina von Georg
Friedrich Händel und freut sich darauf, wieder einmal
eine Barockoper aufzuführen. Vielleicht sitzt im Publikum ihr achtjähriger Sohn. Der verfolgte in der vergangenen Spielzeit jede ihrer Rigoletto-Vorstellungen, in der
sie die Rolle der Gilda spielte. Bei allen Aufführungen
war er im Zuschauerraum dabei, ohne Begleitung. Zu
Hause malten die beiden jüngeren Geschwister derweil
die Mutter. Immer mit Krone. Denn schließlich ist Mama
ja die Königin der Nacht. Saphir Robert
ALCINA von Georg Friedrich Händel
Wieder im Repertoire ab 5. Oktober 2016 im Opernhaus
1999
Skopje
Mazedonien
2001
Wien
Österreich
2006
Mainz
Deutschland
2009
Stuttgart
Deutschland
Foto: Martin Sigmund
N
un ja, die Königin der Nacht. Zu dieser zentralen
Figur in Mozarts Zauberflöte hat Ana Durlovski
eine zwiespältige Haltung. Einerseits: eine tolle
Rolle. Extreme Anforderungen an die Stimme, solche
Töne muss man erst einmal beherrschen. Andererseits:
Jeder, wirklich jeder kennt die entscheidende Stelle, an
der die Sängerin das hohe f singt. »Alle warten nur darauf«, seufzt Ana Durlovski. Selbst bei guter Vorbereitung
sei der Druck enorm. Aber: »Wenn ich aufgeregt bin,
dann bin ich sehr konzentriert, mit allen Sinnen offen.
Das ist gut für die Rolle«, sagt Durlovski.
Zur Oper kam die Mazedonierin eher zufällig. Eigentlich wollte sie Musiklehrerin werden, eine Dozentin an
der Hochschule überredete sie, Gesang statt Musikpädagogik zu studieren. Mit 21 Jahren kam der Durchbruch
an der Oper in Skopje mit der Rolle der Lucia in der
Donizetti-Oper Lucia di Lammermoor. Später folgten
Engagements in Wien und Mainz, seit 2011 ist sie Mitglied des Solistenensembles der Oper Stuttgart – und
wird von der Presse gefeiert. Nicht nur für ihre Stimme,
sondern immer wieder auch für ihre Darstellungskraft,
die ihre Rollen so überzeugend macht. Zum Beispiel
als zugedröhnte Rocksängerin in Platée. In der Rolle
BÜHNE
D
JENSEITS
DER
GRENZEN
Pioniere, Entdecker, Künstler riskieren ihren Ruf. Verlassen die
Komfortzone. Weil es sie juckt, treibt und interessiert.
Zum Glück. Denn ohne ihre Neugier wäre die Welt ein Hort der
Mittelmäßigkeit. Ein Loblied auf die Grenzgänger
TEXT: MICHAEL MATTHIASS
18
ILLUSTRATIONEN: ANJE JAGER
iese Reise war die erste und
letzte seines kurzen Lebens.
Mit Millionen Mitstreitern
hineingeworfen in eine feindselige Welt, musste er erleben, wie unterwegs die unüberwindbar scheinende Zahl
seiner Artgenossen erst auf wenige Zehntausend und schließlich auf kaum zwei Dutzend zusammenschmolz.
Umkehren? Keine Option.
Dafür war der Lockruf,
der süße Duft der biochemischen Verführung, zu übermächtig. Jetzt war er
am Ziel! Sekundenbruchteile vor
seinen letzten
Mitstreitern
hatte er die finale Barriere
erreicht, die ihn noch davon
abhielt, den Zweck seines Daseins zu erfüllen: eine winzige
Portion genetischen Materials
an sein Ziel zu transportieren, zu
der Eizelle, die direkt vor ihm wie
ein schwirrender Miniplanet pulsierte. Angetrieben von den letzten erschöpften Schlägen seiner Geißel rammte
er seinen Kopf in ihre Außenmembran und
entlud den nur für diesen Moment gemixten
Cocktail von Enzymen, der die Hülle einen
atemlosen Augenblick lang öffnete, gerade
so lang, dass er hineinschlüpfen konnte. Im
selben Moment versiegelte die Eizelle ihre
Hülle. Egal: Er hatte die entscheidende Grenze seiner Welt überwunden. Neues Leben
würde entstehen.
Vom Beginn unserer Existenz, von dem
Moment an, in dem Eizelle und Spermium
verschmelzen, zieht sich eine fundamentale
Wahrheit durch unser Leben:
Wir werden, wir sind, wir leben, indem
wir Grenzen überschreiten.
Das ist anstrengend, schmerzhaft, riskant
und erfordert Timing – aber es ist zugleich
die Quelle all dessen, was großartig ist an der
menschlichen Kultur. Alle unsere großen Taten als Spezies sind Grenzüberschreitungen:
von der Mondlandung zu Beethovens späten
Streichquartetten, von der Bill of Rights zu
den sphärischen Bauten Zaha Hadids.
Wir lieben es, Grenzen zu überschreiten –
und könnten doch ohne sie nicht überleben.
Das Englische hat für diese Janusköpfigkeit
zwei Begriffe gefunden: »frontier« und »barrier«. Die »frontier« ist die Grenze, die wir
immer weiter dehnen, verschieben, sprengen. Ihr rücken wir mit Planwagen im Wilden Westen und Raumsonden jenseits des
Jupiters zu Leibe; sie treibt uns zu Höchstleistungen in Wissenschaft und Kunst.
Die »barrier«
dagegen
Grund, um 1960 mit seiner Trieste an den
tiefsten Punkt der Erdoberfläche im Maria­
nengraben zu tauchen, obwohl 11 000 Meter unter dem Meeresspiegel ein Druck von
40 Millionen Tonnen auf dem Tauchboot
lastete und das Einzige, was zwischen ihm
und der Zerschmetterung stand, eine zwölf
Zentimeter dicke Stahlplatte war.
Oder die Gebrüder Wright: Ihr Idol Otto
Lilienthal war bei seinen Flugversuchen tödlich verunglückt. Den beiden Amerikanern
war klar, welches Risiko sie eingingen, als sie
in den Dünen von Kitty Hawk die Grenzen
der Schwerkraft zu überwinden versuchten.
Abhalten konnte es sie nicht.
Zaha Hadid: Die Kunst
der in Bagdad geborenen
Architektin bestand
darin, Beschränkungen
einfach nicht zur
Kenntnis zu
nehmen
ist die Grenze, die
schützt, was kostbar
ist. Unsere Haut ist so
eine »barrier«. Staatsgrenzen sind es, Normen und Gesetze, Gartenzäune und Spamfilter tun das Gleiche: Sie
trennen Innen und Außen und geben uns ein
Gefühl von Sicherheit. Ohne »barriers« spüren wir uns nicht, können uns nicht reiben,
haben kein Gefühl dafür, wann wir zu weit
gehen, oder werden vom Außen überwältigt.
Und doch, all das reicht nicht aus, uns auf
Dauer auf der sicheren Seite zu halten. Denn
jede Grenze, die vor uns liegt, lockt uns. Sie
sagt: »Jenseits von mir, da geht es weiter.«
Um dann leise hinterherzuflüstern: »Wenn
du dich traust …«
Hillary, Piccard, Wright
»Weil er da ist«, antwortete Edmund Hillary
auf die Frage, warum er als erster Mensch
den Mount Everest bestiegen hatte – mit einer Ausrüstung, in der heute kaum jemand
auf den Feldberg spazieren würde. Auch
Jacques Piccard brauchte keinen besseren
Warum das alles?
Ist das Leben nicht riskant und anstrengend genug, ohne noch ständig aus der
Komfortzone auszubrechen und irgendwelche Grenzen, echte oder imaginäre, zu
überschreiten?
Das ist es, natürlich. Andererseits: Wie
viel Spaß macht eine Komfortzone, in der
es keine Flugzeuge, keine Bergsteiger, keine
mutigen Entdecker gibt? Und keine Künstler
– schon aus Prinzip die Grenzüberschreiter
schlechthin? Eine Welt ohne Bachs Johannespassion, ohne Strawinskys Sacre du
Printemps, ohne Mozarts Entführung aus
dem Serail? Wäre sie überhaupt eine Komfortzone, diese Welt der eingehaltenen Grenzen – oder einfach nur ein Hort belangloser
Mittelmäßigkeit? Zum Glück stellt sich die
Frage nicht: Künstler konnten den Verlockungen der Grenze schon immer am wenigsten widerstehen.
Bach scherte sich nicht um den Ärger
nach der Uraufführung der Johannespassion, die von kompetenten Zeitgenossen
als »fleischlich«, »luxuriös« und »sinnlich«
abgelehnt wurde.
19
BÜHNE
Strawinsky hatte zwar, als am Ende der
Premiere des Sacre du Prin­temps Prügeleien im Publikum ausbrachen, das Theater schon durch ein Fenster verlassen und
strich »derangiert und desillusioniert« durch
die Straßen des nächtlichen Paris. Aber sein
Meisterwerk hatte er vorher erschaffen und
dabei so viele Grenzen überrannt wie wenige
vor ihm.
Mozart musste sich von Kaiser Joseph II.
der Überlieferung nach ein leicht nörgeliges »… gewaltig viele Noten, lieber Mozart«
anhören. Dass das junge Genie gerade eine
neue, psychologisch ungemein präzise Form
der Arienbegleitung erfunden hatte (die in
der Tat ein paar mehr Noten benötigte als
die »übliche« Art des Accompagnierens),
war dem Regenten offensichtlich durchgerutscht. Mozart focht das nicht an. Die
Grenze war überschritten, das Tor geöffnet,
und kaum jemanden, der einmal hindurchgeschritten war, verlangte es hinterher noch
nach Arien der »alten Weise«.
Auch das Drama war immer ein Drama
auf und hinter der Grenze: Shake­speare
raubte dem feinen, höfischen Englisch das
Bühnenmonopol und
feierte die tausend
Sprachfarben seiner Zeitgenossen, von Gosse bis Poesie, von
weise bis wirr – very shocking
für alle, die an Standes- und
Anstandsgrenzen hingen. Das
inspirierte Schiller dazu, den deutschen Adel vom Sockel zu stoßen,
mit Fürstenschelten à la Kabale und
Liebe, wie sie Deutschland nie zuvor gehört
oder gesehen hatte.
Sturm und Drang at its best.
Büchner, Einstein, King
Schillers Vorbild ermutigte Georg Büchner,
Menschen zu Wort kommen zu lassen, an
denen das Publikum bis dahin höchstens in
verhängten Kutschen vorbeigerauscht war.
Büchner entwickelte aus Gerichtsakten den
Woyzeck: Dieses erste Dokumentartheater
der Welt gab dem niedrigsten Stand, den
20
Paupern, über Nacht Stimme und Gestalt.
Nicht alle waren froh, das zu sehen …
Im Tanz brauchte es einen George Balanchine, um das Ballett vom Ballast pompöser
Bühnenbilder, opulenter Kostüme und überfrachteter Handlung zu befreien. Jenseits
dieser Grenze der Konventionen gewann
Tanz seine uralte Magie zurück, für die
es nichts weiter braucht als bewegte
Körper im Raum.
Kurze Zeit später belebte John
Cranko durch seine völlig neue Art,
Charaktere und dramatische Situationen nur durch Bewegung zum Leben
zu erwecken, das tot geglaubte Genre
des Handlungsballetts wieder. Statt
mühsam pantomimisch vermittelter Handlung und
Tanzeinlagen um
ihrer selbst willen kreierte er
leben­
dige Charaktere, deren Schicksal
er durch den
Tanz selbst klar
und unmittelbar menschlich
erzählte.
Künstlerisch aufgewachsen im Geiste
Crankos, war es William Forsythe, der durch
seine nie versiegende, unerschrockene Neugierde erneut Grenzen sprengte. Ende des
20. Jahrhunderts stellte er das Vokabular des
klassischen Balletts buchstäblich auf den
Kopf: Forsythe kippte Figuren, brach Linien,
dehnte und beschleunigte Bewegungen –
und nahm damit die Tanztechnik komplett
auseinander, nur um sie neu zusammenzusetzen, ehe er sich schließlich komplett von
ihr löste.
Es ist ein Segen, wie sehr es uns in die Welt
jenseits der Grenzen zieht: wo Kontinente
entdeckt und Menschenrechte erstritten
werden, wo Maler keine Dinge mehr malen
und Gebäude keine rechten Winkel mehr
haben. Wo Einsteins Schwerkraftwellen keine Science-Fiction
sind. Und Marie Curie als
erste Frau zwei Nobelpreise
gewinnt.
Und dort ist es möglich,
eine der absurdesten
Grenzen zu überwinden,
die es je in die Köpfe der
Menschheit geschafft hat:
die zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe.
Als Martin Luther King
1963 vor Hunderttausenden jene Zeilen
improvisierte, die
ihn unsterblich
machen sollten,
war im Süden
der USA Lynchjustiz an
Farbigen und die Ermordung
weißer Bürgerrechtler an der Tagesordnung. Wo auch immer er die Bilder des
vierfach fulminanten »I have a dream!«
hernahm, diese Bilder kamen alle von jenseits dieser Grenze. Einer Grenze, so menschenverachtend, dass sie schließlich auch
ihn das Leben kostete. Aber da war die Idee
schon in der Welt: »Ich habe einen Traum,
dass eines Tages meine vier Kinder in einer
Nation leben werden, die sie nach der Qualität ihres Charakters beurteilt, nicht nach der
Farbe ihrer Haut!« Und hatte sich in all ihrer
entlarvenden Selbstverständlichkeit in das
Gedächtnis der Welt eingeprägt – und den
Bereich des Möglichen neu definiert.
Jenseits der Grenzen ist der Ort, an dem
das »Projekt Mensch« über sich hinauswachsen kann. An dem wir jenes Talent verwirklichen, das damals, als wir im Überwinden
der ersten Grenze empfangen wurden, in
uns eingeprägt wurde: unser Talent für ein
Leben jenseits der Grenzen.
Virtuose Grenzüberschreiter:
der Komponist Igor Strawinsky
(linke Seite); die Expedition
des Edmund Hillary (darunter);
Jacques Piccard und sein Unter­
seeboot (rechts außen); die
Physikerin Marie Curie (oben).
Sie alle erweiterten unseren
Spiel- und Handlungsraum. Und
vergrößerten so die Welt
BÜHNE
Der Sammler,
der kein Jäger war
Die meisten Menschen kennen Lolita, den Roman von
Vladimir Nabokov über die Obsession eines erwachsenen Mannes
mit einem zwölfjährigen Mädchen. Kaum bekannt ist, dass
das Thema den Autor ein Leben lang verfolgte. Wenige kennen die
Geschichte, wie Starregisseur Stanley Kubrick bei Nabokov
ein Drehbuch bestellte – um anschließend sein eigenes zu verfilmen.
Die Geschichte einer Täuschung
Nabokovs Leidenschaft
galt Schmetterlingen
(hier in der Schweiz circa
1960/70). Er entwickelte
sogar eine eigene
Klassi­fikationsmethode,
die auf dem Vergleich der
Genitalien männlicher
Polyommatus-Exemplare
basierte
22
Foto: ullstein Bild / Fondation Horst Tappe
TEXT: MICHAEL MAAR
Im Juli 1959 bekommt der russische Schriftsteller Vladimir Nabokov einen Anruf, der
in die Geschichte von Film und Literatur
eingehen wird. Am Telefon ist der Meisterregisseur Stanley Kubrick. Er lädt den
60-Jährigen nach Hollywood ein, um die
Drehbuchfassung für Nabokovs Skandalroman Lolita zu erarbeiten. Für Nabokov
ist dies die nächste Evolutionsstufe seines
Lebensthemas: Ein Mann verfällt sexuell
einem ephebenhaften Mädchen – kein anderer Stoff hat ihn je obsessiver beschäftigt,
kein anderer hat ihn höher steigen lassen.
1955 war sein Roman erschienen, danach
stand er für über ein Jahr auf den Best­seller­
listen der westlichen Welt.
Nabokov nimmt die Einladung an, doch
das Projekt wird seine größte Enttäuschung.
Nur ein paar Monate später wird er ein
Typo­skript von 400 Seiten vorlegen. Minutiös sind Kamerafahrten beschrieben, Kostüme skizziert und kleinste Regieanweisungen
gegeben. Kubrick wird antworten, es sei »das
beste Drehbuch, das je in Hollywood entstanden sei«. Tatsächlich wird sich der Regisseur hinter Nabokovs Rücken an eine eigene
Version machen – und sich monatelang immer wieder mit Nabokov zu vermeintlichen
Arbeitstreffen zusammensetzen.
Ende Mai 1962 geht Nabokov an Bord der
Queen Elizabeth, um in New York die Filmpremiere zu besuchen. Er verlässt das Kino
wortlos – Kubrick hat von Nabokovs Drehbuch quasi nichts übernommen.
Zeit seines Lebens wird der Schriftsteller kein schlechtes Wort über den Film verlieren. Dafür sorgten die Verträge, die die
Holly­woodanwälte aufgesetzt hatten. 1974
erlauben sie dem weltberühmten Autor, seine Urfassung selbst zu veröffentlichen.
Lolita. Ein Drehbuch ist ein Dokument
des Scheiterns – und der Unmöglichkeit.
Schon mit dem Buch schuf Nabokov
Figuren, beschrieb eine Grenzüberschreitung, die sich bis heute weder verfilmen
noch auf eine Bühne übertragen lässt.
Auch Edward Albees Drama Lolita, 1981
uraufgeführt in New York mit Donald
Sutherland als Humbert, ist »seit Jahren
gewiss nicht ohne Grund für alle Aufführungen gesperrt«, wie Dieter E. Zimmer im
Nachwort der deutschen Ausgabe Lolita.
Ein Drehbuch anmerkt.
Wenn sich nun am Schauspiel Stuttgart
ein Team rund um den Regisseur Christopher Rüping erneut daranmacht, eine Fassung dieses unfassbaren Stoffes vorzulegen, so darf man erwarten, dass ebendiese
»Unmöglich­keit« eine der treibenden Kräfte
der Bühnenfassung sein wird.
Vladimir Nabokov war auf den Namen,
den Titel und den groben Plot für sein
Lebens­thema bereits in den späten Zwanzigerjahren in Berlin gestoßen. Heinz von
Eschwege, ein Verwandter seiner lang­
jährigen Ver­mieterin, hatte unter dem Pseudonym Heinz von Lichberg eine Sammlung
von Erzählungen veröffentlicht – unter dem
Titel Die ver­fluchte Gioconda. Eine dieser
Erzählungen trug den Titel Lolita: Ein durchreisender Herr verliebt sich in die blutjunge
Tochter seiner Zimmerwirtin.
Im Jahr 1940 gelang Nabokov mit Frau
Véra und Sohn Dmitri die Flucht vor den
deutschen Truppen. Doch das Leben in den
USA ließ sich mühsam an. Nachdem er jahrelang Schmetterlinge untersucht und sich
als Literaturdozent durchgeschlagen hatte,
meldete sich mit Macht sein Lebensthema
zurück. Nabokov verfasste einen Roman, in
dem »Lolita« »Lolita« blieb und der Durchreisende den Namen »Humbert Humbert«
erhielt. Der entführt das Mädchen und missbraucht es, seiner unbezähmbaren Begierde
ausgeliefert, Tag für Tag. Das unmögliche
Buch war geschrieben. Doch wer um Himmels willen sollte es drucken?
23
Das beste Drehbuch,
das jemals in Hollywood
entstanden ist. So antwortete Kubrick dem Autor Nabokov, nachdem er dessen Lolita-Drehbuch
gelesen hatte. Verfilmt hat er dann sein eigenes
DOPPELTE VERSUCHUNG Sue Lyon und James Mason in der Kubrick-Verfilmung (oben)
galten als Fehlbesetzung. Auch das Remake mit Dominique Swain und Jeremy Irons von
1997 fiel durch. Die Kritiker warfen ihm Oberflächlichkeit vor
24
Seine Freunde und die Universitätskollegen
rieten ihm strikt von einer Veröffentlichung
ab. Niemand konnte sagen, ob man dafür in
den Knast wandern würde. Kein Verleger in
den prüden Vereinigten Staaten wagte sich
an den Stoff. Nabokov musste das Manuskript schließlich der Pariser Olympia Press
anvertrauen, einem auf Erotika spezialisierten Kleinverlag.
Im Dezember 1955 erschien in London eine Weihnachtsempfehlung Graham
­Greenes, die auf die zwei hellgrünen Olympia-Bände als bemerkenswerte Literatur
hinwies. Doch zunächst blieb alles ruhig.
Bis die wirkmächtigste Rezension der jüngeren Literaturgeschichte folgte. Der konservative Kolumnist John Gordon antwortete
­Greene. Das von diesem empfohlene Werk
sei das schmutzigste Buch, das er je gelesen
habe – »reine Pornografie«. Das genügte.
Drei Jahre später kommt der Anruf aus
Hollywood, Kubrick und Nabokov treffen
sich bald darauf in Beverly Hills. Sie verstehen sich gut, doch sie reden aneinander
vorbei. Nabokovs Drehbuchfassung hätte zu
einem Film von sieben Stunden geführt. Er
denkt zu wenig cineastisch. Immer wieder
geht der große Prosaautor mit ihm durch,
der seine Perlen verstreut, obwohl er weiß,
dass außer Kubrick sie niemand wird goutieren können. Die Regieanweisungen sind
Preziosen für sich – nur werden Regie­
anweisungen nicht verfilmt. Für die Philologen sind die Drehbücher freilich ein gefundenes Fressen. In der von Dieter E. Zimmer
kompilierten Veröffentlichung können wir
dabei zusehen, wie Nabokov sein Werk
selbst interpretiert. Und wir entdecken,
dass sich künstlerisches Genie nicht auf alle
­Genres erstrecken lässt.
Dass Nabokov seine nochmals erweiterte
Fassung später eigenständig herausgab, hat
vorwiegend rechtliche Gründe. Möglichen
konkurrierenden Ausgaben wollte er die
eigene autorisierte entgegensetzen. Juristisch war Lolita vermintes Gelände. Auch
mit der Olympia Press hatte Nabokov noch
jahrzehntelang Händel. Den wollte er sich
mit den Filmmächtigen ersparen.
Kubrick wiederum war souverän genug,
sein Werk auch selbst als nur mäßig gelungen einzuschätzen. In einem Spiegel-Interview aus dem Jahr 1987 sagte er, der Roman
sei so wunderbar geschrieben, dass man
nichts aus ihm habe machen können, was
nicht hätte enttäuschen müssen. Wäre das
Buch schlechter geschrieben, wäre der Film
vielleicht besser geworden – wie es mit Kubricks Verfilmung von Shining gewesen sei,
Fotos: getty images; dpa/picture alliance; dpa/picture alliance; getty images
BÜHNE
die das Buch weit übertreffe, auch wenn Stephen King natürlich anderer Meinung war.
Das Hauptproblem mit Lolita war eines,
das auch der versierteste Drehbuchautor
der Welt nicht hätte lösen können. Genau
genommen ist es ein doppeltes. Das erste
hängt zusammen mit der Perspektive, aus
der die Geschichte erzählt wird. Wir erfahren Humberts Irrungen und Wirrungen nicht
aus dem Mund eines raunenden Beschwörers des Imperfekts, wie Thomas Mann es
vom Erzähler im Zauberberg sagte. Lolita
ist eine lange Beichte, ein Monolog in Ich­
form. Nach dem Vorwort des fiktiven He­
rausgebers hören wir Leser ausschließlich
die Stimme Humbert Humberts, der sich
erklärt, rechtfertigt und bitter anklagt, der
Witz und Geist versprüht und so zärtlich wie
sarkastisch sein kann – und wir ertappen
uns dabei, dass wir dieses Monstrum gar
nicht unsympathisch finden. Ist er nicht
selbst ein Opfer seines Triebschicksals? Wir
werden gegen unseren Willen zu Komplizen
eines Pädophilen und müssen uns immer
wieder zwicken, um uns klarzumachen, dass
dieser Humbert ein junges Mädchen Tag für
Tag gegen dessen Willen berührt – dreimal
täglich, um genau zu sein. So spezifiziert Nabokov es in seiner russischen Übersetzung.
Bei genauerer Lektüre wird augenfällig,
wie dieser Humbert vieles zu seinen Gunsten verdreht und wie er hinweghuscht über
Partien, die ihn im wahren bösen Licht zeigen würden. Es ist künstlerisch höchst reizvoll, einen Icherzähler so zu steuern, dass
er, ohne es selbst zu bemerken, Hinweise an
den Leser weiterreicht, die er freiwillig nie
abgeben würde. Nabokov war der Meister
dieser raffinierten, vielfach gebrochenen
Erzählperspektive. Wie sollte ein Film diese
Brechungen aufnehmen und widerspiegeln?
Was er auf der Leinwand sieht, nimmt der
Zuschauer für die plane Realität. Der Regisseur muss sich für eine Lesart entscheiden
und kappt damit alle anderen – es sei denn,
er macht genau diese Frage zum Thema und
dreht Rashomon-artig: Mit diesem Kunstgriff
ließe sich die Geschichte aus allen unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Doch
ein Stoff, der so sehr changiert, der je nach
Beleuchtung und Faltenwurf eine andere
Färbung zeigt, eignet sich gerade nicht für
die Verfilmung – das ist es, was Kubrick mit
»zu gut geschrieben« gemeint hatte.
Das zweite unlösbare Problem leitet sich
direkt aus dem ersten ab. Wenn man Lolita
mehrmals liest, merkt man, wie einem allmählich der Boden unter den Füßen entgleitet. Der Roman hat einen meisterhaft aus-
STANLEY KUBRICK
(1928 bis 1999)
Wenn die US-amerikanische
Regielegende hinter
der Kamera stand, konnten
Zuschauer sicher sein,
ästhetisch wie intellektuell
an die Grenzen geführt zu
werden. Kubricks Lolita kam
1962 auf die Leinwand und
war für den Golden Globe
(Kategorie Beste Regie) und
den Goldenen Löwen
von Venedig nominiert
VLADIMIR NABOKOV
(1899 bis 1977)
Als Nabokov am Drehbuch
seines Welterfolgs Lolita
arbeitete, war er schon über
60 Jahre alt. Hinter ihm
lag ein kurvenreiches Leben.
Geboren in Sankt Peters­
burg, floh er mit seiner
Familie vor der Oktoberrevolution nach Berlin. Den
Nazis entkam er 1940
durch die Flucht in die USA
gepinselten realistischen Vordergrund. Aber
dahinter kippt irgendetwas in den Kulissen
langsam um. Nicht nur, dass man bis zum
Schluss nicht weiß, wo Humbert Humbert
seine Beichte niederlegt. Ja, man weiß nicht
einmal, ob er überhaupt noch lebt. Schließlich appelliert er an seine Geschworenen:
»Meine geflügelten Herren!«, als wäre es
ein Engelstribunal. Und wenn er von seiner
»gut geheizten Abgeschiedenheit« spricht,
in der er sich befinde, weckt das altmodische Assoziationen an die Hölle.
Unübersehbar häufen sich im Roman die
Indizien dafür, dass nicht alles mit rechten
Dingen zugeht. Humbert berichtet Vorfälle,
die den Realitäts-Check nur schwer bestünden. Immer tiefer rutscht die Geschichte ins
Traumhafte ab, sodass sich am Schluss die
Frage stellt: Ist nicht überhaupt alles nur
Tagtraum, ist Lolita eine einzige Projektion?
Unmöglich, dass ein Film dieses Abrutschen
in immer tiefere Fiktionsebenen auch nur
annähernd abbilden könnte.
Der Roman ist mit den Jahrzehnten gewachsen – die Fragen, die er aufwirft, wurden nicht weniger. Mittlerweile kommen
auch biografische an die Oberfläche. 2012
starb Dmitri Nabokov, der Sohn, der wie ein
Zerberus dafür gesorgt hatte, dass niemand
auf delikate Themen zu sprechen käme.
Seitdem melden sich zaghafte Stimmen zum
Thema Pädophilie. Es ist auffällig, dass nicht
nur das ganze Werk des Granden auf Lolita
zusteuert, sondern dass ihn das Thema auch
danach nicht aus den Krallen lässt. Noch in
seinem späten Geisterroman Durchsichtige
Dinge muss dem Helden beim Durchblättern eines Fotoalbums der weit gespreizte
Mädchenschoß einer Zehnjährigen ins Auge
fallen, bevor er, bei seiner Betrachtung erwischt, schuldbewusst zusammenfährt.
Es nimmt und nimmt kein Ende mit
Lolita. Nabokov ging über sehr viel mehr
Grenzen, als das Bild, das er öffentlich von
sich ausstellte, vermuten ließ. Er hat mehr
gelitten, als er uns wissen lassen wollte, und
er hat mehr gewagt. Heute fände sein großer Roman wohl keinen Verleger in den USA.
Und jetzt findet sein Drehbuch eine Bühne,
auf der sich zeigen kann, wie sich Kunst und
Obsession verflechten – und die Sünde, die
Seele und die Tentakeln der Schuld.
MICHAEL MAAR (56) ist Literaturkritiker und
LOLITA
EIN DREHBUCH VON
VLADIMIR NABOKOV
Premiere am 28. Oktober 2016
im Schauspielhaus
Autor. Er veröffentlichte unter anderem Bücher
über Thomas Mann, Harry Potter und Marcel
Proust. 2007 erschien Solus Rex. Die schöne böse
Welt des Vladimir Nabokov. Zwei Jahre davor:
Lolita und der deutsche Leutnant; dort erzählt
Maar als Erster die Geschichte der Ur-Lolita
25
BÜHNE
Sitzt eine Maus in der Wüste.
Kommt ein Kamel vorbei und fragt die Maus:
Hey Maus, was machst du denn da?
Sagt die Maus: Ich feile meine Nägel, und
wenn der Löwe kommt, kratz ich ihm
die Augen aus. Geht das Kamel wieder weg.
Kommt ein Nashorn vorbei.
Sagt das Nashorn: Hey Maus, was machst
du denn da? Sagt die Maus: Ich feile
meine Nägel, und wenn der Löwe kommt,
kratz ich ihm die Augen aus. Geht das Nashorn wieder weg. Kommen
ganz viele andere Tiere vorbei, und die Maus
erzählt jedes Mal dieselbe Geschichte.
Kommt der Löwe. Fragt der Löwe die Maus:
Hey Maus, was machst du denn da?
Sagt die Maus: Och … ich feile meine Nägel …
und erzähle jede Menge Blödsinn. INTERVIEW: RALF GRAUEL
Können Sie gut Witze erzählen?
Beides ist gleich schwer. Aber man sollte
das nicht als Schwierigkeit begreifen. Jede
Inszenierung entsteht aus der Probe. In der
Kommunikation bildet sich je nach Stoff eine
bestimmte Gemütslage, ein Raum, aus dem
Lachen entsteht – oder Weinen.
Haben Sie einen Lieblingswitz?
[lacht] Man sagt es mir nach, ja!
[erzählt den Witz vom Mäuschen] Ihrer?
Der geht so: Mein Hund hat keine Nase
mehr. Und wie riecht er jetzt? Er
stinkt immer noch.
Da kenn ich noch einen. Sagt der eine: »Mein
Hund ist stumm.« Sagt der andere: »Da kriegt
er ja vielleicht bald einen No-bell-Preis.«
Kann ein ernster Stoff komisch werden?
Eher selten. Ich habe mal den von mir sehr
geschätzten Vladimir Sorokin kennengelernt
und ihm erzählt, wie sehr ich bei einer Stelle geweint habe. Da antwortete er: »Dann
weißt du, wie es mir beim Schreiben ging.«
Humor steckt in der Geschichte?
Ich glaube, ja. Wenn man sich einem Thema im Bereich des Humors nähert, wird
man nicht so schnell beim Weinen landen.
Ich habe festgestellt, dass Schauspieler, die
andere zum Lachen bringen – durch ihre
Virtuosität, ihre Brüchigkeit, ihre Hochgeschwindigkeit auf der Bühne –, im Alltag
meist sehr feingeistige Menschen sind, die
nicht zum Platten, Humoresken neigen.
Nun ist Der Raub der Sabinerinnen ein
Schwank, eine Klamotte ersten Ranges.
Erstens weiß ich gar nicht, woher diese Begriffe immer stammen. Zweitens ist der
Raub ein hochintelligentes Stück, das bezaubernd die Missverständnisse beschreibt,
die passieren, wenn ein Autor ein Stück in
einer bestimmten Intention schreibt, das
­ acher übersetzt und von den
von einem M
Zuschauern völlig anders reflektiert wird.
Missverständnisse zwischen Autor,
Regisseur und Publikum. Beschreibt
das auch Ihre Situation?
Ich glaube schon. Ich habe in Stuttgart jetzt
schon zwei Arbeiten gemacht, die sehr unterschiedlich aufgenommen und gelesen
wurden. Daran möchte ich mit dem Raub
der Sabinerinnen ansetzen.
Wie geht lustig? Setzen Sie Markierungen, damit das Publikum merkt, wozu
es geladen ist? Im Kino oder bei Liveshows muss der erste Lacher nach ein
paar Minuten kommen.
Der Comedian hat tatsächlich nur ein paar
Minuten, um das Publikum zu gewinnen.
Theater hat da schon mehr Zeit, aber wenn
es sich dieser simplen Wirkungsebene beugt,
hat es ein Problem. Denn es beugt sich damit dem Mainstream und jeder Hollywood­
dramaturgie, die überall grassiert.
Foto: Rolf Arnold
Ein Gespräch mit
Sebastian Hartmann über Humor auf der Bühne
Herr Hartmann, was ist schwerer, Leute
zum Weinen oder zum Lachen bringen?
… und in den Köpfen und Herzen jedes
Publikums wohnt.
Ja, sicher. Auf der anderen Seite ist es wunderbar, wenn ein Publikum sich über die
Dauer eines Abends selbst erfindet. Wenn
SEBASTIAN HARTMANN (48)
war von 2008 bis 2013 Intendant
des Schauspiels Leipzig. In
Stuttgart hat er Staub (2014) und
Im Stein (2015) inszeniert
Oh, der ist aber für Fortgeschrittene.
Sagen Sie, machen Sie eigentlich
­Lockerungsübungen mit Schauspielern,
damit die besser reinkommen?
Nee, wie jetzt?
Auf der Stelle hüpfen, Witze erzählen.
es erlebt, wie es seine Haltung gegenüber
einer Dramaturgie ändert.
Ach so, na klar. Mit Wolfram Koch habe ich
es mal auf acht Stunden Witzeerzählen am
Stück gebracht.
Wie wichtig ist es, Grenzen zu sprengen?
Sie sind ja ausgebildeter Schauspieler.
Wieso fragen Sie mich das?
Das ist doch ein Vierteljahrhundert her!
Weil Sie das ständig machen.
Lernt man da Techniken, wie man etwas
lustig spricht, ernst, besonnen, schräg?
Fragen Sie lieber Reinhold Messner, wieso er
auf Gipfel steigt. Ich mache Theater, weil es
mich interessiert. Ich bin nicht auf der Jagd
nach Formsprengungen. Im besten Falle finde ich in einem Stoff Geistesverwandtschaft
und finde mich dort als Menschen wieder.
Debatten über laut, nackt, leise, hell oder
grell möchte ich nicht führen.
Haben Sie ein Humorvorbild?
Nein, so läuft das nicht. Ein guter Lehrer
zeigt Ihnen (wenn Sie Glück haben) Ihre Ehrlichkeit, Ihre Wahrheit. Und mit der können
Sie wahlweise umgehen – falls Sie etwas zu
sagen haben. Was und wie dann etwas gesagt wird, das stammt weniger aus irgendwelchen Anweisungen, sondern aus den
Eigenarten der Besetzung.
Ich bin totaler Fan von Andy Kaufman.
Die Schauspieler machen das Stück?
Achtzigerjahre, oder? Dieser schräge
Typ aus Taxi und Saturday Night Live?
Eine Inszenierung ist wie eine kleine Arche
Noah. Man betritt für ein paar Wochen eine
Art Überlebensschiff, reist in eine neue Zeit.
Das Schlimmste ist immer, wenn mich Leute zu Beginn dieser ungewissen Zeit nach
Premierenkarten fragen. Wo ich doch nicht
mal weiß, ob ich die Reise überleben werde!
Ja. Bis zum Ende blieb er unberechenbar.
Bis heute treffen sich Leute am Jahrestag
seines Todes, weil sie den für eine Inszenierung halten. Kaufman schleift alle runden
Ecken, die ich von Ikea und irgendwelchen
Internetportalen habe, sofort wieder ab; und
macht mich kantig, lebendig, überraschbar.
Was ist Humor?
Humor ist die große Kraft, über unsere Unzulänglichkeiten zu lachen. Neurologen beschreiben, dass im Augenblick des Lachens
eine Art Kurzschluss durch das Gehirn läuft.
Und Verknüpfungen entstehen lässt, die
bislang nicht vorhanden waren …
Genau, Lachen ist ja immer auch ein Schock.
Ich denke, dass das Weinen ähnlich funktioniert. Beides sind Reaktionen auf kleine
schwarze Löcher in unseren Seelen oder
unserem Wachbewusstsein.
Humor wäre eine Dehnungsübung für
die Vorstellungskraft.
Ja, wobei ich da manchmal sicher etwas unvollkommen bin, weil mein Humor nicht immer dem des Gegenübers entspricht. Aber
das kann man ja trainieren.
Das klingt schrecklich und spannend.
Jede Besetzung ist eine Art Überlebenstriebwerk. Sie stellen sich das nach Fähigkeiten
zusammen; der eine beherrscht dies, die andere jenes. Und so bekommt man eine
Mannschaft, von der man glaubt, dass man
zu einem Zeitpunkt einen Moment präsentieren kann, der sich im Laufe der weiteren
Aufführungen durchaus liebevoll weiter­
entwickeln kann.
Die Zuschauer erleben das allerdings
als quasi fertige Premiere.
Sicher. Die meisten dürften das als fertiges
Fleischgericht bewerten und gucken, ob es
55 Grad Innentemperatur hat.
DER RAUB DER SABINERINNEN
nach dem Schwank von
Paul und Franz von Schönthan
Premiere am 18. November 2016
im Schauspielhaus
27
BÜHNE
Nationalität:
Tanz
TEXT:
JULIA LUTZEYER
FOTOS:
ROMAN NOVITZKY
Integration? Vielfalt? Multikulti? Beim Stuttgarter B
­ al­lett
sind das keine Begriffe, die es zu füllen gilt. Hier wird die
internationale Idee im Zeichen der universellen Tanzsprache seit Jahrzehnten gelebt – mit Selbstverständlichkeit und weltweitem Erfolg. Nicht einer der bislang
vier Direktoren wurde in Europa geboren.
64 Tänzerinnen und Tänzer sind am Stuttgarter Ballett zu Hause. Wenn Intendant Reid Anderson sie zum
Beginn der neuen Spielzeit begrüßt, schaut der Kanadier
in die Gesichter von Menschen, die Pässe aus 23 unterschiedlichen Ländern besitzen, aus Nord- und Südamerika, Europa, Asien und Australien. Afrika rückt in
den Blick, sobald man sich mit dem Gründer des Stuttgarter Balletts beschäftigt: John Cranko wurde im süd­
28
afrikanischen Rustenburg geboren. 1961 löste er den aus
­Litauen stammenden Nicholas Beriozoff als Ballettchef
der Württembergischen Staatstheater ab, etablierte
das Stuttgarter Ballett als eigene Sparte, gründete eine
Ballett­schule, die postum nach ihm benannt wurde –
und formte die Compagnie in zwölf Jahren zu einem der
besten Ensembles weltweit.
Seither ist Stuttgart ein Magnet für Tanztalente aus
aller Welt; von hier aus geht die bunte Ballettfamilie
Jahr für Jahr auf Gastspielreise: in dieser Spielzeit nach
Maribor, Schanghai, Peking – und Weimar. Woher sie
auch kommen, egal welche Muttersprache sie mitbringen: Die Mitglieder der Compagnie eint die Liebe zu ihrer
bewegten Kunst.
ROBERT ROBINSON aus England,
Tänzer beim Stuttgarter Ballett seit 2011, ab 2015 Solist. Absolvent der John Cranko Schule.
Zu sehen in Der Widerspenstigen Zähmung und im Ballettabend Kammerballette
AMI MORITA aus Japan,
Tänzerin beim Stuttgarter Ballett seit 2009, ab 2015 Solistin. Absolventin der John Cranko Schule.
Zu sehen in Der Widerspenstigen Zähmung und im Ballettabend Kammerballette
MARTÍ FERNANDEZ PAIXA aus Spanien, Tänzer beim Stuttgarter Ballett
seit 2014, ab 2016 Halbsolist. Absolvent der John Cranko Schule. Zu sehen in
Der Widerspenstigen Zähmung und im Ballettabend Kammerballette
ENES COMAK aus der Türkei,
Tänzer beim Stuttgarter Ballett seit 2014. Absolvent der John Cranko Schule.
Zu sehen in Der Widerspenstigen Zähmung
PAULA REZENDE aus Brasilien, Tänzerin beim Stuttgarter Ballett
seit 2013. Absolventin der John Cranko Schule. Zu sehen in
Der Widerspenstigen Zähmung und im Ballettabend Kammerballette
FABIO ADORISIO aus Italien, Tänzer beim Stuttgarter Ballett
seit 2013. Absolvent der John Cranko Schule. Zu sehen in
Der Widerspenstigen Zähmung und im Ballettabend Kammerballette
ANGELINA ZUCCARINI aus den USA,
Tänzerin beim Stuttgarter Ballett seit 2005, ab 2013 Solistin. Absolventin der John Cranko Schule.
Zu sehen in Der Widerspenstigen Zähmung und im Ballettabend Kammerballette
PABLO VON STERNENFELS aus Mexiko,
Tänzer beim Stuttgarter Ballett seit 2012, ab 2015 Solist. Absolvent der John Cranko Schule.
Zu sehen in Der Widerspenstigen Zähmung und im Ballettabend Kammerballette
BÜHNE
Veröffentlichungsjahr des Berichts Grenzen des Wachstums des
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Einführungsjahr der Antibabypille in der BRD: 1961
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Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs
das Wissen der Menschheit exponentiell.
Nach zwei Weltkriegen folgten:
Globalisierung, Digitalisierung und die
Neuerfindung des Menschen
Der Teufel
steckt im
Übermorgen
Immer wenn Wissenschaft und Forschung
Grenzen durchbrechen, tauchen Risse auf. Unser
Weltbild wird brüchig, und wir müssen uns
mal wieder fragen, was es heißt, Mensch zu sein.
Immer dann, wenn die Menschheit ein neues
Kapitel schreibt, kommt ein alter Stoff an die Oberfläche:
Faust, die Geschichte vom Wissenschaftler,
der einen Pakt mit dem Teufel schließt.
Fausts Schicksal hilft uns, die Welt zu begreifen,
während sie sich verändert
TEXT: THEA DORN
E
r taucht immer dann auf, wenn
die Menschheit sich anschickt,
ihre Grenzen zu überspringen:
Georg oder Johann Faust, der
Schulmeister, der sich voll
Überdruss von aller Schulweisheit ab- und
der Magie zuwendet, zum Geisterbeschwörer und Schwarzkünstler aufsteigt, um ein
böses Ende zu nehmen. Möglicherweise gab
es ihn wirklich. Er könnte 1480 im württembergischen Knittlingen geboren worden sein.
Glaubt man dem Gerücht, so ist er 1540 in
Staufen im Breisgau gestorben, mit verkohlt-
verdrehtem Kopf, was nach Ansicht seiner
Zeitgenossen weniger von einem misslungenen alchemistischen Experiment zeugte als
vielmehr davon, dass der Teufel seine Finger
im Spiel gehabt haben müsse. So ungewiss
die Lebensgeschichte des historischen Faust
ist, so gewiss lässt sich sagen, dass seine
Landsleute ihn damals verabscheut haben.
Der humanistische Theologe Trithemius
hielt den selbst ernannten »Fürsten der Nekromanten« für einen »Landstreicher«, »leeren Schwätzer« und »betrügerischen Strolch,
würdig, ausgepeitscht zu werden«. Der im All-
35
ab
1500
gemeinen zur sprachlichen Mäßigung neigende Reformator Philipp Melanchthon fluchte in
bester Luther-Manier, jener Faustus, den er
gekannt habe, sei eine »schändliche Bestie,
eine Kloake vieler Teufel« gewesen. Und der
fromme Frankfurter Buchdrucker Johann
Spies, der im Jahr 1587 die herumschwirrenden Geschichten einfing und zur Historia von
D. Johann Fausten versammelte, tat dies, wie
er im Vorsatz bekannte, »allen hochtragenden, fürwitzigen und gottlosen Menschen
zum schrecklichen Beispiel, abscheulichen
Exempel und treuherziger Warnung«.
36
W
as brachte die braven Deutschen so
auf gegen ihren Faust? Hassten sie
ihn, weil sie ihn für einen dreisten Hochstapler hielten? Oder jagte er ihnen Angst ein,
weil sie spürten, dass nun auch einer der ihren sich anschickte, die Menschheit um jeden Preis aus dem Mittelalter in die Neuzeit
katapultieren zu wollen? Die Renaissance erblühte zwischen Florenz und Rom, nicht zwischen Freiburg und Königsberg. Die großen
Seefahrer brachen zu ihren ersten Globalisierungsreisen von spanischen und portugiesischen Häfen auf, während die Hanse sich
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Gründungsjahr einer Gussstahlfabrik in Essen durch Friedrich
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Mensch an den Rand der Welt. In die
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Faust. Eine Tragödie: 1808
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damit begnügte, die Küsten
der Nord- und Ostsee entlangzusegeln. Sicher: Gutenberg und
Kopernikus stammten aus deutschen
Landen. Der eine hatte den Buchdruck
erfunden, der andere das jahrtausendealte
geozentrische Weltbild begraben. Doch der
erste Bestseller auf dem jungen Buchmarkt
sollte die Lutherbibel werden. Und Kopernikus betrieb seine ketzerischen Studien in
ostpreußischer Abgeschiedenheit – erst der
Italiener Galileo Galilei vertrat die unerhörte Ansicht, dass die Erde sich um die Sonne
drehe, so laut, dass die Ohren der Inquisi­
tion sie nicht länger überhören konnten. Der
Rabiateste aller deutschen Revolutionäre,
Martin Luther, zettelte den protestantischen
Aufstand gegen den Heiligen Vater an – dem
Vater im Himmel unterwarf er sich in alter
Christendemut.
Jener Faust war also womöglich der erste Deutsche, der unmissverständlich kundtat, dass er nicht bereit war, sich mit den
engen Grenzen, die menschlichem Wissen
und Treiben durch Gottesehrfurcht gezogen
waren, abzufinden. Er wollte mehr. Alles
erkennen. Alles erleben. Alles haben. Und
wenn er dafür seine Seele dem Teufel verpfänden muss – was soll’s, fährt auf Erden
doch ohnehin alles zur Hölle. Im Spies’schen
Volksbuch darf Faust dieser Hölle schon
mal eine Stippvisite abstatten. Aber sein
»Mephis­tophiles« lässt ihn auch bis über die
Wolken hinauffliegen. Einem Ritter zaubert
er ein Hirschgeweih auf den Kopf, vier anderen Zauberern haut er die Köpfe ab und
setzt sie verkehrt herum wieder auf. Mit der
schönen Helena verbringt er eine rasende
Liebesnacht. Und einem Bauern frisst er
einmal ein ganzes Fuder Heu samt Wagen
und Pferden vor der Nase weg. Einfach so.
Weil er’s kann.
Kein Wunder, dass Faustens Theaterkarriere in deutschen Landen die ersten
200 Jahre auf der Stadelbühne stattfindet.
Während sich das Volksbuch in kürzester
Zeit in den europäischen Nachbarländern
ausbreitet und den englischen Dramatiker
Christopher Marlowe bereits 1589 zum ersten großen Faust-Drama inspiriert, das den
ewig Suchenden, ewig Unbefriedigten als
Prototyp des neuzeitlich-tragischen Men-
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43
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schen zeigt, klatscht sich das deutsche Publikum auf die Schenkel, wenn im Puppentheater Kasperle und Pickelhering kräftig
mitmischen, den hoffärtigen Schurken als
Narren zu entlarven.
Die Zeit der Faust-Veredlung, ja FaustVerherrlichung bricht in Deutschland erst im
18. Jahrhundert an. Dann aber mit Macht: So
unterschiedliche Temperamente wie Gotthold Ephraim Lessing und Jakob Michael
Reinhold Lenz versuchen sich am FaustStoff – und scheitern beide. Goethe bleibt
es vorbehalten, als erster deutscher Dichter
Die industrielle Revolution
verändert Wirtschaft und
Leben. Familien drängen in
die Städte. Viele verarmen
den alchemistischen Springteufel literarisch
zu bändigen: 1772 beginnt er mit der Arbeit
am Urfaust, 1832, kurz vor seinem Tod, beschließt er Der Tragödie zweiter Teil. Sechzig Jahre Faust-Arbeit, die damit enden, dass
der verstiegene Doktor zum ersten Mal in
der Geschichte nicht zur Hölle fahren muss,
sondern am Schluss der Teufel der Gelackmeierte ist. »Wer immer strebend sich bemüht, / Den können wir erlösen.« So singen
es die Engel, die »Faustens Unsterbliches« in
»höhere Atmosphären« entführen. Der Unersättliche, der Unbehauste, der »Unmensch
ohne Zweck und Ruh« wird zur Ikone erhoben. Die Moderne, das »veloziferische«
Zeitalter, das der alte Goethe selbst eher
mit Schrecken heraufziehen sah, hat un­
widerruflich begonnen: Die sich ausdifferenzierenden Einzelwissenschaften verkünden
beinahe im Jahrestakt immer tiefere Einblicke ins Wesen der Natur; Webstühle rattern
maschinell; der Bergbau wird zur Industrie;
in England und bald auch auf dem Kontinent keuchen die ersten Eisen­bahnen durch
die Landschaft; in Frankreich sind die alten
Adelsköpfe gerollt; der Mensch ist aus seiner
selbst verschuldeten Unmündigkeit ins Freie
getreten. Faust hat Konjunktur: 1791, noch
während Goethe den Stoff besetzt hält, erzählt Friedrich Klinger Fausts Leben, Taten
und Höllenfahrt als Höllentrip durch eine
moralisch verrottete Welt; 1828 arrangiert
Christian Dietrich Grabbe ein dramatisches
Gipfeltreffen der beiden Schwerenöter Don
Juan und Faust; 1836 erscheint Nikolaus
Lenaus elegisch-dramatisches Langgedicht
Faust, das leider nie aus Goethes Schatten
heraustreten wird; 1839/40 beginnt Richard
Wagner, eine Faust-Symphonie zu komponieren, kommt jedoch über den ersten Satz
nicht hinaus; 1846 macht Heinrich Heine
dem alten Doktor Faust Tanzbeine und lässt
Mephisto zum ersten Mal als Frau auftreten; im selben Jahr erlebt Hector Berlioz’ La
Damnation de Faust ihre konzertante Uraufführung; schon 1859 folgt mit Charles Gounods Oper der nächste französisch-musikalische Faust; 1862 beendet Friedrich Theodor
Vischer das faustische Jahrhundert, indem er
unter dem Namen Deutobold Symbolizetti
Allegoriowitsch Mystifizinsky der Tragödie
dritten Teil als grelle Farce erzählt.
D
anach wird es stiller um Faust. Hat
Oswald Spengler also recht, wenn er
in Der Untergang des Abendlandes, geschrieben zum Ende des Ersten Weltkriegs,
»das Faustische« als die Seele der abendländischen Kultur ausmacht und eben
diese Seele, »deren Sein Überwindung des
Augenscheins, deren Gefühl Einsamkeit,
deren Sehnsucht Unendlichkeit ist«, am
Erlöschen sieht?
Einen Weltkrieg später taucht das gleiche
Motiv bei Thomas Mann auf, allerdings in
37
BÜHNE
FAUST
VON CHARLES GOUNOD
Premiere am 30. Oktober 2016
im Opernhaus
38
Wer, wenn nicht
Faust, kennt den
Preis der Träume
und der Himmels­
stürmerei ?
A
uch Hanns Eisler, der parallel zu Thomas Mann im amerikanischen Exil
an einem Faust-Libretto schrieb, mochte in
dem nervösen Welterkenner-Weltverrenker
nichts Vorbildhaftes mehr erkennen. Er siedelte seine Oper in der Zeit der deutschen
Bauernkriege an, am Schluss wird Faust
abermals vom Teufel geholt, vom alten
Klassenfeind, mit dem er gegen die revolutionären Massen paktiert hat. Genutzt hat
Eisler die sozialistische Linientreue bei seiner Aneignung des Faust-Materials nichts:
Das Neue Deutschland drohte unverhohlen,
man werde eine solche Verhunzung des
deutschen Nationalepos nicht dulden. Faust
sei der deutsche Held und werde es bleiben.
Eisler floh nach Wien, bevor er »Selbstkritik«
übte und nach Ostberlin zurückkehren durfte. Vertont hat er seinen Faust nie. Dafür verkündete Walter Ulbricht, in der DDR werde
»Faust III vom werktätigen Volke geschrieben«. Ob Friedrich Theodor Vischer sich je
hätte träumen lassen, dass seine Satire auf
den deutschen Faust-Kult einmal derart
überboten würde?
Nebenan, in der Bundesrepublik der Fünfziger- und Sechzigerjahre, begnügte man
sich derweil damit, Gustaf Gründgens bei
seiner mephistophelischen Artistik zuzuschauen, und vergaß geflissentlich, dass er
vor Kurzem noch den braunen Mephistos in
die Hakenkreuzfalle gegangen war.
Und heute? Kaum ein Theater-, Opernmacher, der es nicht mit Faust aufnähme.
Und dennoch, so will mir scheinen, drücken
sich die Künstler der Gegenwart davor, die
Sprengkraft dieses mittlerweile 500 Jahre
alten Blindgängers für unsere Zeit ernstlich
offenzulegen. Stehen wir nicht abermals an
einer Schwelle? An der sich die Menschheit
entscheiden muss, ob sie über jene Grenze
springen will, hinter der sich ihre Geschichte
nur noch mit Binärcodes und Gensequenzen
wird erzählen lassen? Und wer, wenn nicht
Faust, wäre der geeignete Reisebegleiter, um
dieses verstörende Land zu durchmessen, in
dem die alten Magierträume Wirklichkeit geworden sind: in dem sich die Entstehung der
Arten im Reagenzglas vollzieht? In dem ein
Schweineherz in einer Affenbrust schlagen
kann? In dem Fahrzeuge ohne Fahrer rollen?
In dem eine Sekunde genügt, Milliarden zu
vernichten? Und eine weitere, das Geld am
anderen Ende der Welt als neue, schillernde Blase wieder aufsteigen zu lassen? Wer,
wenn nicht Faust, wüsste darum, dass die
Menschheit ihre hochfliegenden Träume
verfolgen muss – und dass der Preis für diese
ihre Himmelsstürmerei kein geringerer als
der Sturz in die Hölle sein kann?
Der alte Faust mag ein Meister aus Knittlingen gewesen sein. Den neuen Faust wird
man weder in Wittenberg noch in Thomas
Manns Kaisersaschern finden. Wer Faust
heute treffen will, muss ins Silicon Valley
oder nach Shenzhen reisen. Allerdings mit
der tiefen Beklommenheit im Herzen, die
nicht der schlechteste Zug ist, den die deutsche Seele von jeher kennt.
THEA DORN (46) ist Schriftstellerin und
­beschäftigt sich seit vielen ­Jahren mit
dem Faust-Stoff. 2011 veröffentlichte sie
(zu­sammen mit Richard Wagner) den
­Sachbuchbestseller Die deutsche Seele. Im
Frühjahr 2016 erschien ihr Roman Die Un­
glückseligen, eine Liebesgeschichte zwischen
zwei faustischen Figuren: einer Molekular­
biologin und einem Physiker.
Oper auf einen Klick
Kurz vorm Schlafengehen noch schnell in die Oper in Riga?
Die Website The Opera Platform macht es möglich. Operndirektorin Eva Kleinitz
über Livestreaming und Oper als internationales Gesamtkunstwerk
INTERVIEW: SAPHIR ROBERT
Bei The Opera Platform können sich
Menschen aus aller Welt Operninszenierungen anschauen. Wie kam
es zu dieser Idee?
Gemeinsam mit dem Fernsehsender ARTE
entstand sie innerhalb von Opera Europa,
einer europäischen Dachorganisation von
Opernhäusern. Auf der Website zeigen insgesamt 15 Opernhäuser und Festivals aus
ganz Europa bis 2018 jeweils zwei Opern im
Livestream. Operninteressierte haben so die
Möglichkeit zu sehen, wie Opern in anderen
Ländern inszeniert werden. Denken Sie bloß
nicht, dass sich Opernfans nicht mit modernen Medien auskennen! Wir haben zum
Beispiel eine aktive Opernfan-Community
auf Twitter.
Welche Oper wird am meisten geklickt?
Sofern man das nach einem Jahr schon sagen kann: die allererste Oper, La Traviata,
aus dem Teatro Real in Madrid. Sie ist sehr
bekannt, viele Menschen kennen eine Arie
daraus. Es ist aber nicht so, dass die zeitgenössischen Werke dagegen total abfallen.
Wir haben festgestellt, dass es darauf ankommt, wie in dem jeweiligen Land für eine
Oper und ihre Übertragung geworben wird.
Bleiben die Zuschauer wirklich dran?
Tatsächlich kleben die Leute ziemlich lang
an den Inszenierungen. Natürlich ist viel Insiderpublikum dabei. Aber in den sozialen
Netzwerken werden die Links weitergeteilt.
So erreichen wir neue Zuschauergruppen.
Geht es nicht ohnehin darum,
Nicht-Operngänger zu erreichen?
Illustration: Dirk Schmidt
Mitte des 19. Jahrhunderts
war auch Frankreich fasziniert
von der Faust-Legende. Es entstanden Rührstücke, Komödien
und Zauberstücke auf Basis
von Goethes Drama. Charles
Gounod, inspiriert von der
Faust-Begeisterung seiner Landsleute, schrieb eine Oper, in
der Faust nicht Wissenschaftler
ist, sondern ein einsamer
Mann auf der Suche nach Liebe.
Die Handlung konzentrierte
sich auf das Verhältnis zwischen
Faust und Gretchen. So lässt
sich der Stoff aus neuer Perspektive erleben: Französische
Kriegsbegeisterung vermischt
sich mit einem unerfüllbaren Ideal der Unschuld, die
Gretchen in Goethes Vorlage innewohnt.
Dank der hinreißenden Melodien und prächtigen Chöre
wurde Gounods Werk auch in
Deutschland zum Erfolg.
In Stuttgart ist es in der ersten
Neuinszenierung seit 1952
zu erleben.
noch tieferes Moll getaucht, indem er das
»Faustische« nicht allein als die kostbardynamische Seele des Abendlandes, sondern als die ebenso gefährlich-dämonische
Seele des Deutschen bestimmt. »Ein einsamer Denker und Forscher, ein Theolog und
Philosoph in seiner Klause, der aus Verlangen nach Weltgenuss und Weltherrschaft
seine Seele dem Teufel verschreibt – ist es
nicht ganz der rechte Augenblick, Deutschland in diesem Bilde zu sehen, heute, wo
Deutschland buchstäblich der Teufel holt?«,
fragt Thomas Mann im Mai 1945 in seiner
berühmten Rede in der Washingtoner Library of Congress. Vor diesem Hintergrund
versteht sich fast von selbst, dass er seinem
Doktor Faustus, erschienen 1947, keine
goethesche Apotheose gönnen kann, sondern ihn, den Tonsetzer Adrian Leverkühn,
der bereit war, für den Preis musikalischen
Genies aller »warmen Liebe« zu entsagen,
am Ende in den totalen Zusammenbruch
schicken muss.
Quellen: Bundeszentrale für Politische Bildung, Destatis, Deutsches IVF Register, Deutschland Verstehen, Spiegel Online, Statista, Wikipedia
Faust im
Opernhaus
Ja, natürlich. Die Plattform räumt viele Vorurteile beiseite. Zum Beispiel, dass bei der
Oper eher dicke Menschen fast unbeweglich
auf der Bühne herumstehen und seltsam
singen. Und auf einmal stellen die Besucher der Website fest: Das ist ja gar nicht so!
Diese Art der Musik berührt mich sogar und
hat etwas mit mir zu tun! Und die Darsteller
können nicht nur richtig gut singen, sondern
auch spielen! Wir freuen uns sehr, dass wir
mit dieser Idee den International Opera
Award for Accessibility gewonnen haben.
Braucht das Publikum nicht die
körperliche Erfahrung, den Raum, das
Orchester, die Atmosphäre?
Wir behaupten ja nicht, dass ein Livestream
besser ist als ein Opernbesuch. Aber die digitalen Medien besitzen eine große Präsenz in
der Gesellschaft. Gerade jüngere Menschen
haben die Möglichkeit, einfach von ihrem
Smartphone aus eine Oper anzuklicken.
Die Plattform ist Teil von Opera Europa.
Was ist der Zweck dieser Organisation?
Bei Opera Europa geht es vor allem um den
Austausch der Opernhäuser untereinander.
Deshalb finden zweimal im Jahr Konferenzen
statt. Da kommen dann schon mal 400 Teilnehmer zusammen. Große Bühnen erfahren
von kleinen Häusern, wie sie arbeiten, und
umgekehrt – und das auf Augenhöhe. Hier
werden auch Koproduktionen angeschoben,
das hilft dem jeweiligen Budget.
In einigen Ländern nimmt die Politik
Einfluss auf die Künste. Was kann Oper
dagegen tun?
Wir müssen immer wieder klarmachen, wie
wichtig kulturelle Bildung ist. Und die Oper
ist ein ganz wichtiger Bestandteil davon.
Wie wichtig ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit für die Oper?
Sehr wichtig. Deshalb auch unser Motto für
die Spielzeit 2016/17: »Oper ohne Grenzen«.
Auf unseren Opernbühnen steht schon seit
Langem der polnische Bass neben dem niederländischen Bariton und der italienischen
Sopranistin. Die Qualität des Gesangs ist
entscheidend, nicht die Hautfarbe oder die
Nationalität.
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mit Liveübertragungen, Videos, Interviews,
Reportagen und Bildmaterial aus
15 Opern­häusern und Festivals in Deutsch,
Englisch und Französisch
39
BACKSTAGE
Fit und gut gelaunt, denn derzeit
schlafen sie in
ihren eigenen
Betten: Sopranistin
Mandy Fredrich
und der Schauspieler, Bühnenbildner
und Regisseur
Sébastien Jacobi
DAS GESPRÄCH
In fremden Betten
Mandy Fredrich: Ich muss gestehen, ich
habe noch nie vom Hotel Chelsea gehört.
Muss man das kennen?
Sébastien Jacobi: Ganz unbekannt ist es
jedenfalls nicht. Es wurde ab 1883 in New
York gebaut, war bis 1902 das höchste Gebäude der Stadt. Später wurde es berühmt,
weil etliche Künstler dort gelebt haben.
Der Schriftsteller Arthur Miller zog ein, als
er sich von Marilyn Monroe trennte. Antonín
Dvorák, Bob Dylan, Janis Joplin und Leonard
Cohen. Andy Warhol hat den Film Chelsea
Girls im Hotel gedreht, The Velvet Underground widmeten dem Chelsea einen Song.
Fredrich: Klingt nicht nach einem gewöhnlichen Bed-&-Breakfast-Haus.
Jacobi: Das war es auch nicht. Hier wurden jede Menge Drogen konsumiert. Einige
Gäste lebten dort, obwohl sie sich die Miete
nicht leisten konnten. Stanley Bard, einer
der Eigentümer und Manager, gab denen, die
er für talentierte Künstler hielt, fünf Jahre
Zeit, Rechnungen zu begleichen. Nicht selten
ließ er sich mit Kunstwerken bezahlen, viele
davon hingen in der Lobby und auf den Gängen. Die besten nahm er mit nach Hause.
Leider wurde das Hotel vor zwei Jahren verkauft und wegen Renovierung geschlossen.
Fredrich: Die Leute haben da drin jahrelang
gelebt? Das käme für mich nicht infrage.
Wenn ich mehrere Wochen in einer Stadt
bleibe, suche ich mir lieber eine Wohnung.
Ich habe gern mein eigenes Reich.
Jacobi: Im Chelsea gab es riesige Appartements. Je höher man die Treppe hinaufstieg,
desto luxuriöser wurden die Wohnungen,
desto wichtiger waren die Gäste: In der ersten Etage waren die Junkies in kleinen Zimmerchen untergebracht, auf dem Dach hat
sich die Schauspielerin Sarah Bernhardt beispielsweise eine Pyramide bauen lassen. Für
mich bedeutet das Leben im Hotel immer
Fotos: Martin Sigmund; Christoph Kolossa
Mandy Fredrich schläft als international gefragte Opernsängerin oft in Hotels.
Sébastien Jacobi inszeniert einen Liederabend zum legendären Hotel Chelsea.
Ein Gespräch über Luxus, Kissen und die Kunst, sich unterwegs daheim zu fühlen
beendet ist, heißt es: Bitte bis elf Uhr das
Zimmer räumen!
MANDY FREDRICH (37) stammt
Fredrich: Nicht einmal in fünf Tagen schafaus Rädigke im Fläming. Die Soprafe ich es, das Angebot ansatzweise zu nutnistin gewann unter anderem die
Competizione dell’Opera in Dresden.
zen. Wir proben oft von zehn Uhr morgens
Seit 2015 ist sie Ensemblemitglied
bis zehn Uhr abends. Soll ich danach noch
in Stuttgart und singt unter anderem
schwimmen gehen?
ab Oktober die Margarethe in Faust
Jacobi: Leider bleiben auch Kreativschübe
SÉBASTIEN JACOBI (46) studierte
aus. Ich dachte immer, die kommen von
in Frankfurt am Main Schauspiel und
selbst. So wie bei Marcel Prousts Grand
lernte unter anderem bei Dennis
Hôtel in der Normandie, wo er viele SomHopper. In Stuttgart gastiert er für die
Regie beim Liederabend Chelsea Hotel
mer lang lebte. Man stumpft aber eher ab.
Fredrich: Spannend wird es, wenn die
künstliche Hotelwelt mit der Wirklichkeit
kollidiert. In Moskau übernachtete ich mal
in einem Luxushotel, wo wir wie Weltstars
hofiert wurden. Am nächsten Morgen ging
noch Luxus. Das ist so eine romantische es zur Probe in einen heruntergekommenen
Vorstellung aus meiner Kindheit.
Orchesterraum ohne Umkleide und mit Toi­
Fredrich: Das geht mir auch so. Aber es letten, die man kaum zu benutzen wagte.
fühlt sich auch schnell komisch an, wenn Jacobi: Meine interessanteste Hotelerfah­
man so bedient wird, dass man den Koffer rung hatte ich im Hamburger Atlantic.
zum Beispiel nicht selbst tragen darf. Ich Na­türlich hatten wir gehört, dass Udo Linhänge oft das Bitte-nicht-stören-Schild an denberg dort lebt. Ich hielt das für einen
die Tür – einfach um nach den Theater­ Mythos. Dann stand ich mit ihm im Fahrproben vor Ort auch einmal Ruhe zu haben. stuhl, tat so, als wäre die Situation völlig
Jacobi: Ist dir das Leben im Hotel lästig?
normal. Er schien fast beleidigt und fing an,
Fredrich: Es ist immer etwas kompliziert. laut zu summen. Als wollte er, dass ich ihn
Ich vertrage zum Beispiel viele Nahrungs- anspreche. Er scheint sich da wirklich zu
mittel nicht. Neulich war ich in Tokio, einer Hause zu fühlen. Ich komme mir nach einer
meiner Koffer war deshalb vollgepackt mit Weile im Hotel oft vor wie im Hospital oder
Lebensmitteln. Und für mich als Sängerin in einer Anstalt.
gibt es weitere kritische Punkte, etwa die Kli- Fredrich: Mit dem echten Leben hat das
maanlage. Ich habe immer Klebeband dabei, jedenfalls nichts zu tun. Das Schöne am Hodamit ich die Lüftung mit Papier abdecken telleben ist aber, dass man so viel Zeit mit
kann, wenn sie sich nicht abstellen lässt. den Kollegen verbringt. Normaler­weise verManchmal reise ich mit eigenem Kopf­kissen. schwinden wir nach der Vorstellung zu unseren Familien. Un­ter­
Wenn das vorhandene zu hoch ist,
wegs wächst man
verspannen die Nackenmuskeln. Die
Damit im Theater alle
wissen, was auf den
dagegen schneller zu
müssen aber besonders locker sein.
Bühnen passiert, gibt es
einem Ensemble zu­
Jacobi: Hast du ein Lieblingshotel­
Durchsagen im ganzen
sammen.
erlebnis?
Haus. Die schönsten
Jacobi: Genau die­ser
Fredrich: Das war in Chile, wo ich
drucken wir in Reihe 5
Austausch machte
einmal spontan einsprang. Ich entkam
das Chelsea so bedem deutschen Winter und wurde
sonders. Es war ein
herzlich von der Hotelchefin begrüßt,
Hotel voller Freaks.
die Deutsch sprach. Vom Zimmer aus
Viele kamen gezielt
sah ich das Meer und bei den Proben
dorthin, um berühmt
einen riesigen Vulkan am Horizont. Ich
DURCHSAGE
zu werden, und bei
fühlte mich sehr wohl. Es hat ja auch
20. Juli, 10:55 Uhr
einigen hat es geetwas Reinigendes, eine Zeit lang auf
Es ist Herbst.
klappt. Mit unserer
ein Bett, einen Tisch und einen Stuhl
Das Ballett Die vier Jahres­
Inszenierung docken
reduziert zu sein.
zeiten entstand für
wir an das an, was die
Jacobi: Stimmt. Hotel bedeutet immer
Schüler der John Cranko
Leute damals künstauch Verzicht. Paradoxerweise sogar
Schule. Jede Jahreszeit
lerisch bewegt hat,
in Luxushotels. Die Möglichkeiten dort
wurde von einem Choreound treiben es weiter.
kann man ja gar nicht alle ausschöpgraphen kreiert, der selbst
Aufgeschrieben von:
fen. Erst muss man die ganze Zeit
Absolvent der Schule war.
Martin Theis
arbeiten, und wenn das Engagement
Die Durchsage informiert
IN DER PROBE BRIGITTE GEGNER (66) aus
Stuttgart besuchte die BAUPROBE
der Inszenierung Das Stuttgarter
Hutzelmännlein. Bei Bauproben
wird ein Bühnenbild zum ersten
Mal auf der Bühne mit Modellmaterialien in Realgröße getestet –
es geht vor allem um Licht, Bespiel­
barkeit und Technik
Was hatten Sie erwartet?
Unter einer Bauprobe habe ich
mir vorgestellt, dass die neuen
Kulissen ausprobiert werden.
Aber es war viel mehr los.
Was ist passiert?
Anfangs stellten Bühnenbild­
nerin und Regisseurin ein
Miniaturmodell der Bühne vor.
Danach schritten sie die große
Bühne und den Zuschauerraum
ab, um zu testen, ob Details von
allen Plätzen zu erkennen sind.
Die Beleuchter setzten Farb­
nuancen ein, Bauten wurden als
Projektionsflächen für Videos
getestet, eine Schauspielerin
probierte sich in Luftakrobatik.
Spannend: Alles war noch völlig
offen. Handwerker und Techniker
tauschten mit der Regisseurin
ständig neue Ideen aus.
Worauf werden Sie
bei der Aufführung achten?
Wie weit sich das Bühnenbild
von dem unterscheidet, was
ich gesehen habe. Am meisten
interessiert mich aber, was aus
der Luftakrobatik wird.
SCHAUSPIEL STUTTGART
DAS STUTTGARTER
HUTZELMÄNNLEIN
nach Eduard Mörike
Premiere: 21. Januar 2017
Möchten auch Sie eine
Probe besuchen? Dann schreiben
Sie uns eine E-Mail an
[email protected]
alle Beteiligten, dass
40
der dritte Satz, der Herbst,
auf der Bühne läuft.
41
BACKSTAGE
ABGESCHMINKT
HAUSBERICHT
Die Hosenrolle
Ich packe meinen Koffer und nehme mit:
Im Oktober folgt das Stuttgarter Ballett einer Einladung nach Schanghai und Peking,
um John Crankos berühmtes Handlungsballett Romeo und Julia aufzuführen.
Bei einer solchen Reise gilt es an so viele unterschiedliche Dinge zu denken, dass
man besser eine lange Liste führt. Eine sehr lange
Hüfte steif, Stimme gewaltig: Mezzosopranistin
Diana Haller erzählt, wie man als Frau einen Mann spielt
350 Stuttgarter Ballett-Tüten
320Autogrammkarten der
Solotänzer
300T-Shirts
180Schlüsselbänder
1 00Packungen BabyFeuchttücher zum
Abschminken
80Schminkschwämme
80 Poster mit
Romeo und Julia-Motiv
75 Jahreskalender 2017
73Bühnenelemente
72Kostüme Damensolo
72Kostüme Herrensolo
70 Flaschen Haarspray
62Kostüme Damengruppe
60Tänzer
52Kostüme Herrengruppe
46Hüte/Haarteile
Herrengruppe
46Hüte/Haarteile
Damengruppe
44Paar Stiefel Herrensolo
39Hüte/Haarteile
Herrenstatisterie
39Kostüme
Herrenstatisterie
36Hüte/Haarteile
Herrensolo
35Bücher über Compagnie
33Paar Stiefel
Herrengruppe
30Regenschirme
26Mäntel Damengruppe
23 geschmückte Ackergeräte
22Stühle
MEIN ARBEITSPLATZ
ALMUT BRACHER (54)
ist Inspizientin im Opernhaus
Bei jeder Vorstellung arbeiten
bis zu drei Inspizienten. Was
ist Ihre Aufgabe?
Wie behalten Sie selbst den
Überblick?
Wir bekommen von jeder
Partitur die Klavierfassung, in
die wir unsere Zeichen eintragen, deutlich und möglichst
aktuell. Wichtig ist, dass auch
die Kollegen alles verstehen.
Dafür benutze ich gern bunte
Aufkleber. Genauso wichtig
sind aber gute Nerven.
Was, wenn etwas schiefgeht?
»Um einen Mann zu spielen, schaue ich mir Männer an. Wie sie laufen. Wie sie sprechen. Was sie tun. Wie sie etwas tun. Um den einen
Typ zu finden, der zur Rolle passt; ›Hosenrolle‹ nennen wir es am
Theater übrigens, wenn Frauen Männer spielen. Männer bewegen
sich anders, viel weniger aus der Hüfte heraus als Frauen. Und natürlich macht es einen Unterschied aus, ob ich einen Jungen spiele wie
zum Beispiel den Cherubino in Die Hochzeit des Figaro oder einen
›Latin Lover‹ wie den Ruggiero in Alcina von Händel.
Ruggiero ist eine sehr komplexe Figur, weil er innerlich so zerrissen ist. Man muss sehr aufpassen, dass man vor lauter Gefühl die
Technik nicht vergisst. Das ist für die Stimme nicht gesund.
Überhaupt, die Stimme. Wie der Ruggiero in Alcina gibt es in
vielen Barockopern Partien für Kastraten. Kastraten konnten deshalb
Dass der Vorhang klemmt
so
oder ein Computer
ausfällt, kann immer
mal passieren.
Einmal steckte sogar
ein Darsteller im
Stau, und wir mussten
DURCHSAGE
den Beginn hinaus­
22. Juni, 10:05 Uhr
zögern. Da heißt es:
Bitte die Bibeln
Ruhe ausstrahlen!
mit auf die Bühne
Wenn dann ein
nehmen!
Rädchen ins andere
greift, genieße
In der Oper Die Puritaner
treten die Herren des
ich es sehr, mitten
Chores als gläubige Pilger
im Geschehen zu
auf. Dazu halten sie
sein. Alles ist nah,
Bibeln. Diese werden
vor der Probe in der
alles ist live!
Chorgarderobe platziert.
Protokoll:
Damit die Choristen
Christoph Kolossa
ihre Requisiten nicht
42
vergessen, erinnert sie der
Inspizient kurz vor dem
Auftritt daran.
hoch singen, weil ihnen als Jungen die Hoden entfernt wurden.
Dadurch fehlte ihnen in der Pubertät der wichtige Anstieg des
männlichen Hormons Testosteron, Kehlkopf und Stimmbänder
4Pianisten
4 Perücken Damensolo
4 Monate Reisezeit der
Container
3Ballettmeister
3Mäntel Herrenstatisterie
3Perücken Herrensolo
3 Tische mit Rollen
3 dreibeinige Hocker
3Fußbecher
2Dirigenten
2Physiotherapeuten
2Requisiteure
2Kisten mit
Trainingskleidung
2Rollständerkisten
2 Bauchläden mit Schmuck
2Blumensträuße
2 weiße Fächer
2Reisigbesen
2Holzeimer
2Strohkränze
1Ballettintendant
1 stv. Ballettintendant
1Geschäftsführerin/
Tourleitung
1Referentin Intendant/
Tourleitung
1Inspizient
1 Mitarbeiter
Presse/Kommunikation
1 Mitarbeiter Merchandising
1 Ballettmeisterin Statisterie
1Tontechniker
1Wäschekiste mit 500 Handtüchern, 4 Bügelbrettern
und Waschmittel
1Trockenschrank
1Tisch
1Bratpfanne
1Blechkanne
1 Leiterwagen mit Blumen
1 Leiterwagen mit Fässern
1Wurstwagen
1 Vogelkäfig
1 ausgestopfter Papagei
1Blumenwagen
1 Topf mit Blumen
1Stoffwagen
1Tragstuhl
1 Geflügelwagen
1Gans
1Gemüsewagen
1Holzgabel
1 Korb mit Henkel
1Messingkanne
1 vergoldete Porzellanschale
1 Topf mit Lorbeer
1 Topf mit kleinem Oleander
1 Topf mit Philodendron
1 Topf mit Calla
1 Topf mit Dieffenbachie
1 Topf mit Aralie
1Erntekrone
1Totenkopf
1Schierlingszweig
1Bettkasten
1 Matratze auf Holzgestell
1Laken
1Kopfkissen
1 blaues Tuch
1 Stück hellblauer Tüll
1 Giftfläschchen
1 Liege mit Kopfkeil
blieben kindlich, und sie behielten ihre hohe Stimme. Körperlich
sind sie trotzdem gewachsen und erlangten das Lungenvolumen von Männern. In Barockopern gibt es deshalb viele lange
Phrasen und Koloraturen. Frauen können nicht wie Kastraten
singen. Wenn Frauen so eine Partie übernehmen, müssen sie
sehr viel üben. Vor allem müssen sie die Muskulatur im Brustkorb und im Bauch trainieren – und die Atemtechnik. Ich war
früher einmal Synchronschwimmerin und habe gelernt, mir die
Luft einzuteilen. Das hilft mir sehr.« Protokoll: Saphir Robert
DIANA HALLER ist in der Rolle des Ruggiero in der Oper Alcina von Georg Friedrich Händel
zu hören. Wieder im Repertoire ab 5. Oktober 2016 im Opernhaus
Foto: Christoph Kolossa Illustration: Tina Berning
Wir koordinieren alle künstlerischen und technischen
Ab­läufe, geben die Signale für
Umbauten und Fahrten und
rufen die Darsteller zum Auftritt. Dafür stehen wir in Kontakt mit allen für uns relevanten
Abtei­lungen und Teams.
20Hüte/Haarteile
Damensolo
20Paar Stiefel
Herrenstatisterie
18Degen/Bihänder
18Mäntel Herrensolo
17schwarz-goldene
Vortragekissen
16Hüte/Haarteile
Damenstatisterie
16Kostüme Damenstatisterie
16Mäntel Herrengruppe
15 Körbchen
12Brustpanzer
12Mäntel Damensolo
12 Standarten
10Leitz-Ordner mit dem
Visumantrag, allen Passdaten und sonstigen Do­
kumenten der Teilnehmer
9Bühnentechniker
9Strohköpfe
8Lilien
7Ankleider
7CDs mit der Musik von
Romeo und Julia
7Vertragsentwürfe bis zum
verbindlich zugesagten
Gastspiel
6Maskenbildner
6Mitarbeiter Beleuchtung
6Klapptafeln
5Kelchgläser
5 Container mit einem
Einzelgewicht von je etwa
6 Tonnen, in denen das
Equipment verschifft wird
Teilnehmer
Insgesamt 110 Mitglieder
reisen nach China. Die Dar­
stellerinnen und Darsteller
teilen sich in Solo, Gruppe
und Statisterie: Die Solisten
tanzen die Hauptrollen,
die Gruppe die Ensemble­
szenen, und die Statisten
ergänzen die jeweilige
Szene. In Stuttgart halten
sich 24 Tänzerinnen, Tänzer
und Mitarbeiter bereit, falls
vor Ort jemand ausfällt
Kostüm & Maske
Um Ausfälle zu kompen­
sieren und den Tänzern
die nötigen Pausen zu
ermöglichen, reisen für
jede Solorolle bis zu fünf
Besetzungen mit. Weil jede
Solistin und jeder Solist
ein exakt angepasstes
Kostüm tragen muss, steckt
in den Kleiderkisten die
Ausstattung für etwa fünf
Solobesetzungen und zwei
Gruppenbesetzungen
Requisiten
Damit das Gastspiel nicht
nur tänzerisch dem genügt,
was auf der Bühne zu Hause
in Stuttgart passiert,
sondern auch so aussieht –
und auf das Publikum so
wirkt! –, hat die Compagnie
191 Requisiten im Gepäck
Fan-Artikel
Es soll etwas im Gastland
zurückbleiben, wenn die
Compagnie schon wieder
daheim in Stuttgart ist.
Deshalb reist ein eigener
Mitarbeiter mit, der
insgesamt rund 1400
Merchandising-Artikel
mit einem Gesamtgewicht
von etwa 700 Kilogramm
im Angebot hat
Logistik &
Organisation
Die Planung ist ein Aben­
teuer für sich. Die Vorbe­
reitungen beginnen bereits
zwei Jahre im Voraus, wenn
die erste Anfrage eintrifft.
Die intensive Phase startet
rund neun Monate vor
Abreise und umfasst unter
anderem die Vertrags- und
Visumangelegenheiten
sowie die Organisation des
Transports
43
JUNGE SEITE
RÄTSELHAFT
TERMINE
FÜR DICH
WIDERSPENSTIGEN
ZÄHMUNG, John
Crankos lustiges
Familienballett um die
turbulente Beziehung
der kratzbürstigen
Katharina mit dem
frechen Petruchio.
Für die ganz Kleinen:
Den Bewohnern des
Gartens der Pusteblu­
men geht es gut – bis
auf kleine, verborgene
Wünsche in diesem
oder jenem Herzen.
Ihr Geheimnis lüftet
das Sitzkissenkonzert
IM GARTEN DER
PUSTEBLUMEN am
22., 27., 29. Oktober
und 10., 21., 28.
November 2016 im
Opernhaus, Foyer
III. Rang.
AM THEATER ARBEITEN
Herr Vajzovic lässt
Bonbons regnen
Adrian Vajzovic ist 26 Jahre alt und hat vor sechs Jahren
seinen Traumberuf gefunden: Requisiteur am Nord, der kleineren
Bühne des Schauspiels Stuttgart
Was genau macht ein
Requisiteur?
Und wie sieht die Zusammenarbeit mit den
Kostümbildnern aus?
Ein Requisiteur kümmert
sich um alle beweglichen
Einrichtungsgegenstände
auf der Bühne, von der
Wäscheklammer über Torten und Getränke bis zum
Gewehr. Da bei uns auch
Möbel Requisiten sind, richten wir manchmal sogar
eine Küche mit allem Drum und Dran ein.
Es heißt: »Alles, was der Schauspieler am Körper
trägt, ist Sache der Kostümbildner.« Aber in einem
Stück gab es zum Beispiel einen Astronauten mit
einem spacigen Rucksack. Den Anzug haben die
Kostümbildner genäht, den Rucksack haben wir
aus Schneebesen und anderen Küchengeräten
gebaut. Diese Aufteilung war einfach praktisch.
Womit beginnt Ihre Arbeit an einem Stück?
Die ist auf jeden Fall hilfreich. In meiner Ausbildung zum Holzmechaniker habe ich gelernt,
Möbel zu bauen. Auch Spaß am Basteln und
Tüfteln ist eine gute Voraussetzung.
Wir arbeiten Hand in Hand mit den Bühnenbildnern.
Wenn sie beginnen, das Stück zu gestalten, besprechen sie sich mit uns. In diesen Gesprächen tauschen wir Ideen aus, und manchmal zeigt sich schon
da, welche Gegenstände später benötigt werden. Mit
denen beschäftigen wir uns zunächst theoretisch.
Was heißt das?
Wir recherchieren zum Beispiel, wie vor 100 Jahren
eine Küche aussah oder wie ein Nadeldrucker aus
den Achtzigerjahren funktionierte. Die Dinge verändern sich ja mit der Zeit und dem technischen
Fortschritt. Wenn die Bühnenbildner ihren Entwurf
fertig haben, beginnt unsere praktische Arbeit: Einen
Teil der Gegenstände kaufen wir
ein, oft im Trödelladen oder auf
dem Flohmarkt. Den anderen
Teil bauen wir selbst.
Lieblingsbeschäftigung
NACHGEFRAGT
Was ist der Unterschied zwischen
Oper und Musical?
Was ist der verrückteste Gegenstand, den Sie
gebaut haben?
S
Das ist gar nicht so leicht zu sagen … Einmal war
das ganze Bühnenbild aus Wellpappe gebaut. Einen Teil davon sollten die Schauspieler während
des Stücks aufessen. Dazu habe ich Pizzateig mit
Lebensmittelfarbe gefärbt und dann geformt,
gebacken und eingebaut. Er war von der Pappe
nicht zu unterscheiden. Aus technischer Sicht
war es ein Bett, das anfing zu tropfen, wenn der
Schauspieler an einer Schnur zog. Aber nicht alles
lässt sich technisch lösen: Ich saß auch schon im
Schnürboden, dem hohen Raum über der Bühne,
und habe von Hand Bonbons regnen lassen.
Ja, klar. Wir müssen ihnen unsere Erfindungen
erklären und mit ihnen besprechen, wo was auf
der Bühne steht, damit die Aufführung wie geplant verläuft.
Woran arbeiten Sie gerade?
44
Alter
Braucht man eine handwerkliche Ausbildung,
um Requisiteur zu werden?
Haben Sie Kontakt zu den Schauspielern?
Schatzkammer der Requisiteure:
der Fundus (oben). Auch bunte Brummkreisel
warten dort geduldig auf ihren Einsatz
Name
Ich räume den Fundus auf, die Räume, in denen
wir alle Requisiten aufbewahren. Der Fundus ist
wie ein riesiger sortierter Flohmarkt und begeistert mich immer wieder. Als ich vor vielen Jahren
ein Praktikum bei den Kostümbildnern machte,
kam ich einmal zufällig hierher. Ich wusste sofort:
»Hier will ich arbeiten!« Interview: Isabelle Erler
owohl in der Oper als auch im Musical sind Musik und Gesang das Wichtigste. Im Musical wird zusätzlich viel
getanzt und mehr gesprochen. Auch
singen Musicalsänger meist mit technischer Verstärkung. Manchmal kommt
die Musik, die sie begleitet, vom Band,
manchmal spielt ein kleines Orchester.
In der Oper dagegen spielt immer ein
Orchester live, und es ist größer als das
Illustrationen: von Zubinski
Am 29. September
und am 3., 7., 11.,
14., 16. und 20. Oktober
2016 zeigt das
Stuttgarter Ballett
im Opernhaus DER
Sein grandioses Finale im Scheinwerferlicht hat Ritter Dose sich offensichtlich ganz anders vorgestellt. Was wirst du ihm als Überraschung wohl vor
die Nase malen oder zeichnen?
Fotos: Anja Haas; Martin Sigmund
Mit einem bunten
THEATERFEST für
Kinder und Erwach­
sene eröffnet das
Schauspiel Stuttgart
am 25. September
2016 die neue Spiel­
zeit. Unter anderem
im Programm: viele
Mitmachaktivitäten,
eine Lesung aus den
Madita­Romanen von
Astrid Lindgren, eine
Kostüm­Show und ein
schräger Tanzball.
THEATERKINDER
Musicalorchester. In manchen Opern,
zum Beispiel von Richard Wagner, sitzen tatsächlich bis zu 100 Musiker im
Orchestergraben – ein wirklich beeindruckendes Klangerlebnis! Die Opernsänger
singen ohne technische Verstärkung, und
trotzdem ist ihr schöner Gesang, selbst
wenn er nur hauchzart gesungen wird,
über und mit der Musik des Orchesters
überall im Opernsaal hörbar.
VOLL WITZIG
Eigentlich wollte ich Hip­Hop
tanzen lernen. Aber als meine
Tanzlehrerin
mich tanzen sah, war
sie total überzeugt,
dass klassisches
Ballett perfekt
für mich ist. Sie
hat mir geraten,
mich an der John
Cranko Schule zu bewerben.
Ich fand das sehr spannend, habe
vorgetanzt – und die Aufnahmeprüfung
bestanden. Das war vor drei Jahren.
Klassisches Ballett macht mir wirklich
total viel Spaß, besonders das Springen.
Manche Freunde verstehen das
nicht, andere finden es cool und kommen
manchmal auch zu Aufführungen.
Ich habe schon in Dornröschen mitge­
tanzt, in Der Widerspenstigen Zähmung
– und, im Rahmen einer Aufführung
unserer Schule im Opernhaus, in Spirits
of Nature. Das war besonders toll
und aufregend.
Wenn ich in sieben Jahren meinen
Abschluss hier geschafft habe, würde
ich gern im Ausland tanzen, in
Sankt Petersburg zum Beispiel oder am
Royal Ballet in London.
45
Reihe 5 im Abo!
DURCHSAGE
7. Juni, 12:30 Uhr
Ein Vorhang­
zieher für das
rechte Auge, bitte!
Kostenlos und viermal im Jahr
bieten wir Ihnen noch mehr
Geschichten vor, auf und hinter
der Bühne.
Foto: Martin Sigmund
Die Durchsage bezieht
sich auf das zentrale
Bühnenbildelement in
dem Stück Tote Seelen,
einen riesigen Totenschädel. Beide Augenhöhlen
werden mehrmals
während der Aufführung
bespielt. Dazu müssen
die das jeweilige Auge
verschließenden Jalousien
aufgezogen werden.
WAS WAR DA LOS?
Simone Jackel, Altistin im Staatsopernchor Stuttgart:
»Dieses Foto ist während der Klavierhauptprobe zur Produktion
Gespräche der Karmeliterinnen entstanden. Auf dem Foto bin ich
(2. v. l.) mit meinen Kolleginnen aus dem Chor zu sehen. Bei einer
Klavierhauptprobe sind das erste Mal alle Kostüme, Kulissen und
Darsteller auf der Bühne. In dieser Situation versuchen wir, die Anweisungen des Regisseurs im Zuschauerraum zu verstehen.
IMPRESSUM
Herausgeber
Die Staatstheater Stuttgart
Geschäftsführender Intendant
Marc-Oliver Hendriks
Intendant Oper Stuttgart
Jossi Wieler
Intendant Stuttgarter Ballett
Reid Anderson
Intendant Schauspiel Stuttgart
Armin Petras
46
Konzept ErlerSkibbeTönsmann &
Grauel Publishing GmbH
Beratung der Herausgeber
Johannes Erler, Ralf Grauel
Redaktion Ralf Grauel (Ltg.), Saphir
Robert, Kai Schächtele, Isabelle Erler
(Junge Seite); Christoph Kolossa
Redaktion für Die Staatstheater
Stuttgart Thomas Koch, Claudia
Eich-Parkin (Oper); Vivien Arnold,
Ronja Ruppert (Ballett); Rebecca
Rasem, Jan Hein (Schauspiel)
Offensichtlich klappt das nur mit Mühe, was zum Teil an den Nonnenhauben liegt. Für Sänger ist es extrem wichtig, dass sie während
der Vorstellung sich selbst, die Kollegen und das Orchester gut hören
können. Dafür haben die Hutmacher die Hauben an den Seiten mit
etlichen Löchern präpariert. Bei der Vorstellung hat das auch funktioniert, nur ist die Musik für Sänger auf der Bühne eben viel lauter
als eine einzelne Stimme aus dem Zuschauerraum.«
Per Post an:
Die Staatstheater Stuttgart – Publikationen
Postfach 10 43 45, 70038 Stuttgart
Gestaltung Anja Haas; Inga Albers
Anzeigen Simone Ulmer
[email protected]
Druck Bechtle Druck&Service GmbH,
Esslingen
Erscheinungsweise 4 × pro Spielzeit
Hausanschrift
Die Staatstheater Stuttgart
Oberer Schlossgarten 6
70173 Stuttgart
www.staatstheater­stuttgart.de
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Hauptsponsor des
Stuttgarter Balletts
Förderer des
Stuttgarter Balletts
Partner der
Oper Stuttgart
Online unter:
www.staatstheater-stuttgart.de/reihe5
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GEFÖRDERT DURCH
DIETER HACKER, MULTIPLIZIERTES OBJEKT (DETAIL), 1968, HOLZ, POLYSTYROL, LACK, 140 CM (DURCHMESSER), GALERIE MICHAEL STURM, FOTO: FRANK KLEINBACH, © DIETER HACKER
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