Ein gefährlicher Versuch

Werbung
WIRTSCHAFT
Artikel vom 21.08.2016 / Ausgabe 34 / Seite 4
Ein gefährlicher Versuch
Steffen Fründt
Die Krankenkassen wollen bei der Krebsbehandlung sparen: Die Medikamente sollen
nur noch von den billigsten Apotheken gemischt werden. Schon nach wenigen Tagen
beklagen Mediziner chaotische Zustände
Es sind 17 identische Liegesessel, die sich im Obergeschoss der onkologischen Praxis in der
Duisburger Innenstadt aneinanderreihen, vor jedem steht ein kleines Bänkchen für die Füße.
Sie sehen gemütlich aus, wie Fernsehsessel. Doch die Menschen, die dort Platz nehmen,
kommen, um sich eine hochtoxische Substanz verabreichen zu lassen. Während sie
nebeneinander sitzen, in Magazinen blättern oder auf dem Kopfhörer Musik hören, tropft ein
für jeden speziell zusammengemixter Cocktail aus Medikamenten in ihre Blutbahn, die das
Zellwachstum stoppen oder verlangsamen und damit den Krebs, wie sie hoffen. 40 bis 50
Patienten am Tag bekommen hier ihre Chemotherapie, viele haben Stammplätze. Der Kampf
gegen den Tod kann zur Routine werden.
Doch nun gibt es ein Problem mit dem Medikamentenmix, die Patienten sind in Aufruhr, in
ganz Deutschland. Zwei Wochen ist es her, dass im Medizinischen Versorgungszentrum
Hämatologie und Onkologie Duisburg die Krankenschwester Ute Jöris, 54, bemerkte, dass
etwas nicht stimmte. Sie bereitete die Therapien für den Tag vor. Für zwei Patienten waren
keine Infusionsbeutel geliefert worden. Sie rief die Apotheke an. Der Apotheker versprach, er
werde die Präparate gleich nachschicken. Später am Tag kam ein Fax mit dem Hinweis, dass
man leider keine Chemotherapien mehr liefern werde. Und zwar schon ab dem nächsten Tag.
Jöris begann die Behandlung der anderen Patienten. Die beiden AOK-Versicherten – ein an
Bronchialkrebs erkrankter Mann und eine Frau mit einem Eierstockkarzinom – konnte sie nur
hinhalten. Jöris gab ihnen eine Vorinfusion gegen Übelkeit. Sie drehte den Tropf extra
langsam, um das Warten zumindest subjektiv zu verkürzen. "Zeit ist für Krebspatienten etwas
sehr Wertvolles", bemerkt die 54-Jährige.
Die AOK ist die erste von mehreren Krankenkassen, die ein Sparprogramm eingeführt haben,
das schon nach wenigen Tagen zu einem ziemlichen Chaos in Deutschlands onkologischen
Arztpraxen geführt hat. Bisher werden die Ärzte von spezialisierten Apotheken mit eigens
angemischten Chemotherapien beliefert, oft sind die Geschäftsbeziehungen über viele Jahre
gewachsen. Künftig sollen nur noch die billigsten Apotheker Krebsmittel mischen. Wer den
Zuschlag im Ausschreibungsverfahren bekommt, darf eine ganze Region versorgen. Andere
Kassen wollen es der AOK gleichtun, die DAK, Knappschaft und viele
Betriebskrankenkassen etwa. Die Neuerung wird bald wohl mindestens 30 Millionen
Versicherte betreffen.
Die Änderung ist kaum in Kraft, da stellt sich schon heraus, dass einige Anbieter womöglich
gar nicht in der Lage sind, die Versorgung todkranker Menschen zu gewährleisten.
Jedes Jahr wird in Deutschland bei rund einer halben Million Menschen ein bösartiger Tumor
diagnostiziert. Mehr als 40 Prozent von ihnen sterben daran. Die meisten Patienten aber
können den Krebs für einige Zeit oder ganz besiegen, durch Operationen, Bestrahlung, neue
Behandlungsmethoden – und durch Chemotherapien. Die haben teils heftige
Nebenwirkungen, Haarausfall, schwere Übelkeit. Doch sie können Leben retten oder
verlängern. Ärzte und Apotheker hatten deshalb gegen die Pläne der Kassen protestiert und
vor gravierenden Folgen gewarnt. Vergeblich.
Für die Versicherten der AOK ist das neue Verfahren nun in mehreren Bundesländern
Wirklichkeit. Seit Anfang des Monats erhalten sie ihre Zytostatika nur noch von der
Apotheke, die das Los für ihre Region gezogen hat.
Nun berichten Mediziner, dass die ersten Erfahrungen die Befürchtungen bestätigen. "Es kam
in den betroffenen Praxen wiederholt zu ernsthaften Problemen. Da bricht eine Welle über
uns herein", sagt Erik Engel vom Vorstand des Bundesverbands der Niedergelassenen
Hämatologen und Onkologen (BNHO). Der Verband hat ein wissenschaftliches Institut
beauftragt, die Auswirkungen des neuen Systems auf die Zytostatika-Versorgung in der
Praxis zu analysieren. Der Zwischenbericht, dessen Zusammenfassung der "Welt am
Sonntag" vorliegt, liest sich dramatisch: fehlende Chemotherapien, nicht lieferbare
Begleitmedikationen, unbefüllte Infusionsbestecke, unbeschriftete Spritzen, falsche
Packungsgrößen, Lieferverzögerungen, Kommunikationsprobleme und vieles mehr. Binnen
nur 15 Tagen kam es demnach in 60 untersuchten Arztpraxen zu mehr als 60 als gravierend
oder sehr gravierend eingestuften Vorfällen.
"Einige Apotheker scheinen mit der Lage komplett überfordert", sagt Ralf Lohse,
Geschäftsführer der Nädler GmbH. Das Unternehmen betreibt an neun Standorten
Medizinische Versorgungszentren, 21 Onkologen arbeiten dort. Auch die berichten nichts
Gutes: In der Rhein-Ruhr-Region etwa habe eine Apotheke den Zuschlag für die Versorgung
von sechs großen onkologischen Einrichtungen bekommen, die nicht einmal über ein
vollwertiges Labor zur Herstellung der Zytostatika-Infusionen verfüge – und deshalb auf
einen Drittanbieter zurückgreifen müsse. Das führe zu folgenreichen Verspätungen. Obwohl
laut Ausschreibungsbedingungen der AOK eine Ad-hoc-Versorgung binnen 45 Minuten
garantiert sein muss, kämen die oft nur wenige Stunden haltbaren Medikamente regelmäßig
zu spät, sagt Lohse: "Patienten sitzen bis zu sechs, sieben Stunden in der Praxis." Für
Krebskranke, denen die Therapie manchmal nur noch einige Monate schenkt, sei das
besonders bitter.
Lohse erzählt zudem, dass eine Apotheke eine Chemotherapie kurzerhand in einem
zweckentfremdeten Kochsalzbeutel lieferte, gängige Medikamente seien nicht verfügbar
gewesen, Infusionsbestecke unpassend. Lohses Zwischenbilanz ist verheerend: "Bei
annähernd 100 Prozent der betroffenen Patienten kam es in den ersten 15 Tagen zu
irgendwelchen Unregelmäßigkeiten."
In anderen Bundesländern ist es offenbar ähnlich. In Hamburg vergab die AOK das Los
zunächst an einen wegen Arzneimittelbetrugs vorbestraften Apotheker, der
Krebsmedikamente aus Ägypten bezogen haben soll und gegen den die Staatsanwaltschaft
auch aktuell wegen des Verdachts von Unregelmäßigkeiten bei der Zytostatika-Herstellung
ermittelt. Die Kasse hat dem Mann die Lizenz inzwischen wieder entzogen.
In Hessen befindet sich eine Onkologin in einem intensiven Schriftverkehr mit der ihr
zugewiesenen Apotheke und der Kasse, nachdem ihr eine nur wenige Stunden haltbare
Infusion mit großer Verspätung geliefert worden war. Der Apotheker forderte die Ärztin auf,
das verfallene Präparat trotzdem zu verabreichen, es sei noch gut. Vermutlich wollte er
verhindern, dass seine Verspätung ihn teuer zu stehen kommt. Eine einzige AntikörperTagesdosis kann mehrere Tausend Euro kosten.
Im Fachjargon heißen die Zytostatika, die nicht verabreicht werden können, "Verwürfe".
Auch sie spielen im neuen Ausschreibungsverfahren eine Rolle – und können die Kassen am
Ende viel Geld kosten. Es kommt häufig vor, dass eine geplante Therapie nicht durchgeführt
werden kann, weil der Patient zu schwach ist, Nebenwirkungen erleidet oder kurzfristig ins
Krankenhaus muss. Bisher nahmen die Apotheken die Präparate dann meist zurück. Bei
ausreichender Haltbarkeit konnten sie die steril verpackten Zytostatika noch für die Therapie
anderer Patienten verwenden. "In den Ausschreibungen ist die Rücknahme der Verwürfe nicht
mehr vorgesehen", sagt Michael Schaefers, niedergelassener Arzt in der Onkologie Duisburg.
"Wir müssen sie wegschmeißen und normal rezeptieren. Es wirkt fast so, als hätten die
Kassen nie mit einem Arzt gesprochen."
Die AOK dagegen sagt, die neuen Versorgungsverträge seien "sehr positiv angelaufen". Nur
"in wenigen , einzelnen Fällen" habe die Umstellung "nicht vom ersten Tag an reibungslos"
geklappt. Zudem habe sich ein ähnliches Ausschreibungskonzept in Berlin schon seit Jahren
bewährt. Es komme Bewegung in einen bisher intransparenten Markt. "Dass sich einige
Onkologen und Apotheker aufregen, war vorprogrammiert", heißt es in der Stellungnahme
ungewöhnlich flapsig. "Da sieht so mancher Beteiligte seine Geschäftsbeziehungen und
Traummargen in Gefahr."
Allerdings räumt die AOK ein, dass sie in zwei nordrhein-westfälischen Losgebieten wieder
zum bisherigen Versorgungssystem zurückkehren musste. Dort hätten Apotheker ihre
Verträge schon wieder gekündigt. Die Hintergründe würden derzeit aufgeklärt. Wenn die
Krankenkasse im Rahmen der Ausschreibung prüft, ob ein Apotheker geeignet ist, verlässt sie
sich erst einmal auf dessen Angaben.
Die Kassen müssen sparen, Krebsmittel sind ein teurer Posten im deutschen
Gesundheitswesen. Es wundert also nicht, dass sie die Onkologie ins Visier nehmen. Die
Ausgaben für Chemotherapien beziffern Experten auf ungefähr drei Milliarden Euro pro Jahr.
Die Frage ist bloß, ob die Behandlung todkranker Menschen das geeignete Experimentierfeld
für neue Sparkonzepte ist.
"Das Ausschreibungsverfahren bedeutet einen massiven Eingriff in Arbeitsabläufe mit
gefährlichen Substanzen", sagt Onkologe Engel, in dessen Praxis in Hamburg-Altona pro Jahr
mehr als 5000 Chemotherapien verabreicht werden. Die Präparate werden von einer
spezialisierten Apotheke im selben Haus zubereitet, der Lieferweg ist nur eine Fahrstuhlfahrt.
Trotz dieser fast familiären Versorgungskette sorgt ein penibles, mehrfach redundantes
Dokumentations- und Kontrollsystem dafür, dass in den sterilen Behältnissen auch immer das
richtige Medikament in der richtigen Menge zum richtigen Zeitpunkt beim richtigen Patienten
landet. Ein Sicherheit gebendes System, das durchbrochen wird, wenn zukünftig die Kuriere
von fünf oder sechs Apotheken mit jeweils eigenen Kennzeichnungs- und
Verpackungssystemen in der Praxis aufschlagen. "Wenn ich einem Patienten eine glasklare
Flüssigkeit verabreiche, habe ich keine Möglichkeit, den Inhalt zu überprüfen", sagt Engel.
Nur Apotheker hätten zum Beispiel Zugriff auf internationale Datenbanken, mit denen
Wechselwirkungen bestimmter Medikamente abgeklärt werden könnten.
Durch die Ausschreibungen würden die eingespielten Arzt-Apotheker-Beziehungen nun
zerbrochen und dadurch viele potenzielle Fehlerquellen geschaffen, fürchtet Engel. Schon
eine falsche Dosierung eines Medikamentes könne zu massiven Blutbildveränderungen oder
einer wirkungslosen Therapie führen: "Ich habe den Eindruck, die Kassen wissen gar nicht,
was sie da tun."
Das dachte offenbar auch ein schwerkranker Patient, der kürzlich nach einem unbestätigten
Bericht in eine AOK-Geschäftsstelle gestürmt sein und einer Mitarbeiterin gedroht haben soll.
Wenn er nicht wieder wie bisher mit seiner Chemo versorgt werde, dann werde er
wiederkommen und alle erschießen, soll er gesagt haben.
© WeltN24 GmbH 2016. Alle Rechte vorbehalten
Herunterladen