Pädagogische Hochschule Karlsruhe Portfolio Abgrenzungsproblematik zwischen LeseRechtschreibschwäche und LeseRechtschreibstörung Seminar: Modul 4 Professionelles Handeln I mit Praxisanteil Seminarleitung Dipl. Psychologin Melanie Vollmer Vorgelegt von Sandra Fleischmann Turmstr.64 72351 Geislingen [email protected] Sommersemester 2016 Abgabetermin 18.07.2016 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ............................................................................................................................ 3 2. Lese-Rechtschreibschwäche und Lese-Rechtschreibstörung .............................................. 5 2.1 Definition der Lese- und Rechtschreibstörung im ICD10 / F81.0 ................................ 6 2.2 mögliche Ursachen ........................................................................................................ 7 2.3 Abgrenzungsproblematik der Lese-Rechtschreibschwäche zur LeseRechtschreibstörung ............................................................................................................ 9 2.4. Diagnostische Testverfahren ...................................................................................... 10 3. Fallbeispiele ...................................................................................................................... 11 3.1 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibschwäche ........................................................... 12 3.2 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibstörung .............................................................. 13 4. Auswirkung von Lese-Rechtschreibschwäche und Störung ............................................. 14 4.1 Komorbitäten .............................................................................................................. 14 4.2 im schulischen Bereich ............................................................................................... 15 4.3 im familiären Bereich .................................................................................................. 16 4.4 in der Teilhabe ............................................................................................................ 16 5. Diskussion mit Fazit .......................................................................................................... 18 Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 20 1. Einleitung Nachdem vor 15 Jahren die erste Pisa-Studie erhoben wurde, haben sich die Schlagzeilen nicht grundlegend gewandelt. „Wenn Kinder nicht mehr richtig schreiben lernen“ „Werden Deutschlands Schüler immer dümmer?“ Diese und ähnliche Schlagzeilen begegnen uns aktuell tagtäglich in den Medien und der Presse. Im Bericht des Magazins Focus wird auf die fehlende Grundlagenkompetenz im Bereich der Mathematik und Sprache der Schüler hingewiesen. Schüler haben in ihrer Schulzeit nicht die notwendige Kompetenz in den Fächern Deutsch und Mathematik erlangt. Daher gestaltet sich der Einstieg in die Berufswelt schwierig oder droht gar zu scheitern. Unternehmen und Betriebe müssen hier in Form eines „nachholenden Schulunterrichts“ sogar nachbessern. 1 Trotz gezielterer Förderung in den Schulen sinkt die Beherrschung der Grundlagen in Deutsch und Mathe. Welche Gründe liegen hier vor? Sind unsere Schüler nur zu faul? Sinken die Anforderungen der Schulen für Abschlüsse, deren Kompetenz nicht erreicht wurde? Fakt ist, dass Schüler im Laufe der Schulzeit aufeinander aufgebaut Fertigkeiten in verschiedenen Fächern und Bereichen erlernen sollen, um sich später im Berufsleben etablieren zu können. Laut den Kultusministerkonferenzen 2003 und 1978 besteht ein „Recht auf individuelle Förderung entsprechend dem jeweiligen Lernentwicklungsstand.“ 2 In Klassen bis zu 30 Schülern, die zusätzlich zum Lernstoff noch individuelle Betreuung im Sozialverhalten benötigen, ist dies in der Realität oft nicht umsetzbar. Kinder mit Schwierigkeiten im Lernen sind dann häufig auf sich alleine gestellt. Um Lernen zu können, benötigen die Erstklässler die Beherrschung der Buchstaben, die aneinander gereiht ein Wort ergeben und wiederum zusammengesetzt einen Satz bilden, der in seiner Vervielfachung zu einem Text wird. Dieser Text beinhaltet Aussagen, die es zu erkennen und zu verstehen gilt. Dieses Textverständnis wird im Verlauf der Schulzeit immer wieder trainiert und gefördert. Was passiert mit Schülern, die Schwierigkeiten beim Zusammensetzen der Buchstaben, der Worte 1 http://www.focus.de/familie/schule/grundlagenkompetenzen-fehlen-studie-ueber-sinkende-bildungsstandards-werdendeutschlands-schueler-immer-duemmer_id_5425051.html 2 (https://www.kmk.org/presse/pressearchiv/mitteilung/304-plenarsitzung-der-kultusministerkonferenz-am-04-dezember-2003in-bonn.html) 3 und der Erkennung von Sätzen haben. Schüler, die in Klasse 8 noch genauso stockend lesen, wie Zweitklässler? Durch die fehlende Grundlage des Lesens und Schreibens können sich diese Schüler auch in anderen Fächern oft nicht etablieren. Ebenso wird in den Unterrichtsfächern, wie Geschichte, Biologie, Physik und Geographie, Textverständnis als Grundlage des Lernens gefordert. Sogar in Mathematik kommt der Bedeutung des Lösens von Textaufgaben, angefangen in der Grundschulzeit, eine immer größere Bedeutung zu. Eine Erklärung könnte eine Lese-Rechtschreibschwierigkeit sein, die sich in Begriffen, wie Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung, LRS oder isolierter Rechtschreibstörung wiederfindet. „Weltweit leiden etwa 3-11% der Kinder und Jugendlichen unter einer Lese und/oder Rechtschreibstörung (LRS)“.3 Wie unterscheiden sich jedoch diese Begriffe und was beinhalten sie? Bedeutet eine Lese-Rechtschreibschwäche weniger Einschränkung als eine Lese- Rechtschreibstörung? Wann wird eine Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert? Und woran wird der Unterschied zwischen den beiden Begriffen gemacht? Diesen Fragen möchte ich mich nun genauer widmen. 3 (Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 4 2. Lese-Rechtschreibschwäche und Lese-Rechtschreibstörung Im Gegensatz zur Dyskalkulie, bei der es sich um ein einheitliches Störungsbild handelt, welches keine Abstufungen in der Ausprägung beinhaltet, werden LeseRechtschreibdefizite in verschiedene Kategorien und verschiedene Störungsbilder wie Lese- Rechtschreib-schwäche, isolierte Rechtschreibstörung, und LeseRechtschreibstörung eingeteilt. Sowohl bei der Lese-Rechtschreibschwäche, als auch bei der Lese-Rechtschreibstörung handelt es sich um Störungsbilder, bei denen eine Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten besteht, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Bei beiden Störungsbildern liegen Defizite im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens vor, die sich in Form von verlangsamten Lesetempo, Auslassen und Ersetzen, Vertauschen und Hinzufügen von Wörtern, sowie Verdrehungen von Buchstaben, Auslassen von Buchstaben und Wortverstümmelungen zeigen können. Gelesenes wird nur unzureichend verstanden. Die Lese-Rechtschreibstörung ist eine umschriebene Entwicklungsstörung, die sich nur auf den Bereich des Lesens und der Rechtschreibung bezieht, wenn die Ursache dieses Defizits nicht Sinnesbeeinträchtigungen aufgrund oder anderer mangelnde Beeinträchtigungen, kognitiven wie Fähigkeiten, z.B. sowie mangelnder Aufmerksamkeit, zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu der LeseRechtschreibschwäche ist die Lese- Rechtschreibstörung als Kategorie im ICD 10 als umschriebene Entwicklungsstörung erfasst. Die Diagnose wird in der Regel von Ärzten, Psychologen oder Psychotherapeuten gestellt. Nur bei Vorliegen einer diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung werden unterschiedliche Hilfe- und Therapieformen wie Hausaufgabenhilfe, LRS Therapie und integrative Lerntherapie gewährt. Selbst im Falle einer diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung kann das Jugendamt nach §35a SGBVIII einen Antrag nur bewilligen, wenn die sogenannte Zweigliedrigkeit gegeben ist. Hierzu gehören als Voraussetzung einerseits die Diagnose der Lese-Rechtschreibstörung, andererseits die diagnostizierte seelische Behinderung, oder von einer solchen seelischen Behinderung bedroht zu sein und zusätzlich die Einschränkung der Teilhabefähigkeit, oder von einer solchen Einschränkung der Teilhabfähigkeit bedroht zu sein. Nur dann kann der Antrag bewilligt werden. In der Regel können bis zu 2 Jahre bewilligt werden. Bei Vorliegen einer Lese-Rechtschreibschwäche jedoch werden keine Therapieformen gewährt. Zwar verweisen die Diagnostiker in diesen Fällen auf eine 5 therapeutische Unterstützung, diese muss jedoch von den Familien selbst bezahlt werden. In einer Zeit, in der Geldknappheit herrscht und viele Menschen an der Armutsgrenze leben, ist eine zusätzliche monatliche Belastung bei vielen Familien nicht leistbar. In diesen Fällen wird daher oft zwangsläufig auf eine Therapie verzichtet. 2.1 Definition der Lese- und Rechtschreibstörung im ICD10 / F81.0 Die Klassifikationen des ICD 10 und des KDL4 sollen dem Diagnostiker anhand eines Kriterienkatalogs bei der Diagnosestellung helfen. Im ICD10, Kapitel V, mit der Codierung „F“, für „Psychische und Verhaltensstörungen, wird die LeseRechtschreibstörung unter „F81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ erfasst. Die WHO versteht Krankheit als Begriff, der die Abwesenheit der Gesundheit beschreibt. Für die psychischen und Verhaltensstörungen wurde daher der wertneutralere Begriff „Störung“ gewählt. „Eine psychische Störung, und damit auch eine Lese-Rechtschreibstörung kann, in Kompatibilität mit den führenden Klassifikationssystemen, als ein klinisch bedeutsames Erlebens- und Verhaltensmuster definiert werden, das in seiner Interaktion einer Person mit seiner Umwelt äußert“. 5 Die Kategorie F81 „Umschriebene Entwicklungsstörungen“ im ICD10 beinhaltet sechs Subkategorien. In F81.0 wird die Lese-Rechtschreibstörung und in F81.1 die isolierte Rechtschreibstörung beschrieben. Die weiteren Kategorien beschreiben Dyskalkulie und kombinierte, sonstige und nicht näher bezeichnete Störungen schulischer Fertigkeiten. Die Umschriebenen Entwicklungsstörungen F81 werden wie folgt beschrieben: „Es handelt sich um Störungen, bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen; es ist auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -Krankheit aufzufassen“. Schulische Fertigkeiten entwickeln sich nicht normal, sondern deutlich unter dem Niveau, welches aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten wäre. 4 (Klinisch-diagnostischen Leitlinien, von Dilling und Kollegen, 2011) 5 (Steinbrink, Lachmann, 2014, S.54) 6 Die Lese-Rechtschreibstörung F81.0 ist folgendermaßen beschrieben: „Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und Leistungen, für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus. Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig.“6 „In den KDL7 werden inhaltlich die gleichen Angaben und Kriterien beschrieben. Jedoch beinhalten sie zusätzlich zu den ICD-Kriterien weitere wichtige Merkmale in Form konkreterer, klinischer Symptombeschreibungen, die dem Diagnostiker einen größeren Spielraum bei der Entscheidung lassen“ 8 In der DSM 5 wird die Lese-Rechtschreibstörung unter 315.00 beschrieben. 2.2 mögliche Ursachen Als Ursache von Lernstörungen wird das Zusammenspiel von komplexen Faktoren, wie einerseits einer genetischen Disposition, andererseits neurobiologische Korrelate, sowie die sprachlich-phonologisch- und visuell-schriftsprachliche Informationsverarbeitung angenommen.9. Nicht immer kann man eine Ursache klar festlegen. Die wissenschaftliche Forschung konnte bisher keine einheitlichen und klaren Erkenntnisse über die Ursachen liefern. Genetische Disposition Das Risiko der Vererbung liegt bei 40% bei Jungen, wenn der Vater und 36%, wenn die Mutter die gleichen Schwierigkeiten hatte. Bei Mädchen ist die Übertragung von den Eltern geringer. Diese beträgt etwa 20%, wenn einer der beiden die Störung hatte. Die Vererbbarkeit der Schwierigkeiten ist unabhängig vom IQ. 10 „Versuche, in Familien die genetische Loci zu bestimmen, legen neun chromosonale Regionen 6 http://www.icd-code.de/suche/icd/code/F81.-.html?sp=Sf81 7 (Klinisch-diagnostischen Leitlinien, von Dilling und Kollegen, 2011) (Steinbrink, Lachmann, 2014, S. 53) (Petermann, S177) 8 9 10 (Klicpera, Schabmann, 2013, S.176) 7 nahe. Die Chromosomen 1,2,3,6,15,18 und x wurden als gesicherte Genorte belegt. Dazu kommen noch zwei weitere Kandidatengene auf Cromosom 3 und 15“.11 Bei der Frage, welche Eigenschaften vererbt werden, fallen motorische Defizite, ein geringerer Wortschatz, syntaktische Defizite und fehlende phonologische Bewusstheit auf.12 Neurobiologische Disposition Die im ICD 10 aufgenommene Lese-Rechtschreibstörung wird ursächlich im Zusammenhang mit kognitiven Informationsverarbeitungsprozessen Defiziten, verursacht die ist in Form gesehen, von gestörten die wiederum hirnorganisch bedingt sind.13 Im Bereich der neurologischen Erklärungsmodelle fällt die phonologische Rekordierung auf. Hinzu kommen anatomisch–strukturelle Abweichungen des Zentralnervensystems. Eine klare Zuordnung von Gehirnarealen als Ursache einer Lese- Rechtschreibstörung konnte bisher nicht gesichert festgelegt werden. Insgesamt lässt sich jedoch erkennen, dass die moderne Forschung zunehmend in der Lage ist, die biologische Verankerung von Lese- Rechtschreibschwierigkeiten zu erhellen. 14 Sprachlich-phonologische/Visuell-schriftsprachliche Disposition Bei der visuell- schriftsprachlichen Informationsverarbeitung gibt es viele Vertreter, die von einer höheren visuellen Beeinträchtigung ausgehen. Studien zufolge, sind diese als Hauptursache nicht zu sehen, sondern deuten eher auf Schwierigkeiten beim phonologischen Rekodieren hin.15 Eine Beeinträchtigung der vorschulischen Sprachentwicklung gilt als stärkster Prädiktor für Leseschwierigkeiten. Neuere Studien (McArthur,2000) sprechen davon, dass mehr als die Hälfte (55%) der Kinder mit Leseschwierigkeiten auch spezifische Sprachentwicklungs-störungen aufweisen und andererseits etwa die Hälfte der Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen wiederum Leseschwierigkeiten haben. 16 11 (Klicpera/Schabmann 2013, S.177) 12 (Klicpera, Schabmann, 2013,S.178) 13 (Steinbrink, Lachmann, S88) 14 (Klicpera, Schabmann, 2013, S.187) 15 (Klicpera, Schabmann, 2013, S.188ff.) 16 (Klicpera, Schabmann,2013, S.192) 8 2.3 Abgrenzungsproblematik der Lese-Rechtschreibschwäche zur LeseRechtschreibstörung Die Zuständigkeit der schulischen Bildung liegt bei den Kultusministerien der einzelnen Bundesländer. Hierdurch bedingt existieren so viele Definitionen und Richtlinien zur Diagnostik und schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, wie es Bundesländer gibt. Bei den einzelnen Bundesländern bestehen gravierende Unterschiede, die sich in amtlichen Begriffen, wie „Besondere Schwierigkeiten im Lesen und/oder Recht-schreiben“, Legasthenie, Lese-Rechtschreibstörung oder Lese-Rechtschreibschwäche deutlich machen.17 Diese Unterschiede führen ebenso zu einer unterschiedlichen Diagnostik und einer gezielten Unterstützung und Therapieform. Im Freistaat Bayern wird z.B. die Bezeichnung Lese-Rechtschreibschwäche als LRS (Lese-Rechtschreibstörung), die Lese-Rechtschreibstörung als Legasthenie gebraucht. 18 Im Freistaat Sachsen besteht ein umfassendes System zur Früherkennung von Lese- Rechtschreibschwierigkeiten. Hierzu wird im 2. Halbjahr der Klasse 2 ein standardisiertes Testverfahren durchgeführt, bei dem Kinder erneut getestet werden, wenn sie in diesem ersten Bild-Test auffällig waren. Geben die Erziehungsberechtigten nach einem ausführlichen Gespräch die Zustimmung , werden die Kinder an eine LRSStützpunktschule vermittelt, die dann weitere spezieller Testmethoden, unter anderem die der Intelligenz, die Möglichkeit nach einer positiven Diagnostik bieten, das Kind an einer LRS-Stützpunktschule mit „LRS-Klassen“ und „LRS-Lehrern“, anzumelden. Diese überschaubaren Klassen bis 16 Schüler bieten die Möglichkeit über den regulären Lehrstoff, mit sehr viel mehr Freiräumen, über zwei Jahre verteilt, zu vermitteln. Nach Beendigung dieser Förderung erfolgt die Versetzung in die Klasse 4 der Herkunftsschule. Ein weiteres Abgrenzungs-Problem besteht in der kulturell bedingten Abgrenzung zur Störung und. hängt mitunter vom jeweiligen Bildungsgrad ab. Problematisch ist hierbei die Definition dessen, welche Lese- und Rechtschreibleistung als „normal“ anzusehen ist.19 Einige Praktiker und Wissenschaftler, wie Scheerer-Neumann und Valentin, lehnen die Anwendung des Krankheits- und Störungsbegriff generell ab. Sie sprechen von der Gefahr einer 17 (Steinbrink, Lachmann, S.13ff) 18 (Steinbrink, Lachmann, S.5) 19 (Steinbrink, Lachmann, S. 53) 9 Pathologisierung und Stigmatisierung.20 Der Freistaat Sachsen überlegt aus diesem Grund die Abschaffung des jetzigen Systems. 2.4. Diagnostische Testverfahren „…Die Diagnose soll auf den Ergebnissen psychometrischer Leistungstests beruhen, die Lesegeschwindigkeit, Lesefehler und Leseverständnis, sowie Fehler in der Rechtschreibung beim Wort und/oder Textschreiben messen. …Außerdem soll die Diagnostik, neben der Anwendung psychometrischer Leistungstests, auch die klinische Untersuchung, also die ganzheitliche Betrachtung des Entwicklungsverlaufs, der Familien- und Schulsituation sowie die Auswirkungen der Leistungsdefizite auf die psychische und soziale Entwicklung, die schulische Integration, die gesellschaftliche Eingliederung und die Familie, einbeziehen.“21 Um eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Lese-Rechtschreibstörung zu diagnostizieren, werden daher unterschiedliche Testverfahren angewendet. Testformen zur Diagnostik für Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sind z.B. der Zürcher Lesetest, SLRT I und II (Salzburger Lese- und Rechtschreibtest), HAMLET 3-4 (Hamburger Lesetest für 3.und 4. Klassen), KNUSPEL L (Knuspels Leseaufgaben), ELFE 1-6 Ein Leseverständnistest für Erst bis Sechstklässler, DRT (Diagnostischer Rechtschreibtest), DERET 1-2+, 3-4+ (Deutscher Rechtschreibtest für 1. und 2. Klasse /3. und 4. Klasse), WRT 1+/2+/3+/4+ ( Weingartener Grundwortschatz Rechtschreibtest für 1.-2./2.-3./3.-4./4.-5. Klasse), HSP 1-9 Hamburger Schreibprobe 1.-9. Klasse, Westermann-Rechtschreibtest und der (BISC) Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese- Rechtschreibschwierigkeiten zur Anwendung in der Vorschule / KITA. Zusätzlich zu den oben genannten Tests wird bisher ein Test zur Bestimmung der allgemeinen Leistungsfähigkeit (Intelligenztest) eingesetzt. In anderen Ländern, wie z.B. Österreich, wird hiervon abgesehen. 22 „Grundlage der individuellen Diagnose bilden Schriftsprachleistungen, die gravierend negativ von denen abweichen, die hinsichtlich der durchschnittlichen Leistungen der Altersgruppe/Klassenstufe und der individuellen allgemeinen kognitiven Leistungen zu erwarten wären, 20 (Steinbrink, Lachmann, 2014, S. 53) 21 (http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-044l_S3_LeseRechtschreibst%C3%B6rungen_Kinder_Jugendliche_2015-06.pdf) 22 (Klicpera/Schabmann, Gasteiger-Klicpera, 2013, S. 242) 10 wobei andere spezifische Leistungsbereiche unbeeinträchtigt sein müssen. Diese doppelte Diskrepanz ist auch 23 das Kernstück im ICD.“ In diesem doppelten Diskrepanzkriterium müssen die Leistungen eine Diskrepanz sowohl zu einer spezifischen Leistung im Lesenund/oder Schreiben als auch zur allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit (Intelligenz) aufweisen. 24 Bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreibschwierigkeit empfiehlt es sich daher, einen „Grundintelligenztest“ einzusetzen, der sprachfrei die Intelligenz misst, das heißt, in dem keine Aufgaben gelöst werden müssen, die mit geschriebener Sprache zu tun haben.25 Schulte-Körne sieht die Schwierigkeit in der ‚Operationalisierung der Schwere und des Ausmaßes der Lernstörung, „da es keinen a priori definierten Grenzwert gibt“ 26 Der Diskrepanzwert wird bisher aus der Fehlerhäufigkeit in Relation zum Testwert des IQ´s ermittelt. Hierbei wird in einen Prozentrang von mindestens 16 und einem T-Wert von mindestens 40 eingeteilt (d.h. 84% der anderen Kinder sind besser), um damit die Lese-Rechtschreibstörung zu diagnostizieren. „Die Diagnostik der LRS ist in der ärztlichen und psychologischen/psychotherapeutischen Praxis uneinheitlich und basiert z.T. auf unterschiedlichen Testverfahren. methodischen Daher ist es Vorgehensweisen, dringend notwendig, Diagnosekriterien und die von Wirksamkeit Fördermethoden sowie die Zweckmäßigkeit, Zuverlässigkeit und Gültigkeit des diagnostischen Vorgehens zu überprüfen, um daraus klare Anleitungen und Empfehlungen für die Praxis abzuleiten. Dementsprechend wurde unter Leitung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, eine evidenz- und konsensbasierte (S3) Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Kindern mit LRS entwickelt.“ 27 3. Fallbeispiele Klicpera/Schabmann, Gasteiger-Klicpera gehen in ihrem Buch auf die Geschlechtsunterschiede ein. Herausgefunden wurde ein deutlich erhöhter Anteil an Jungen mit Auffälligkeiten (je nach Einrichtungsart beträgt die Relation 3:2 oder 3:1). Bei Mädchen kommt es tendenziell eher zu Rückzug. Beide Fallbeispiele wurden daher mit ähnlichen Voraussetzungen von mir ausgewählt. Die Namen der 23 (Steinbrink, Lachmann,2014, S.88) 24 (Heinrichs, Lohaus, S158) (Schneider, Lindenberger, S.609) 25 (Lohaus, Vierhaus, Entwicklungspsychologie, 20, S.141) 26 (Schulte-Körne, Thomé, 2014, S.143) 27 (Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 11 beiden Mädchen wurden geändert. Übereinstimmungen bestanden im Alter, der Herkunftsfamilie, sowie charakterlichen Eigenschaften. 3.1 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibschwäche Julia, 15 Jahre alt, besuchte die achte Klasse einer Werkrealschule in ihrem Wohnort. In der dritten Klasse wurde bei ihr eine Lese- Rechtschreibschwäche diagnostiziert. Julia verwechselte Buchstaben, lies Buchstaben weg und konnte nicht fließend lesen. Sie wiederholte dann die dritte Klasse der Grundschule. Julia ging nicht mehr gerne in die Schule. Jeden Morgen klagte sie über Bauchschmerzen und Übelkeit. Organisch konnte nichts festgestellt werden. Sie empfand die Schule als furchtbar. Bis zur achten Klasse wechselte sie dreimal die Schule. In keiner Klasse kam sie richtig an und konnte keine Freundschaften aufbauen. Julia war durch die Wiederholung der Klasse ein Jahr älter als die anderen Mädchen und hatte somit andere Interessen. In der Klasse fühlte sie sich oft ausgelacht. Hausaufgaben führten zuhause immer zu eskalierenden Konflikten. Die Mutter war verzweifelt, Julia saß mit leerem Gesicht vor ihren Aufgaben. Die Mutter war gewillt, mit Julia solange zu üben, bis sie aufgeholt hatte und den gleichen Stand im Lesen und Rechtschreiben hatte, wie ihre Mitschüler. Oft saßen sie daher bis um 19:00 Uhr an den Hausaufgaben. Irgendwann kamen Julia und ihre Mutter in einen Kreislauf, der nur noch aus Druck bestand. Das Verhältnis wurde immer mehr zerstört. Die Mutter beschrieb Julia bei einem Gespräch in der Schulsozialarbeit als verträumt, faul und verlogen. Bei einem Elternabend kam die ganze Tragweite der Verzweiflung der Mutter zum Ausdruck. Julia zeigte sich bei mir auffallend ruhig. Auf meine Fragen antwortete sie leise, mit weinerlicher Stimme. In den Pausen zeigte dagegen zeigte sie sich provozierend. Um bei den anderen dazuzugehören, log sie und versuchte, sich immer in den Vordergrund zu stellen. Als sie beim Klettern an der Außenwand der Schule abrutschte und in diesem Moment ein Kollege als Aufsichtsperson während des Falls sie mit seiner Hand auf ihrem Hintern abstürzte, behauptete sie sogar, dieser Kollege habe sie „angegrapscht“. Erst nach vielen Gesprächen konnte Julia zugeben, dass sie von ihrer Schwäche abzulenken versuchte und Aufmerksamkeit suchte. Hierauf wurde ich eingesetzt und konnte mit Julia in den Freistunden gezielt Lesen üben. Trotzdem hatte niemand aus unserem Team die Zeit, sich so intensiv um Julia zu kümmern, damit sie die Defizite hätte aufholen können. Kurz bevor ich die Schule Werkrealschulabschluss gefährdet. 12 verlassen hatte, war Julias 3.2 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibstörung Lisa, 14 Jahre alt, besuchte die achte Klasse einer Realschule in ihrem Wohnort. Bei ihr wurde in der dritten Klasse eine Lese-Rechtschreibstörung (F81.0) diagnostiziert. Lisa verwechselte Buchstaben, lies Buchstaben weg und konnte nicht fließend lesen. Durch die Diagnose LRS bekam Lisa einen Notenausgleich und empfand diesen als große Entlastung. Zwar kam es bei Lisa auch manchmal zu einer Hausaufgabenkonfliktsituation, die Mutter hatte jedoch durch die Gespräche mit den LRS Therapeuten verstanden, dass sie Lisa nicht mehr so viel Druck machen sollte. Innerhalb der Klasse kam es oft zu Situationen, in denen Lisa ausgelacht wurde. Lisa reagierte darauf meist mit somatischen Beschwerden, wie Bauchschmerzen und Kopfschmerzen Durch die Diagnose reduzierten die Lehrer den Druck und Julia konnte für sich an ihren Erfolgserlebnissen wachsen. Zwar saß ihre beste Freundin, die in der gleichen Straße wohnte, neben ihr, zu den anderen Mädchen in der Klasse hatte sie jedoch keine weiteren Kontakte. In einem Verein war sie nicht mehr. Sie wollte nicht auch noch nachmittags ausgelacht werden. Dafür lernte sie in dieser Zeit kontinuierlich in allen Fächern. Lisas Noten waren in den anderen Fächern jedoch so gut, dass sie den Realschulabschluss gut geschafft hat. Beide Mädchen lernte ich während meiner Schulsozialarbeit an einer Brennpunktschule jeweils in der achten Klasse kennen. Im psychosozialen Bereich erging es beiden Mädchen ähnlich. Da Lisa eine Freundin hatte, konnte sie sich hier dennoch positiv entwickeln. Bei Julia verstärkte sich jedoch der Schulfrust, da sie keine einzige Freundin hatte und die Lehrer ihr vor der Klasse sagten, sie sei faul. Dies führte innerhalb der Klasse zu Gelächter und Ausgrenzung durch die Mitschüler, welches wiederum die Schulangst und die Isolation verstärkte. Während Lisa konnte durch das Verständnis der Lehrer in der Schule und der umfangreichen Therapie ein positives Selbst gewinnen konnte, welches sich in guten Noten in den anderen Fächern zum Ausdruck brachte, konnte sich in Julias Schulleben kein Erfolg einstellen. Im Gegenteil es häuften sich die steigen Misserfolge. In diesem Zusammenhang sehe ich Julias auffälliges Verhalten nach permanenter Aufmerksamkeit begründet. Durch die integrative Lerntherapie mit Einbeziehung der Mutter konnte sich die Umwelt gut auf Lisa einstellen und sie gut begleiten. Julia Hingegen, die nur eine Lese-Rechtschreibschwäche hatte, unterstellten die Lehrer, sie sei faul und wolle nicht lernen. 13 4. Auswirkung von Lese-Rechtschreibschwäche und Störung Bei einer Lese-Rechtschreibstörung kommt es zusätzlich zu den Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben, zu einer psychosozialen Beeinträchtigung, die sich als Erschweren der Kommunikation, erschwertem Zugang zum Fundus einer Gesellschaft, Behinderung des schulischen Erfolgs, wie auch der Bildungskarriere zeigen.28 Esser beschreibt, dass der Begriff „umschriebene Entwicklungsstörung“ den ursprünglichen Begriff „Teilleistungsstörung“ ersetzt hat. Der neue Begriff „umschriebene Entwicklungsstörung suggeriert allerdings, dass es sich um ein vorübergehendes Störungsbild mit günstiger Prognose handelt. Langzeitstudien belegen das Gegenteil und zeigen auf, dass bei einem hohen Prozentsatz mit andauernden Beeinträchtigungen zu rechnen ist 29 Die ständige Konfrontation mit Misserfolgen in der Schule führt häufig zu Frustration und Versagensängsten. Hierdurch entsteht in vielen Fällen eine Schulunlust, die den Teufelskreis aus Angst vor dem Versagen, Misserfolge in der Schule und Verlust der Lernmotivation, sowie Rückzug und Isolation entstehen lässt. 30 Hierbei unterscheiden sich die Verläufe der Lese-Rechtschreibstörung und die der Lese-Rechtschreibschwäche nicht. 4.1 Komorbitäten Die Komorbität mit zusätzlichen psychischen Störungen ist gerade bei einer LeseRechtschreib-Schwäche oder Störung ausgeprägt. „Kinder mit LRS werden häufig in der medizinischen Versorgung, zum Beispiel in der pädiatrischen Praxis oder im öffentlichen Gesundheitsdienst, wegen psychosomatischer Symptome wie Kopfund Bauchschmerzen, Übelkeit und Antriebslosigkeit vorgestellt. Die Komorbität externalisierender und internalisierender Störungen ist dementsprechend hoch“. Bei wiederholten schulischen Misserfolgen entwickelt sich oft eine Angststörung, gravierende Versagensängste und ein negatives Fähigkeitsselbstkonzept. „Bei etwa 20% der Kinder und Jugendlichen mit Lesestörung entwickelt sich eine Angststörung, aber auch Depressionen und Störungen des Sozialverhaltens treten gehäuft auf“. 31 „Die Komorbität mit zusätzlichen psychischen Störungen wurde gerade bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder -Störung bisher unterschätzt. 28 (Steinbrink, Lachmann, 2014, S.54) 29 (Esser, S.60) 30 (Heinrichs, Lohaus, 2011, S.160) (Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 31 14 Hierzu zählen Angststörungen, depressive Symptome, hyperkinetische Störungen, bzw. ADHS und Schulabsentismus, im Jugendalter auch die Störung des Sozialverhaltens. ADHS kommt bei Kindern und Jugendlichen mit einer LRS circa 4 Mal so häufig vor und die Prävalenzrate liegt bei Kindern mit bereits diagnostizierter LRS bei 8-18%. Zudem wurde eine deutlich erhöhte Prävalenz von Angststörungen (circa 20 %) und depressiven Störungen (14,5%) bei der LRS festgestellt. Das Risiko, bei bestehender LRS eine Angststörung aufzuweisen, ist auf das Vierfache erhöht. Für die soziale Phobie liegen sogar Hinweise auf ein sechsfaches Risiko vor. 32 Vor allem mit zunehmendem Alter kann es unter bestimmten Umständen zu einer Verschiebung der Problematik kommen. In diesem Fall gerät die Lese-Rechtschreib-Schwierigkeit in den Hintergrund und die psychische Störung mit ihren Symptomen steht im Vordergrund. Daniel et al. 2006 beschreibt in diesem Zusammenhang sogar eine erhöhte Suizidgefahr bei älteren Kindern und Adoleszenten. Diese sieht er verbunden mit der in der LeseRechtschreibstörung begründeten ständigen Misserfolgserlebnisse und die daraus oft resultierende emotionale Sekundärsymptomatik. 33 Klicpera/Schabmann und Gasteiger-Klicpera weisen auf Ergebnisse von Klein und Manuzza(1993) hin, die bei einer Stichprobe 91 Schüler bis ins Erwachsenenalter begleiteten und Alkoholismus und Drogenabhängigkeit herausfanden. 4.2 im schulischen Bereich Einen Zusammenhang zwischen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und Ausgrenzung aus dem Klassenverband oder gar Mobbing kann nicht generell festgestellt werden. Untersuchungen über Mobbing haben jedoch ergeben, dass die zum Opfer werden, „die sich nicht wehren, nicht sehr stark sind und die sich zu sehr davor fürchten, dem Lehrer oder jemand anderem davon zu erzählen“. 34Oft sind es gerade die Schüler mit einer Lese-Rechtschreibschwierigkeit, die sich in der Schullaufbahn immer weiter zurückziehen, nicht auffallen wollen und sich aus diesem Grund in ihrer Rolle als Opfer, nicht wehren, weil sich schon eine Angststörung oder soziale Phobie entwickelt hat. Nicht alle Lehrer sind so geschult, dass sie die neuesten Untersuchungen zum Thema Lese-Rechtschreibschwäche und Lese-Rechtschreibstörung kennen. Gerade die Unkenntnis über das Testverfahren 32 (Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt 2016) 33 (Steinbrink, Lachmann, 2014, S.55) 34 (Lindenberger, 2012, S.697) 15 führt oft dazu, dass Lehrer bei nicht vorliegender „Diagnose“ mehr Druck auf den Schüler ausüben, da er aus ihrer Sicht einfach zu faul ist. Gerade dieses Verhalten kann hierbei zu einer verheerenden Entwicklung führen. Der Schüler bekommt weniger Lob, mehr Druck, die Freude am Lernen schwindet und es entwickelt sich ein auffälliges Verhalten. In diesem Fall kommt es oft zu fehlender Lernmotivation und Schulunlust. Jungen tendieren hier eher zu oppositionellem und dissozialem Verhalten mit Aggressionen gegen andere Schüler und bei zunehmendem Alter zu Schulschwänzen. Mädchen neigen eher zu Angststörung, depressiven Symptomen und tendieren zur Isolation aus sozialen Gefügen. Das Selbstwertgefühl sinkt zunehmend. Eine Selbstwirksamkeit wird nicht mehr wahrgenommen. 4.3 im familiären Bereich Die größte Problematik bei Lese- Rechtschreibschwierigkeiten ist die Hausaufgaben-Konfliktsituation innerhalb der Familie. Hier kommt es innerfamiliär fast immer zu einer Kettenreaktion zwischen dem Kind und den Eltern oder den Elternteilen, die die Hausaufgaben betreuen. In Unkenntnis über die Erkrankung und die Ursachen kommt es vor allem am Anfang vermehrt zu einer verzweifelten Druckausübung seitens der Eltern auf das betroffene Kind. In seiner Verzweiflung reagiert das Kind in der Regel mit auffälligem Verhalten, wie z.B. Rückzug / Blockade oder Aggression. Oft kommt es nach Gesprächen mit Lehrern sogar zu vermehrtem Ausüben von Druck. Innerfamiliär kann dies zu einer Zerrüttung der Familie oder des Eltern-Kind-Verhältnis führen. Vor allem, wenn sich beide Elternteile nicht einig sind und der eine Verständnis, der andere Unverständnis zeigt. Dies hat vor allem in der Pubertät oft zur Folge, dass sich Jugendliche immer mehr von den Eltern abwenden und sich in der Peergruppe Anerkennung und Lob holen. In einigen Fällen durch Straftaten. 4.4 in der Teilhabe Durch die ständigen Misserfolge in der Schule verlieren Kinder und Jugendliche das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Das Selbstwertgefühl kann sich nicht entwickeln. Eine Selbstwirksamkeit wird nicht mehr erfahren. Oft kommt es in diesem Zusammenhang zu einer Isolation und zum Rückzug aus sämtlichen sozialen Gruppen. Eine Vereinstätigkeit wird nicht mehr wahrgenommen. Kinder mit Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben sind aufgrund der Hausaufgabenfülle oft bis spätnachmittags oder sogar abends beschäftigt und gar nicht mehr in der Lage, 16 Kontakt zu Gleichaltrigen aufrecht zu erhalten und zu pflegen, oder einer Vereinszugehörigkeit nachzugehen. Es droht die Isolation bis hin zur Depression. Kinder und Jugendliche mit Lese- Rechtschreibschwierigkeiten verlernen häufig die sozialen Fähigkeiten im Umgang mit anderen Kindern. Es fehlt ihnen an Situationen, die ihre Empathiefähigkeit fördern. In diesem Zusammenhang kann es im weiteren Verlauf zu einem Verhalten führen, welches dann von anderen Kindern abgelehnt wird. Hieraus entsteht ein Teufelskreis aus dem Wunsch nach Freundschaften, Unkenntnis über sozialverträgliches Verhalten und Ablehnung. „Für die soziale Phobie liegen sogar Hinweise auf ein sechsfach erhöhtes Risiko vor.“ 35 35 (Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 17 5. Diskussion mit Fazit Aus meiner langjährigen Erfahrung in Kinderheimen, an Schulen und durch die derzeitige Tätigkeit im Sozialamt, bei der ich die Teilhabefähigkeitseinschränkung bei Anträgen zur Übernahme einer Therapie bei Vorliegen einer LeseRechtschreibstörung- und Dyskalkulie für das Jugendamt nach §35a, SGB VIII, prüfe, sehe ich das größte Problem bei der Diagnose Lese-Rechtschreibschwäche, da in diesem Fall keine gezielte Förderung erfolgt. Bei allen von mir begleiteten Kindern die eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Lese-Rechtschreibstörung haben, bestand zusätzlich zumindest eine drohende seelische Behinderung mit drohender Teilhabeeinschränkung und in vielen Fällen sogar schon eine ausgeprägte seelische Behinderung in Form von Angststörung, depressiven Phasen, Essstörungen oder oppositionelles Verhalten, die die Teilhabefähigkeit durch die Ausgrenzung aus der Schulklasse, den Vereinen und das Fehlen des Freundeskreises in Form von Isolation mit sich zog. In der Vergangenheit wurde die Lese- Rechtschreibschwäche nicht als „Störung“ anerkannt und daher nicht gefördert oder therapiert. Bisher waren die Verläufe, die ich begleiten konnte, mit einer ausgeprägten Lese-Rechtschreibschwäche und den zusätzlich entstehenden psychischen Erkrankungen jedoch schlimmer, als die der diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung. Ich habe anhand der Fallbeispiele versucht, in dieser Ausarbeitung deutlich zu machen, dass in allen Fällen, die ich bisher kennengelernt habe, eine Diagnose eher „entlastend“, denn „stigmatisiert“ wirkt. Bei dem Vorliegen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten kommt der Betreuung im Elternhaus ein hoher Stellenwert zu. Durch die Diagnose der Lese- Rechtschreibstörung kann in vielen Fällen der Hausaufgabenkonflikt drastisch reduziert werden, so dass Kinder und Eltern weiterhin eine positiv stärkende Beziehung pflegen können. Diese führt meines Erachtens dann wieder zu einer Stärkung des Selbstwertgefühls, welches sich im weiteren Verlauf als Positiv erweisen kann. Bei Kindern mit Lese- Rechtschreibschwierigkeiten ist es von großer Bedeutung, Resillienzfaktoren, wie z.B. Selbstwirksamkeit, zu schaffen. Nur durch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das daraus entstehende Selbstvertrauen, etwas zum Positiven hin zu verändern, können psychische Beeinträchtigungen abgemildert oder vermieden werden. Aus meiner Sicht sollte hier frühzeitig durch eine therapeutische Begleitung die Familie miteinbezogen 18 werden, damit ein Verständnis für die Problematik entstehen kann. Dies würde sicherlich einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung notwendiger Fähigkeiten wie Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit leisten, um die Entstehung und Ausprägung der psychischen Auffälligkeiten herabzusetzen. Vor dem intensiven Auseinandersetzen mit dem Thema Lese- Rechtschreibschwäche versus Lese-Rechtschreibstörung war mir der Unterscheid zwischen beiden Begriffen zwar bekannt, die unterschiedliche Verwendung der Begriffe und die gravierend unterschiedliche Förderung in den einzelnen Bundesländern hingegen, war mir in dieser Form nicht bekannt. Erschreckend war die große, ungeordnete Bandbreite an Informationsmaterial, je nach Erklärungsansatz des einzelnen Vertreters und der jeweiligen Therapieansätze, die im Internet und in Büchern zur Verfügung standen. Die neuen Leitlinien S3 sind ein erster Ansatz zur Vereinheitlichung und Bündelung der verschiedenen Ansätze. Aus meiner Sicht ist eine Vereinheitlichung der Diagnostik und Klärung der Begriffe wie Lese-Rechtschreibschwäche, LeseRechtschreibstörung und LRS dringend angeraten. Ich hoffe, dass dies baldmöglichst in allen Bundesländern vereinheitlicht werden wird und somit jeder Schüler in der Bundesrepublik Deutschland die gleichen Chancen haben wird. In diesem Zusammenhang war erschreckend, dass Kinder je nach Bundesland eine größtmögliche oder eine geringe Förderung bekommen. Das heißt, je nach Bundesland haben Kinder mehr oder weniger gute Bildungschancen. Die Auswirkungen einer Lese- Rechtschreibschwierigkeit werden aus meiner Sicht immer noch unterschätzt. Diese können wie hier beschrieben, das ganze Leben entscheidend prägen, und als Auslöser von schwerwiegenden psychischen Erkrankungen zugrunde liegen. Ich habe daher die Vision, dass es in der nächsten Zeit zu einer präziseren Diagnostik kommen wird und dass jedes Kind mit einer Lese- Rechtschreibschwierigkeit, gleich, in welchem Bundesland es aufwächst, und unabhängig von der Ausprägung der Schwäche, gefördert wird. Dies sollte aus meiner Sicht so lange andauern, bis „mindestens eine altersgerechte Lese- und Rechtschreibfähigkeit erreicht wurde.“ 19 Literaturverzeichnis Comer J. Ronald, Klinische Psychologie, Spektrum Verlag, 2. Deutsche Auflage, 2001 Esser Günther, Lehrbuch der klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen, Thieme Verlag, 4. Auflage, 2011 (ebook) Heinrichs Nina, Lohaus Arnold, Klinische Entwicklungspsychologie, Beltz Verlag, 2011 Lohaus, Vierhaus, Entwicklungspsychologie, Springer Verlag, 3.aktualisierte Auflage, 2015 (ebook) Klicpera Christian, Schabmann Alfred, Gasteiger-Klicpera Barbara, LegasthenieLRS, Ernst Reinhardt Verlag, 4. aktualisierte Auflage, 2013 Schneider, Lindenberger(Hrsg.), Entwicklungspsychologie, Beltz Verlag, 7. Auflage, 2012 Schulte-Körne Gerd, Thomé Günther, LRS-Legasthenie: interdisziplinär, isb-Verlag, 2014 Steinbrink Claudia, Lachmann Thomas, Lese-Rechtschreibstörung, Springer Verlag, 2014 (ebook) Wittchen Hans-Ulrich Handbuch psychischer Störungen, Beltz Verlag, 2. Neu ausgestattete Ausgabe, 1998 Wustmann Seiler C., Fthenakis Prof. Dr. W. E. Resillienz, Cornelsen, 5. Auflage 2015 Internetquellen: http://www.focus.de/familie/schule/grundlagenkompetenzen-fehlen-studie-uebersinkende-bildungsstandards-werden-deutschlands-schueler-immerduemmer_id_5425051.html http://www.icd-code.de/suche/icd/code/F81.-.html?sp=Sf81 http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-044l_S3_LeseRechtschreibst%C3%B6rungen_Kinder_Jugendliche_2015-06.pdf) https://www.kmk.org/presse/pressearchiv/mitteilung/304-plenarsitzung-derkultusministerkonferenz-am-04-dezember-2003-in-bonn.html 20 Erklärung für Hausarbeiten: Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig verfasst und keine anderen, als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle wörtlich oder sinngemäß den Schriften anderer entnommenen Stellen, habe ich unter Angabe der Quelle kenntlich gemacht. Dies gilt auch für beigefügte Zeichnungen, Skizzen, bildlichen Darstellungen sowie für Quellen aus dem Internet. ______________________________________________ Ort, Datum und Unterschrift 21