Rechtschreibschwäche und Lese- Rechtschreibstörung

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Pädagogische Hochschule Karlsruhe
Portfolio
Abgrenzungsproblematik zwischen LeseRechtschreibschwäche und LeseRechtschreibstörung
Seminar: Modul 4 Professionelles Handeln I mit Praxisanteil
Seminarleitung
Dipl. Psychologin Melanie Vollmer
Vorgelegt von
Sandra Fleischmann
Turmstr.64
72351 Geislingen
[email protected]
Sommersemester 2016
Abgabetermin 18.07.2016
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................................................ 3 2. Lese-Rechtschreibschwäche und Lese-Rechtschreibstörung .............................................. 5 2.1 Definition der Lese- und Rechtschreibstörung im ICD10 / F81.0 ................................ 6 2.2 mögliche Ursachen ........................................................................................................ 7 2.3 Abgrenzungsproblematik der Lese-Rechtschreibschwäche zur LeseRechtschreibstörung ............................................................................................................ 9 2.4. Diagnostische Testverfahren ...................................................................................... 10 3. Fallbeispiele ...................................................................................................................... 11 3.1 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibschwäche ........................................................... 12 3.2 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibstörung .............................................................. 13 4. Auswirkung von Lese-Rechtschreibschwäche und Störung ............................................. 14 4.1 Komorbitäten .............................................................................................................. 14 4.2 im schulischen Bereich ............................................................................................... 15 4.3 im familiären Bereich .................................................................................................. 16 4.4 in der Teilhabe ............................................................................................................ 16 5. Diskussion mit Fazit .......................................................................................................... 18 Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 20 1. Einleitung
Nachdem vor 15 Jahren die erste Pisa-Studie erhoben wurde, haben sich die
Schlagzeilen nicht grundlegend gewandelt. „Wenn Kinder nicht mehr richtig
schreiben lernen“ „Werden Deutschlands Schüler immer dümmer?“ Diese und
ähnliche Schlagzeilen begegnen uns aktuell tagtäglich in den Medien und der Presse.
Im Bericht des Magazins Focus wird auf die fehlende Grundlagenkompetenz im
Bereich der Mathematik und Sprache der Schüler hingewiesen. Schüler haben in
ihrer Schulzeit nicht die notwendige Kompetenz in den Fächern Deutsch und
Mathematik erlangt. Daher gestaltet sich der Einstieg in die Berufswelt schwierig
oder droht gar zu scheitern. Unternehmen und Betriebe müssen hier in Form eines
„nachholenden Schulunterrichts“ sogar nachbessern. 1
Trotz gezielterer Förderung in den Schulen sinkt die Beherrschung der Grundlagen
in Deutsch und Mathe. Welche Gründe liegen hier vor? Sind unsere Schüler nur zu
faul? Sinken die Anforderungen der Schulen für Abschlüsse, deren Kompetenz nicht
erreicht wurde?
Fakt ist, dass Schüler im Laufe der Schulzeit aufeinander aufgebaut Fertigkeiten in
verschiedenen Fächern und Bereichen erlernen sollen, um sich später im
Berufsleben etablieren zu können.
Laut den Kultusministerkonferenzen 2003 und 1978 besteht ein „Recht auf
individuelle Förderung entsprechend dem jeweiligen Lernentwicklungsstand.“ 2
In Klassen bis zu 30 Schülern, die zusätzlich zum Lernstoff noch individuelle
Betreuung im Sozialverhalten benötigen, ist dies in der Realität oft nicht umsetzbar.
Kinder mit Schwierigkeiten im Lernen sind dann häufig auf sich alleine gestellt.
Um Lernen zu können, benötigen die Erstklässler die Beherrschung der Buchstaben,
die aneinander gereiht ein Wort ergeben und wiederum zusammengesetzt einen Satz
bilden, der in seiner Vervielfachung zu einem Text wird. Dieser Text beinhaltet
Aussagen, die es zu erkennen und zu verstehen gilt. Dieses Textverständnis wird im
Verlauf der Schulzeit immer wieder trainiert und gefördert. Was passiert mit
Schülern, die Schwierigkeiten beim Zusammensetzen der Buchstaben, der Worte
1 http://www.focus.de/familie/schule/grundlagenkompetenzen-fehlen-studie-ueber-sinkende-bildungsstandards-werdendeutschlands-schueler-immer-duemmer_id_5425051.html 2
(https://www.kmk.org/presse/pressearchiv/mitteilung/304-plenarsitzung-der-kultusministerkonferenz-am-04-dezember-2003in-bonn.html) 3 und der Erkennung von Sätzen haben. Schüler, die in Klasse 8 noch genauso
stockend lesen, wie Zweitklässler? Durch die fehlende Grundlage des Lesens und
Schreibens können sich diese Schüler auch in anderen Fächern oft nicht etablieren.
Ebenso wird in den Unterrichtsfächern, wie Geschichte, Biologie, Physik und
Geographie, Textverständnis als Grundlage des Lernens gefordert. Sogar in
Mathematik kommt der Bedeutung des Lösens von Textaufgaben, angefangen in der
Grundschulzeit, eine immer größere Bedeutung zu.
Eine Erklärung könnte eine Lese-Rechtschreibschwierigkeit sein, die sich in
Begriffen, wie Lese-Rechtschreibschwäche, Lese-Rechtschreibstörung, LRS oder
isolierter Rechtschreibstörung wiederfindet. „Weltweit leiden etwa 3-11% der
Kinder und Jugendlichen unter einer Lese und/oder Rechtschreibstörung (LRS)“.3
Wie unterscheiden sich jedoch diese Begriffe und was beinhalten sie? Bedeutet eine
Lese-Rechtschreibschwäche
weniger
Einschränkung
als
eine
Lese-
Rechtschreibstörung? Wann wird eine Lese-Rechtschreibstörung diagnostiziert?
Und woran wird der Unterschied zwischen den beiden Begriffen gemacht?
Diesen Fragen möchte ich mich nun genauer widmen.
3
(Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 4 2. Lese-Rechtschreibschwäche und Lese-Rechtschreibstörung
Im Gegensatz zur Dyskalkulie, bei der es sich um ein einheitliches Störungsbild
handelt, welches keine Abstufungen in der Ausprägung beinhaltet, werden LeseRechtschreibdefizite in verschiedene Kategorien und verschiedene Störungsbilder
wie Lese- Rechtschreib-schwäche, isolierte Rechtschreibstörung, und LeseRechtschreibstörung eingeteilt. Sowohl bei der Lese-Rechtschreibschwäche, als
auch bei der Lese-Rechtschreibstörung handelt es sich um Störungsbilder, bei denen
eine Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten
besteht, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder
unangemessene Beschulung erklärbar ist. Bei beiden Störungsbildern liegen Defizite
im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens vor, die sich in Form von
verlangsamten Lesetempo, Auslassen und Ersetzen, Vertauschen und Hinzufügen
von Wörtern, sowie Verdrehungen von Buchstaben, Auslassen von Buchstaben und
Wortverstümmelungen zeigen können. Gelesenes wird nur unzureichend verstanden.
Die Lese-Rechtschreibstörung ist eine umschriebene Entwicklungsstörung, die sich
nur auf den Bereich des Lesens und der Rechtschreibung bezieht, wenn die Ursache
dieses
Defizits
nicht
Sinnesbeeinträchtigungen
aufgrund
oder
anderer
mangelnde
Beeinträchtigungen,
kognitiven
wie
Fähigkeiten,
z.B.
sowie
mangelnder Aufmerksamkeit, zurückzuführen ist. Im Gegensatz zu der LeseRechtschreibschwäche ist die Lese- Rechtschreibstörung als Kategorie im ICD 10
als umschriebene Entwicklungsstörung erfasst. Die Diagnose wird in der Regel von
Ärzten, Psychologen oder Psychotherapeuten gestellt. Nur bei Vorliegen einer
diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung werden unterschiedliche Hilfe- und
Therapieformen wie Hausaufgabenhilfe, LRS Therapie und integrative Lerntherapie
gewährt. Selbst im Falle einer diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung kann das
Jugendamt nach §35a SGBVIII einen Antrag nur bewilligen, wenn die sogenannte
Zweigliedrigkeit gegeben ist. Hierzu gehören als Voraussetzung einerseits die
Diagnose der Lese-Rechtschreibstörung, andererseits die diagnostizierte seelische
Behinderung, oder von einer solchen seelischen Behinderung bedroht zu sein und
zusätzlich die Einschränkung der Teilhabefähigkeit, oder von einer solchen
Einschränkung der Teilhabfähigkeit bedroht zu sein. Nur dann kann der Antrag
bewilligt werden. In der Regel können bis zu 2 Jahre bewilligt werden.
Bei
Vorliegen
einer
Lese-Rechtschreibschwäche
jedoch
werden
keine
Therapieformen gewährt. Zwar verweisen die Diagnostiker in diesen Fällen auf eine
5 therapeutische Unterstützung, diese muss jedoch von den Familien selbst bezahlt
werden. In einer Zeit, in der Geldknappheit herrscht und viele Menschen an der
Armutsgrenze leben, ist eine zusätzliche monatliche Belastung bei vielen Familien
nicht leistbar. In diesen Fällen wird daher oft zwangsläufig auf eine Therapie
verzichtet.
2.1 Definition der Lese- und Rechtschreibstörung im ICD10 / F81.0
Die Klassifikationen des ICD 10 und des KDL4 sollen dem Diagnostiker anhand
eines Kriterienkatalogs bei der Diagnosestellung helfen. Im ICD10, Kapitel V, mit
der Codierung „F“, für „Psychische und Verhaltensstörungen, wird die LeseRechtschreibstörung unter „F81 Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer
Fertigkeiten“ erfasst. Die WHO versteht Krankheit als Begriff, der die Abwesenheit
der Gesundheit beschreibt. Für die psychischen und Verhaltensstörungen wurde
daher der wertneutralere Begriff „Störung“ gewählt. „Eine psychische Störung, und
damit auch eine Lese-Rechtschreibstörung kann, in Kompatibilität mit den
führenden Klassifikationssystemen, als ein klinisch bedeutsames Erlebens- und
Verhaltensmuster definiert werden, das in seiner Interaktion einer Person mit seiner
Umwelt äußert“. 5
Die Kategorie F81 „Umschriebene Entwicklungsstörungen“ im ICD10 beinhaltet
sechs Subkategorien. In F81.0 wird die Lese-Rechtschreibstörung und in F81.1 die
isolierte Rechtschreibstörung beschrieben. Die weiteren Kategorien beschreiben
Dyskalkulie und kombinierte, sonstige und nicht näher bezeichnete Störungen
schulischer Fertigkeiten.
Die Umschriebenen Entwicklungsstörungen F81 werden wie folgt beschrieben:
„Es handelt sich um Störungen, bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge
eines Mangels an Gelegenheit zu lernen; es ist auch nicht allein als Folge einer
Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -Krankheit
aufzufassen“. Schulische Fertigkeiten entwickeln sich nicht normal, sondern
deutlich unter dem Niveau, welches aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz
und der Beschulung zu erwarten wäre.
4
(Klinisch-diagnostischen Leitlinien, von Dilling und Kollegen, 2011) 5
(Steinbrink, Lachmann, 2014, S.54) 6 Die Lese-Rechtschreibstörung F81.0 ist folgendermaßen beschrieben: „Das
Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der
Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter,
Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis,
die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und Leistungen, für
welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen
Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die
Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden.
Umschriebenen Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen
des Sprechens oder der Sprache voraus. Während der Schulzeit sind begleitende
Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig.“6
„In den KDL7 werden inhaltlich die gleichen Angaben und Kriterien beschrieben.
Jedoch beinhalten sie zusätzlich zu den ICD-Kriterien weitere wichtige Merkmale in
Form konkreterer, klinischer Symptombeschreibungen, die dem Diagnostiker einen
größeren Spielraum bei der Entscheidung lassen“ 8
In der DSM 5 wird die Lese-Rechtschreibstörung unter 315.00 beschrieben.
2.2 mögliche Ursachen
Als Ursache von Lernstörungen wird das Zusammenspiel von komplexen Faktoren,
wie einerseits einer genetischen Disposition, andererseits neurobiologische
Korrelate, sowie die sprachlich-phonologisch- und visuell-schriftsprachliche
Informationsverarbeitung angenommen.9. Nicht immer kann man eine Ursache klar
festlegen. Die wissenschaftliche Forschung konnte bisher keine einheitlichen und
klaren Erkenntnisse über die Ursachen liefern.
Genetische Disposition
Das Risiko der Vererbung liegt bei 40% bei Jungen, wenn der Vater und 36%, wenn
die Mutter die gleichen Schwierigkeiten hatte. Bei Mädchen ist die Übertragung von
den Eltern geringer. Diese beträgt etwa 20%, wenn einer der beiden die Störung
hatte. Die Vererbbarkeit der Schwierigkeiten ist unabhängig vom IQ.
10
„Versuche,
in Familien die genetische Loci zu bestimmen, legen neun chromosonale Regionen
6
http://www.icd-code.de/suche/icd/code/F81.-.html?sp=Sf81
7
(Klinisch-diagnostischen Leitlinien, von Dilling und Kollegen, 2011) (Steinbrink, Lachmann, 2014, S. 53) (Petermann, S177) 8
9
10
(Klicpera, Schabmann, 2013, S.176) 7 nahe. Die Chromosomen 1,2,3,6,15,18 und x wurden als gesicherte Genorte belegt.
Dazu kommen noch zwei weitere Kandidatengene auf Cromosom 3 und 15“.11 Bei
der Frage, welche Eigenschaften vererbt werden, fallen motorische Defizite, ein
geringerer
Wortschatz,
syntaktische
Defizite
und
fehlende
phonologische
Bewusstheit auf.12
Neurobiologische Disposition
Die im ICD 10 aufgenommene Lese-Rechtschreibstörung wird ursächlich im
Zusammenhang
mit
kognitiven
Informationsverarbeitungsprozessen
Defiziten,
verursacht
die
ist
in
Form
gesehen,
von
gestörten
die
wiederum
hirnorganisch bedingt sind.13 Im Bereich der neurologischen Erklärungsmodelle fällt
die phonologische Rekordierung auf. Hinzu kommen anatomisch–strukturelle
Abweichungen des Zentralnervensystems. Eine klare Zuordnung von Gehirnarealen
als Ursache einer Lese- Rechtschreibstörung konnte bisher nicht gesichert festgelegt
werden. Insgesamt lässt sich jedoch erkennen, dass die moderne Forschung
zunehmend
in
der
Lage
ist,
die
biologische
Verankerung
von
Lese-
Rechtschreibschwierigkeiten zu erhellen. 14
Sprachlich-phonologische/Visuell-schriftsprachliche Disposition
Bei der visuell- schriftsprachlichen Informationsverarbeitung gibt es viele Vertreter,
die von einer höheren visuellen Beeinträchtigung ausgehen. Studien zufolge, sind
diese als Hauptursache nicht zu sehen, sondern deuten eher auf Schwierigkeiten
beim phonologischen Rekodieren hin.15
Eine Beeinträchtigung der vorschulischen Sprachentwicklung gilt als stärkster
Prädiktor für Leseschwierigkeiten. Neuere Studien (McArthur,2000) sprechen
davon, dass mehr als die Hälfte (55%) der Kinder mit Leseschwierigkeiten auch
spezifische Sprachentwicklungs-störungen aufweisen und andererseits etwa die
Hälfte der Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen wiederum
Leseschwierigkeiten haben. 16
11
(Klicpera/Schabmann 2013, S.177) 12
(Klicpera, Schabmann, 2013,S.178) 13
(Steinbrink, Lachmann, S88) 14
(Klicpera, Schabmann, 2013, S.187) 15
(Klicpera, Schabmann, 2013, S.188ff.) 16
(Klicpera, Schabmann,2013, S.192) 8 2.3 Abgrenzungsproblematik der Lese-Rechtschreibschwäche zur LeseRechtschreibstörung
Die Zuständigkeit der schulischen Bildung liegt bei den Kultusministerien der
einzelnen Bundesländer. Hierdurch bedingt existieren so viele Definitionen und
Richtlinien zur Diagnostik und schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, wie es Bundesländer gibt. Bei den
einzelnen Bundesländern bestehen gravierende Unterschiede, die sich in amtlichen
Begriffen, wie „Besondere Schwierigkeiten im Lesen und/oder Recht-schreiben“,
Legasthenie, Lese-Rechtschreibstörung oder Lese-Rechtschreibschwäche deutlich
machen.17 Diese Unterschiede führen ebenso zu einer unterschiedlichen Diagnostik
und einer gezielten Unterstützung und Therapieform. Im Freistaat Bayern wird z.B.
die Bezeichnung Lese-Rechtschreibschwäche als LRS (Lese-Rechtschreibstörung),
die Lese-Rechtschreibstörung als Legasthenie gebraucht.
18
Im Freistaat Sachsen
besteht ein umfassendes System zur Früherkennung von Lese- Rechtschreibschwierigkeiten. Hierzu wird im 2. Halbjahr der Klasse 2 ein standardisiertes
Testverfahren durchgeführt, bei dem Kinder erneut getestet werden, wenn sie in
diesem ersten Bild-Test auffällig waren. Geben die Erziehungsberechtigten nach
einem ausführlichen Gespräch die Zustimmung , werden die Kinder an eine LRSStützpunktschule vermittelt, die dann weitere spezieller Testmethoden, unter
anderem die der Intelligenz, die Möglichkeit nach einer positiven Diagnostik bieten,
das Kind an einer LRS-Stützpunktschule mit „LRS-Klassen“ und „LRS-Lehrern“,
anzumelden. Diese überschaubaren Klassen bis 16 Schüler bieten die Möglichkeit
über den regulären Lehrstoff, mit sehr viel mehr Freiräumen, über zwei Jahre
verteilt, zu vermitteln. Nach Beendigung dieser Förderung erfolgt die Versetzung in
die Klasse 4 der Herkunftsschule. Ein weiteres Abgrenzungs-Problem besteht in der
kulturell bedingten Abgrenzung zur Störung und. hängt mitunter vom jeweiligen
Bildungsgrad ab. Problematisch ist hierbei die Definition dessen, welche Lese- und
Rechtschreibleistung
als
„normal“
anzusehen
ist.19
Einige
Praktiker
und
Wissenschaftler, wie Scheerer-Neumann und Valentin, lehnen die Anwendung des
Krankheits- und Störungsbegriff generell ab. Sie sprechen von der Gefahr einer
17
(Steinbrink, Lachmann, S.13ff) 18
(Steinbrink, Lachmann, S.5) 19
(Steinbrink, Lachmann, S. 53) 9 Pathologisierung und Stigmatisierung.20 Der Freistaat Sachsen überlegt aus diesem
Grund die Abschaffung des jetzigen Systems.
2.4. Diagnostische Testverfahren
„…Die Diagnose soll auf den Ergebnissen psychometrischer Leistungstests beruhen,
die Lesegeschwindigkeit, Lesefehler und Leseverständnis, sowie Fehler in der
Rechtschreibung beim Wort und/oder Textschreiben messen. …Außerdem soll die
Diagnostik, neben der Anwendung psychometrischer Leistungstests, auch die
klinische Untersuchung, also die ganzheitliche Betrachtung des Entwicklungsverlaufs, der Familien- und Schulsituation sowie die Auswirkungen der
Leistungsdefizite auf die psychische und soziale Entwicklung, die schulische
Integration, die gesellschaftliche Eingliederung und die Familie, einbeziehen.“21
Um eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Lese-Rechtschreibstörung zu
diagnostizieren, werden daher unterschiedliche Testverfahren angewendet.
Testformen zur Diagnostik für Lese-Rechtschreibschwierigkeiten sind z.B. der
Zürcher Lesetest, SLRT I und II (Salzburger Lese- und Rechtschreibtest), HAMLET
3-4 (Hamburger Lesetest für 3.und 4. Klassen), KNUSPEL L (Knuspels Leseaufgaben), ELFE 1-6 Ein Leseverständnistest für Erst bis Sechstklässler, DRT
(Diagnostischer Rechtschreibtest), DERET 1-2+, 3-4+ (Deutscher Rechtschreibtest
für 1. und 2. Klasse /3. und 4. Klasse), WRT 1+/2+/3+/4+ ( Weingartener
Grundwortschatz Rechtschreibtest für 1.-2./2.-3./3.-4./4.-5. Klasse), HSP 1-9
Hamburger Schreibprobe 1.-9. Klasse, Westermann-Rechtschreibtest und der
(BISC) Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese- Rechtschreibschwierigkeiten zur Anwendung in der Vorschule / KITA.
Zusätzlich zu den oben genannten Tests wird bisher ein Test zur Bestimmung der
allgemeinen Leistungsfähigkeit (Intelligenztest) eingesetzt. In anderen Ländern, wie
z.B. Österreich, wird hiervon abgesehen. 22
„Grundlage der individuellen Diagnose bilden Schriftsprachleistungen, die
gravierend negativ von denen abweichen, die hinsichtlich der durchschnittlichen
Leistungen der Altersgruppe/Klassenstufe und der individuellen allgemeinen
kognitiven
Leistungen
zu
erwarten
wären,
20
(Steinbrink, Lachmann, 2014, S. 53)
21
(http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-044l_S3_LeseRechtschreibst%C3%B6rungen_Kinder_Jugendliche_2015-06.pdf) 22
(Klicpera/Schabmann, Gasteiger-Klicpera, 2013, S. 242) 10 wobei
andere
spezifische
Leistungsbereiche unbeeinträchtigt sein müssen. Diese doppelte Diskrepanz ist auch
23
das Kernstück im ICD.“
In diesem doppelten Diskrepanzkriterium müssen die
Leistungen eine Diskrepanz sowohl zu einer spezifischen Leistung im Lesenund/oder Schreiben als auch zur allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit
(Intelligenz) aufweisen.
24
Bei Kindern mit einer Lese-Rechtschreibschwierigkeit
empfiehlt es sich daher, einen „Grundintelligenztest“ einzusetzen, der sprachfrei die
Intelligenz misst, das heißt, in dem keine Aufgaben gelöst werden müssen, die mit
geschriebener Sprache zu tun haben.25 Schulte-Körne sieht die Schwierigkeit in der
‚Operationalisierung der Schwere und des Ausmaßes der Lernstörung, „da es keinen
a priori definierten Grenzwert gibt“
26
Der Diskrepanzwert wird bisher aus der
Fehlerhäufigkeit in Relation zum Testwert des IQ´s ermittelt. Hierbei wird in einen
Prozentrang von mindestens 16 und einem T-Wert von mindestens 40 eingeteilt
(d.h. 84% der anderen Kinder sind besser), um damit die Lese-Rechtschreibstörung
zu diagnostizieren. „Die Diagnostik der LRS ist in der ärztlichen und
psychologischen/psychotherapeutischen Praxis uneinheitlich und basiert z.T. auf
unterschiedlichen
Testverfahren.
methodischen
Daher
ist
es
Vorgehensweisen,
dringend
notwendig,
Diagnosekriterien
und
die
von
Wirksamkeit
Fördermethoden sowie die Zweckmäßigkeit, Zuverlässigkeit und Gültigkeit des
diagnostischen Vorgehens zu überprüfen, um daraus klare Anleitungen und
Empfehlungen für die Praxis abzuleiten. Dementsprechend wurde unter Leitung der
Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und
Psychotherapie, eine evidenz- und konsensbasierte (S3) Leitlinie zur Diagnostik und
Behandlung von Kindern mit LRS entwickelt.“ 27
3. Fallbeispiele
Klicpera/Schabmann,
Gasteiger-Klicpera
gehen
in
ihrem
Buch
auf
die
Geschlechtsunterschiede ein. Herausgefunden wurde ein deutlich erhöhter Anteil an
Jungen mit Auffälligkeiten (je nach Einrichtungsart beträgt die Relation 3:2 oder
3:1). Bei Mädchen kommt es tendenziell eher zu Rückzug. Beide Fallbeispiele
wurden daher mit ähnlichen Voraussetzungen von mir ausgewählt. Die Namen der
23
(Steinbrink, Lachmann,2014, S.88) 24
(Heinrichs, Lohaus, S158) (Schneider, Lindenberger, S.609) 25
(Lohaus, Vierhaus, Entwicklungspsychologie, 20, S.141) 26
(Schulte-Körne, Thomé, 2014, S.143) 27
(Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 11 beiden Mädchen wurden geändert. Übereinstimmungen bestanden im Alter, der
Herkunftsfamilie, sowie charakterlichen Eigenschaften.
3.1 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibschwäche
Julia, 15 Jahre alt, besuchte die achte Klasse einer Werkrealschule in ihrem
Wohnort. In der dritten Klasse wurde bei ihr eine Lese- Rechtschreibschwäche
diagnostiziert. Julia verwechselte Buchstaben, lies Buchstaben weg und konnte nicht
fließend lesen. Sie wiederholte dann die dritte Klasse der Grundschule. Julia ging
nicht mehr gerne in die Schule. Jeden Morgen klagte sie über Bauchschmerzen und
Übelkeit. Organisch konnte nichts festgestellt werden. Sie empfand die Schule als
furchtbar. Bis zur achten Klasse wechselte sie dreimal die Schule. In keiner Klasse
kam sie richtig an und konnte keine Freundschaften aufbauen. Julia war durch die
Wiederholung der Klasse ein Jahr älter als die anderen Mädchen und hatte somit
andere Interessen. In der Klasse fühlte sie sich oft ausgelacht. Hausaufgaben führten
zuhause immer zu eskalierenden Konflikten. Die Mutter war verzweifelt, Julia saß
mit leerem Gesicht vor ihren Aufgaben. Die Mutter war gewillt, mit Julia solange zu
üben, bis sie aufgeholt hatte und den gleichen Stand im Lesen und Rechtschreiben
hatte, wie ihre Mitschüler. Oft saßen sie daher bis um 19:00 Uhr an den
Hausaufgaben. Irgendwann kamen Julia und ihre Mutter in einen Kreislauf, der nur
noch aus Druck bestand. Das Verhältnis wurde immer mehr zerstört. Die Mutter
beschrieb Julia bei einem Gespräch in der Schulsozialarbeit als verträumt, faul und
verlogen. Bei einem Elternabend kam die ganze Tragweite der Verzweiflung der
Mutter zum Ausdruck. Julia zeigte sich bei mir auffallend ruhig. Auf meine Fragen
antwortete sie leise, mit weinerlicher Stimme. In den Pausen zeigte dagegen zeigte
sie sich provozierend. Um bei den anderen dazuzugehören, log sie und versuchte,
sich immer in den Vordergrund zu stellen. Als sie beim Klettern an der Außenwand
der Schule abrutschte und in diesem Moment ein Kollege als Aufsichtsperson
während des Falls sie mit seiner Hand auf ihrem Hintern abstürzte, behauptete sie
sogar, dieser Kollege habe sie „angegrapscht“. Erst nach vielen Gesprächen konnte
Julia zugeben, dass sie von ihrer Schwäche abzulenken versuchte und
Aufmerksamkeit suchte. Hierauf wurde ich eingesetzt und konnte mit Julia in den
Freistunden gezielt Lesen üben. Trotzdem hatte niemand aus unserem Team die
Zeit, sich so intensiv um Julia zu kümmern, damit sie die Defizite hätte aufholen
können.
Kurz
bevor
ich
die
Schule
Werkrealschulabschluss gefährdet.
12 verlassen
hatte,
war
Julias
3.2 Fallbeispiel einer Lese-Rechtschreibstörung
Lisa, 14 Jahre alt, besuchte die achte Klasse einer Realschule in ihrem Wohnort. Bei
ihr wurde in der dritten Klasse eine Lese-Rechtschreibstörung (F81.0) diagnostiziert.
Lisa verwechselte Buchstaben, lies Buchstaben weg und konnte nicht fließend lesen.
Durch die Diagnose LRS bekam Lisa einen Notenausgleich und empfand diesen als
große
Entlastung.
Zwar
kam
es
bei
Lisa
auch
manchmal
zu
einer
Hausaufgabenkonfliktsituation, die Mutter hatte jedoch durch die Gespräche mit den
LRS Therapeuten verstanden, dass sie Lisa nicht mehr so viel Druck machen sollte.
Innerhalb der Klasse kam es oft zu Situationen, in denen Lisa ausgelacht wurde.
Lisa reagierte darauf meist mit somatischen Beschwerden, wie Bauchschmerzen und
Kopfschmerzen Durch die Diagnose reduzierten die Lehrer den Druck und Julia
konnte für sich an ihren Erfolgserlebnissen wachsen. Zwar saß ihre beste Freundin,
die in der gleichen Straße wohnte, neben ihr, zu den anderen Mädchen in der Klasse
hatte sie jedoch keine weiteren Kontakte. In einem Verein war sie nicht mehr. Sie
wollte nicht auch noch nachmittags ausgelacht werden. Dafür lernte sie in dieser
Zeit kontinuierlich in allen Fächern. Lisas Noten waren in den anderen Fächern
jedoch so gut, dass sie den Realschulabschluss gut geschafft hat.
Beide
Mädchen
lernte
ich
während
meiner
Schulsozialarbeit
an
einer
Brennpunktschule jeweils in der achten Klasse kennen. Im psychosozialen Bereich
erging es beiden Mädchen ähnlich. Da Lisa eine Freundin hatte, konnte sie sich hier
dennoch positiv entwickeln. Bei Julia verstärkte sich jedoch der Schulfrust, da sie
keine einzige Freundin hatte und die Lehrer ihr vor der Klasse sagten, sie sei faul.
Dies führte innerhalb der Klasse zu Gelächter und Ausgrenzung durch die
Mitschüler, welches wiederum die Schulangst und die Isolation verstärkte. Während
Lisa konnte durch das Verständnis der Lehrer in der Schule und der umfangreichen
Therapie ein positives Selbst gewinnen konnte, welches sich in guten Noten in den
anderen Fächern zum Ausdruck brachte, konnte sich in Julias Schulleben kein
Erfolg einstellen. Im Gegenteil es häuften sich die steigen Misserfolge. In diesem
Zusammenhang
sehe
ich
Julias
auffälliges
Verhalten
nach
permanenter
Aufmerksamkeit begründet. Durch die integrative Lerntherapie mit Einbeziehung
der Mutter konnte sich die Umwelt gut auf Lisa einstellen und sie gut begleiten.
Julia Hingegen, die nur eine Lese-Rechtschreibschwäche hatte, unterstellten die
Lehrer, sie sei faul und wolle nicht lernen.
13 4. Auswirkung von Lese-Rechtschreibschwäche und Störung
Bei einer Lese-Rechtschreibstörung kommt es zusätzlich zu den Schwierigkeiten
beim Lesen und Rechtschreiben, zu einer psychosozialen Beeinträchtigung, die sich
als Erschweren der Kommunikation, erschwertem Zugang zum Fundus einer
Gesellschaft, Behinderung des schulischen Erfolgs, wie auch der Bildungskarriere
zeigen.28 Esser beschreibt, dass der Begriff „umschriebene Entwicklungsstörung“
den ursprünglichen Begriff „Teilleistungsstörung“ ersetzt hat. Der neue Begriff
„umschriebene Entwicklungsstörung suggeriert allerdings, dass es sich um ein
vorübergehendes Störungsbild mit günstiger Prognose handelt. Langzeitstudien
belegen das Gegenteil und zeigen auf, dass bei einem hohen Prozentsatz mit
andauernden Beeinträchtigungen zu rechnen ist 29
Die ständige Konfrontation mit Misserfolgen in der Schule führt häufig zu
Frustration und Versagensängsten. Hierdurch entsteht in vielen Fällen eine
Schulunlust, die den Teufelskreis aus Angst vor dem Versagen, Misserfolge in der
Schule und Verlust der Lernmotivation, sowie Rückzug und Isolation entstehen
lässt.
30
Hierbei unterscheiden sich die Verläufe der Lese-Rechtschreibstörung und
die der Lese-Rechtschreibschwäche nicht.
4.1 Komorbitäten
Die Komorbität mit zusätzlichen psychischen Störungen ist gerade bei einer LeseRechtschreib-Schwäche oder Störung ausgeprägt. „Kinder mit LRS werden häufig
in der medizinischen Versorgung, zum Beispiel in der pädiatrischen Praxis oder im
öffentlichen Gesundheitsdienst, wegen psychosomatischer Symptome wie Kopfund Bauchschmerzen, Übelkeit und Antriebslosigkeit vorgestellt. Die Komorbität
externalisierender und internalisierender Störungen ist dementsprechend hoch“. Bei
wiederholten schulischen Misserfolgen entwickelt sich oft eine Angststörung,
gravierende Versagensängste und ein negatives Fähigkeitsselbstkonzept. „Bei etwa
20% der Kinder und Jugendlichen mit Lesestörung entwickelt sich eine
Angststörung, aber auch Depressionen und Störungen des Sozialverhaltens treten
gehäuft auf“.
31
„Die Komorbität mit zusätzlichen psychischen Störungen wurde
gerade bei einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder -Störung bisher unterschätzt.
28
(Steinbrink, Lachmann, 2014, S.54) 29
(Esser, S.60) 30
(Heinrichs, Lohaus, 2011, S.160) (Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 31
14 Hierzu zählen Angststörungen, depressive Symptome, hyperkinetische Störungen,
bzw. ADHS und Schulabsentismus, im Jugendalter auch die Störung des
Sozialverhaltens. ADHS kommt bei Kindern und Jugendlichen mit einer LRS circa
4 Mal so häufig vor und die Prävalenzrate liegt bei Kindern mit bereits
diagnostizierter LRS bei 8-18%. Zudem wurde eine deutlich erhöhte Prävalenz von
Angststörungen (circa 20 %) und depressiven Störungen (14,5%) bei der LRS
festgestellt. Das Risiko, bei bestehender LRS eine Angststörung aufzuweisen, ist auf
das Vierfache erhöht. Für die soziale Phobie liegen sogar Hinweise auf ein
sechsfaches Risiko vor.
32
Vor allem mit zunehmendem Alter kann es unter
bestimmten Umständen zu einer Verschiebung der Problematik kommen. In diesem
Fall gerät die Lese-Rechtschreib-Schwierigkeit in den Hintergrund und die
psychische Störung mit ihren Symptomen steht im Vordergrund. Daniel et al. 2006
beschreibt in diesem Zusammenhang sogar eine erhöhte Suizidgefahr bei älteren
Kindern und Adoleszenten. Diese sieht er verbunden mit der in der LeseRechtschreibstörung begründeten ständigen Misserfolgserlebnisse und die daraus oft
resultierende emotionale Sekundärsymptomatik.
33
Klicpera/Schabmann und
Gasteiger-Klicpera weisen auf Ergebnisse von Klein und Manuzza(1993) hin, die
bei einer Stichprobe 91 Schüler bis ins Erwachsenenalter begleiteten und
Alkoholismus und Drogenabhängigkeit herausfanden.
4.2 im schulischen Bereich
Einen
Zusammenhang
zwischen
Lese-Rechtschreibschwierigkeiten
und
Ausgrenzung aus dem Klassenverband oder gar Mobbing kann nicht generell
festgestellt werden. Untersuchungen über Mobbing haben jedoch ergeben, dass die
zum Opfer werden, „die sich nicht wehren, nicht sehr stark sind und die sich zu sehr
davor fürchten, dem Lehrer oder jemand anderem davon zu erzählen“. 34Oft sind es
gerade die Schüler mit einer Lese-Rechtschreibschwierigkeit, die sich in der
Schullaufbahn immer weiter zurückziehen, nicht auffallen wollen und sich aus
diesem Grund in ihrer Rolle als Opfer, nicht wehren, weil sich schon eine
Angststörung oder soziale Phobie entwickelt hat. Nicht alle Lehrer sind so geschult,
dass sie die neuesten Untersuchungen zum Thema Lese-Rechtschreibschwäche und
Lese-Rechtschreibstörung kennen. Gerade die Unkenntnis über das Testverfahren
32
(Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt 2016) 33
(Steinbrink, Lachmann, 2014, S.55) 34
(Lindenberger, 2012, S.697) 15 führt oft dazu, dass Lehrer bei nicht vorliegender „Diagnose“ mehr Druck auf den
Schüler ausüben, da er aus ihrer Sicht einfach zu faul ist. Gerade dieses Verhalten
kann hierbei zu einer verheerenden Entwicklung führen. Der Schüler bekommt
weniger Lob, mehr Druck, die Freude am Lernen schwindet und es entwickelt sich
ein auffälliges Verhalten. In diesem Fall kommt es oft zu fehlender Lernmotivation
und Schulunlust. Jungen tendieren hier eher zu oppositionellem und dissozialem
Verhalten mit Aggressionen gegen andere Schüler und bei zunehmendem Alter zu
Schulschwänzen. Mädchen neigen eher zu Angststörung, depressiven Symptomen
und tendieren zur Isolation aus sozialen Gefügen. Das Selbstwertgefühl sinkt
zunehmend. Eine Selbstwirksamkeit wird nicht mehr wahrgenommen.
4.3 im familiären Bereich
Die größte Problematik bei Lese- Rechtschreibschwierigkeiten ist die Hausaufgaben-Konfliktsituation innerhalb der Familie. Hier kommt es innerfamiliär fast
immer zu einer Kettenreaktion zwischen dem Kind und den Eltern oder den Elternteilen, die die Hausaufgaben betreuen. In Unkenntnis über die Erkrankung und die
Ursachen kommt es vor allem am Anfang vermehrt zu einer verzweifelten
Druckausübung seitens der Eltern auf das betroffene Kind. In seiner Verzweiflung
reagiert das Kind in der Regel mit auffälligem Verhalten, wie z.B. Rückzug /
Blockade oder Aggression. Oft kommt es nach Gesprächen mit Lehrern sogar zu
vermehrtem Ausüben von Druck. Innerfamiliär kann dies zu einer Zerrüttung der
Familie oder des Eltern-Kind-Verhältnis führen. Vor allem, wenn sich beide
Elternteile nicht einig sind und der eine Verständnis, der andere Unverständnis zeigt.
Dies hat vor allem in der Pubertät oft zur Folge, dass sich Jugendliche immer mehr
von den Eltern abwenden und sich in der Peergruppe Anerkennung und Lob holen.
In einigen Fällen durch Straftaten.
4.4 in der Teilhabe
Durch die ständigen Misserfolge in der Schule verlieren Kinder und Jugendliche das
Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Das Selbstwertgefühl kann sich nicht
entwickeln. Eine Selbstwirksamkeit wird nicht mehr erfahren. Oft kommt es in
diesem Zusammenhang zu einer Isolation und zum Rückzug aus sämtlichen sozialen
Gruppen. Eine Vereinstätigkeit wird nicht mehr wahrgenommen. Kinder mit
Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben sind aufgrund der Hausaufgabenfülle oft
bis spätnachmittags oder sogar abends beschäftigt und gar nicht mehr in der Lage,
16 Kontakt zu Gleichaltrigen aufrecht zu erhalten und zu pflegen, oder einer
Vereinszugehörigkeit nachzugehen. Es droht die Isolation bis hin zur Depression.
Kinder und Jugendliche mit Lese- Rechtschreibschwierigkeiten verlernen häufig die
sozialen Fähigkeiten im Umgang mit anderen Kindern. Es fehlt ihnen an
Situationen, die ihre Empathiefähigkeit fördern. In diesem Zusammenhang kann es
im weiteren Verlauf zu einem Verhalten führen, welches dann von anderen Kindern
abgelehnt wird. Hieraus entsteht ein Teufelskreis aus dem Wunsch nach
Freundschaften, Unkenntnis über sozialverträgliches Verhalten und Ablehnung.
„Für die soziale Phobie liegen sogar Hinweise auf ein sechsfach erhöhtes Risiko
vor.“ 35
35
(Galuschka, Schulte-Körne, Deutsches Ärzteblatt, 2016) 17 5. Diskussion mit Fazit
Aus meiner langjährigen Erfahrung in Kinderheimen, an Schulen und durch die
derzeitige Tätigkeit im Sozialamt, bei der ich die Teilhabefähigkeitseinschränkung
bei Anträgen zur Übernahme einer Therapie bei Vorliegen einer LeseRechtschreibstörung- und Dyskalkulie für das Jugendamt nach §35a, SGB VIII,
prüfe, sehe ich das größte Problem bei der Diagnose Lese-Rechtschreibschwäche, da
in diesem Fall keine gezielte Förderung erfolgt. Bei allen von mir begleiteten
Kindern die eine Lese-Rechtschreibschwäche oder eine Lese-Rechtschreibstörung
haben, bestand zusätzlich zumindest eine drohende seelische Behinderung mit
drohender Teilhabeeinschränkung und in vielen Fällen sogar schon eine ausgeprägte
seelische Behinderung in Form von Angststörung, depressiven Phasen, Essstörungen
oder oppositionelles Verhalten, die die Teilhabefähigkeit durch die Ausgrenzung aus
der Schulklasse, den Vereinen und das Fehlen des Freundeskreises in Form von
Isolation mit sich zog.
In der Vergangenheit wurde die Lese- Rechtschreibschwäche nicht als „Störung“
anerkannt und daher nicht gefördert oder therapiert. Bisher waren die Verläufe, die
ich begleiten konnte, mit einer ausgeprägten Lese-Rechtschreibschwäche und den
zusätzlich entstehenden psychischen Erkrankungen jedoch schlimmer, als die der
diagnostizierten Lese-Rechtschreibstörung. Ich habe anhand der Fallbeispiele
versucht, in dieser Ausarbeitung deutlich zu machen, dass in allen Fällen, die ich
bisher kennengelernt habe, eine Diagnose eher „entlastend“, denn „stigmatisiert“
wirkt.
Bei dem Vorliegen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten kommt der Betreuung im
Elternhaus
ein
hoher
Stellenwert
zu.
Durch
die
Diagnose
der
Lese-
Rechtschreibstörung kann in vielen Fällen der Hausaufgabenkonflikt drastisch
reduziert werden, so dass Kinder und Eltern weiterhin eine positiv stärkende
Beziehung pflegen können. Diese führt meines Erachtens dann wieder zu einer
Stärkung des Selbstwertgefühls, welches sich im weiteren Verlauf als Positiv
erweisen kann. Bei Kindern mit Lese- Rechtschreibschwierigkeiten ist es von großer
Bedeutung, Resillienzfaktoren, wie z.B. Selbstwirksamkeit, zu schaffen. Nur durch
das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und das daraus entstehende
Selbstvertrauen, etwas zum Positiven hin zu verändern, können psychische
Beeinträchtigungen abgemildert oder vermieden werden. Aus meiner Sicht sollte
hier frühzeitig durch eine therapeutische Begleitung die Familie miteinbezogen
18 werden, damit ein Verständnis für die Problematik entstehen kann. Dies würde
sicherlich einen erheblichen Beitrag zur Entwicklung notwendiger Fähigkeiten wie
Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit leisten, um die Entstehung und Ausprägung
der psychischen Auffälligkeiten herabzusetzen.
Vor dem intensiven Auseinandersetzen mit dem Thema Lese- Rechtschreibschwäche versus Lese-Rechtschreibstörung war mir der Unterscheid zwischen
beiden Begriffen zwar bekannt, die unterschiedliche Verwendung der Begriffe und
die gravierend unterschiedliche Förderung in den einzelnen Bundesländern
hingegen, war mir in dieser Form nicht bekannt. Erschreckend war die große,
ungeordnete Bandbreite an Informationsmaterial, je nach Erklärungsansatz des
einzelnen Vertreters und der jeweiligen Therapieansätze, die im Internet und in
Büchern zur Verfügung standen.
Die neuen Leitlinien S3 sind ein erster Ansatz zur Vereinheitlichung und Bündelung
der verschiedenen Ansätze. Aus meiner Sicht ist eine Vereinheitlichung der
Diagnostik und Klärung der Begriffe wie Lese-Rechtschreibschwäche, LeseRechtschreibstörung und LRS dringend angeraten. Ich hoffe, dass dies
baldmöglichst in allen Bundesländern vereinheitlicht werden wird und somit jeder
Schüler in der Bundesrepublik Deutschland die gleichen Chancen haben wird.
In diesem Zusammenhang war erschreckend, dass Kinder je nach Bundesland eine
größtmögliche oder eine geringe Förderung bekommen. Das heißt, je nach
Bundesland haben Kinder mehr oder weniger gute Bildungschancen.
Die Auswirkungen einer Lese- Rechtschreibschwierigkeit werden aus meiner Sicht
immer noch unterschätzt. Diese können wie hier beschrieben, das ganze Leben
entscheidend prägen, und als Auslöser von schwerwiegenden psychischen
Erkrankungen zugrunde liegen.
Ich habe daher die Vision, dass es in der nächsten Zeit zu einer präziseren
Diagnostik kommen wird und dass jedes Kind mit einer Lese- Rechtschreibschwierigkeit, gleich, in welchem Bundesland es aufwächst, und unabhängig von
der Ausprägung der Schwäche, gefördert wird. Dies sollte aus meiner Sicht so lange
andauern, bis „mindestens eine altersgerechte Lese- und Rechtschreibfähigkeit
erreicht wurde.“
19 Literaturverzeichnis
Comer J. Ronald, Klinische Psychologie, Spektrum Verlag, 2. Deutsche Auflage,
2001
Esser Günther, Lehrbuch der klinischen Psychologie und Psychotherapie bei
Kindern und Jugendlichen, Thieme Verlag, 4. Auflage, 2011 (ebook)
Heinrichs Nina, Lohaus Arnold, Klinische Entwicklungspsychologie, Beltz Verlag,
2011
Lohaus, Vierhaus, Entwicklungspsychologie, Springer Verlag, 3.aktualisierte
Auflage, 2015 (ebook)
Klicpera Christian, Schabmann Alfred, Gasteiger-Klicpera Barbara, LegasthenieLRS, Ernst Reinhardt Verlag, 4. aktualisierte Auflage, 2013
Schneider, Lindenberger(Hrsg.), Entwicklungspsychologie, Beltz Verlag, 7.
Auflage, 2012
Schulte-Körne Gerd, Thomé Günther, LRS-Legasthenie: interdisziplinär, isb-Verlag,
2014
Steinbrink Claudia, Lachmann Thomas, Lese-Rechtschreibstörung, Springer Verlag,
2014 (ebook)
Wittchen Hans-Ulrich Handbuch psychischer Störungen, Beltz Verlag, 2. Neu
ausgestattete Ausgabe, 1998
Wustmann Seiler C., Fthenakis Prof. Dr. W. E. Resillienz, Cornelsen, 5. Auflage
2015
Internetquellen: http://www.focus.de/familie/schule/grundlagenkompetenzen-fehlen-studie-uebersinkende-bildungsstandards-werden-deutschlands-schueler-immerduemmer_id_5425051.html
http://www.icd-code.de/suche/icd/code/F81.-.html?sp=Sf81
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-044l_S3_LeseRechtschreibst%C3%B6rungen_Kinder_Jugendliche_2015-06.pdf)
https://www.kmk.org/presse/pressearchiv/mitteilung/304-plenarsitzung-derkultusministerkonferenz-am-04-dezember-2003-in-bonn.html
20 Erklärung für Hausarbeiten:
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig
verfasst und keine anderen, als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Alle wörtlich oder sinngemäß den Schriften anderer entnommenen Stellen,
habe ich unter Angabe der Quelle kenntlich gemacht.
Dies gilt auch für beigefügte Zeichnungen, Skizzen, bildlichen Darstellungen
sowie für Quellen aus dem Internet.
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Ort, Datum und Unterschrift
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