DIE BEHANDLUNG ZURECHNUNGSUNFÄHIGER GEISTIG ABNORMER RECHTSBRECHER Hans Schanda WS 16/17 (030108) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Historische Entwicklung Gesetzliche Grundlagen, typische Krankheitsbilder Population Behandlung Exkurs: Morbidität und Mortalität von Menschen mit Psychosen Die österreichische Situation Rückfallraten Probleme der Prognosestellung Exkurs: Beziehungen zwischen Allgemeinpsychiatrie und Forensischer Psychiatrie Fallbeispiele Multiple-Choice-Prüfung Sa 22.10.2016 + Sa 29.10.2016, jeweils von 09:00 bis 17:00, Juridicum, Hörsaal U10. Anmeldung für die Prüfung über U:SPACE Sa 1.10.2016 bis So 16.10.2016. Die Prüfung findet am Ende des 2. Vorlesungsblocks statt (10 Multiple-choice-Fragen). Die Fragen beziehen sich auf den 1. Vorlesungsblock und die zur Verfügung gestellten Unterlagen. Die Noten sind ab 10.11.2016 über U:SPACE abrufbar. Möglichkeit zur Wiederholung der Prüfung am 3.12.2016, 09:00, Hörsaal U11. Anmeldung für die Wiederholungsprüfung über U:SPACE zwischen 12.11. und 27.11.2016. (030108) WS 14/15 1. Historische Entwicklung 1 1770 1784 1787 1803 Constitutio Criminalis Theresiana Allgemeines Krankenhaus, Narrenturm (Joseph II.) Josephinisches Strafgesetz Gesetzbuch über Verbrechen und schwere PolizeyÜbertretungen (Franz II. → Franz I.) 1804 Lehrkanzel für gerichtliche Staats- und Arzneikunde 1806 Erstmals belegte medizinische Überprüfung der Zurechnungsfähigkeit (Mord) Ab 1816 Verlegung „ruhiger, unheilbar Kranker“ in das Versorgungshaus Mauerbach, später nach Ybbs 1817 Ärztlicher Leiter für den Narrenturm 1819 Privatheilanstalt in Gumpendorf, später in Döbling (Görgen) Ab 1840 Im Zweifel regelmäßige gutachterliche Überprüfung der Zurechnungsfähigkeit 1851 Unterstützungsverein für entlassene Patienten 1852 1853 1866-69 1870 1875 1885 1901 1902 1904 1907 1911 Strafgesetzbuch („Neue, durch spätere Gesetze ergänzte Ausgabe des Strafgesetzbuches vom 3. September 1803“) K.k. Heil- und Pflegeanstalt auf dem Brünnlfelde (NÖ Landes-Irrenanstalt) (~700 Betten) Schließung des Narrenturms Gründung der 1. Psychiatrischen Universitätsklinik (Meynert); Anstalt in Klosterneuburg-Gugging Gründung der 2. Psychiatrischen Universitätsklinik (Meynert, Leidesdorff, Krafft-Ebing …) Forderung des Obersten Sanitätsrates nach einer eigenen Anstalt für „verbrecherische Geisteskranke“ Wagner-Jauregg „Zur Reform des Irrenwesens“ Anstalt in Mauer-Öhling Psychiatrische Anstalt „Am Steinhof“ Keine weitere Nachbesetzung der 1. Psychiatrischen Klinik Zusammenlegung der 1. und 2. Psychiatrischen Klinik 2 1914-18 1938-45 1. Weltkrieg NS-Regime, systematische Tötung von 250.000 - 300.000 geisteskranken und geistig behinderten Menschen, 1934 - 1945 350.000 - 400.000 Zwangssterilisierungen 1939-45 2. Weltkrieg 1975 Strafrechtsreform („geistig abnorme Rechtsbrecher“) 1985 Eröffnung der Justizanstalt Göllersdorf Ab ~ 1995 Sukzessive Errichtung forensisch-psychiatrischer Abteilungen in psychiatrischen Krankenhäusern 2010 Eröffnung einer weiteren justizeigenen Einrichtung für zurechnungsunfähige Maßnahmepatienten (Außenstelle Asten der JA Linz) ZUSTÄNDIGKEIT, VERANTWORTLICHKEIT FÜR SCHULD-/ ZURECHNUNGSUNFÄHIGE PSYCHISCH KRANKE STRAFTÄTER Strafrecht (1803/1852) Strafrechtsreform 1975 Gesundheitsverwaltung Justizverwaltung [„Geistig abnorme Rechtsbrecher“] Exkulpierung, Behandlung in Exkulpierung, Einweisung in eine Anstalt psychiatrischen Krankenhäusern ohne weitere gerichtliche Kontrolle. für geistig abnorme Rechtsbrecher auf unbestimmte Zeit, Entlassung durch das Gericht. Die administrative und finanzielle Verantwortung für die Behandlung lag bei den Gesundheitsbehörden Die administrative und finanzielle Verantwortung für die Behandlung liegt beim Bundesministerium für Justiz. der Länder. 3 2. Gesetzliche Grundlagen, typische Krankheitsbilder §11 StGB Wer zur Zeit der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren, einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft. 4 §11 StGB: EXKULPIERUNGSGRÜNDE JURISTISCHE UND PSYCHIATRISCHE KRANKHEITSBEGRIFFE Geisteskrankheit: Funktionelle und organische Psychosen (Schizophrenie, manisch-depressive Erkrankungen, körperlich begründbare Psychosen) Geistige Behinderung: Geistesschwäche erheblichen Grades (angeborene, intrauterine, geburtstraumatische und frühkindliche Hirnschäden) (Imbezillität, Idiotie) Tiefgreifende Bewusstseinsstörung: Zustände, welche die geistig-seelischen Funktionen ausschalten, ohne Krankheiten im engeren Sinn darzustellen (z.B. Alkohol- und Drogenintoxikation, akuter exogener Reaktionstyp, Fieberdelir, Dämmerzustände, aber auch derart tiefgreifende Affekte, die anderes Handeln unmöglich machen) Andere schwere, einem dieser Zustände gleichwertige seelische Störung: Organische Wesensänderung, psychotisches Residualsyndrom, schwere Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, schwere Impulskontrollstörungen ICD-10 Kapitel V Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99) F00-F09 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen ! ! F10-F19 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F20-F29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen ! F30-F39 Affektive Störungen F40-F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F50-F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren F60-F69 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen F70-F79 Intelligenzstörung ! ! F80-F89 Entwicklungsstörungen F90-F98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen 5 Organische einschließlich symptomatischer psychischer Störungen (F00-F09) Psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit, einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt. Primär (Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in besonderem Maße betreffen) Sekundär (systemische Krankheiten oder Störungen, die das Gehirn als eines von vielen anderen Organen oder Körpersystemen betreffen) Demenz (F00-F03): Störung höherer kortikaler Funktionen (Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen) Veränderungen ► der emotionalen Kontrolle ► des Sozialverhaltens ► der Motivation Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Intelligenzminderung (F70-F79) Ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten … wie Kognition, Sprache, motorische und soziale Fähigkeiten. Eine Intelligenzminderung kann allein oder zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten. Leicht (F70): IQ 50-69 Mittelgradig (F71): IQ 35-49 Schwer (F72): IQ 20-34 Schwerst (F73): IQ < 20 6 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19) Störungen unterschiedlichen Schweregrades mit verschiedenen klinischen Erscheinungsbildern; die Gemeinsamkeit besteht im Gebrauch einer oder mehrerer psychotroper Substanzen (mit oder ohne ärztliche Verordnung). Akute Intoxikation (akuter Rausch) Schädlicher Gebrauch Abhängigkeitssyndrom Entzugssyndrom Psychotische Störung ► Alkoholhalluzinose ► Alkoholische Paranoia ► Alkoholischer Eifersuchtswahn SCHIZOPHRENIE (F20) ! Störungen von Denken und Wahrnehmung, inadäquate oder verflachte Affekte Bewusstseinsklarheit und intellektuelle Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, jedoch im Laufe der Zeit Entwicklung gewisser kognitiver Defizite. Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene: Gedankenlautwerden Gedankeneingebung oder Gedankenentzug Gedankenausbreitung Control override-Symptome Wahnwahrnehmung Kontrollwahn Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten Stimmen, die in der dritten Person das Verhalten des Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome Verlauf: Kontinuierlich Episodisch mit zunehmenden oder stabilen Defiziten Eine oder mehrere Episoden mit vollständiger oder unvollständiger Remission 7 SCHIZOPHRENE STÖRUNGEN 1 Lebenszeitprävalenz ~ 0,7% bis 1% Lebenszeitrisiko für Männer und Frauen ~ gleich hoch ~ 90% der Männer und ~ 66% der Frauen erkranken vor dem 30. Lebensjahr Hoher Anteil chronischer Verläufe Nur 18% bleiben innerhalb von 5 Jahren nach der ersten Episode rückfallfrei.1) 5x höhere Rückfallraten nach Absetzen der Medikation1) Verdreifachung der Zeit bis zur Remission vom 1. zum 3. Rückfall 2) Deutliche Reduktion des Funktionsniveaus in den ersten Jahren der Erkrankung3) 1)Robinson D, Woerner M, Alvir JMJ, Bilder R, Goldman R, Geisler St, Koreen A, Sheitman B, Chakos M, Mayerhoff D, Lieberman J. Predictors of relapse following response from a first episode of schizophrenia or schizoaffective disorder. Arch Gen Psychiatry 1999;56:241-247 2) Lieberman JA, Koreen AR, Chakos M, Sheitman B, Woerner M, Alvir JM, Bilder R. Factors influencing treatment response and outcome of first-episode schizophrenia: implications for understanding the pathophysiology of schizophrenia. J Clin Psychiatry 1996;57(Suppl 9):5-9 3)Birchwood M , Todd P, Jackson C. Early intervention in psychosis. The critical period hypothesis. Br J Psychiatry Suppl 1998;172:53-59 PERSÖNLICHKEITS- UND VERHALTENSSTÖRUNGEN (F60-F69) Meist länger anhaltende Zustandsbilder und Verhaltensmuster als Ausdruck ► des charakteristischen, individuellen Lebensstils ► des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen Einige dieser Zustandsbilder und Verhaltensmuster entstehen als Folge konstitutioneller Faktoren und sozialer Erfahrungen schon früh im Verlauf der individuellen Entwicklung, während andere erst später im Leben erworben werden. ! Spezifische Persönlichkeitsstörungen (F60.-), kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen (F61), Persönlichkeitsänderungen (F62.-): ► Tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen äußern. ► Gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen. ► Meistens stabile Verhaltensmuster, die sich auf vielfältige Bereiche des Verhaltens und der psychologischen Funktionen beziehen. Sie gehen häufig mit einem unterschiedlichen Ausmaß persönlichen Leidens und gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher. 8 PRÄVALENZ VON PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN IN DER ALLGEMEINBEVÖLKERUNG UND IN KOLLEKTIVEN BEGUTACHTETER STRAFTÄTER UND GEFÄNGNISINSASSEN Paranoide Persönlichkeitsstörung 0,4 - 1,8% (3 - 9,9%) Schizoide Persönlichkeitsstörung 0,4 - 0,9% (1,7 - 6,6%) Antisoziale Persönlichkeitsstörung 0,2 - 3,0% (17 - 29,3%) Borderline-Persönlichkeitsstörung 1,1 - 4,6% (6,1 - 17,9%) Histrionische Persönlichkeitsstörung 1,3 - 3,0% Narzisstische Persönlichkeitsstörung 0 - 0,4% (4,4 - 8,8%) Selbstunsichere Persönlichkeit, ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung 0 - 1,3% Dependente (abhängige) Persönlichkeitsstörung 1,5 - 6,7% Anankastische Persönlichkeitsstörung 1,7 - 6,4% Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung 0 - 3,0% EMOTIONAL INSTABILE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG (F60.3x) Deutliche Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter Stimmung. Neigung zu emotionalen Ausbrüchen, Unfähigkeit, impulshaftes Verhalten zu kontrollieren. Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden. Impulsiver Typus: Vorwiegend emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle. Borderline-Typus: Zusätzlich Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen, chronisches Gefühl von Leere, intensive, aber unbeständige Beziehungen, eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen. 9 EINTEILUNG DER PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN, § 21/1 StGB (ERST- UND ZWEITDIAGNOSEN) ICD-10 DSM-IV CLUSTER A (sonderbar, exzentrisch) PARANOID PARANOID Misstrauen und Argwohn, andere seien böswillig SCHIZOID SCHIZOID Soziale Distanz, eingeschränkter Ausdruck von Emotionen (F 21 SCHIZOTYPE STÖRUNG) SCHIZOTYPISCH Soziale Ängste, Verzerrung von Denken und Wahrnehmung, exzentrisch CLUSTER B (dramatisch, emotional, extrovertiert) DISSOZIAL ANTISOZIAL Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, Impulsivität, Aggressivität EMOTIONAL INSTABIL (impulsiver und Borderline-Typ) BORDERLINE Instabilität in Beziehungen, im Selbstbild, in Affekten, Impulsivität, wiederholte Selbstverletzungen und Suizidversuche HISTRIONISCH HISTRIONISCH Übermäßige Emotionalität, übermäßiges Verlangen nach Aufmerksamkeit === NARZISSTISCH Gefühl der Großartigkeit, Bedürfnis, bewundert zu werden, Mangel an Empathie, benützt andere CLUSTER C (ängstlich, furchtsam) ÄNGSTLICH SELBSTUNSICHER Soziale Hemmung, Gefühl der Unzulänglichkeit, Angst vor negativer Beurteilung und Zurückweisung ABHÄNGIG DEPENDENT Unterwürfig, anklammernd, Bedürfnis, versorgt zu werden ANANKASTISCH ZWANGHAFT Beschäftigt mit Ordnung, Perfektionismus und Kontrolle § 429 Abs. 4 StPO Liegt einer der im § 173 Abs. 2 und 6 [Zulässigkeit der Untersuchungshaft] angeführten Haftgründe vor, kann der Betroffene nicht ohne Gefahr für sich oder andere auf freiem Fuß bleiben oder ist seine ärztliche Beobachtung erforderlich, so ist seine vorläufige Anhaltung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder seine Einweisung in eine öffentliche Krankenanstalt für Geisteskrankheiten anzuordnen. Diese Krankenanstalten sind verpflichtet, den Betroffenen aufzunehmen und für die erforderliche Sicherung seiner Person zu sorgen. 10 § 21 Abs. 1 StGB Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann nur deshalb nicht bestraft werden, weil er sie unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11) begangen hat, der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen begehen werde. Erläuterungen zum § 21 StGB (Foregger-Serini, Manz, 1984) Die Prognose ist ungünstig: Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Rechtsbrecher unter dem Einfluss seiner Abartigkeit zumindest eine gerichtlich strafbare Handlung mit schweren Folgen begehen werde. ... Handlungen ohne schwere Folgen … ermöglichen die Unterbringung auch dann nicht, wenn die Zusammenrechnung der Folgen ein erhebliches Gewicht ergibt. Die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ist für wirklich gefährliche Delinquenten gedacht, bei denen andere strafrechtliche Maßnahmen nicht in Betracht kommen (Abs. 1) oder nicht genügen (Abs. 2). Starke Rückfallsneigung, ja Unverbesserlichkeit und Behandlungsbedürftigkeit genügen für sich allein nicht. … Neue Taten mit schweren Folgen müssen zu befürchten sein; es genügt nicht, dass sie nicht auszuschließen, möglich, nicht unwahrscheinlich o. ä. sind. 11 § 21 Abs. 2 StGB Liegt eine solche Befürchtung vor, so ist in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wer, ohne zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. In einem solchen Fall ist die Unterbringung zugleich mit dem Ausspruch über die Strafe anzuordnen. Vorbeugende Maßnahmen für zurechnungsunfähige (§ 21 Abs. 1 ÖStGB) und zurechnungsfähige (§ 21 Abs. 2 ÖStGB) geistig abnorme Rechtsbrecher Mit einer Strafe von > 1 Jahr bedrohte Tat1) Zurechnungsunfähigkeit (§ 11 StGB)? Ja Geistige, seelische Abartigkeit höheren Grades? Nein Schlecht Krankheitsbedingte Gefährlichkeitsprognose? 1) Ja Gut Gut § 21 Abs. 1 StGB2) (Vorbeugende Maßnahme) Nein Verfahrenseinstellung Entlassung Haftstrafe Krankheitsbedingte Gefährlichkeitsprognose? Schlecht § 21 Abs. 2 StGB2) (Haftstrafe plus vorbeugende Maßnahme) Strafbare Handlungen gegen fremdes Vermögen ohne Anwendung von Gewalt oder Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben (§ 89) kommen seit 2011 nicht in Betracht (§ 21 Abs. 3 StGB). 2002 bedingte Einweisung gemäß §45 Abs. 1 StGB möglich 2)Seit 12 § 45 Abs. 1 StGB (seit 2002) Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ist bedingt nachzusehen, wenn …, insbesondere nach einem während vorläufiger Anhaltung nach § 429/4 StPO … erzielten Behandlungserfolg anzunehmen ist, dass die bloße Androhung der Unterbringung in Verbindung mit einer Behandlung außerhalb der Anstalt und allfälligen weiteren in den §§ 50 bis 52 vorgesehenen Maßnahmen ausreichen werde, um die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, hintanzuzuhalten … Die Probezeit … beträgt zehn Jahre, ist die der Unterbringung zugrunde liegende Handlung aber mit keiner strengeren Strafe als einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht, fünf Jahre. § 21 Abs. 3 StGB (seit 1.1.2011) Als Anlasstaten im Sinne des Abs. 1 und 2 kommen strafbare Handlungen gegen fremdes Vermögen nicht in Betracht, es sei denn, sie wurden unter Anwendung von Gewalt gegen eine Person oder unter Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben (§ 89) begangen. 13 VORBEUGENDE MASSNAHME NACH § 22 STGB (ENTWÖHNUNGSBEDÜRFTIGE RECHTSBRECHER) Tat Substanzmissbrauch ≥ 2 Jahre Bedroht mit einer Haftstrafe von Haftstrafe Substanzmissbrauchsbedingte Kriminalprognose Behandlungsprognose ˂ 2 Jahre Schlecht Gut Schlecht Haftstrafe Haftstrafe + Maßnahme (Maximum 2 Jahre) “Von der Unterbringung ist abzusehen, wenn … die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorliegen oder der Versuch einer Entwöhnung von vornherein aussichtslos scheint.” VORBEUGENDE MASSNAHME NACH § 23 STGB (GEFÄHRLICHE RÜCKFALLSTÄTER) Vollendetes 24. Lebensjahr Vorsätzliche Straftat(en) - Gegen Leib und Leben - Gegen die Freiheit - Gegen fremdes Vermögen unter Androhung von Gewalt - Gegen die Sittlichkeit - Nach § 28 Abs. 1 bis 5 des Suchtmittelgesetzes - Wegen vorsätzlicher gemeingefährlicher strafbarer Handlungen Zumindest 2 einschlägige Vorstrafen (jeweils > 6 Monate), in deren Folge ≥ 18 Monate Strafhaft nach Vollendung des 19. Lebensjahres Ungünstige Kriminalprognose - Hang zu strafbaren Handlungen - Überwiegende Bestreitung des Lebensunterhaltes durch strafbare Handlungen Unterbringung bis max. 10 Jahre nach Haftende (§§ 24, 25 StGB) “Von der Unterbringung ist abzusehen, wenn … die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorliegen.” 14 § 164 StVG Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher soll die Rechtsbrecher davon abhalten, unter dem Einfluss ihrer geistigen oder seelischen Abartigkeit mit Strafe bedrohte Handlungen zu begehen. Die Unterbringung soll den Zustand der Untergebrachten soweit bessern, dass von ihnen die Begehung mit Strafe bedrohter Handlungen nicht mehr zu erwarten ist, und den Untergebrachten zu einer rechtschaffenen und den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepassten Lebenseinstellung verhelfen. § 165 Abs. 1 StVG Die Untergebrachten sind unter Berücksichtigung ihres Zustandes zur Erreichung der Vollzugszwecke (§164) und zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in den Anstalten so zu behandeln, wie es den Grundsätzen und anerkannten Methoden der Psychiatrie, Psychologie und Pädagogik entspricht. … Die Rechte … sowie die Menschenwürde der Untergebrachten dürfen nicht beeinträchtigt werden. 15 § 166 StVG 1. Die Untergebrachten sind zur Erreichung der Vollzugszwecke (§ 164) entsprechend ihrem Zustand ärztlich, insbesondere psychiatrisch, psychotherapeutisch, psychohygienisch und erzieherisch zu betreuen. … Abweichungen von den Bestimmungen über den Vollzug der Unterbringung… hat der Anstaltsleiter im Rahmen des § 165 Abs. 1 Z 1 und 2 anzuordnen. 2. b) Eine Unterbrechung der Unterbringung darf … gewährt werden, soweit dies zur Behandlung des Untergebrachten oder zur Vorbereitung auf das Leben in Freiheit notwendig oder zweckmäßig erscheint. In diesem Fall darf das zeitliche Ausmaß der Unterbrechung bis zu einem Monat betragen. Über eine Unterbrechung bis zu einem Ausmaß von vierzehn Tagen entscheidet der Anstaltsleiter. Soweit es erforderlich erscheint, ist die Unterbrechung nur unter Auflagen oder Bedingungen zu gestatten. § 47 Abs. 2 StGB Die bedingte Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung verbundenen vorbeugenden Maßnahme ist zu verfügen, wenn nach der Aufführung und der Entwicklung des Angehaltenen in der Anstalt, nach seiner Person, seinem Gesundheitszustand, seinem Vorleben und nach seinen Aussichten auf ein redliches Fortkommen anzunehmen ist, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht. 16 Erläuterungen zum § 47 StGB (Foregger-Serini, Manz 1984) Es wird eine auf bestimmten, hier taxativ aufgezählten Gründen beruhende günstige Prognose verlangt. Es wäre weder zweckmäßig noch human, die Entlassung von Rechtsbrechern, die einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen sind, erst zu diesem Zeitpunkt vorzunehmen, da ihre weitere Gefährlichkeit mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Man muss sich auch hier mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit begnügen. § 54 StGB (seit 2002) (1) Die bedingte Nachsicht der Unterbringung … und die bedingte Entlassung sind … zu widerrufen, wenn sich … ergibt, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, noch besteht. (2) Wird … die bedingte Nachsicht aus einer im § 21 bezeichneten Anstalt nicht widerrufen, so kann das Gericht die Probezeit bis auf höchstens fünfzehn Jahre verlängern. Beträgt die Probezeit nur fünf Jahre, so kann sie das Gericht bis auf höchstens zehn Jahre verlängern. (3) Bestehen gegen Ende der ursprünglichen oder der verlängerten Probezeit besondere Gründe zur Annahme, dass es weiterhin der Androhung der Unterbringung bedarf, um die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, hintanzuhalten, so kann das Gericht die Probezeit um höchstens drei Jahre verlängern. Eine wiederholte Verlängerung der Probezeit ist zulässig. 17 3. Population PATIENTEN (M + F) IM ÖSTERREICHISCHEN MASSNAHMENVOLLZUG § 21 Abs. 1 StGB, ZURECHNUNGSUNFÄHIGE STRAFTÄTER, HAUPTDELIKTE, PRÄVALENZ DEZEMBER 2009 N % Tötungsdelikte 60 16,8 Schwere Körperverletzung 109 30,5 Delikte gegen die Freiheit 103 28,9 Brandstiftung 30 8.4 Eigentumsdelikte 27 7,6 Sexualdelikte 28 7,8 357 100,0 Stompe T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten 18 PATIENTEN (M + F) IM ÖSTERREICHISCHEN MAßNAHMENVOLLZUG § 21 Abs. 1 StGB, ZURECHNUNGSUNFÄHIGE STRAFTÄTER, ERSTDIAGNOSEN, PRÄVALENZ DEZEMBER 2009 ICD-10 N % Schizophrenie, wahnhafte Störungen F2 268 75,1 Organische Störungen F0 12 3,4 Substanzbedingte Störungen F1 11 3,1 Affektive Störungen F3 5 1,4 Persönlichkeitsstörungen F6 30 8,3 Intelligenzminderung F7 31 8,7 357 100 Stompe T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten PRÄVALENZ GEISTIG ABNORMER RECHTSBRECHER (§§ 21 ABS. 1 UND ABS. 2 STGB), ÖSTERREICH, 1979 - 2016 (JEWEILS 1.1.) 450 400 350 300 250 200 150 100 50 19 7 19 9 8 19 0 8 19 1 8 19 2 8 19 3 8 19 4 8 19 5 8 19 6 8 19 7 8 19 8 8 19 9 9 19 0 9 19 1 9 19 2 9 19 3 9 19 4 9 19 5 9 19 6 9 19 7 9 19 8 9 20 9 0 20 0 0 20 1 0 20 2 0 20 3 0 20 4 0 20 5 0 20 6 0 20 7 0 20 8 0 20 9 1 20 0 1 20 1 1 20 2 1 20 3 1 20 4 1 20 5 16 0 § 21 Abs. 1 StGB § 21 Abs. 2 StGB 19 JÄHRLICHE INZIDENZ VON UNBDINGTEN EINWEISUNGEN NACH § 21 Abs. 1 ÖSTGB (ZURECHNUNGSUNFÄHIGE STRAFTÄTER) UND VON VERURTEILUNGEN ZU FREIHEITSSTRAFEN, 1978 - 2015 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 19 7 19 8 7 19 9 8 19 0 8 19 1 8 19 2 8 19 3 8 19 4 8 19 5 8 19 6 8 19 7 8 19 8 8 19 9 9 19 0 9 19 1 9 19 2 9 19 3 9 19 4 9 19 5 9 19 6 9 19 7 9 19 8 9 20 9 0 20 0 0 20 1 0 20 2 0 20 3 0 20 4 0 20 5 0 20 6 0 20 7 0 20 8 0 20 9 1 20 0 1 20 1 1 20 2 1 20 3 1 20 4 15 0 Einweisungen nach § 21 Abs. 1 StGB Freiheitsstrafen : 1000 Quelle: Statistik Austria 2013 PRÄVALENZ SCHIZOPHRENER PATIENTEN IM ÖSTERREICHISCHEN MASSNAHMENVOLLZUG (§ 21 Abs. 1 StGB, zurechnungsunfähige Straftäter) N Gesamt Juni 1992 April 2007 Dezember 2009 126 316 357 + 151% N Schizophrenien, wahnhafte Störungen (ICD-10 F2) 68 + 13% 223 + 228% % Schizophrenien, wahnhafte Störungen (ICD-10 F2) 58% 70,6% 268 + 20% 75,1% 1)Knecht G. Unveröffentlichte Daten G, Brandlhofer B. Prävalenz im österreichischen Maßregelvollzug nach § 21/1 StGB. 23. Münchner Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Forensischen Psychiatrie, 9.-11. Oktober 2008, München 3)Stompe T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten 2)Ortwein-Swoboda 20 PRÄVALENZ VON DELIKTEN GEGEN LEIB UND LEBEN UND GEGEN DIE FREIHEIT IM ÖSTERREICHISCHEN MASSNAHMENVOLLZUG (§ 21 Abs. 1 StGB) N Gesamt Juni 19921) Dezember 20092) 126 357 + 183,3% 35 (28%) Tötungsdelikte 60 (16,8%) + 71,4% Schwere Körperverletzung 26 (21%) 109 (30,5%) + 319,2% Delikte gegen die Freiheit 13 (10%) 103 (28,9%) + 692,3% 1)Knecht G. Unveröffentlichte Daten T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten 2)Stompe 4. Behandlung (Fragen, Ziele, Erfordernisse, Probleme) 21 DIE INDIVIDUELLE AGGRESSIONSBEREITSCHAFT Psychisch Gesunde Psychotische Patienten Geschlecht Geschlecht Alter Alter Aggressive Prädisposition Aggressive Prädisposition Externe Faktoren (Alkohol, Drogen, Erziehung, Sozialisation) Externe Faktoren (Alkohol, Drogen, Erziehung, Sozialisation) + Art und Ausprägung der Erkrankung Wechselwirkungen zwischen der Erkrankung und anderen Faktoren BEHANDLUNGS-, REHABILITATIONSZIELE Allgemeinpsychiatrie Forensische Psychiatrie Symptomreduktion Verringerung des Leidensdrucks Verbesserung der sozialen Fähigkeiten Stabilisierung auf dem höchsten erreichbaren Niveau Größtmögliche persönliche Freiheit = Zusätzlich: Abbau der Risikofaktoren für kriminelles Verhalten Schaffung eines psychosozialen Empfangsraums, der zukünftige Straffreiheit ermöglicht Entlassung aus dem Sondervollzug 22 Risikofaktoren, Komorbidität RISIKOFAKTOREN Funktionelle oder organische Psychose, geistige Behinderung Langer, meist chronischer Vorverlauf, aktive Krankheitssymptome Hohe Komorbiditätsraten (Substanzmissbrauch, Organizität, Persönlichkeitsstörung) Impulsivität, mangelnde Impulskontrolle Mangelnde Krankheitseinsicht Noncompliance Fehlende Therapiemotivation Viele (unfreiwillige) stationäre Vorbehandlungen In der Vorgeschichte häufig Behandlungsabbrüche Behandlungsresistenz, schlechte Behandlungsmöglichkeiten Körperliche Erkrankungen Schlechte soziale Bedingungen In der Vorgeschichte Drohungen, Sachbeschädigungen, Tätlichkeiten Vorstrafen Destabilisierende äußere Bedingungen 23 Risikofaktoren Statisch kompensierbar? sich verändernd? Dynamisch behandelbar? modifizierbar? Der beste statische (aktuarische) Langzeitprädiktor für aggressives Verhalten/Gewalttätigkeit ist Gewalttätigkeit in der Vorgeschichte. 24 Dynamische Risikofaktoren Akute dynamische Risikofaktoren Aktueller (episodischer) Substanzmissbrauch - Negative Emotionalität - Aktuelle feindselige Haltung - Zugang zu Opfern - Akute (emotionale) Belastungssituation Dynamisch-fixierte Risikofaktoren Klinische Aspekte Fehlen von Krankheitseinsicht - Psychopathologische Auffälligkeiten - Emotionale Labilität, Impulsivität - Fehlen adäquater Copingmechanismen - Hospitalisierungssyndrom Nichtansprechen auf Behandlung Krimineller Lebensstil Ausgeprägte Dissozialität - Kriminogene Einstellungen und Bedürfnisse - Neigung, eine kriminogene Umgebung aufzusuchen - Fehlende Bereitschaft, sich mit der eigenen Delinquenz auseinander zu setzen Soziale Fehlanpassung Substanzmissbrauch - Mangel an Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit - Neigung, Verlockungen und Verführungen zu erliegen - Fehlen adäquater Coping-Strategien bei Frustration und Verärgerung - Infantile Versorgungshaltung - Mangel an Zuverlässigkeit MMD UND KOMORBIDER SUBSTANZMISSBRAUCH Jacobi et al 2004 Schizophrenie Manie Depression (GHS-MHS, n = 4 181, M-CIDI,DSM-IV, Lebenszeitprävalenz) Alkohol Non-Alkohol (Missbrauch, Abhängigkeit, OR) (Missbrauch, Abhängigkeit, OR) m m m 2,63 f 2,43 m 4,76 f 6,47 10,21 f 17,18 m 0,79 f 3,71 1,78 f 2,52 m 2,55 f 2,49 Jacobi F, Wittchen H-U, Hölting C, Höfler M, Pfister H, Müller N, Lieb R. Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: Results from the German General Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychol Med 2004;597-611 Jacobi F. Unpublizierte Daten 2003 25 MÖGLICHE WEGE DER ENTSTEHUNG VON AGGRESSION BEI SCHIZOPHRENIE Prädisponierende Risikofaktoren Psychiatrische Erkrankungen Biologisch (z.B. Genotyp, pränatale Schädigung, Geburtskomplikationen) Schizophrenie Psychiatrische Symptome Risikointeraktionen, auslösende Faktoren Akuter psychopathologischer Risikocluster Feindseligkeit Bedrohungsgefühl, Wahn, Halluzinationen Impulsivität/ Enthemmung Substanzmissbrauch Nonadhärenz Neurokognitive Beeinträchtigung Akuter Stress Aggression Unruhe/Erregung Kindliche Störungen des Sozialverhaltens Frühe psychosoziale Belastungen, Viktimisierung, Entwicklungsstörungen Mangelnde Einsicht Antisoziale Persönlichkeit/ Psychopathy Intoxikation Chronischer kriminogener Risikocluster Nach Volavka J, Swanson JW, Citrome L. Managing violence and aggression in schizophrenia. In: Lieberman JA, MurrayRM, eds. Comprehensive Care of Schizophrenia: A Textbook of Clinical Management. 2nd ed. New York, NY: Oxford University Press; 2011 (In: Volavka J, Citrome L. Pathways to aggression in schizophrenia affect results of treatment. Schizophr Bull 2011;37:921-929) Bedingungskonstellationen dissozialen/ gewalttätigen Verhaltens Persönlichkeit, Sozialisation, aktuelle Situation Substanzmissbrauch Substanzmissbrauch Persönlichkeit, Sozialisation, aktuelle Situation Krankheit Persönlichkeit, Sozialisation, aktuelle Situation Krankheit Substanzmissbrauch 26 PYCHOSEN (MAJOR MENTAL DISORDERS) UND DISSOZIALES VERHALTEN Early starters: Stabiles Muster dissozialen Verhaltens von Jugend an, m >> f Late starters: Einsetzen dissozialen Verhaltens erst nach Krankheitsbeginn Keine wesentlichen Unterschiede im Ausprägungsgrad der Erkrankung Early starters: ▪ Mehr Verurteilungen/Vorstrafen (wegen jeder Art von Delinquenz) ▪ Bei der ersten Verurteilung im Durchschnitt 10 Jahre jünger ▪ Komorbider Substanzmissbrauch deutlich häufiger (76% vs 42%) ▪ Häufiger (schulische) Verhaltensprobleme in Kindheit und Jugend (50% vs 13%) ▪ Bezüglich Art und Schweregrad dissozialen Verhaltens in Kindheit und Jugend Ähnlichkeiten mit Personen, die eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln Hodgins S. The etiology and development of offending among persons with major mental disorders. In Hodgins S (ed). Violence among the Mentally Ill. Effective Treatment and Management Strategies. Kluwer (Dordrecht 2000) pp 89-116 Wie soll behandelt werden? 27 Psychiatrische Kriminaltherapie basiert auf unserem empirischen Wissen über die spezifischen Charakteristika psychisch gestörter Straftäter. über die Ursachen von Kriminalität. darüber, welche Methoden wirken. Psychiatrische Kriminaltherapie bedarf adäquater rechtlicher, institutioneller und materieller Rahmenbedingungen. Nach Müller-Isberner R. Therapie psychisch kranker Straftäter - Psychiatrische Kriminaltherapie: State of the Art. DGPPN-Kongress, Berlin, 24.-27. November 2010 Antisoziales Verhalten hat auch eine biologische Basis. Diese biologische Basis antisozialen Verhaltens determiniert die Grenzen der Veränderbarkeit durch Interventionen gleich welcher Art. ‘Heilung’ ist ein unrealistisches Behandlungsziel. Adäquat ist ein 'Behinderungsmodell‘. Die Genese von Delinquenz ist multikausal. Kriminaltherapie muss daher multimodal sein. Nach Müller-Isberner R. Therapie psychisch kranker Straftäter - Psychiatrische Kriminaltherapie: State of the Art. DGPPN-Kongress, Berlin, 24.-27. November 2010 28 EFFEKTIVE STRAFTÄTERBEHANDLUNG Effektive Behandlungsprogramme berücksichtigen die Prinzipien von Risiko Bedürfnis RBA-Prinzipien Ansprechbarkeit (RNR-principles = Risk, Need, Responsivity) ANFORDERUNGEN AN FORENSISCH-PSYCHIATRISCHE REHABILITATIONSPROGRAMME Patientenorientiert Multidisziplinär Supportiv Direktiv Ausgerichtet auf - Verbesserung von Impulskontrolle - Verbesserung von Problemlösungsstrategien - Alkohol- und Drogenfreiheit - Compliance 29 Was erwies sich als NICHT wirksam? Psychodynamische Therapien Nicht-direktive klientenzentrierte Therapien „Bestrafende“ Strategien Auf nicht-kriminogene Bedürfnisse abzielende Programme Programme, die den Umstand der multikausalen Genese von Kriminalität bei psychisch Kranken vernachlässigen BEHANDLUNGSVOLLZUG - ERFORDERNISSE 1) Geeignete Lage, Architektur und Struktur der Anstalt 2) Adäquate Sicherheitsstandards 3) Information (komplette Lebens- und Krankheitsgeschichte mit sämtlichen deliktisch und prognostisch relevanten Daten) 4) Laufende Dokumentation 5) Definition der Behandlungsziele 6) Verwendung von erprobten Instrumenten zur Risikoeinschätzung bzw. Prognosestellung* 7) Regelmäßige Überprüfung von Behandlungsfortschritten 8) Laufendes Erstellen von Kurzzeitprognosen 9) Benennung des für die Entlassung geplanten sozialen Empfangsraums 10) Schrittweise Erprobung von Lockerungen 11) Adäquate Ressourcen (Personal) 12) Zeit 13) Geeignete Nachbetreuungsmöglichkeiten 30 INTERAKTIONEN ZWISCHEN PROGNOSE UND THERAPIE 1. 2. 3. 4. Analyse der Defizite des Patienten Entwicklung einer Hypothese zur Delinquenzgenese Identifikation der für diese Hypothese relevanten Risikofaktoren Reduktion des Gewichts der Risikofaktoren durch Therapie und Förderung protektiver Faktoren 5. Charakterisierung von Störvariablen und Hindernissen 6. Benennung von messbaren Zwischenzielen 7. Festlegung von Entscheidungspunkten a. Überprüfung der Hypothese? b. Bewährung der therapeutischen Strategie? c. Veränderung der die Delinquenz bedingenden Faktoren? Fortschreibung des Therapieplans oder Korrektur von Hypothesen und/oder Therapiestrategien Gottfredson 1984, Nedopil 2005 SOZIALER EMPFANGSRAUM Arbeit? Unterkunft? Soziale Beziehungen mit Kontrollfunktion? Offizielle Kontrollmöglichkeiten? Weiterführung der Behandlung? Verfügbarkeit von Opfern? Risikoexposition? Compliance? Stressoren? 31 GRUNDREGELN DER MODERNEN RISIKOKALKULATION Systematische Fallanalyse nach anerkannten Kriterien Interdisziplinäre Teamarbeit Berücksichtigung delikt- und diagnosespezifischer Basisraten Berücksichtigung statischer und dynamischer Risikofaktoren Berücksichtigung von Risikofaktoren und protektiven Faktoren Allgemeine Kriminalitätsprognose (Welche Rückfallwahrscheinlichkeit unter welchen Bedingungen) Interventionsprognose (Was kann man zur Reduzierung des Risikos tun?) Nach Dittmann 2008 GRENZEN DER FORENSISCH-PSYCHIATRISCHEN BEHANDLUNG Prinzipiell limitierte Veränderungsmöglichkeiten der jeweiligen Klientel Limitierte Effektraten von Behandlungsverfahren* Zu geringer materieller Einsatz Unsinnige Vorgaben durch Politik, Administration und das direkte Umfeld Grobe Fehler (organisatorisch, Wahl der Methoden, Durchführung der Behandlung) Nach Müller-Isberner R. Therapie psychisch kranker Straftäter - Psychiatrische Kriminaltherapie: State of the Art. DGPPN-Kongress, Berlin, 24.-27. November 2010 32 Medikamentöse Behandlung Funktionsniveau Frühzeitiger Beginn der Rückfallprophylaxe Deutliche Reduktion des Funktionsniveaus in den ersten Jahren der Erkrankung Birchwood M et al. Br J Psychiatry Suppl 1998;172:53-59 33 EMPFOHLENE DAUER NEUROLEPTISCHER RÜCKFALLPROPHYLAXE (Guidelines for Neuroleptic Relapse Prevention, Consensus Conference April 1989, Brügge) ♦ Nach der ersten Episode Mindestens 2 Jahre ♦ Bei Patienten mit mehr als einer Episode Mindestens 4 - 5 Jahre ♦ Bei Patienten mit häufigen Episoden bzw. Patienten, die während Episoden selbstoder fremdgefährliches Verhalten zeigen Unbegrenzt, möglicherweise lebenslang Kissling W. Duration of neuroleptic maintenance treatment. In: Guidelines for neuroleptic relapse prevention in schizophrenia. Proceedings of a consensus Conference held April 19-20, 1989, in Bruges, Belgium. Springer (Berlin, Heidelberg, 1991) pp 94-106 GUIDELINES FOR DEPOT ANTIPSYCHOTIC TREATMENT IN SCHIZOPHRENIA. Results from the Consensus Conference July 1995, Siena (Kane et al. Eur Neuropsychopharmacol 1998;8:55-66) “The major advantage of depot antipsychotics over oral medication is facilitation of compliance in medication taking.“ [Compliance ] “The use of depot antipsychotics has important advantages in facilitating relapse prevention.“ [Rückfallprophylaxe ] “There are not convincing data that depot drugs are associated with a significantly higher incidence of adverse effects than oral drugs.“ [Nebenwirkungen =] “Pharmacotherapy must be combined with other treatment modalities as needed, but the consistent administration of the former is often what enables the latter.“ [Anwendung weiterer Therapiemaßnahmen ] “Any patient for whom long-term antipsychotic treatment is indicated should be considered for depot drugs.“ [Methode der Wahl für die Langzeitbehandlung] 34 Exkurs: Morbidität und Mortalität von Menschen mit Psychosen BEI SCHIZOPHRENIE HÄUFIGER AUFTRETENDE SOMATISCHE STÖRUNGEN/ERKRANKUNGEN Tuberkulose Geburtskomplikationen ++ HIV ++ Hyperprolaktinämie-assoziierte Effekte von Antipsychotika (z.B. Zyklusstörungen, Galaktorrhoe) Hepatitis B,C Osteoporose, verminderte Knochendichte Kardiovaskuläre Erkrankungen ++ Schlechter Zahnstatus Polydipsie Lungenfunktionsstörungen Fettleibigkeit ++ Sexuelle Funktionsstörungen Diabetes Motorische Auffälligkeiten bei antipsychotika-naiven Patienten Hyperlipidämie Mammakarzinom Schilddrüsenfunktionsstörungen Metabolisches Syndrom Lebenserwartung 61 Jahre vs. 76 Jahre in der Allgemeinbevölkerung. Nach Hennekens CH, Hennekens AR, Hollar D, Casey DE. Schizophrenia and increased risk of cardiovascular disease. Am Heart J 2006;150:1115-1121 Leucht S. The integral management of long-term psychiatric and medical needs in patients with severe mental illness. 15. AEP Kongress, Madrid, Spanien, 17. –21. März 2007 35 TOD DURCH SUIZID, HOMIZID UND UNFALL BEI PATIENTEN MIT SCHIZOPHRENEN UND AFFEKTIVEN PSYCHOSEN (Dänemark, 1973-1993, bevölkerungsbasierte Daten, n = 275.720, standardised mortality rates, SMR, 95%CI) Todesursache Suizid Homizid Unfall SMR (95% CI) SMR (95% CI) SMR (95% CI) Schizophrenie m 10,73 (9,73-11,83) 7,34 (3,50-15,39) 2,13 (1,68-2,69) f 10,80 (9,36-12,46) 3,41 (0,85-13,63) 2,87 (2,44-3,69) m 16,44 (15,62-17,31) 3,05 (1,27-7,32) 2,23 (1,95-2,54) f 16,00 (15,26-16,78) 3,27 (1,76-6,08) 2,10 (1,90-2,32) Affektive Psychosen Hiroeh U, Appleby L, Mortensen PB, Dunn G. Death by homicide, suicide, and other unnatural causes in people with mental illness. Lancet 2001; 358: 2110-2112 GEWALTDELIKTE (VERURTEILUNGEN), SUIZID UND VORZEITIGER TOD INNERHALB VON 1, 2 UND 5 JAHREN NACH ERSTDIAGNOSE BEI PATIENTEN MIT SCHIZOPHRENIE, WAHNHAFTEN UND SCHIZOAFFEKTIVEN STÖRUNGEN qqq Schweden, sämtliche 24.297 zwischen 1972 und 2009 erstmals stationär behandelten Patienten qqqq qqqq Fazel S, Wolf A, Palm C, Lichtenstein P. Violent crime, suicide, and premature mortality in patients with schizophrenia and related disorders: a 38-year total population study in Sweden. Lancet Psychiatry 2014;1:44-54. doi:10.1016/S2215-0366(14)70223-8 36 5. Die österreichische Situation Steuerung der Prävalenz psychisch kranker Straftäter Allgemeine Faktoren Gesetzliche Rahmenbedingungen Wirtschaftliche Situation Zivilrechtlich, strafrechtlich Allgemeinpsychiatrie Forensische Psychiatrie Umsetzung rechtlicher Rahmenbedingungen (zivilrechtlich, StGB, StVG) Kriminalitätsraten Behandlungsqualität (Prävention, Rückfallprophylaxe) Substanzmissbrauchsraten Interdisziplinäre Kooperation Informationsstand Prognosequalität (FP/FN) 37 PRÄVALENZ UND INZIDENZ ZURECHNUNGSUNFÄHIGER STRAFTÄTER (ÖSTERREICH, § 21 Abs. 1 StGB, 1990-2015) Prävalenz1) 1990 2015 110 397 20 97 (jeweils 31.12.) Inzidenz1)2) für Justiz; Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB. Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016 2)Statistik Austria 1)Bundesministerium Standards und Praxis der allgemeinpsychiatrischen Versorgung Umsetzung strafrechtlicher Rahmenbedingungen § 21 Abs.1 StGB Umsetzung zivilund strafrechtlicher Rahmenbedingungen Standards und Praxis der forensischpsychiatrischen Versorgung Standards und Praxis der allgemeinpsychiatrischen Versorgung Standards, Praxis und Finanzierung der Nachbetreuung 38 § 21 Abs. 1 StGB: BEDINGTE ENTLASSUNGEN IN % DES DURCHSCHNITTLICHEN STANDES DER IN DEN JEWEILIGEN JAHREN UNTERGEBRACHTEN, 2001 – 2015 25 20,5 20,7 19,9 20,4 22,5 20 17,1 15 17,2 14,6 18,9 18,3 15,2 15,8 14,7 12,6 11,8 10 5 „OUTPUT“ 2001-2015 Ø 17,5% 20 15 20 14 20 13 20 12 20 11 20 10 20 09 20 08 20 07 20 06 20 05 20 04 20 03 20 02 20 01 0 Quelle: Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB. Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016 UND WAS IST MIT DEN ENTWÖHNUNGSBEDÜRFTIGEN RECHTSBRECHERN (§ 22 StGB) UND MIT DEN GEFÄHRLICHEN RÜCKFALLSTÄTERN (§ 23 StGB)??? Prävalenz 1.6.2014 Entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher (§ 22 StGB) Gefährliche Rückfallstäter (§ 23 StGB) 12 1 „Von der Unterbringung ist abzusehen, wenn die Voraussetzungen für die Unterbringung … in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorliegen ….“ 39 5.1 Die Justizanstalt Göllersdorf Kapazität: 6 Stationen (137 Betten) + 1 Akutstation (17 Betten), Auslastung ~100% (+ 29 normale Strafgefangene für Küche und Instandhaltung) Therapeutisches Personal (Vollzeitäquivalente): - (Fach)ÄrztInnen 8,25 (= 3x 100%, 3 x 75%, 6 x 50%) - Psychologischer Dienst 6,0 - Pflegepersonal 41 + 26 JWB - Ergotherapeutischer Dienst 4,68 (incl. 2,18 SoHP) - Sozialer Dienst 4,87 - Musiktherapie 0,875 Nachtdienst: 10 JWB/Krankenschwestern, -pfleger + 1 Arzt; Stationen (außer Akutstation) nicht durchgehend besetzt, Kontakt zu Patienten nur via Gegensprechanlage Akutstation: Steht auch für Akutinterventionen bei psychisch kranken Strafgefangenen aus Gefängnissen zur Verfügung. Stand August 2016 40 BEHANDLUNGSABLAUF BEI MAßNAHMEPATIENTEN Stufe 1 Stufe 2 Diagnostik, Kriminalhypothese Therapieplanung Medikation Gruppen-, Einzeltherapien Prosoziale Milieutherapie Evaluation Lockerungen Stufe 3 Kriminaltherapie Evaluation Lockerungen Stufe 4 Entlassungsvorbereitungen Evaluation Entlassung Stufe 5 Entlassung Nachbetreuung ENTLASSUNGEN AUS DER JUSTIZANSTALT GÖLLERSDORF (Stand 31.12.2015) § 21 Abs. 1 StGB 254 § 21 Abs. 2 StGB 19 ∑ 273 41 6. Rückfallraten RÜCKFALLHÄUFIGKEIT ENTLASSENER STRAFGEFANGENER BZW. ZURECHNUNGSUNFÄHIGER PSYCHISCH KRANKER STRAFTÄTER Strafgefangene Zurechnungsunfähige Straftäter • Risikofaktoren? • Risikofaktoren? • Beeinflussbarkeit? • Beeinflussbarkeit? • Entlassung zum Strafende unabhängig von Prognose und Gefährlichkeit • Entlassung nur bei günstiger Prognose • Erprobungsmöglichkeiten • Entlassung nur teilweise bedingt • Entlassung in jedem Fall bedingt • Dauer der Probezeit? • Dauer der Probezeit? • Auflagen? • Auflagen? • Umsetzbarkeit? • Umsetzbarkeit? • Möglichkeiten der Risikominimierung bei Gefahr im Verzug? • Möglichkeiten der Risikominimierung bei Gefahr im Verzug? 42 RÜCKFALLRATEN IM ÖSTERREICHISCHEN NORMAL- UND MAßNAHMENVOLLZUG Rückfallraten nach 5 Jahren Population Wiederverurteilung1) Freiheitsentzug2) 341 12% 11% 114 40% 19% 5.139 59% 38% § 21/1 StGB § 21/2 StGB Normalvollzug 1)Chi2 2)Chi2 = 301,95, df = 2, p≤ 0,001 = 116,20, df = 2, p≤ 0,001 Birklbauer A, Hirtenlehner H, Ott H, Eher R. Daten und Fakten zum österreichischen Maßnahmenvollzug bei zurechnungsunfähigen geistig abnormen Rechtsbrechern (§ 21Abs. 1 öStGB). Insassenstruktur - Unterbringungsdauer - Legalbewährung. Neue Kriminalpolitik 2009;21:21-29 RÜCKFÄLLE NACH BEDINGTEN ENTLASSUNGEN 2000 - 2012, § 21 Abs. 1 StGB, N = 543, TIME AT RISK 5 JAHRE 25 23,4% 21,2% 20 19,4% 15 15,7% 12,7% 10,5% 10,2% 11,4% 10 9,6% 9,1% 7,7% 5 20 10 20 09 20 08 20 07 20 06 20 05 20 04 20 03 20 02 20 01 20 00 0 Quelle: Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB. Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016 43 7. Probleme der Prognosestellung Die Risikoprognose schätzt die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ein, das noch nicht stattgefunden hat – und möglicherweise auch nie stattfinden wird! 44 PROGNOSEMETHODEN Intuitiv (bei entsprechender Erfahrung relativ hoher Zuverlässigkeitsgrad, aber schwer justiziabel, intransparent) Statistisch (Schluss von Gruppenstatistiken auf den Einzelfall) Klinisch Integrativ, kriterienorientiert ELEMENTE DES RISIKOS Art (des Risikos) Wahrscheinlichkeit (des Eintritts) Häufigkeit (des Auftretens) Ausmaß (des Schadens) Geschwindigkeit (Zeitraum bis zum Eintritt) Dauer (der Gefährlichkeit) Kontextabhängigkeit Douglas & Ogloff 2003, Hart 2001, Mulvey & Lidz 1995 Nedopil 2010 45 ARTEN DER PROGNOSE Prognose für Lockerungen im Laufe der Behandlung Prognose für Lockerungen bei der Rehabilitation Prognose für Lockerungen in ein definiertes Umfeld unter definierten Bedingungen Prognose zur bedingten Entlassung Prognose zur Rückfallgefahr FÜR DIE PROGNOSE RELEVANTE FRAGEN Was senkt/erhöht das Risiko? Was hat sich beim Täter geändert? - Wodurch ist die Änderung sichtbar? - Wie stabil sind die Änderungen? - Was hat sich nicht geändert? - Was hat sich im besonderen an den Risikofaktoren geändert? - Beeinflussen die Änderungen das Risiko erneuter Straftaten, oder sind sie diesbezüglich bedeutungslos? Welche Vorschläge zur weiteren Vollzugsgestaltung gibt es? Sind diese Vorschläge zur Reduzierung des Risikos geeignet? Wie wäre die soziale Einbindung nach der bedingten Entlassung? 46 Risk assessment? Risk management! RISIKOMANAGEMENT Suffiziente Behandlung der psychiatrischen Grundkrankheit - Pharmakotherapie - Psychosoziale Interventionen Risikoeinschätzung - Kenntnis der Risikofaktoren - Beachten von Frühwarnzeichen - Kein „Vergessen“ der Vorgeschichte - Kein Übersehen oder Verharmlosen von gewalttätigem Verhalten Adäquates Reagieren bei Gefahr im Verzug - Ausnützen sämtlicher institutionellen und gesetzlichen Möglichkeiten 47 GRENZEN DER VERHALTENSPROGNOSE Verhalten hat immer mehrere Ursachen. Es sind nie alle Motive des Verhaltens bekannt. Es sind nie alle Bedingungen vorhersehbar. Es existiert keine einheitliche Handlungstheorie. Möglich ist lediglich die Erstellung von Risikoprofilen und von darauf basierenden Wahrscheinlichkeitsaussagen. Nach Dittmann 2008 7.1 Prognoseinstrumente 48 GESCHICHTE DER PROGNOSEFORSCHUNG 1950-1970: Kriteriensuche aufgrund soziologisch orientierter Kohortenstudien 1970-1980: Hinterfragen der wissenschaftlichen und ethischen Berechtigung psychiatrischer Kriminalprognosen 1980 : Aktuarische Risikoeinschätzung Entwicklung kriterienorientierter methodisch ausgefeilter Vorhersagetechniken 2000 : Structured Professional Judgement Fokus auf die wichtigsten Risikofaktoren des Einzelfalls Wertung des Gewichts der einzelnen Risikofaktoren im Kontext der Entwicklung des Täters, seiner Verhaltensdispositionen und seiner vorhersehbaren Risikosituationen Keine Summenwerte, sondern individuelle Analyse DIE PSYCHOPATHY-CHECKLIST (PCL-R) „MISST“: Vorgeschichte kriminellen Verhaltens Vorgeschichte antisozialen Verhaltens Impulsivität, Sensation-seeking Arrogant-betrügerischen Lebensstil Emotionale Defizite 49 HCR-20 Historisch (Vergangenheit) Klinisch (Gegenwart) H1 Frühere Gewaltanwendung C1 Mangel an Einsicht H2 Geringes Alter bei 1. Gewalttat C2 Negative Einstellungen H3 Instabile Beziehungen C3 Aktive Symptome H4 Probleme im Arbeitsbereich C4 Impulsivität H5 Substanzmissbrauch C5 Fehlender Behandlungserfolg H6 (gravierende) seelische Störung H7 Psychopathy (PCL-R-Score) Risiko (Zukunft) H8 Frühe Fehlanapssung H9 Persönlichkeitsstörung H10 Frühere Verstöße gegen Auflagen R1 Fehlen realisierbarer Pläne R2 Destabilisierende Einflüsse R3 Mangel an Unterstützung R4 Fehlende Compliance R5 Stressoren Webster CD, Douglas K, Eaves D. Hart St. HCR-20. Assessing Risk for Violence, Version 2. Mental Health, Law and Policy Institute, Simon Fraser Universitiy Burnaby 1997). Deutsch: Müller-Isberner R, Jöckel D, Gonzalez Cabeza S. Institut für Forensische Psychiatrie (Haina 1998) Auf einer strukturierten Risikoeinschätzung basierende Prognoseinstrumente sind einer unstrukturierten klinischen Beurteilung überlegen. (Derzeit existieren > 100 Prognoseinstrumente) Beträchtliche Unklarheit, wie und bei wem sie verwendet werden sollen. Der aktuelle Wissensstand reicht nicht aus, um Entscheidungen über Verurteilungen, Einweisungen und Entlassungen ausschließlich auf Basis strukturierter Prognoseinstrumente zu treffen. Relativ hohe Treffsicherheit bei Personen mit geringem Risiko. Geringe bis mäßige Treffsicherheit bei Personen mit hohem Risiko. Mit auf aktuarischen (statischen) Risikofaktoren basierenden Instrumenten keine besseren Ergebnisse, als mit Instrumenten, die klinische (dynamische) Faktoren berücksichtigen. Fazel S, Singh JP, Doll H, Grann M. Use of risk assessment instruments to predict violence and antisocial behaviour in 73 samples involving 24 827 people: systematic review and meta-analysis. BMJ 2012;345:e4692 doi: 10-1136/bmj 50 Dissozialität/Gewalttätigkeit ist kein homogenes Konstrukt. Daher kann kein Prognoseinstrument sämtliche Dimensionen dissozialen/ gewalttätigen Verhaltens abbilden. BASISRATEN BEI NORMALEN STRAFTÄTERN (NEUERLICHE VERURTEILUNGEN) Jeder Rückfall Einschlägiger Rückfall Tötungsdelikte 1-42% 0-5% Körperverletzung 35-54% 32-35% Sexualdelikte 18-68% MW 40% Vergewaltigung 34-50% 14-29% Sexueller Kindesmissbrauch Exhibitionismus Eigentumsdelinquenz 15-43% MW 78% 47-80% Nach Nedopil 2005 51 ZUM VERGLEICH: GETÖTET IM STRASSENVERKEHR – GETÖTET VON PSYCHISCH KRANKEN N Verkehrstote 2014 430 Verkehrstote 2015 475 Einweisungen nach § 21 Abs. 1 StGB 1990-1999 Ø 3,4/a Einweisungen nach § 21 Abs. 1 StGB 2000-2013 Ø 3,8/a Quellen: Gerichtliche Kriminalstatistik, BMI Unfallstatistik Exkurs: Beziehungen zwischen Allgemeinpsychiatrie und Forensischer Psychiatrie 52 PRÄVALENZ UND INZIDENZ ZURECHNUNGSUNFÄHIGER STRAFTÄTER (ÖSTERREICH, § 21 Abs. 1 StGB, 1990-2015) 1990 2015 110 397 20 97 Prävalenz1) (jeweils 31.12.) Inzidenz1)2) für Justiz; Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB. Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016 2)Statistik Austria 1)Bundesministerium ÄNDERUNG DER %-ANTEILE VERSCHIEDENER DELIKTTYPEN AN DEN JÄHRLICHEN EINWEISUNGSINZIDENZEN (§ 21 Abs. 1 STGB, ÖSTERREICH, 1990 - 2012, CURVE ESTIMATION, AB 2002 INZIDENZEN INKLUSIVE BEDINGTE EINWEISUNGEN) 70 n = 87 60 50 59,6% 45% 40 30 20 25,3% 35% n=4 15,1% 20% 10 Inzidenz 1990 20 110 Prävalenz 1.1.1990 Inzidenz 2012 146 409 Prävalenz 1.1.2012 19 90 19 91 19 92 19 93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 20 07 20 08 20 09 20 10 20 11 20 12 0 Eigentumsdelikte, Brandstiftung, Sexualdelikte Tötungsdelikte, schwere Körperverletzung Gefährliche Drohung, Nötigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt 53 VERHÄLTNIS ZWISCHEN FORENSISCHEN UND ALLGEMEINPSYCHIATRISCHEN VERSORGUNGSANGEBOTEN Deutschland1) Österreich2) 1980 1 : 32,2 1992 1 : 19,3 1 : 23,9 2000 1 : 9,3 1 : 9,6 Dänemark3) 1 : 26,0 2004 1 : 2,3 2005 1 : 6,8 2008 1 : 4,6 2012 1 : 4,1 1)Deutschland: Forensische Patienten (§ 63 DStGB) vs. allgemeinpsychiatrische Betten Forensische Patienten (§§ 21 Abs. 1 u. 2 ÖStGB) vs. allgemeinpsychiatrische Betten: § 21/1 StGB 1992 1 : 49,9; 2000 1 : 19,4; 2008 1 : 9,9 3)Dänemark: Forensische Betten vs. allgemeinpsychiatrische Betten + Plätze in sozialpsychiatrischen Einrichtungen, Pflegeheimen etc. 2)Österreich: 1)Freese 2012; Knecht 2012 aus Katschnig et al. 2004; Bundesministerium für Gesundheit 2013; Bundesministerium für Justiz 2013 aus Kramp 2004; Kramp u. Gabrielsen 2006 2)Basisdaten 3)Basisdaten BEHANDLUNGS-, REHABILITATIONSZIELE Allgemeinpsychiatrie Forensische Psychiatrie Symptomreduktion Verringerung des Leidensdrucks Verbesserung der sozialen Fähigkeiten Stabilisierung auf dem höchsten erreichbaren Niveau Größtmögliche persönliche Freiheit = Auch: Zusätzlich: Verhinderung krankheitsbedingten gewalttätigen Verhaltens Abbau der Risikofaktoren für kriminelles Verhalten Verhinderung der Einweisung in den Maßnahmenvollzug Schaffung eines psychosozialen Empfangsraums, der zukünftige Straffreiheit ermöglicht Verhinderung eines Weisungsbruchs bzw. erneuter krankheitsbedingter Straffälligkeit Entlassung aus dem Sondervollzug 54