Unterlagen zur Vorlesung - Institut für Strafrecht und Kriminologie

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DIE BEHANDLUNG ZURECHNUNGSUNFÄHIGER
GEISTIG ABNORMER RECHTSBRECHER
Hans Schanda
WS 16/17 (030108)
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Historische Entwicklung
Gesetzliche Grundlagen, typische Krankheitsbilder
Population
Behandlung
Exkurs: Morbidität und Mortalität von Menschen mit Psychosen
Die österreichische Situation
Rückfallraten
Probleme der Prognosestellung
Exkurs: Beziehungen zwischen Allgemeinpsychiatrie und Forensischer Psychiatrie
Fallbeispiele
Multiple-Choice-Prüfung
 Sa 22.10.2016 + Sa 29.10.2016, jeweils von 09:00 bis 17:00, Juridicum, Hörsaal U10.
 Anmeldung für die Prüfung über U:SPACE Sa 1.10.2016 bis So 16.10.2016. Die Prüfung findet am
Ende des 2. Vorlesungsblocks statt (10 Multiple-choice-Fragen). Die Fragen beziehen sich auf den
1. Vorlesungsblock und die zur Verfügung gestellten Unterlagen.
 Die Noten sind ab 10.11.2016 über U:SPACE abrufbar.
 Möglichkeit zur Wiederholung der Prüfung am 3.12.2016, 09:00, Hörsaal U11. Anmeldung für die
Wiederholungsprüfung über U:SPACE zwischen 12.11. und 27.11.2016. (030108) WS 14/15
1. Historische Entwicklung
1
1770
1784
1787
1803
Constitutio Criminalis Theresiana
Allgemeines Krankenhaus, Narrenturm (Joseph II.)
Josephinisches Strafgesetz
Gesetzbuch über Verbrechen und schwere PolizeyÜbertretungen (Franz II. → Franz I.)
1804
Lehrkanzel für gerichtliche Staats- und Arzneikunde
1806
Erstmals belegte medizinische Überprüfung der
Zurechnungsfähigkeit (Mord)
Ab 1816 Verlegung „ruhiger, unheilbar Kranker“ in das
Versorgungshaus Mauerbach, später nach Ybbs
1817
Ärztlicher Leiter für den Narrenturm
1819
Privatheilanstalt in Gumpendorf, später in Döbling (Görgen)
Ab 1840 Im Zweifel regelmäßige gutachterliche Überprüfung der
Zurechnungsfähigkeit
1851
Unterstützungsverein für entlassene Patienten
1852
1853
1866-69
1870
1875
1885
1901
1902
1904
1907
1911
Strafgesetzbuch („Neue, durch spätere Gesetze ergänzte
Ausgabe des Strafgesetzbuches vom 3. September 1803“)
K.k. Heil- und Pflegeanstalt auf dem Brünnlfelde
(NÖ Landes-Irrenanstalt) (~700 Betten)
Schließung des Narrenturms
Gründung der 1. Psychiatrischen Universitätsklinik
(Meynert); Anstalt in Klosterneuburg-Gugging
Gründung der 2. Psychiatrischen Universitätsklinik
(Meynert, Leidesdorff, Krafft-Ebing …)
Forderung des Obersten Sanitätsrates nach einer eigenen
Anstalt für „verbrecherische Geisteskranke“
Wagner-Jauregg „Zur Reform des Irrenwesens“
Anstalt in Mauer-Öhling
Psychiatrische Anstalt „Am Steinhof“
Keine weitere Nachbesetzung der 1. Psychiatrischen Klinik
Zusammenlegung der 1. und 2. Psychiatrischen Klinik
2
1914-18
1938-45
1. Weltkrieg
NS-Regime, systematische Tötung von 250.000 - 300.000
geisteskranken und geistig behinderten Menschen,
1934 - 1945 350.000 - 400.000 Zwangssterilisierungen
1939-45 2. Weltkrieg
1975
Strafrechtsreform („geistig abnorme Rechtsbrecher“)
1985
Eröffnung der Justizanstalt Göllersdorf
Ab ~ 1995 Sukzessive Errichtung forensisch-psychiatrischer
Abteilungen in psychiatrischen Krankenhäusern
2010
Eröffnung einer weiteren justizeigenen Einrichtung für
zurechnungsunfähige Maßnahmepatienten (Außenstelle Asten der JA Linz)
ZUSTÄNDIGKEIT, VERANTWORTLICHKEIT FÜR SCHULD-/
ZURECHNUNGSUNFÄHIGE PSYCHISCH KRANKE STRAFTÄTER
Strafrecht
(1803/1852)
Strafrechtsreform
1975
Gesundheitsverwaltung
Justizverwaltung
[„Geistig abnorme Rechtsbrecher“]
Exkulpierung, Behandlung in
Exkulpierung, Einweisung in eine Anstalt
psychiatrischen Krankenhäusern
ohne weitere gerichtliche Kontrolle.
für geistig abnorme Rechtsbrecher auf
unbestimmte Zeit, Entlassung durch das
Gericht.
Die administrative und finanzielle
Verantwortung für die Behandlung
lag bei den Gesundheitsbehörden
Die administrative und finanzielle Verantwortung für die Behandlung liegt
beim Bundesministerium für Justiz.
der Länder.
3
2. Gesetzliche Grundlagen,
typische Krankheitsbilder
§11 StGB
Wer zur Zeit der Tat wegen einer Geisteskrankheit, wegen
einer geistigen Behinderung, wegen einer tiefgreifenden
Bewusstseinsstörung oder wegen einer anderen schweren,
einem dieser Zustände gleichwertigen seelischen Störung
unfähig ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach
dieser Einsicht zu handeln, handelt nicht schuldhaft.
4
§11 StGB: EXKULPIERUNGSGRÜNDE JURISTISCHE UND PSYCHIATRISCHE KRANKHEITSBEGRIFFE
Geisteskrankheit:
Funktionelle und organische Psychosen (Schizophrenie, manisch-depressive
Erkrankungen, körperlich begründbare Psychosen)
Geistige Behinderung:
Geistesschwäche erheblichen Grades (angeborene, intrauterine, geburtstraumatische und frühkindliche Hirnschäden) (Imbezillität, Idiotie)
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung:
Zustände, welche die geistig-seelischen Funktionen ausschalten, ohne Krankheiten
im engeren Sinn darzustellen (z.B. Alkohol- und Drogenintoxikation, akuter exogener Reaktionstyp, Fieberdelir, Dämmerzustände, aber auch derart tiefgreifende
Affekte, die anderes Handeln unmöglich machen)
Andere schwere, einem dieser Zustände gleichwertige seelische Störung:
Organische Wesensänderung, psychotisches Residualsyndrom, schwere Neurosen
und Persönlichkeitsstörungen, schwere Impulskontrollstörungen
ICD-10 Kapitel V
Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99)
F00-F09 Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen
!
!
F10-F19 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
F20-F29 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen
!
F30-F39 Affektive Störungen
F40-F48 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
F50-F59 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
F60-F69 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
F70-F79 Intelligenzstörung
!
!
F80-F89 Entwicklungsstörungen
F90-F98 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit
und Jugend
F99
Nicht näher bezeichnete psychische Störungen
5
Organische einschließlich symptomatischer
psychischer Störungen (F00-F09)
Psychische Krankheiten mit nachweisbarer Ätiologie in einer zerebralen Krankheit,
einer Hirnverletzung oder einer anderen Schädigung, die zu einer Hirnfunktionsstörung führt.
Primär (Krankheiten, Verletzungen oder Störungen, die das Gehirn direkt oder in
besonderem Maße betreffen)
Sekundär (systemische Krankheiten oder Störungen, die das Gehirn als eines von
vielen anderen Organen oder Körpersystemen betreffen)
Demenz (F00-F03):
 Störung höherer kortikaler Funktionen (Gedächtnis, Denken, Orientierung,
Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen)
 Veränderungen ► der emotionalen Kontrolle
► des Sozialverhaltens
► der Motivation
 Das Bewusstsein ist nicht getrübt.
Intelligenzminderung (F70-F79)
Ein Zustand von verzögerter oder unvollständiger Entwicklung der geistigen
Fähigkeiten; besonders beeinträchtigt sind Fertigkeiten … wie Kognition, Sprache,
motorische und soziale Fähigkeiten. Eine Intelligenzminderung kann allein oder
zusammen mit jeder anderen psychischen oder körperlichen Störung auftreten.
Leicht (F70): IQ 50-69
Mittelgradig (F71): IQ 35-49
Schwer (F72): IQ 20-34
Schwerst (F73): IQ < 20
6
Psychische und Verhaltensstörungen durch
psychotrope Substanzen (F10-F19)
Störungen unterschiedlichen Schweregrades mit verschiedenen klinischen
Erscheinungsbildern; die Gemeinsamkeit besteht im Gebrauch einer oder
mehrerer psychotroper Substanzen (mit oder ohne ärztliche Verordnung).
 Akute Intoxikation (akuter Rausch)
 Schädlicher Gebrauch
 Abhängigkeitssyndrom
 Entzugssyndrom
 Psychotische Störung
► Alkoholhalluzinose
► Alkoholische Paranoia
► Alkoholischer Eifersuchtswahn
SCHIZOPHRENIE (F20)
!
 Störungen von Denken und Wahrnehmung, inadäquate oder verflachte Affekte
 Bewusstseinsklarheit und intellektuelle Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, jedoch im Laufe der Zeit Entwicklung gewisser kognitiver Defizite.
Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene:
 Gedankenlautwerden
 Gedankeneingebung oder Gedankenentzug
 Gedankenausbreitung
Control override-Symptome
 Wahnwahrnehmung
 Kontrollwahn
 Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten
 Stimmen, die in der dritten Person das Verhalten des Patienten
kommentieren oder über ihn sprechen,
 Denkstörungen und Negativsymptome
Verlauf:
 Kontinuierlich
 Episodisch mit zunehmenden oder stabilen Defiziten
 Eine oder mehrere Episoden mit vollständiger oder unvollständiger Remission
7
SCHIZOPHRENE STÖRUNGEN 1
 Lebenszeitprävalenz ~ 0,7% bis 1%
 Lebenszeitrisiko für Männer und Frauen ~ gleich hoch
 ~ 90% der Männer und ~ 66% der Frauen erkranken vor
dem 30. Lebensjahr
 Hoher Anteil chronischer Verläufe
 Nur 18% bleiben innerhalb von 5 Jahren nach der ersten Episode
rückfallfrei.1)
 5x höhere Rückfallraten nach Absetzen der Medikation1)
 Verdreifachung der Zeit bis zur Remission vom 1. zum 3. Rückfall 2)
Deutliche Reduktion des Funktionsniveaus in den ersten Jahren
der Erkrankung3)
1)Robinson
D, Woerner M, Alvir JMJ, Bilder R, Goldman R, Geisler St, Koreen A, Sheitman B, Chakos M, Mayerhoff D, Lieberman J. Predictors of relapse following response from a first
episode of schizophrenia or schizoaffective disorder. Arch Gen Psychiatry 1999;56:241-247
2) Lieberman JA, Koreen AR, Chakos M, Sheitman B, Woerner M, Alvir JM, Bilder R. Factors influencing treatment response and outcome of first-episode schizophrenia: implications for
understanding the pathophysiology of schizophrenia. J Clin Psychiatry 1996;57(Suppl 9):5-9
3)Birchwood M , Todd P, Jackson C. Early intervention in psychosis. The critical period hypothesis. Br J Psychiatry Suppl 1998;172:53-59
PERSÖNLICHKEITS- UND VERHALTENSSTÖRUNGEN (F60-F69)
Meist länger anhaltende Zustandsbilder und Verhaltensmuster als Ausdruck
► des charakteristischen, individuellen Lebensstils
► des Verhältnisses zur eigenen Person und zu anderen Menschen
Einige dieser Zustandsbilder und Verhaltensmuster entstehen als Folge konstitutioneller Faktoren und sozialer Erfahrungen schon früh im Verlauf der individuellen
Entwicklung, während andere erst später im Leben erworben werden.
!
Spezifische Persönlichkeitsstörungen (F60.-), kombinierte und andere
Persönlichkeitsstörungen (F61), Persönlichkeitsänderungen (F62.-):
► Tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen
auf unterschiedliche persönliche und soziale Lebenslagen äußern.
► Gegenüber der Mehrheit der betreffenden Bevölkerung deutliche Abweichungen
im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen.
► Meistens stabile Verhaltensmuster, die sich auf vielfältige Bereiche des
Verhaltens und der psychologischen Funktionen beziehen. Sie gehen häufig
mit einem unterschiedlichen Ausmaß persönlichen Leidens und gestörter
sozialer Funktionsfähigkeit einher.
8
PRÄVALENZ VON PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN IN DER ALLGEMEINBEVÖLKERUNG UND IN KOLLEKTIVEN BEGUTACHTETER STRAFTÄTER
UND GEFÄNGNISINSASSEN
 Paranoide Persönlichkeitsstörung 0,4 - 1,8% (3 - 9,9%)
 Schizoide Persönlichkeitsstörung 0,4 - 0,9% (1,7 - 6,6%)
 Antisoziale Persönlichkeitsstörung 0,2 - 3,0% (17 - 29,3%)
 Borderline-Persönlichkeitsstörung 1,1 - 4,6% (6,1 - 17,9%)
 Histrionische Persönlichkeitsstörung 1,3 - 3,0%
 Narzisstische Persönlichkeitsstörung 0 - 0,4% (4,4 - 8,8%)
 Selbstunsichere Persönlichkeit, ängstlich-vermeidende
Persönlichkeitsstörung 0 - 1,3%
 Dependente (abhängige) Persönlichkeitsstörung 1,5 - 6,7%
 Anankastische Persönlichkeitsstörung 1,7 - 6,4%
 Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung 0 - 3,0%
EMOTIONAL INSTABILE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG (F60.3x)
 Deutliche Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen
auszuagieren, verbunden mit unvorhersehbarer und launenhafter
Stimmung.
 Neigung zu emotionalen Ausbrüchen, Unfähigkeit, impulshaftes
Verhalten zu kontrollieren.
 Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen,
insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert
werden.
 Impulsiver Typus: Vorwiegend emotionale Instabilität und mangelnde
Impulskontrolle.
 Borderline-Typus: Zusätzlich Störungen des Selbstbildes, der Ziele
und der inneren Präferenzen, chronisches Gefühl von Leere, intensive,
aber unbeständige Beziehungen, eine Neigung zu selbstdestruktivem
Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen.
9
EINTEILUNG DER PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN, § 21/1 StGB (ERST- UND ZWEITDIAGNOSEN)
ICD-10
DSM-IV
CLUSTER A (sonderbar, exzentrisch)
PARANOID
PARANOID
Misstrauen und Argwohn, andere seien böswillig
SCHIZOID
SCHIZOID
Soziale Distanz, eingeschränkter Ausdruck von Emotionen
(F 21 SCHIZOTYPE STÖRUNG)
SCHIZOTYPISCH
Soziale Ängste, Verzerrung von Denken und Wahrnehmung, exzentrisch
CLUSTER B (dramatisch, emotional, extrovertiert)
DISSOZIAL
ANTISOZIAL
Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, Impulsivität, Aggressivität
EMOTIONAL INSTABIL (impulsiver und Borderline-Typ)
BORDERLINE
Instabilität in Beziehungen, im Selbstbild, in Affekten, Impulsivität, wiederholte Selbstverletzungen und Suizidversuche
HISTRIONISCH
HISTRIONISCH
Übermäßige Emotionalität, übermäßiges Verlangen nach Aufmerksamkeit
===
NARZISSTISCH
Gefühl der Großartigkeit, Bedürfnis, bewundert zu werden, Mangel an Empathie, benützt andere
CLUSTER C (ängstlich, furchtsam)
ÄNGSTLICH
SELBSTUNSICHER
Soziale Hemmung, Gefühl der Unzulänglichkeit, Angst vor negativer Beurteilung und Zurückweisung
ABHÄNGIG
DEPENDENT
Unterwürfig, anklammernd, Bedürfnis, versorgt zu werden
ANANKASTISCH
ZWANGHAFT
Beschäftigt mit Ordnung, Perfektionismus und Kontrolle
§ 429 Abs. 4 StPO
Liegt einer der im § 173 Abs. 2 und 6 [Zulässigkeit der
Untersuchungshaft] angeführten Haftgründe vor, kann
der Betroffene nicht ohne Gefahr für sich oder andere
auf freiem Fuß bleiben oder ist seine ärztliche Beobachtung erforderlich, so ist seine vorläufige Anhaltung
in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher oder
seine Einweisung in eine öffentliche Krankenanstalt für
Geisteskrankheiten anzuordnen. Diese Krankenanstalten
sind verpflichtet, den Betroffenen aufzunehmen und für die
erforderliche Sicherung seiner Person zu sorgen.
10
§ 21 Abs. 1 StGB
Begeht jemand eine Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist, und kann nur deshalb nicht bestraft werden, weil er sie
unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden
Zustandes (§ 11) begangen hat, der auf einer geistigen oder seelischen
Abartigkeit von höherem Grad beruht, so hat ihn das Gericht in eine
Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn nach
seiner Person, nach seinem Zustand und nach der Art der Tat zu
befürchten ist, dass er sonst unter dem Einfluss seiner geistigen oder
seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren
Folgen begehen werde.
Erläuterungen zum § 21 StGB (Foregger-Serini, Manz, 1984)
Die Prognose ist ungünstig: Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu
erwarten, dass der Rechtsbrecher unter dem Einfluss seiner Abartigkeit
zumindest eine gerichtlich strafbare Handlung mit schweren Folgen
begehen werde. ... Handlungen ohne schwere Folgen … ermöglichen die
Unterbringung auch dann nicht, wenn die Zusammenrechnung der Folgen
ein erhebliches Gewicht ergibt. Die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ist für wirklich gefährliche Delinquenten gedacht, bei denen
andere strafrechtliche Maßnahmen nicht in Betracht kommen (Abs. 1)
oder nicht genügen (Abs. 2). Starke Rückfallsneigung, ja Unverbesserlichkeit und Behandlungsbedürftigkeit genügen für sich allein nicht.
… Neue Taten mit schweren Folgen müssen zu befürchten sein; es
genügt nicht, dass sie nicht auszuschließen, möglich, nicht unwahrscheinlich o. ä. sind.
11
§ 21 Abs. 2 StGB
Liegt eine solche Befürchtung vor, so ist in eine Anstalt für
geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wer, ohne
zurechnungsunfähig zu sein, unter dem Einfluss seiner
geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad
eine Tat begeht, die mit einer ein Jahr übersteigenden
Freiheitsstrafe bedroht ist. In einem solchen Fall ist die
Unterbringung zugleich mit dem Ausspruch über die Strafe
anzuordnen.
Vorbeugende Maßnahmen für zurechnungsunfähige (§ 21 Abs. 1 ÖStGB)
und zurechnungsfähige (§ 21 Abs. 2 ÖStGB) geistig abnorme Rechtsbrecher
Mit einer Strafe von
> 1 Jahr bedrohte Tat1)
Zurechnungsunfähigkeit
(§ 11 StGB)?
Ja
Geistige, seelische
Abartigkeit höheren
Grades?
Nein
Schlecht
Krankheitsbedingte
Gefährlichkeitsprognose?
1)
Ja
Gut
Gut
§ 21 Abs. 1 StGB2)
(Vorbeugende
Maßnahme)
Nein
Verfahrenseinstellung
Entlassung
Haftstrafe
Krankheitsbedingte
Gefährlichkeitsprognose?
Schlecht
§ 21 Abs. 2 StGB2)
(Haftstrafe plus vorbeugende Maßnahme)
Strafbare Handlungen gegen fremdes Vermögen ohne Anwendung von Gewalt oder Drohung mit einer gegenwärtigen
Gefahr für Leib und Leben (§ 89) kommen seit 2011 nicht in Betracht (§ 21 Abs. 3 StGB).
2002 bedingte Einweisung gemäß §45 Abs. 1 StGB möglich
2)Seit
12
§ 45 Abs. 1 StGB (seit 2002)
Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher
ist bedingt nachzusehen, wenn …, insbesondere nach einem während
vorläufiger Anhaltung nach § 429/4 StPO … erzielten Behandlungserfolg
anzunehmen ist, dass die bloße Androhung der Unterbringung in Verbindung mit einer Behandlung außerhalb der Anstalt und allfälligen
weiteren in den §§ 50 bis 52 vorgesehenen Maßnahmen ausreichen
werde, um die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, hintanzuzuhalten … Die Probezeit … beträgt zehn Jahre,
ist die der Unterbringung zugrunde liegende Handlung aber mit keiner
strengeren Strafe als einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht, fünf
Jahre.
§ 21 Abs. 3 StGB (seit 1.1.2011)
Als Anlasstaten im Sinne des Abs. 1 und 2 kommen
strafbare Handlungen gegen fremdes Vermögen nicht
in Betracht, es sei denn, sie wurden unter Anwendung
von Gewalt gegen eine Person oder unter Drohung mit
einer gegenwärtigen Gefahr für Leib und Leben (§ 89)
begangen.
13
VORBEUGENDE MASSNAHME NACH § 22 STGB
(ENTWÖHNUNGSBEDÜRFTIGE RECHTSBRECHER)
Tat
Substanzmissbrauch
≥ 2 Jahre
Bedroht mit einer
Haftstrafe von
Haftstrafe
Substanzmissbrauchsbedingte Kriminalprognose
Behandlungsprognose
˂ 2 Jahre
Schlecht
Gut
Schlecht
Haftstrafe
Haftstrafe + Maßnahme
(Maximum 2 Jahre)
“Von der Unterbringung ist abzusehen, wenn … die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorliegen oder der Versuch
einer Entwöhnung von vornherein aussichtslos scheint.”
VORBEUGENDE MASSNAHME NACH § 23 STGB
(GEFÄHRLICHE RÜCKFALLSTÄTER)
 Vollendetes 24. Lebensjahr
 Vorsätzliche Straftat(en)
- Gegen Leib und Leben
- Gegen die Freiheit
- Gegen fremdes Vermögen unter Androhung von Gewalt
- Gegen die Sittlichkeit
- Nach § 28 Abs. 1 bis 5 des Suchtmittelgesetzes
- Wegen vorsätzlicher gemeingefährlicher strafbarer Handlungen
 Zumindest 2 einschlägige Vorstrafen (jeweils > 6 Monate), in deren
Folge ≥ 18 Monate Strafhaft nach Vollendung des 19. Lebensjahres
 Ungünstige Kriminalprognose
- Hang zu strafbaren Handlungen
- Überwiegende Bestreitung des Lebensunterhaltes durch strafbare Handlungen
 Unterbringung bis max. 10 Jahre nach Haftende (§§ 24, 25 StGB)
“Von der Unterbringung ist abzusehen, wenn … die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher vorliegen.”
14
§ 164 StVG
Die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme
Rechtsbrecher soll die Rechtsbrecher davon abhalten,
unter dem Einfluss ihrer geistigen oder seelischen Abartigkeit mit Strafe bedrohte Handlungen zu begehen.
Die Unterbringung soll den Zustand der Untergebrachten
soweit bessern, dass von ihnen die Begehung mit Strafe
bedrohter Handlungen nicht mehr zu erwarten ist, und
den Untergebrachten zu einer rechtschaffenen und den
Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepassten
Lebenseinstellung verhelfen.
§ 165 Abs. 1 StVG
Die Untergebrachten sind unter Berücksichtigung ihres
Zustandes zur Erreichung der Vollzugszwecke (§164)
und zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung
in den Anstalten so zu behandeln, wie es den Grundsätzen
und anerkannten Methoden der Psychiatrie, Psychologie
und Pädagogik entspricht. … Die Rechte … sowie die
Menschenwürde der Untergebrachten dürfen nicht beeinträchtigt werden.
15
§ 166 StVG
1. Die Untergebrachten sind zur Erreichung der Vollzugszwecke (§ 164)
entsprechend ihrem Zustand ärztlich, insbesondere psychiatrisch, psychotherapeutisch, psychohygienisch und erzieherisch zu betreuen. …
Abweichungen von den Bestimmungen über den Vollzug der Unterbringung…
hat der Anstaltsleiter im Rahmen des § 165 Abs. 1 Z 1 und 2 anzuordnen.
2. b) Eine Unterbrechung der Unterbringung darf … gewährt werden, soweit
dies zur Behandlung des Untergebrachten oder zur Vorbereitung auf das
Leben in Freiheit notwendig oder zweckmäßig erscheint. In diesem Fall darf
das zeitliche Ausmaß der Unterbrechung bis zu einem Monat betragen.
Über eine Unterbrechung bis zu einem Ausmaß von vierzehn Tagen entscheidet der Anstaltsleiter. Soweit es erforderlich erscheint, ist die Unterbrechung nur unter Auflagen oder Bedingungen zu gestatten.
§ 47 Abs. 2 StGB
Die bedingte Entlassung aus einer mit Freiheitsentziehung
verbundenen vorbeugenden Maßnahme ist zu verfügen, wenn
nach der Aufführung und der Entwicklung des Angehaltenen
in der Anstalt, nach seiner Person, seinem Gesundheitszustand, seinem Vorleben und nach seinen Aussichten auf ein
redliches Fortkommen anzunehmen ist, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, nicht
mehr besteht.
16
Erläuterungen zum § 47 StGB (Foregger-Serini,
Manz 1984)
Es wird eine auf bestimmten, hier taxativ aufgezählten
Gründen beruhende günstige Prognose verlangt. Es wäre
weder zweckmäßig noch human, die Entlassung von
Rechtsbrechern, die einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen sind, erst zu diesem Zeitpunkt vorzunehmen, da ihre weitere Gefährlichkeit mit Sicherheit
ausgeschlossen werden kann. Man muss sich auch hier
mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit begnügen.
§ 54 StGB (seit 2002)
(1)
Die bedingte Nachsicht der Unterbringung … und die bedingte
Entlassung sind … zu widerrufen, wenn sich … ergibt, dass die
Gefährlichkeit, gegen die sich die vorbeugende Maßnahme richtet,
noch besteht.
(2)
Wird … die bedingte Nachsicht aus einer im § 21 bezeichneten
Anstalt nicht widerrufen, so kann das Gericht die Probezeit bis auf
höchstens fünfzehn Jahre verlängern. Beträgt die Probezeit nur fünf
Jahre, so kann sie das Gericht bis auf höchstens zehn Jahre
verlängern.
(3)
Bestehen gegen Ende der ursprünglichen oder der verlängerten
Probezeit besondere Gründe zur Annahme, dass es weiterhin der
Androhung der Unterbringung bedarf, um die Gefährlichkeit, gegen
die sich die vorbeugende Maßnahme richtet, hintanzuhalten, so
kann das Gericht die Probezeit um höchstens drei Jahre verlängern.
Eine wiederholte Verlängerung der Probezeit ist zulässig.
17
3. Population
PATIENTEN (M + F) IM ÖSTERREICHISCHEN MASSNAHMENVOLLZUG
§ 21 Abs. 1 StGB, ZURECHNUNGSUNFÄHIGE STRAFTÄTER, HAUPTDELIKTE, PRÄVALENZ DEZEMBER 2009
N
%
Tötungsdelikte
60
16,8
Schwere Körperverletzung
109
30,5
Delikte gegen die Freiheit
103
28,9
Brandstiftung
30
8.4
Eigentumsdelikte
27
7,6
Sexualdelikte
28
7,8
357
100,0
Stompe T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten
18
PATIENTEN (M + F) IM ÖSTERREICHISCHEN MAßNAHMENVOLLZUG
§ 21 Abs. 1 StGB, ZURECHNUNGSUNFÄHIGE STRAFTÄTER, ERSTDIAGNOSEN, PRÄVALENZ DEZEMBER 2009
ICD-10
N
%
Schizophrenie, wahnhafte
Störungen
F2
268
75,1
Organische Störungen
F0
12
3,4
Substanzbedingte Störungen
F1
11
3,1
Affektive Störungen
F3
5
1,4
Persönlichkeitsstörungen
F6
30
8,3
Intelligenzminderung
F7
31
8,7
357
100
Stompe T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten
PRÄVALENZ GEISTIG ABNORMER RECHTSBRECHER (§§ 21 ABS. 1 UND ABS. 2 STGB),
ÖSTERREICH, 1979 - 2016 (JEWEILS 1.1.)
450
400
350
300
250
200
150
100
50
19
7
19 9
8
19 0
8
19 1
8
19 2
8
19 3
8
19 4
8
19 5
8
19 6
8
19 7
8
19 8
8
19 9
9
19 0
9
19 1
9
19 2
9
19 3
9
19 4
9
19 5
9
19 6
9
19 7
9
19 8
9
20 9
0
20 0
0
20 1
0
20 2
0
20 3
0
20 4
0
20 5
0
20 6
0
20 7
0
20 8
0
20 9
1
20 0
1
20 1
1
20 2
1
20 3
1
20 4
1
20 5
16
0
§ 21 Abs. 1 StGB
§ 21 Abs. 2 StGB
19
JÄHRLICHE INZIDENZ VON UNBDINGTEN EINWEISUNGEN NACH § 21 Abs. 1 ÖSTGB
(ZURECHNUNGSUNFÄHIGE STRAFTÄTER) UND VON VERURTEILUNGEN ZU FREIHEITSSTRAFEN,
1978 - 2015
110
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
19
7
19 8
7
19 9
8
19 0
8
19 1
8
19 2
8
19 3
8
19 4
8
19 5
8
19 6
8
19 7
8
19 8
8
19 9
9
19 0
9
19 1
9
19 2
9
19 3
9
19 4
9
19 5
9
19 6
9
19 7
9
19 8
9
20 9
0
20 0
0
20 1
0
20 2
0
20 3
0
20 4
0
20 5
0
20 6
0
20 7
0
20 8
0
20 9
1
20 0
1
20 1
1
20 2
1
20 3
1
20 4
15
0
Einweisungen nach § 21 Abs. 1 StGB
Freiheitsstrafen : 1000
Quelle: Statistik Austria 2013
PRÄVALENZ SCHIZOPHRENER PATIENTEN IM ÖSTERREICHISCHEN
MASSNAHMENVOLLZUG (§ 21 Abs. 1 StGB, zurechnungsunfähige Straftäter)
N Gesamt
Juni 1992
April 2007
Dezember 2009
126
316
357
+ 151%
N Schizophrenien,
wahnhafte Störungen
(ICD-10 F2)
68
+ 13%
223
+ 228%
% Schizophrenien,
wahnhafte Störungen
(ICD-10 F2)
58%
70,6%
268
+ 20%
75,1%
1)Knecht
G. Unveröffentlichte Daten
G, Brandlhofer B. Prävalenz im österreichischen Maßregelvollzug nach § 21/1 StGB. 23. Münchner Herbsttagung der
Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Forensischen Psychiatrie, 9.-11. Oktober 2008, München
3)Stompe T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten
2)Ortwein-Swoboda
20
PRÄVALENZ VON DELIKTEN GEGEN LEIB UND LEBEN UND GEGEN DIE
FREIHEIT IM ÖSTERREICHISCHEN MASSNAHMENVOLLZUG (§ 21 Abs. 1 StGB)
N Gesamt
Juni 19921)
Dezember 20092)
126
357
+ 183,3%
35 (28%)
Tötungsdelikte
60 (16,8%)
+ 71,4%
Schwere Körperverletzung
26 (21%)
109 (30,5%)
+ 319,2%
Delikte gegen die Freiheit
13 (10%)
103 (28,9%)
+ 692,3%
1)Knecht
G. Unveröffentlichte Daten
T, Ortwein-Swoboda G. Unveröffentlichte Daten
2)Stompe
4. Behandlung
(Fragen, Ziele,
Erfordernisse, Probleme)
21
DIE INDIVIDUELLE AGGRESSIONSBEREITSCHAFT
Psychisch Gesunde
Psychotische Patienten
 Geschlecht
 Geschlecht
 Alter
 Alter
 Aggressive Prädisposition
 Aggressive Prädisposition
 Externe Faktoren (Alkohol,
Drogen, Erziehung, Sozialisation)
 Externe Faktoren (Alkohol,
Drogen, Erziehung, Sozialisation)
+
 Art und Ausprägung der
Erkrankung
 Wechselwirkungen zwischen der
Erkrankung und anderen Faktoren
BEHANDLUNGS-, REHABILITATIONSZIELE
Allgemeinpsychiatrie
Forensische Psychiatrie
 Symptomreduktion
 Verringerung des Leidensdrucks
 Verbesserung der sozialen
Fähigkeiten
 Stabilisierung auf dem höchsten
erreichbaren Niveau
 Größtmögliche persönliche Freiheit
=
Zusätzlich:
 Abbau der Risikofaktoren für
kriminelles Verhalten
 Schaffung eines psychosozialen
Empfangsraums, der zukünftige
Straffreiheit ermöglicht
 Entlassung aus dem Sondervollzug
22
Risikofaktoren, Komorbidität
RISIKOFAKTOREN
 Funktionelle oder organische Psychose, geistige Behinderung
 Langer, meist chronischer Vorverlauf, aktive Krankheitssymptome
 Hohe Komorbiditätsraten (Substanzmissbrauch, Organizität,
Persönlichkeitsstörung)
 Impulsivität, mangelnde Impulskontrolle
 Mangelnde Krankheitseinsicht
 Noncompliance
 Fehlende Therapiemotivation
 Viele (unfreiwillige) stationäre Vorbehandlungen
 In der Vorgeschichte häufig Behandlungsabbrüche
 Behandlungsresistenz, schlechte Behandlungsmöglichkeiten
 Körperliche Erkrankungen
 Schlechte soziale Bedingungen
 In der Vorgeschichte Drohungen, Sachbeschädigungen, Tätlichkeiten
 Vorstrafen
 Destabilisierende äußere Bedingungen
23
Risikofaktoren
Statisch
kompensierbar?
sich verändernd?
Dynamisch
behandelbar?
modifizierbar?
Der beste statische (aktuarische)
Langzeitprädiktor für aggressives
Verhalten/Gewalttätigkeit ist
 Gewalttätigkeit in der
Vorgeschichte.
24
Dynamische Risikofaktoren
Akute dynamische Risikofaktoren
Aktueller (episodischer) Substanzmissbrauch - Negative Emotionalität - Aktuelle feindselige
Haltung - Zugang zu Opfern - Akute (emotionale) Belastungssituation
Dynamisch-fixierte Risikofaktoren
Klinische Aspekte
Fehlen von Krankheitseinsicht - Psychopathologische Auffälligkeiten - Emotionale Labilität,
Impulsivität - Fehlen adäquater Copingmechanismen - Hospitalisierungssyndrom Nichtansprechen auf Behandlung
Krimineller Lebensstil
Ausgeprägte Dissozialität - Kriminogene Einstellungen und Bedürfnisse - Neigung, eine
kriminogene Umgebung aufzusuchen - Fehlende Bereitschaft, sich mit der eigenen
Delinquenz auseinander zu setzen
Soziale Fehlanpassung
Substanzmissbrauch - Mangel an Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit - Neigung, Verlockungen und Verführungen zu erliegen - Fehlen adäquater Coping-Strategien bei Frustration
und Verärgerung - Infantile Versorgungshaltung - Mangel an Zuverlässigkeit
MMD UND KOMORBIDER SUBSTANZMISSBRAUCH
Jacobi et al 2004
Schizophrenie
Manie
Depression
(GHS-MHS, n = 4 181, M-CIDI,DSM-IV, Lebenszeitprävalenz)
Alkohol
Non-Alkohol
(Missbrauch, Abhängigkeit, OR)
(Missbrauch, Abhängigkeit, OR)
m
m
m
2,63
f
2,43
m
4,76
f
6,47
10,21
f
17,18
m
0,79
f
3,71
1,78
f
2,52
m
2,55
f
2,49
Jacobi F, Wittchen H-U, Hölting C, Höfler M, Pfister H, Müller N, Lieb R. Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the
general population: Results from the German General Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychol Med 2004;597-611
Jacobi F. Unpublizierte Daten 2003
25
MÖGLICHE WEGE DER ENTSTEHUNG VON AGGRESSION BEI SCHIZOPHRENIE
Prädisponierende
Risikofaktoren
Psychiatrische
Erkrankungen
Biologisch
(z.B. Genotyp,
pränatale
Schädigung,
Geburtskomplikationen)
Schizophrenie
Psychiatrische
Symptome
Risikointeraktionen,
auslösende Faktoren
Akuter psychopathologischer Risikocluster
Feindseligkeit
Bedrohungsgefühl, Wahn,
Halluzinationen
Impulsivität/
Enthemmung
Substanzmissbrauch
Nonadhärenz
Neurokognitive
Beeinträchtigung
Akuter
Stress
Aggression
Unruhe/Erregung
Kindliche
Störungen
des Sozialverhaltens
Frühe
psychosoziale
Belastungen,
Viktimisierung,
Entwicklungsstörungen
Mangelnde
Einsicht
Antisoziale
Persönlichkeit/
Psychopathy
Intoxikation
Chronischer
kriminogener
Risikocluster
Nach Volavka J, Swanson JW, Citrome L. Managing violence and aggression in schizophrenia. In: Lieberman JA, MurrayRM, eds. Comprehensive
Care of Schizophrenia: A Textbook of Clinical Management. 2nd ed. New York, NY: Oxford University Press; 2011 (In: Volavka J, Citrome L. Pathways
to aggression in schizophrenia affect results of treatment. Schizophr Bull 2011;37:921-929)
Bedingungskonstellationen dissozialen/
gewalttätigen Verhaltens
Persönlichkeit,
Sozialisation,
aktuelle Situation
Substanzmissbrauch
Substanzmissbrauch
Persönlichkeit,
Sozialisation,
aktuelle Situation
Krankheit
Persönlichkeit,
Sozialisation,
aktuelle Situation
Krankheit
Substanzmissbrauch
26
PYCHOSEN (MAJOR MENTAL DISORDERS) UND DISSOZIALES VERHALTEN
Early starters: Stabiles Muster dissozialen Verhaltens von Jugend an, m >> f
Late starters: Einsetzen dissozialen Verhaltens erst nach Krankheitsbeginn
 Keine wesentlichen Unterschiede im Ausprägungsgrad der Erkrankung
Early starters:
▪ Mehr Verurteilungen/Vorstrafen (wegen jeder Art von Delinquenz)
▪ Bei der ersten Verurteilung im Durchschnitt 10 Jahre jünger
▪ Komorbider Substanzmissbrauch deutlich häufiger (76% vs 42%)
▪ Häufiger (schulische) Verhaltensprobleme in Kindheit und Jugend (50% vs 13%)
▪ Bezüglich Art und Schweregrad dissozialen Verhaltens in Kindheit und
Jugend Ähnlichkeiten mit Personen, die eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung entwickeln
Hodgins S. The etiology and development of offending among persons with major mental disorders. In Hodgins S (ed).
Violence among the Mentally Ill. Effective Treatment and Management Strategies. Kluwer (Dordrecht 2000) pp 89-116
Wie soll behandelt werden?
27
 Psychiatrische Kriminaltherapie basiert auf
unserem empirischen Wissen
 über die spezifischen Charakteristika psychisch
gestörter Straftäter.
 über die Ursachen von Kriminalität.
 darüber, welche Methoden wirken.
 Psychiatrische Kriminaltherapie
 bedarf adäquater rechtlicher, institutioneller
und materieller Rahmenbedingungen.
Nach Müller-Isberner R. Therapie psychisch kranker Straftäter - Psychiatrische Kriminaltherapie:
State of the Art. DGPPN-Kongress, Berlin, 24.-27. November 2010
 Antisoziales Verhalten hat auch eine
biologische Basis.
 Diese biologische Basis antisozialen Verhaltens
determiniert die Grenzen der Veränderbarkeit
durch Interventionen gleich welcher Art.
 ‘Heilung’ ist ein unrealistisches Behandlungsziel.
 Adäquat ist ein 'Behinderungsmodell‘.
 Die Genese von Delinquenz ist multikausal.
 Kriminaltherapie muss daher multimodal sein.
Nach Müller-Isberner R. Therapie psychisch kranker Straftäter - Psychiatrische Kriminaltherapie:
State of the Art. DGPPN-Kongress, Berlin, 24.-27. November 2010
28
EFFEKTIVE STRAFTÄTERBEHANDLUNG
Effektive Behandlungsprogramme berücksichtigen
die Prinzipien von
 Risiko
 Bedürfnis
RBA-Prinzipien
 Ansprechbarkeit
(RNR-principles = Risk, Need, Responsivity)
ANFORDERUNGEN AN FORENSISCH-PSYCHIATRISCHE
REHABILITATIONSPROGRAMME
 Patientenorientiert
 Multidisziplinär
 Supportiv
 Direktiv
 Ausgerichtet auf
- Verbesserung von Impulskontrolle
- Verbesserung von Problemlösungsstrategien
- Alkohol- und Drogenfreiheit
- Compliance
29
Was erwies sich als NICHT wirksam?
 Psychodynamische Therapien
 Nicht-direktive klientenzentrierte Therapien
 „Bestrafende“ Strategien
 Auf nicht-kriminogene Bedürfnisse abzielende Programme
 Programme, die den Umstand der multikausalen Genese
von Kriminalität bei psychisch Kranken vernachlässigen
BEHANDLUNGSVOLLZUG - ERFORDERNISSE
1)
Geeignete Lage, Architektur und Struktur der Anstalt
2)
Adäquate Sicherheitsstandards
3)
Information (komplette Lebens- und Krankheitsgeschichte mit
sämtlichen deliktisch und prognostisch relevanten Daten)
4)
Laufende Dokumentation
5)
Definition der Behandlungsziele
6)
Verwendung von erprobten Instrumenten zur Risikoeinschätzung
bzw. Prognosestellung*
7)
Regelmäßige Überprüfung von Behandlungsfortschritten
8)
Laufendes Erstellen von Kurzzeitprognosen
9)
Benennung des für die Entlassung geplanten sozialen
Empfangsraums
10)
Schrittweise Erprobung von Lockerungen
11)
Adäquate Ressourcen (Personal)
12)
Zeit
13)
Geeignete Nachbetreuungsmöglichkeiten
30
INTERAKTIONEN ZWISCHEN PROGNOSE UND THERAPIE
1.
2.
3.
4.
Analyse der Defizite des Patienten
Entwicklung einer Hypothese zur Delinquenzgenese
Identifikation der für diese Hypothese relevanten Risikofaktoren
Reduktion des Gewichts der Risikofaktoren durch Therapie und
Förderung protektiver Faktoren
5. Charakterisierung von Störvariablen und Hindernissen
6. Benennung von messbaren Zwischenzielen
7. Festlegung von Entscheidungspunkten
a. Überprüfung der Hypothese?
b. Bewährung der therapeutischen Strategie?
c. Veränderung der die Delinquenz bedingenden Faktoren?
Fortschreibung des Therapieplans oder Korrektur von
Hypothesen und/oder Therapiestrategien
Gottfredson 1984, Nedopil 2005
SOZIALER EMPFANGSRAUM
 Arbeit?
 Unterkunft?
 Soziale Beziehungen mit Kontrollfunktion?
 Offizielle Kontrollmöglichkeiten?
 Weiterführung der Behandlung?
 Verfügbarkeit von Opfern?
 Risikoexposition?
 Compliance?
 Stressoren?
31
GRUNDREGELN DER MODERNEN RISIKOKALKULATION
 Systematische Fallanalyse nach anerkannten Kriterien
 Interdisziplinäre Teamarbeit
 Berücksichtigung delikt- und diagnosespezifischer Basisraten
 Berücksichtigung statischer und dynamischer Risikofaktoren
 Berücksichtigung von Risikofaktoren und protektiven Faktoren
 Allgemeine Kriminalitätsprognose (Welche Rückfallwahrscheinlichkeit
unter welchen Bedingungen)
 Interventionsprognose (Was kann man zur Reduzierung des Risikos
tun?)
Nach Dittmann 2008
GRENZEN DER FORENSISCH-PSYCHIATRISCHEN BEHANDLUNG
 Prinzipiell limitierte Veränderungsmöglichkeiten
der jeweiligen Klientel
 Limitierte Effektraten von Behandlungsverfahren*
 Zu geringer materieller Einsatz
 Unsinnige Vorgaben durch Politik, Administration
und das direkte Umfeld
 Grobe Fehler (organisatorisch, Wahl der Methoden,
Durchführung der Behandlung)
Nach Müller-Isberner R. Therapie psychisch kranker Straftäter - Psychiatrische Kriminaltherapie: State of the Art.
DGPPN-Kongress, Berlin, 24.-27. November 2010
32
Medikamentöse Behandlung
Funktionsniveau
Frühzeitiger Beginn der Rückfallprophylaxe
Deutliche Reduktion des Funktionsniveaus in
den ersten Jahren der Erkrankung
Birchwood M et al. Br J Psychiatry Suppl 1998;172:53-59
33
EMPFOHLENE DAUER NEUROLEPTISCHER RÜCKFALLPROPHYLAXE
(Guidelines for Neuroleptic Relapse Prevention, Consensus Conference April 1989, Brügge)
♦ Nach der ersten Episode
 Mindestens 2 Jahre
♦ Bei Patienten mit mehr als
einer Episode
 Mindestens 4 - 5 Jahre
♦ Bei Patienten mit häufigen
Episoden bzw. Patienten,
die während Episoden selbstoder fremdgefährliches Verhalten
zeigen
 Unbegrenzt, möglicherweise lebenslang
Kissling W. Duration of neuroleptic maintenance treatment. In: Guidelines for neuroleptic relapse prevention
in schizophrenia. Proceedings of a consensus Conference held April 19-20, 1989, in Bruges, Belgium.
Springer (Berlin, Heidelberg, 1991) pp 94-106
GUIDELINES FOR DEPOT ANTIPSYCHOTIC TREATMENT IN
SCHIZOPHRENIA. Results from the Consensus Conference July 1995, Siena
(Kane et al. Eur Neuropsychopharmacol 1998;8:55-66)
“The major advantage of depot antipsychotics over oral medication is facilitation of
compliance in medication taking.“ [Compliance ]
“The use of depot antipsychotics has important advantages in facilitating relapse
prevention.“ [Rückfallprophylaxe ]
“There are not convincing data that depot drugs are associated with a significantly
higher incidence of adverse effects than oral drugs.“ [Nebenwirkungen =]
“Pharmacotherapy must be combined with other treatment modalities as needed, but
the consistent administration of the former is often what enables the latter.“
[Anwendung weiterer Therapiemaßnahmen ]
“Any patient for whom long-term antipsychotic treatment is indicated should be
considered for depot drugs.“ [Methode der Wahl für die Langzeitbehandlung]
34
Exkurs:
Morbidität und Mortalität von
Menschen mit Psychosen
BEI SCHIZOPHRENIE HÄUFIGER AUFTRETENDE
SOMATISCHE STÖRUNGEN/ERKRANKUNGEN
Tuberkulose
Geburtskomplikationen ++
HIV ++
Hyperprolaktinämie-assoziierte
Effekte von Antipsychotika (z.B.
Zyklusstörungen, Galaktorrhoe)
Hepatitis B,C
Osteoporose, verminderte
Knochendichte
Kardiovaskuläre Erkrankungen ++
Schlechter Zahnstatus
Polydipsie
Lungenfunktionsstörungen
Fettleibigkeit ++
Sexuelle Funktionsstörungen
Diabetes
Motorische Auffälligkeiten bei
antipsychotika-naiven Patienten
Hyperlipidämie
Mammakarzinom
Schilddrüsenfunktionsstörungen
Metabolisches Syndrom
Lebenserwartung 61 Jahre vs. 76 Jahre in der Allgemeinbevölkerung.
Nach Hennekens CH, Hennekens AR, Hollar D, Casey DE. Schizophrenia and increased risk of cardiovascular disease.
Am Heart J 2006;150:1115-1121
Leucht S. The integral management of long-term psychiatric and medical needs in patients with severe mental illness. 15. AEP Kongress,
Madrid, Spanien, 17. –21. März 2007
35
TOD DURCH SUIZID, HOMIZID UND UNFALL BEI PATIENTEN MIT
SCHIZOPHRENEN UND AFFEKTIVEN PSYCHOSEN (Dänemark, 1973-1993,
bevölkerungsbasierte Daten, n = 275.720, standardised mortality rates, SMR, 95%CI)
Todesursache
Suizid
Homizid
Unfall
SMR (95% CI)
SMR (95% CI)
SMR (95% CI)
Schizophrenie m
10,73 (9,73-11,83)
7,34 (3,50-15,39)
2,13 (1,68-2,69)
f
10,80 (9,36-12,46)
3,41 (0,85-13,63)
2,87 (2,44-3,69)
m
16,44 (15,62-17,31)
3,05 (1,27-7,32)
2,23 (1,95-2,54)
f
16,00 (15,26-16,78)
3,27 (1,76-6,08)
2,10 (1,90-2,32)
Affektive
Psychosen
Hiroeh U, Appleby L, Mortensen PB, Dunn G. Death by homicide, suicide, and other unnatural causes in
people with mental illness. Lancet 2001; 358: 2110-2112
GEWALTDELIKTE (VERURTEILUNGEN), SUIZID UND VORZEITIGER TOD INNERHALB VON 1, 2
UND 5 JAHREN NACH ERSTDIAGNOSE BEI PATIENTEN MIT SCHIZOPHRENIE, WAHNHAFTEN
UND SCHIZOAFFEKTIVEN STÖRUNGEN
qqq
Schweden, sämtliche 24.297 zwischen 1972 und
2009 erstmals stationär behandelten Patienten
qqqq
qqqq
Fazel S, Wolf A, Palm C, Lichtenstein P. Violent crime, suicide, and premature mortality in patients with schizophrenia
and related disorders: a 38-year total population study in Sweden. Lancet Psychiatry 2014;1:44-54.
doi:10.1016/S2215-0366(14)70223-8
36
5. Die österreichische
Situation
Steuerung der Prävalenz psychisch kranker Straftäter
Allgemeine
Faktoren
Gesetzliche
Rahmenbedingungen
Wirtschaftliche
Situation
Zivilrechtlich,
strafrechtlich
Allgemeinpsychiatrie
Forensische
Psychiatrie
Umsetzung rechtlicher Rahmenbedingungen (zivilrechtlich, StGB, StVG)
Kriminalitätsraten
Behandlungsqualität (Prävention, Rückfallprophylaxe)
Substanzmissbrauchsraten
Interdisziplinäre Kooperation
Informationsstand
Prognosequalität
(FP/FN)
37
PRÄVALENZ UND INZIDENZ ZURECHNUNGSUNFÄHIGER STRAFTÄTER (ÖSTERREICH, § 21 Abs. 1 StGB, 1990-2015)
Prävalenz1)
1990
2015
110
397
20
97
(jeweils 31.12.)
Inzidenz1)2)
für Justiz; Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB. Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016
2)Statistik Austria
1)Bundesministerium
Standards und Praxis
der allgemeinpsychiatrischen Versorgung
Umsetzung strafrechtlicher
Rahmenbedingungen
§ 21 Abs.1 StGB
Umsetzung zivilund strafrechtlicher
Rahmenbedingungen
Standards und Praxis der forensischpsychiatrischen Versorgung
Standards und Praxis
der allgemeinpsychiatrischen Versorgung
Standards, Praxis
und Finanzierung
der Nachbetreuung
38
§ 21 Abs. 1 StGB: BEDINGTE ENTLASSUNGEN IN % DES DURCHSCHNITTLICHEN
STANDES DER IN DEN JEWEILIGEN JAHREN UNTERGEBRACHTEN, 2001 – 2015
25
20,5
20,7
19,9
20,4
22,5
20
17,1
15
17,2
14,6
18,9
18,3
15,2
15,8
14,7
12,6
11,8
10
5
„OUTPUT“ 2001-2015 Ø 17,5%
20
15
20
14
20
13
20
12
20
11
20
10
20
09
20
08
20
07
20
06
20
05
20
04
20
03
20
02
20
01
0
Quelle: Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB.
Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016
UND WAS IST MIT DEN ENTWÖHNUNGSBEDÜRFTIGEN RECHTSBRECHERN (§ 22 StGB) UND MIT DEN GEFÄHRLICHEN RÜCKFALLSTÄTERN (§ 23 StGB)???
Prävalenz 1.6.2014
Entwöhnungsbedürftige
Rechtsbrecher (§ 22 StGB)
Gefährliche Rückfallstäter
(§ 23 StGB)
12
1
„Von der Unterbringung ist abzusehen, wenn die Voraussetzungen
für die Unterbringung … in einer Anstalt für geistig abnorme
Rechtsbrecher vorliegen ….“
39
5.1 Die Justizanstalt
Göllersdorf
Kapazität:
6 Stationen (137 Betten) + 1 Akutstation (17 Betten), Auslastung ~100%
(+ 29 normale Strafgefangene für Küche und Instandhaltung)
Therapeutisches Personal (Vollzeitäquivalente):
- (Fach)ÄrztInnen 8,25 (= 3x 100%, 3 x 75%, 6 x 50%)
- Psychologischer Dienst 6,0
- Pflegepersonal 41 + 26 JWB
- Ergotherapeutischer Dienst 4,68 (incl. 2,18 SoHP)
- Sozialer Dienst 4,87
- Musiktherapie 0,875
Nachtdienst:
10 JWB/Krankenschwestern, -pfleger + 1 Arzt; Stationen (außer Akutstation)
nicht durchgehend besetzt, Kontakt zu Patienten nur via Gegensprechanlage
Akutstation:
Steht auch für Akutinterventionen bei psychisch kranken Strafgefangenen aus
Gefängnissen zur Verfügung.
Stand August 2016
40
BEHANDLUNGSABLAUF BEI MAßNAHMEPATIENTEN
Stufe 1
Stufe 2
Diagnostik, Kriminalhypothese
Therapieplanung
Medikation
Gruppen-,
Einzeltherapien
Prosoziale
Milieutherapie
Evaluation
Lockerungen
Stufe 3
Kriminaltherapie
Evaluation
Lockerungen
Stufe 4
Entlassungsvorbereitungen
Evaluation
Entlassung
Stufe 5
Entlassung
Nachbetreuung
ENTLASSUNGEN AUS DER JUSTIZANSTALT
GÖLLERSDORF (Stand 31.12.2015)
§ 21 Abs. 1 StGB
254
§ 21 Abs. 2 StGB
19
∑
273
41
6. Rückfallraten
RÜCKFALLHÄUFIGKEIT ENTLASSENER STRAFGEFANGENER BZW.
ZURECHNUNGSUNFÄHIGER PSYCHISCH KRANKER STRAFTÄTER
Strafgefangene
Zurechnungsunfähige Straftäter
•
Risikofaktoren?
•
Risikofaktoren?
•
Beeinflussbarkeit?
•
Beeinflussbarkeit?
•
Entlassung zum Strafende
unabhängig von Prognose und
Gefährlichkeit
•
Entlassung nur bei günstiger
Prognose
•
Erprobungsmöglichkeiten
•
Entlassung nur teilweise bedingt
•
Entlassung in jedem Fall bedingt
•
Dauer der Probezeit?
•
Dauer der Probezeit?
•
Auflagen?
•
Auflagen?
•
Umsetzbarkeit?
•
Umsetzbarkeit?
•
Möglichkeiten der Risikominimierung bei Gefahr im Verzug?
•
Möglichkeiten der Risikominimierung bei Gefahr im Verzug?
42
RÜCKFALLRATEN IM ÖSTERREICHISCHEN
NORMAL- UND MAßNAHMENVOLLZUG
Rückfallraten nach 5 Jahren
Population
Wiederverurteilung1)
Freiheitsentzug2)
341
12%
11%
114
40%
19%
5.139
59%
38%
§ 21/1 StGB
§ 21/2 StGB
Normalvollzug
1)Chi2
2)Chi2
= 301,95, df = 2, p≤ 0,001
= 116,20, df = 2, p≤ 0,001
Birklbauer A, Hirtenlehner H, Ott H, Eher R. Daten und Fakten zum österreichischen Maßnahmenvollzug bei zurechnungsunfähigen geistig abnormen Rechtsbrechern (§ 21Abs. 1 öStGB). Insassenstruktur - Unterbringungsdauer - Legalbewährung.
Neue Kriminalpolitik 2009;21:21-29
RÜCKFÄLLE NACH BEDINGTEN ENTLASSUNGEN 2000 - 2012, § 21 Abs. 1 StGB,
N = 543, TIME AT RISK 5 JAHRE
25
23,4%
21,2%
20
19,4%
15
15,7%
12,7%
10,5%
10,2%
11,4%
10
9,6%
9,1%
7,7%
5
20
10
20
09
20
08
20
07
20
06
20
05
20
04
20
03
20
02
20
01
20
00
0
Quelle: Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB.
Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016
43
7. Probleme der
Prognosestellung
Die Risikoprognose schätzt die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses ein, das noch nicht
stattgefunden hat –
und möglicherweise auch nie stattfinden wird!
44
PROGNOSEMETHODEN
 Intuitiv
(bei entsprechender Erfahrung relativ hoher Zuverlässigkeitsgrad, aber schwer justiziabel, intransparent)
 Statistisch
(Schluss von Gruppenstatistiken auf den Einzelfall)
 Klinisch
 Integrativ, kriterienorientiert
ELEMENTE DES RISIKOS
Art (des Risikos)
 Wahrscheinlichkeit (des Eintritts)
 Häufigkeit (des Auftretens)
 Ausmaß (des Schadens)
 Geschwindigkeit (Zeitraum bis zum Eintritt)
 Dauer (der Gefährlichkeit)
 Kontextabhängigkeit
Douglas & Ogloff 2003, Hart 2001, Mulvey & Lidz 1995
Nedopil 2010
45
ARTEN DER PROGNOSE
 Prognose für Lockerungen im Laufe der Behandlung
 Prognose für Lockerungen bei der Rehabilitation
 Prognose für Lockerungen in ein definiertes Umfeld
unter definierten Bedingungen
 Prognose zur bedingten Entlassung
 Prognose zur Rückfallgefahr
FÜR DIE PROGNOSE RELEVANTE FRAGEN
 Was senkt/erhöht das Risiko?
 Was hat sich beim Täter geändert?
- Wodurch ist die Änderung sichtbar?
- Wie stabil sind die Änderungen?
- Was hat sich nicht geändert?
- Was hat sich im besonderen an den Risikofaktoren geändert?
- Beeinflussen die Änderungen das Risiko erneuter Straftaten,
oder sind sie diesbezüglich bedeutungslos?
 Welche Vorschläge zur weiteren Vollzugsgestaltung gibt es?
 Sind diese Vorschläge zur Reduzierung des Risikos geeignet?
 Wie wäre die soziale Einbindung nach der bedingten Entlassung?
46
Risk assessment?
Risk management!
RISIKOMANAGEMENT
 Suffiziente Behandlung der psychiatrischen
Grundkrankheit
- Pharmakotherapie
- Psychosoziale Interventionen
 Risikoeinschätzung
- Kenntnis der Risikofaktoren
- Beachten von Frühwarnzeichen
- Kein „Vergessen“ der Vorgeschichte
- Kein Übersehen oder Verharmlosen von gewalttätigem
Verhalten
 Adäquates Reagieren bei Gefahr im Verzug
- Ausnützen sämtlicher institutionellen und gesetzlichen
Möglichkeiten
47
GRENZEN DER VERHALTENSPROGNOSE
 Verhalten hat immer mehrere Ursachen.
 Es sind nie alle Motive des Verhaltens bekannt.
 Es sind nie alle Bedingungen vorhersehbar.
 Es existiert keine einheitliche Handlungstheorie.
 Möglich ist lediglich die Erstellung von Risikoprofilen und
von darauf basierenden Wahrscheinlichkeitsaussagen.
Nach Dittmann 2008
7.1 Prognoseinstrumente
48
GESCHICHTE DER PROGNOSEFORSCHUNG
1950-1970: Kriteriensuche aufgrund soziologisch orientierter
Kohortenstudien
1970-1980: Hinterfragen der wissenschaftlichen und ethischen
Berechtigung psychiatrischer Kriminalprognosen
1980  : Aktuarische Risikoeinschätzung Entwicklung kriterienorientierter methodisch ausgefeilter Vorhersagetechniken
2000  : Structured Professional Judgement
 Fokus auf die wichtigsten Risikofaktoren des Einzelfalls
 Wertung des Gewichts der einzelnen Risikofaktoren im
Kontext der Entwicklung des Täters, seiner Verhaltensdispositionen und seiner vorhersehbaren Risikosituationen
 Keine Summenwerte, sondern individuelle Analyse
DIE PSYCHOPATHY-CHECKLIST (PCL-R) „MISST“:
 Vorgeschichte kriminellen Verhaltens
 Vorgeschichte antisozialen Verhaltens
 Impulsivität, Sensation-seeking
 Arrogant-betrügerischen Lebensstil
 Emotionale Defizite
49
HCR-20
Historisch (Vergangenheit)
Klinisch (Gegenwart)
H1 Frühere Gewaltanwendung
C1 Mangel an Einsicht
H2 Geringes Alter bei 1. Gewalttat
C2 Negative Einstellungen
H3 Instabile Beziehungen
C3 Aktive Symptome
H4 Probleme im Arbeitsbereich
C4 Impulsivität
H5 Substanzmissbrauch
C5 Fehlender Behandlungserfolg
H6 (gravierende) seelische Störung
H7 Psychopathy (PCL-R-Score)
Risiko (Zukunft)
H8 Frühe Fehlanapssung
H9 Persönlichkeitsstörung
H10 Frühere Verstöße gegen Auflagen
R1 Fehlen realisierbarer Pläne
R2 Destabilisierende Einflüsse
R3 Mangel an Unterstützung
R4 Fehlende Compliance
R5 Stressoren
Webster CD, Douglas K, Eaves D. Hart St. HCR-20. Assessing Risk for Violence, Version 2. Mental Health, Law
and Policy Institute, Simon Fraser Universitiy Burnaby 1997).
Deutsch: Müller-Isberner R, Jöckel D, Gonzalez Cabeza S. Institut für Forensische Psychiatrie (Haina 1998)
 Auf einer strukturierten Risikoeinschätzung basierende Prognoseinstrumente sind einer unstrukturierten klinischen Beurteilung
überlegen. (Derzeit existieren > 100 Prognoseinstrumente)
 Beträchtliche Unklarheit, wie und bei wem sie verwendet werden sollen.
 Der aktuelle Wissensstand reicht nicht aus, um Entscheidungen über
Verurteilungen, Einweisungen und Entlassungen ausschließlich auf
Basis strukturierter Prognoseinstrumente zu treffen.
 Relativ hohe Treffsicherheit bei Personen mit geringem Risiko.
 Geringe bis mäßige Treffsicherheit bei Personen mit hohem Risiko.
 Mit auf aktuarischen (statischen) Risikofaktoren basierenden Instrumenten keine besseren Ergebnisse, als mit Instrumenten, die klinische
(dynamische) Faktoren berücksichtigen.
Fazel S, Singh JP, Doll H, Grann M. Use of risk assessment instruments to predict violence and antisocial behaviour in 73 samples
involving 24 827 people: systematic review and meta-analysis. BMJ 2012;345:e4692 doi: 10-1136/bmj
50
Dissozialität/Gewalttätigkeit ist kein
homogenes Konstrukt.
Daher kann kein Prognoseinstrument
sämtliche Dimensionen dissozialen/
gewalttätigen Verhaltens abbilden.
BASISRATEN BEI NORMALEN STRAFTÄTERN
(NEUERLICHE VERURTEILUNGEN)
Jeder Rückfall
Einschlägiger Rückfall
Tötungsdelikte
1-42%
0-5%
Körperverletzung
35-54%
32-35%
Sexualdelikte
18-68%
MW 40%
Vergewaltigung
34-50%
14-29%
Sexueller Kindesmissbrauch
Exhibitionismus
Eigentumsdelinquenz
15-43%
MW 78%
47-80%
Nach Nedopil 2005
51
ZUM VERGLEICH: GETÖTET IM STRASSENVERKEHR –
GETÖTET VON PSYCHISCH KRANKEN
N
Verkehrstote 2014
430
Verkehrstote 2015
475
Einweisungen nach § 21 Abs. 1 StGB 1990-1999
Ø 3,4/a
Einweisungen nach § 21 Abs. 1 StGB 2000-2013
Ø 3,8/a
Quellen: Gerichtliche Kriminalstatistik, BMI Unfallstatistik
Exkurs:
Beziehungen zwischen
Allgemeinpsychiatrie und
Forensischer Psychiatrie
52
PRÄVALENZ UND INZIDENZ ZURECHNUNGSUNFÄHIGER STRAFTÄTER (ÖSTERREICH, § 21 Abs. 1 StGB, 1990-2015)
1990
2015
110
397
20
97
Prävalenz1)
(jeweils 31.12.)
Inzidenz1)2)
für Justiz; Fuchs St. Monitoring – Maßnahmenvollzug an geistig abnormen Rechtsbrechern gemäß § 21 Abs. 1 StGB. Bericht über das Jahr 2015. BMJ, April 2016
2)Statistik Austria
1)Bundesministerium
ÄNDERUNG DER %-ANTEILE VERSCHIEDENER DELIKTTYPEN AN DEN JÄHRLICHEN
EINWEISUNGSINZIDENZEN (§ 21 Abs. 1 STGB, ÖSTERREICH, 1990 - 2012, CURVE ESTIMATION, AB 2002
INZIDENZEN INKLUSIVE BEDINGTE EINWEISUNGEN)
70
n = 87
60
50
59,6%
45%
40
30
20
25,3%
35%
n=4
15,1%
20%
10
Inzidenz 1990
20
110
Prävalenz 1.1.1990
Inzidenz 2012
146
409
Prävalenz 1.1.2012
19
90
19
91
19
92
19
93
19
94
19
95
19
96
19
97
19
98
19
99
20
00
20
01
20
02
20
03
20
04
20
05
20
06
20
07
20
08
20
09
20
10
20
11
20
12
0
Eigentumsdelikte, Brandstiftung, Sexualdelikte
Tötungsdelikte, schwere Körperverletzung
Gefährliche Drohung, Nötigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt
53
VERHÄLTNIS ZWISCHEN FORENSISCHEN UND ALLGEMEINPSYCHIATRISCHEN VERSORGUNGSANGEBOTEN
Deutschland1)
Österreich2)
1980
1 : 32,2
1992
1 : 19,3
1 : 23,9
2000
1 : 9,3
1 : 9,6
Dänemark3)
1 : 26,0
2004
1 : 2,3
2005
1 : 6,8
2008
1 : 4,6
2012
1 : 4,1
1)Deutschland:
Forensische Patienten (§ 63 DStGB) vs. allgemeinpsychiatrische Betten
Forensische Patienten (§§ 21 Abs. 1 u. 2 ÖStGB) vs. allgemeinpsychiatrische Betten:
§ 21/1 StGB 1992 1 : 49,9; 2000 1 : 19,4; 2008 1 : 9,9
3)Dänemark: Forensische Betten vs. allgemeinpsychiatrische Betten + Plätze in sozialpsychiatrischen
Einrichtungen, Pflegeheimen etc.
2)Österreich:
1)Freese
2012; Knecht 2012
aus Katschnig et al. 2004; Bundesministerium für Gesundheit 2013; Bundesministerium für Justiz 2013
aus Kramp 2004; Kramp u. Gabrielsen 2006
2)Basisdaten
3)Basisdaten
BEHANDLUNGS-, REHABILITATIONSZIELE
Allgemeinpsychiatrie
Forensische Psychiatrie
 Symptomreduktion
 Verringerung des Leidensdrucks
 Verbesserung der sozialen
Fähigkeiten
 Stabilisierung auf dem höchsten
erreichbaren Niveau
 Größtmögliche persönliche Freiheit
=
Auch:
Zusätzlich:
 Verhinderung krankheitsbedingten
gewalttätigen Verhaltens
 Abbau der Risikofaktoren für
kriminelles Verhalten
 Verhinderung der Einweisung
in den Maßnahmenvollzug
 Schaffung eines psychosozialen
Empfangsraums, der zukünftige
Straffreiheit ermöglicht
 Verhinderung eines Weisungsbruchs
bzw. erneuter krankheitsbedingter
Straffälligkeit
 Entlassung aus dem Sondervollzug
54
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