Affektive Störungen I Einführung (Definition,Historisches,Klassifikation, Epidemiologie, Ätiopathogenese) Dr. Uta-Susan Donges Definition affektive Störungen Affektive Störungen sind durch eine krankhafte Veränderung der Stimmung meist zur Depression oder gehobenen Stimmung hin charakterisiert engl.: Mood disorder Historische Entwicklung I • • • • • Hippokrates: 4.Jh. v. u. Z.: Melancholie und Manie Jules Falret: Mitte 19.Jh.: folie circulaire Kahlbaum : 1880: Zyklothmie E. Kraepelin: 1887: manisch-depressives Irresein Leonhard, Perris & Angst: 60 er Jahre :unipolare vs. Bipolare affektive Störungen Historische Entwicklung II 60er Jahre: Dichotomisierung: Endogene vs. Nichtendogene (neurotische) Depressionen 90er Jahre: Konzept wurde zunehmend verlassen: Neurotische u. reaktive Depressionen zeigen keine entscheidenden Unterschiede in Genetik, Symptomatologie, Epidemiologie, Verlauf und Therapie-Response zu den endogenen Depressionen Klassifikation nach ICD-10 und DSM-IV Ø Nosologische Entitäten lassen sich nicht aufgrund spezifischer Ätiologien,Pathophysiologien und Therapieeffekte voneinander abgrenzen. Ø Typisierung verschiedener Depressionsformen auf dem Boden der Kategorien: Symptomatologie, Schweregrad, Verlauf Ø Verzicht auf hypothetische ätiopathogenetische Modelle Vereinfachte Einteilungsgesichtspunkte von Affektiven (bzw. Stimmungs- ) St örungen in ICD- 10 und DSM -IV Schweregrad • • • Symptomatik • Manie/Hypomanie: = Bipolare Störung oder Zyklothymie Schwergradig (mit/ohne som. Ss) • Psychotische Störung (z.B. Schizophrenie) = Schizoaffektive Störung, Depression NNB Verlauf (DD erfordert longitudinale • Kausaler körperlicher oder Substanzfaktor = Substanz- oder körperlich bedingte Depression Leicht (mit/ohne som. Ss) Mittel (mit/ohne som. Ss) Betrachtung) • • Einzelepisode (=erste + einzige) Rezidivierende (mind, eine mit Remission) • Dysthymie (leichtere, weniger Ss, aber über mind. 2 Jahre hinweg) Einteilung affektiver Störungen • Major depression (depressive Episode oder rezidivierend) • Anhaltende affektive Störungen (Dysthymie, Zyklothymie) • Bipolare Störungen • Organische affektive Störungen • Manische Episode 1. Epidemiologie Depressionen sind die dritthäufigste Form psychischer Störungen in der Bevölkerung (12-Monatsprävalenz: 7-10%) und die zweithäufigste Störung in der Allgemeinarztpraxis (Stichtagsprävalenz: 10%) Das Lebenszeitrisikoprävalenz liegt bei 20 %! Der Bundes-Gesundheitssurvey (GHS-MHS) 12- Monatsprävalenz nach Diagnose (40% sind komorbid!) DSM-IV Diagnosen 2,6 Psychotische Drogen 0,6 Alkohol Substanzstörungen 3,7 Zwangsstörungen 0,7 Eßstörungen 0,3 0,3 Bipolare 1,3 Dysthymie Affektive Störungen 4,5 Depression 8,3 Phobien 12,6 GAE 2,5 Panikstörungen Angststörungen 2,3 Somatoforme 11 0 2 4 6 8 10 Prävalenz (%) 12 14 12-Monatsprävalenz Depression* (Gesamtprävalenz: 11,9%)* nach Alter und Geschlecht Prävalenz (% ) Altersgruppe Frauen Männer 18-29 14,2 (10,7-18,6) 10,0 (6,7-14,5) 30-39 15,3 (12,0-19,2) 9,7 (6,9-13,6) 40-49 17,6 (13,8-22,2) 9,6 (6,7-13,6) 50-59 15,5 (11,9-19,9) 9,6 (6,8-13,6) 60-65 18,9 (13,1-26,5) 5,0 (2,0-11,7) * Major Depression, Dysthymie, Bipolare Störungen Frauen haben ein 1,9fach erhöhtes Risiko Signifikante Alterseffekte für Frauen in 4. und 5. Dekade bezüglich Major Depression Wann beginnen Depressionen? Im Gegensatz zu Angststörungen können Depressionen zu jedem Lebenszeitpunkt auftreten ( Wittchen et al 1999) 35 Angststörungen 30 25 Erkrankungs- 20 Risiko % % Major Depression 15 10 5 0 0 5 10 15 20 25 30 35 Alter bei Beginn 40 45 50 55 60 Wann beginnen Depressionen? 1. Depressionen können zwar in allen Altersstufen auftreten, aber das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt bei unipolaren Depressionen zwischen 30 und 45 Jahren, bei bipolaren Erkrankungen zwischen 20 und 35 Jahren. 2. Bei über 65-jährigen ist die Altersdepression die häufigste psychische Erkrankung. Neurobiologie der Depression Neurotransmitterdysbalance •Defizithypothese vermutlich zu simpel •„Dysbalance“ •Nach akuter AD-wirkung Veränderungen der Rezeptordichte und -empfindlichkeit •Neuordnung/ Neubahnung der Signaltransduktionsmechanismen •pathobiochem. Defekt liegt in Systemen, die der noradrenergen bzw serotonergen Transmission nachgeschaltet sind „Stress-Hypothese“ der Depression Hyperkortisolismus n Pathologischer DexamethasonSuppressionstest: reduzierte CortisolSuppression ----------------------------------------------Bidirektionalität zwischen Depressivität und Hyperkortisolismus n Psychologische Faktoren Konzept des Typus melancholicus von Tellenbach ________________________________________ • • • Ordentlichkeit Hypernomie mit Überkorrektheit, Genauigkeit und Aufopferungsbereitschaft Hohes Anspruchsniveau und Leistungsmotivation PSYCHODYNAMIK Klassische Trias der Depression ( Freud, 1917; Abraham,1924) § Oralität (Versorgung vs. Autarkie) frühkindliche Mangelerfahrung § Ambivalenzkonflikt § Narzißmus Identifizierung mit dem verlorenen Objekt Behaviorale Depressionsmodelle 1. 2. 3. Verstärkerverlust-Theorie von Lewinsohn Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Seligman Kognitive Theorie nach Beck Modell der erlernten Hilflosigkeit (Seligman) Affektive Störungen II Symptomatik und klinische Subtypen (Depressive Episode, Manie, Anhaltende affektive Störung) Dr. Uta-Susan Donges Traurigkeit und Depression II ü Kultureller Überbau der sowohl Ausdrucksweise als auch Dauer der Trauer bestimmt. ü Unterschied nicht nur in Intensität und Extensität, sondern auch in der Qualität des subjektiven Erleben. Explizite Kriterien und operationale Definition (ICD 10) Beispiel: depressive Episode (Teil I) Mindestens 2 (schwer 3) der Hauptsymptome bestehen durchgängig über mind. 2 Wochen 1) depressive Verstimmung 2) deutlich vermindertes Interesse 3) Erhöhte Ermüdbarkeit Explizite Kriterien und operationale Definition (ICD 10) Beispiel: depressive Episode Depressive Verstimmung § Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung § Qualitativ unterschiedlich von Trauer § § § § § Abwesenheit von situativ angemessenen Reaktionen Gefühl der Gefühllosigkeit Angstgefühle, Irritierbarkeit, Überfordert sein Tagesschwankungen Körperliche Beschwerden Explizite Kriterien und operationale Definition (ICD 10) Beispiel: depressive Episode (Teil III) Verlust von Interesse oder Freude § Anhedonie § Umfassender Rückzug von der Umwelt Explizite Kriterien und operationale Definition (ICD 10) Beispiel: depressive Episode Energielosigkeit und Ermüdbarkeit § Durchgreifende Erschöpfung über die meiste Zeit des Tages § Sozialer Rückzug § Fehlende Belastbarkeit und fehlende Energie für wesentliche Handlungen § Erhebliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit in mehreren Lebensbereichen Explizite Kriterien und operationale Definition (ICD 10) Beispiel: depressive Episode (Teil IV) Mindestens 2 (leicht), 3 bis 4 (mittelgradig) und mindestens 4 (schwer) weitere Symptome bestehen durchgängig über mind. 2 Wochen 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) Schlafstörungen Gefühle von Wertlosigkeit/Schuld Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörung Suizidgedanken oder Handlungen Verminderter Appetit Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven Vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen Phänomenologische Subtypen der Depression n Gehemmte Depression: Reduktion von Psychomotorik und Aktivität bis zum depressiven Stupor n Agitierte Depression: ängstliche Getriebenheit, Bewegungsunruhe, unproduktiv-hektisches Verhalten und Jammern Phänomenologische Subtypen der Depression n Anankastische Depression: Zwangssymptome stehen im Vordergrund, übermäßige Gewissenhaftigkeit und Ordentlichkeit n SISI Syndrom: Unrast, Sprunghaftigkeit, körperliche Hyperaktivität, rasche Stimmungsschwankungen, Fasten und Selbstwertprobleme n Larvierte Depression: Depressio sine Depressione n Larvierte, maskierte oder somatisierte Depression n Psychopathologische Dominanz somatischer Phänomene n Scheinbares Fehlen typischer psychischer Symptome der Depression Psychotische Depression Ø Wahn: Verarmungs-, Versündigungs-, Schuldwahn, hypochondrischer oder nihilistischer Wahn. Ø Halluzinationen akustische: anklagende Stimmen olfaktorische: Verwesungsgeruch Depressions - Sonderformen Ø Involutionsdepression: Auftreten nach dem 45.Lebensjahr, protrahierte Dauer Ø Altersdepression: nach dem 60. Lebensjahr Ø Postpartale Depression: in den ersten ein bis zwei Wochen nach der Entbindung Dysthymia (ICD 10) I Konstante oder konstant wiederkehrende Depression über einen Zeitraum von mindestens 2 Jahren. Die Betroffenen haben gewöhnlich zusammenhängende Perioden von Tagen und Wochen, in denen sie ein gutes Befinden beschreiben. Dysthymia (ICD 10) II Doch meistens, oft monatelang fühlen sie sich müde und depressiv; alles ist für sie eine Anstrengung und nichts wird genossen. Sie grübeln und beklagen sich , schlafen schlecht und fühlen sich unzulänglich, sind aber in der Regel fähig mit den wesentlichen Anforderungen des täglichen Lebens fertig zu werden. Dysthymia III Früher: Depressiver Charakter Depressive Persönlichkeit Neurotische Depression ----------------------------------------------------------- Heute: 90 % der Patienten entwickeln im Laufe der Zeit eine Major depression : „Double Depression“ Prognostisch ungünstig! Zyklothymia Im frühen Erwachsenenleben einsetzende, chronisch verlaufende, dauerhafte Instabilität der Stimmung. Zahlreiche Perioden leichter Depression oder gehobener Stimmung. Von den Betroffenen ohne Bezug zu Lebensereignissen erlebt. Manische Episode Symptomatik n n n n n Situationsinadäquate, langanhaltende gehobene, expansive oder gereizte Stimmung Selbstüberschätzung bis Größenwahn Vermindertes Schlafbedürfnis Gesprächigkeit /Rededrang Verminderte Aufmerksamkeit und Konzentration, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität Manische Episode Symptomatik n n n n n n Ideenflucht und die subjektive Erfahrung des Gedankenjagens Steigerung zielgerichteter Aktivitäten Psychomotorische Unruhe Exzessive Beschäftigung mit angenehmen Dingen Gesteigerte Libido und sexuelle Aktivität Tollkühnes oder leichtsinniges Verhalten Explizite Kriterien und operationale Definition (ICD 10) Beispiel: manische Episode Schweregrad § Mittelgradig: Manie ohne psychotische Symptome § Schwer: mit psychotischen Symptomen Mindestdauer 1 Woche Manische Episode Fatale Folgen können sein n Vermehrte Geldausgabe n Distanzlosigkeit n Enthemmung Manische Episode Eine Manie bedingt in der Regel n n n n n Schuldunfähigkeit Fehlende Testierfähigkeit Stationäre Unterbringung nach Psychiatrischen Krankengesetz wegen Selbst-Fremdgefährdung Verlust der freien Willensbestimmung Bipolare affektive Störungen n Bipolare Erkrankungen vom Typ I: Verlauf mit depressiven und manischen bzw. gemischten Episoden. n Bipolare Erkrankungen vom Typ II: Auftreten einer oder mehrerer Episoden einer Depression zusammen mit mindestens einer hypomanen Episode. Im Krankheitsverlauf dominiert die Depression Hypomanien werden oft übersehen, (Folge ist die Fehldiagnose einer unipolaren Depression). Bipolare affektive Störungen n Verlauf in Episoden: n n n n Manische Episoden in der Regel kürzer Dauer der depressiven Episoden sehr unterschiedlich Rapid cycling (klinischer Begriff) = Wechsel innerhalb weniger Stunden bis Tage zwischen depressiven und meist hypomanen Episoden. Rapid cycling (ICD 10) = mehr als 4 Phasen pro Jahr Komorbidität n Bipolare Störungen sind durch hohe Komorbidität mit anderen psychiatrischen Erkrankungen gekennzeichnet: bei 40% der bipolaren Erkrankungen zusätzlich: Angsterkrankung, n Suchterkrankung, n dissoziale Persönlichkeitsentwicklung. n Pseudounipolare Depression n Hinweise für Bipolarität: n Beginn der bipolaren Erkrankung 60 bis 80% der Fälle mit einer Depression. n Bei mehr als 50% erst rezidivierende depressive Episoden im weiteren Verlauf dann manische, gemischt-manisch-depressive oder hypomane Krankheitsepisoden.