Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 13 Heinz Bude Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Mittelweg 36 6/2011 Über Tatbestände der Ungleichheit, Formen der Herrschaft und Artikulationen von Ideologie Es ist die Wiederkehr der Soziologie im klassischen Format zu konstatieren: Öffentliches Interesse gewinnt nicht eine poststrukturalistische (Moebius/Reckwitz 2008) oder eine postsoziale Soziologie (KnorrCetina 2007), die auf Bewegungen jenseits der sozialen Container oder auf Veränderungen in den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen abhebt, sondern eine Soziologie, wie man sie von Ralf Dahrendorf oder Erwin K. Scheuch kannte, die die Fragen von Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie ins Zentrum ihrer Aussagen stellt. Womit die Soziologie heute punktet, sind solche Fragen wie, wer die Gewinner der gesellschaftlichen Verhältnisse sind und wer die Verlierer; wo die Parolen ausgegeben und wo die Regeln gesetzt werden und wer sich wohl oder übel fügen muss; wer lügt und sich über den Zustand der Welt betrügt und wer, weil es angeblich keine Alternative gibt, belogen und betrogen wird. Der Soziologie wird eine Benennungsfunktion über die tatsächlichen Gegebenheiten unserer gesellschaftlichen Lebensweise beigemessen. Die Soziologie soll die Wahrheit über die Spaltung der Gesellschaft, die Unterdrückung der Menschen und die Zurechtweisung des Publikums zur Sprache bringen. Wer dazu etwas zu sagen hat, wird Aufmerksamkeit gewinnen. Damit wird allerdings Abschied genommen von einer Interpretationskonstellation, die im letzten Vierteljahrhundert bestimmend war, wo auf der einen Seite der Markt als Allheilmittel angepriesen und auf der anderen die Kultur als Sphäre des Eigensinns hochgehalten wurde. Es ist offenbar nicht mehr so, dass die soziologischen Argumente zwischen der mikroökonomischen Dominanz und der ethnologischen Resistenz zerrieben werden. Es ist vielmehr die Gesellschaft selber, die als soziologischer Gegenstand wiederentdeckt wird. Die an allgemeinen Fragen interessierte Öffentlichkeit scheint Abstand von der Ökonomie des Marktes wie von der Ethnographie von Kulturen genommen zu haben. Man will wieder etwas über die gesellschaftlichen Sachverhalte wissen, die über den Zuschnitt unserer Existenz entscheiden. Dahinter kann man durchaus Reste des Glaubens an die Möglichkeit einer kollektiven Bestimmung über die Art und Weise, wie wir leben wollen, vermuten. Im Subtext steckt im Begriff der Gesellschaft immer noch die Utopie einer 13 Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Mittelweg 36 6/2011 Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 14 nicht nur ökonomisch diktierten und nicht bloß kulturell hingenommenen Selbstbestimmung über unsere Lebensverhältnisse. Mit den Themen Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie wird freilich ein bestimmtes Wissen nachgefragt: Nicht ein Wissen nach der Art eines historistischen Antiessentialismus, bei dem alles sich in Praktiken und Interpretationen auflöst, vorgezogen wird vielmehr eine realistische Epistemologie, die Aussagen über Zusammenhänge macht, die vor Augen führt, warum wer das Nachsehen hat, wie wo entschieden wird und was man sich so alles anhören muss, bevor einem die Ohren abfallen. Es geht also nicht um das erkenntnistheoretische Weitertreiben der Selbstreflexion über die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, sondern, in den Worten Edmund Husserls, um die »Rückkehr zu den Sachen selbst«, von denen wir alle einen vortheoretischen Begriff haben. Diese veränderte Nachfragesituation bringt für die Soziologie allerdings eine erhebliche Gefahr mit sich: nämlich dass sie einer diffusen Stimmung der Empörung über den Kapitalismus ohne Grenzen, über die Arroganz der Macht oder die Verblendung durch Sachzwänge nachgibt. Sie diente dann mehr einem polemischen Ressentiment als der »angewandten Aufklärung« (Ralf Dahrendorf 1963) über Chancen, Rechte und Deutungen unseres Zusammenlebens. Die Soziologie sagt dann Wahrheiten, die das Publikum hören, aber nicht verstehen will. Auch wenn wir immer wieder wissen wollen, wie es mit der Ungleichheit, der Herrschaft und der Ideologie unserer Gesellschaft aussieht, so hat die Soziologie doch nicht immer wieder dieselbe Geschichte darüber zu erzählen. Bleiben wir zuerst bei der Ungleichheit. Hier ist seit Anfang des Jahrhunderts die klassische Schematisierung sozialer Ungleichheit gemäß der meritokratischen Trias von Einkommen, Bildung und Beruf um das so eigentümlich klinisch daherkommende Wort der Exklusion erweitert worden (etwa Kronauer 2002; Bude/Willisch 2006 und 2008; Bude 2008). Im prominent gewordenen Exklusionsbegriff steckt genau genommen eine doppelte Botschaft: Einerseits wird eine Steigerung im Verlangen nach Teilhabe konstatiert, weshalb die Leute immer weniger bereit sind, sich mit dem abzufinden, was sie von Haus aus mitbekommen haben. Und zum anderen ist die Steigerung in den Voraussetzungen für Teilhabe nicht zu übersehen, weshalb immer mehr von Bildung, lebenslangem Lernen und humaner Plastizität die Rede ist. Hinter dieser doppelten Steigerung im Verlangen nach wie in den Voraussetzungen für soziale Teilhabe kann man einen gesellschaftlichen Strukturwandel vermuten, der das Gesicht der alltäglich erfahrbaren Ungleichheit verändert hat. Es handelt sich um eine Verschärfungslogik auf der Grundlage von Teilhabeerweiterungen. Das erste Stichwort dafür ist das der »funktionalen Arbeitsteilung« infolge der Inkorporierung von Wissens- und Dienstleistungselemen14 Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Mittelweg 36 6/2011 Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 15 ten in fast allen beruflichen Positionen. Michael Vester hat von einer »Kompetenzrevolution« (Vester/Teiwes-Kügler/Lange-Vester 2007) insbesondere in den industriellen Arbeitsplätzen gesprochen. Man kann heute auch auf dem Bau nichts mehr werden, wenn einem die informationelle Durchgestaltung der Arbeitsvollzüge ein Buch mit sieben Siegeln ist. Aber auch als Hausmeister reicht es nicht, unbedingte Loyalität an den Tag zu legen, man muss über eine gewisse interkulturelle Kompetenz verfügen, um seiner eigentlichen Tätigkeit in einer großen Wohnanlage mit einer Bewohnerschaft mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten nachgehen zu können. Für den Erwerb solcher Kompetenzen wird für gewöhnlich in den Institutionen der primären, der sekundären oder der tertiären Bildung gesorgt. Der mittlere Schulabschluss soll einen nach einer verbreiteten Ansicht dazu befähigen, die Rollen anderer zu übernehmen, nicht-repetitive Aufgaben zu bewältigen und sich flexibel zur Geltung zu bringen. Aber wie steht es um jene, an denen diese komplexe Kompetenzaneignung vorbeigeht? Sie fristen eine Schulkarriere in Restschulen und gelten dann selbst für »Jedermanns-Arbeitsmärkte« als nicht vermittelbar. Die »funktionale Arbeitsteilung« führt also zu einer Verschärfung des Unterschieds zwischen den Kompetenten und den Inkompetenten. Eine zweite hier relevante gesellschaftliche Veränderung ist das definitive Vergehen von, wie Joseph Schumpeter (1927) einst formuliert hat, ethnisch homogenen Milieus in unserer Gesellschaft. Verschärfend wirkt allerdings nicht die Migration an sich, da sich leicht der Nachweis führen lässt, dass die große Mehrheit der Migranten in den OECDLändern Migrationsgewinner darstellen, verschärfend wirkt vielmehr die tiefer gehende Spaltung zwischen der Masse der Migrationsgewinner und einer Minderheit von Migrationsverlierern. Diese trifft nämlich eine doppelte Diskriminierung. Sie gelten als sichtbarer Ausdruck misslungener Integration aus dem Blick der ethnisch dominanten Gruppe innerhalb einer Gesellschaft und, was noch schwerer wiegt, sie verlieren den Kontakt zu ihrer »Abstammungsgemeinschaft« (Weber 1922). Denn nichts ist sozialen Aufsteigern unangenehmer als der Kontakt zu dem Teil der eigenen Herkunftsgruppe, der es nicht geschafft hat. Der schlagende Beweis dafür ist das Bildungsverhalten der Migrationsgewinner, die Schulen mit einem hohen Ausländeranteil für ihre Kinder meiden. Einen weiteren Aspekt vertiefter Spaltung auf der Grundlage intensivierter Einbeziehung stellt die Transformation des Wohlfahrtsstaates dar, die in allen OECD-Ländern stattgefunden hat (Gilbert 2002). Es handelt sich um eine Politik der Aktivierung, von der die Botschaft ausgeht, dass man nicht länger darauf warten könne, bis die Arbeit zu einem kommt, sondern dass verlangt wird, sich zur Arbeit hinzubewegen. Der Wohlfahrtsstaat wird nicht mehr als ein Schutz vor Märkten aufgefasst 15 Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Mittelweg 36 6/2011 Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 16 (das war Esping-Andersens [1985] »politics against markets«), sondern als ein Apparat, der einen befähigt, die Bewegungen der Märkte mitzuvollziehen (das ist Hillages und Pollards [1998] »politics of employability«). Der so transformierte Wohlfahrtsstaat schafft allerdings Probleme, die er selbst nicht lösen kann. Denn was geschieht mit denjenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht aktivieren lassen? Hier stößt der Wohlfahrtsstaat mit seiner Politik von Anreizen und Sanktionen an seine Grenzen. Wer trotz differenzierter Weiterqualifizierungsangebote und trotz der angedrohten Sanktionen in Form von Leistungsreduktionen unbeweglich bleibt, kann eigentlich nur als »Sozialschmarotzer« angesehen werden. Es wird nicht nur eine Spaltung zwischen der Population, die auf wohlfahrtsstaatliche Aktivierung anspricht, und derjenigen, die sich als resistent erweist, hervorgerufen, sie wird durch eine Politik des Ressentiments auch noch verstärkt. Weil sich der Wohlfahrtsstaat nicht mehr mit einer Politik von Stillstellung des Arbeitsvermögens begnügen will, bringt er notwendigerweise eine Ausschussbevölkerung hervor, deren Makel darin besteht, sich nicht mobilisieren zu lassen. Eine letzte Quelle von Spaltungsphänomenen geht auf das Neuarrangement der Geschlechter zurück, das sich aus der erweiterten Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen ergibt. Die Prominenz der Formel von der »work-life-balance« macht deutlich, dass gerade die gut ausgebildeten Frauen von heute beides wollen: beruflich vorankommen und zugleich eine Familie mit Kindern haben (Allmendinger 2009). Das schafft ein noch wenig erkanntes Vulnerabilitätspotenzial bei den Männern, die mit ihren traditionellen Karriere-Idealen unter Druck geraten. Besonders bei den Paaren, die sich aufgrund gleicher oder ähnlicher Bildungsvoraussetzungen kennengelernt haben, lässt sich für den Mann nicht mehr das Modell der Familie als emotionale Gegenstruktur der Gesellschaft durchziehen. Unter der Bedingung der Ersetzung von Komplementaritäts- durch Reziprozitätsprinzipien (Lüscher/ Liegle 2003) wird die Familie selbst zum Schauplatz von Aushandlungskonflikten, die dem Mann immer weniger die Wahl der Flucht lassen. Wer einmal an den von den Frauen ausgehenden Reziprozitätserwartungen bei der Herstellung einer lebbaren »work-life-balance« in der Familie gescheitert ist, wird als Mann so leicht nicht mehr auf den Beziehungsmärkten reüssieren. Es greift dann eine von der Familie ausgehende Exklusionslogik, die in einem Prozess generalisierter Selbstverwahrlosung münden kann. Aufs Ganze gesehen enthüllt sich das mit dem Exklusionsbegriff bezeichnete neue Problem der Ungleichheit als paradoxer Zusammenhang von Anteil und Ausschluss. Es ist eine wachsende Ungleichheitssensibilität durch generalisierte Anteilssteigerung zu konstatieren. Das darin verwobene Problem betrifft das »gedachte Ganze« (so M. Rainer 16 Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Mittelweg 36 6/2011 Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 17 Lepsius 1990 in Berufung auf Emerich Francis) der Ungleichheit. Welchen Anteil, so die ins Politische gewendete Fragestellung von Jacques Rancière (2002), haben die Anteilslosen? Wo haben diejenigen noch einen Ort, die aussortiert und abgeschrieben worden sind? Wie hoch ist die Zahl der Zahllosen? Der Ungleichheitsdiskurs dreht sich mehr und mehr um Restpopulationen, denen es an grundlegenden zivilisatorischen Kompetenzen mangelt. So lange man sich in einer Situation der Unterprivilegiertheit einer Gruppe zuordnen kann, die auf einen Platz im gedachten Ganzen Anspruch erhebt, so lange gehört man trotz gravierender Abstände in der Verfügbarkeit über Ressourcen materieller, sozialer oder kognitiver Art dazu. Stellt sich für einen allerdings die panische Frage, ob man überhaupt noch dazugehört, wird das Exklusionsempfinden schnell zu einem ursächlichen Faktor von Exklusionskarrieren (Bude/Lantermann 2006). So verweist die Ungleichheitsproblematik am Ende auf die Frage nach einer Vorstellung des Ganzen, wo die einzelnen Gruppen sich wechselseitig Geltung zugestehen und derart eine Einheit der Differenzen bilden. Auch bei der Herrschaft macht sich eine schwer durchschaubare Komplikation mit zwiespältigem Ausdruck geltend. Auf der einen Seite ist der Auftritt einer schamlosen territorialen Elite aus ungezügelten sozialen Aufsteigern zu studieren, die die politische Klasse insgesamt zu demaskieren scheinen. Hier ist in erster Linie an Silvio Berlusconi in Italien zu denken, mittlerweile auch an Geert Wilders in den Niederlanden, und für manche gehört auch Nicolas Sarkozy zu dieser neuen Gruppierung politischer Führungsgestalten. Auf der anderen Seite ist die Machtergreifung einer Schicht smarter Administratoren nicht zu übersehen, die sich als Komplexitätsbearbeiter und Mehrebenen-Spezialisten bewähren und vor allem in der Brüsseler Elite der Europäischen Union einen prominenten Ausdruck erlangt haben. Es erscheinen immer wieder Berichte von Expeditionen in die Brüsseler Apparate, bei denen sich die Expediteure über ein kosmopolitisch interessiertes, kulturell diszipliniertes und menschenrechtlich engagiertes Personal beeindruckt zeigen (etwa Robert Menasse in der »Welt« vom 9. April 2011). Die neue politische Elite Europas hat also ein zwiespältiges Gesicht: Von den einen wird gelogen, unterschlagen und betrogen, sie verkörpern das Ideal einer rabiaten Selbstdurchsetzung; die anderen arbeiten an übergreifenden Regulationsmustern, suchen die Stärken schwacher Bindungen und erweitern die Räume von Ambiguitätstoleranzen. Es ist ein Bild von Polarität und Interaktion: Die einen zielen auf die Verschärfung und die anderen suchen den Ausgleich. Die politische Herrschaft zeigt sich insgesamt verwilderter und gezähmter zugleich. Worum geht es dabei? Es stehen sich offensichtlich zwei Parolen gegenüber. »Hier spricht das Volk!«, rufen die populistischen Führer in 17 Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Mittelweg 36 6/2011 Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 18 den nationalstaatlichen Containern, »Hier werden die Dinge geregelt!«, flüstern die Technokraten in den transnationalen Schaltzentralen. Berlusconi und Sarkozy zelebrieren den Ursprung der politischen Herrschaft im Souveränitätsverlangen, die gesichtslosen Euro-Bürokraten exekutieren eine Form der Herrschaft in der Geste der Postsouveränität. Der Volksherrschaft der Leute steht die Niemandsherrschaft der Netzwerke gegenüber. Die unentscheidbaren Fragen lauten dann: Wer spricht? und: Wer hat das Sagen? Das hier verborgene Problem ist das der konstituierenden Kollektivität. Europa sieht sich gerne im Bild einer Gesellschaft ohne Demos, die Nationen hingegen kämpfen überall mit Parteien des Ethnos. Es fehlen bis heute die soziologischen Begriffe dafür, wie eine Form der politischen Herrschaft zu begreifen ist, der der Demos verloren gegangen ist und die vom Ethnos bedroht wird. Da hilft weder der Apriorismus der »republikanischen« Neugründung in der Tradition von Hannah Arendt noch die soziologische Beschreibung der Politik in der Nachfolge von Niklas Luhmann. Die Wirkungsweise politischer Herrschaft als Einheit von Teilhabe und Erleiden ist nicht nur begriffs-, sondern auch anschauungslos geworden. Bei der Ideologie schließlich ergeben sich die Komplikationen daraus, dass wir es, psychoanalytisch gesprochen, mit einem starken Verlangen ohne orientierendes Objekt zu tun haben. Man will alles und jedes als Ideologie denunzieren, ohne einen Punkt der Wahrheit benennen zu können, den man für sich akzeptiert. Das zeigt sich besonders in dem Patt zwischen Markt- und Staatsskepsis. Wer die Geschichte nach dem Mauerfall und nach der Pleite von Lehman-Brothers bilanziert, wird in der Tat von der Gleichursprünglichkeit eines Markt- und Staatsversagens ausgehen müssen. Die ideologische Debatte der Gegenwart ist durch ein Vakuum gekennzeichnet, wo unklar ist, an was man sich halten kann, um irgendwohin zu gelangen. »Es gibt so viele Dinge, die unseren Zorn verdienen«, tönt es unter den kritischen Fraktionen eines polemischen Gesellschaftsbewusstseins. Es wird einem geraten, den Stromanbieter zu wechseln, das Konto bei einer unethischen Bank zu kündigen und sich ein Auto mit 3,5-Liter Verbrauch anzuschaffen. Gegen fairen Handel, alternative Energien und soziale Projekte gibt es offenbar keine Einwände. Die darin verborgene ideologische Problematik rührt daher, dass es eine Diskrepanz zwischen dem biopolitischen Zuschnitt der Fragen und dem gesellschaftstechnischen Design der Angebote auf ideologischem Gebiet gibt. Man will das demographische und das ökologische Problem lösen und stößt auf die klassische Angebotspalette von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus, die keine Unterschiede mehr in dem gesuchten Unterschied machen. Das Thema der Ideolo18 Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Mittelweg 36 6/2011 Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 19 gien ist die Einheit von wahrer Erkenntnis und richtigem Handeln. Die aber ist heute nicht mehr so ohne Weiteres herzustellen. Wahr kann man sich im Bewusstsein eines ökologischen Kosmopolitismus fühlen, doch ist damit noch lange kein Register des Handelns gegeben. Die ideologische Frage führt vielmehr, wie Maurice Merleau-Ponty (1952) nach der Erfahrung des Totalitarismus gesagt hat, zur schwindelerregenden Idee eines »Labyrinths spontaner Schritte«, die einen, wie es bei André Breton hieß, »sublimen Punkt« suchen, wo das Leben des Einzelnen sich mit den Anliegen aller berührt. Allerdings kann auch die intelligenteste Kombinatorik der klassischen ideologischen Angebote den Moment des Zufalls nicht verleugnen, der jedem politischen Anfang innewohnt. Im postideologischen Zeitalter hält die Frage der Ideologie daher das Problem der Geschichte offen. Wieso schlägt im Bewusstsein all dessen heute die Stunde der Gesellschaftstheorie? Die Gesellschaftstheorie operiert mit der Vorstellung, dass es einen Zusammenhang zwischen den Tatbeständen der Ungleichheit, den Formen der Herrschaft und den Artikulationen von Ideologie gibt. In Bezug auf das Ungleichheitsthema stellt sie die Frage nach dem »gedachten Ganzen« von Anteil und Ausschluss; in Bezug auf das Thema der Herrschaft hält sie an der Idee einer konstituierenden Kollektivität fest; und im Hinblick auf die Ideologie stellt sie die Frage nach der Wahrheit im Allgemeinen. Natürlich muss man sich dabei von der Vorstellung eindimensionaler Determinationen lösen, die von irgendeiner Basis her irgendwelche Überbauten zu erklären sucht. Der Begriff der Gesellschaft steht hier als Statthalter für die Unterstellung von »Wahlverwandtschaften« oder zirkulären Bedingungsverhältnissen, die einem Beobachter den Eindruck vermitteln, dass die Arten und Weisen, wie Menschen einen Anteil gewinnen, wie sie auf bestimmte Rollen festgelegt werden und wie über Rechtfertigungen solcher Verhältnisse gedacht wird, etwas miteinander zu tun haben. Jedenfalls verweisen Ausschlussformen auf Subordinationsweisen, die durch Weltsichten stabilisiert werden. Man ist müde davon, in der Soziologie nur etwas über einzelne Mechanismen und statistisch eruierbare Abhängigkeiten in Datenmengen zu erfahren, fragt also nach Zusammenhangshypothesen, die die »Gesellschaft« nicht nur als eine Thematisierungsweise, sondern als eine Gefügeordnung in Erscheinung treten lassen. Natürlich erhebt sich dabei sofort der Einwand einer unangemessenen holistischen Methodologie (Greve/ Schnabel/Schützeichel 2008), aber jede soziologisch relevante Erkenntnis operiert mit einer impliziten Totalisierungsfunktion (Lüdemann 2004). Wer wissen will, warum Menschen sich etwas schenken, ohne unmittelbar etwas davon zu haben, oder weshalb es für den Einzelnen einen Unterschied macht, ob er sich als Teil einer Bezugsgruppe sehen 19 Die Stunde der Gesellschaftstheorie? Hauptdokument:musterdokument neues layout 01.12.11 13:46 Seite 20 kann oder von der panischen Frage getrieben wird, ob er irgendwo hingehört, sucht geradezu naturwüchsig nach einem erklärenden Zusammenhang, der, wie Durkheim seinerzeit gesagt hat, Soziales aus Sozialem erklärt. Auch ist unmittelbar einsichtig, dass es einen Unterschied zwischen Macht und Herrschaft derart gibt, dass Machteffekte sich zwischen Individuen ergeben, Herrschaft hingegen mit den Auftritts- und Einflusschancen kollektiver Akteure zu tun hat. Natürlich haben wir nicht mehr eine harmonisch konstituierte Großgruppengesellschaft vor Augen, aber deshalb ist die beunruhigende Frage nach den konstituierenden Akteuren noch brenzliger geworden. Die einflussreiche These vom »clash of civilizations« (Huntington 1998) oder das unbestreitbare Phänomen der enormen Ausbreitungen evangelikaler Bewegungen weltweit (Berger) beweisen, wie die gesellschaftliche Imagination Kollektivitäten im Widerstreit konstituiert und die Einzelnen nach Bezugsgruppen für ihre Selbstsozialisation suchen. Mit der Bezeichnung Gesellschaftstheorie verbindet sich zudem drittens die Erwartung, dass es ein Medium der erfahrungswissenschaftlichen Befassung mit den »großen Problemen« unserer Zeit gibt. Gesellschaftstheorie muss offenbar immer auch Gesellschaftsdiagnose sein, die die Art und Weise, wie wir leben, in einen normativen Horizont stellt und insofern Hypothesen über den öffentlichen Selbstdeutungsbedarf erzeugt. Eine Soziologie, die sich einer solchen Erwartung prinzipiell sperrt, lässt ein »unglückliches Bewusstsein« zurück, das nur in einer bizarren Gedankenwelt des Transzendentalen Trost sucht. Mittelweg 36 6/2011 Literatur Allmendinger, Jutta (2009): Frauen auf dem Sprung. Wie junge Frauen heute leben wollen, München. Peter L. Berger (1999): The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Grand Rapids. Bude, Heinz; Lantermann, Ernst-Dieter (2006): »Soziale Exklusion und Exklusionsempfinden«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 58, S. 233–252. Bude, Heinz; Willisch, Andreas (Hrsg.) (2006): Das Problem der Exklusion. Ausgegrenzte, Entbehrliche, Überflüssige, Hamburg. Bude, Heinz; Willisch, Andreas (Hrsg.) (2008): Exklusion. Die Debatte über die »Überflüssigen«, Frankfurt am Main. Bude, Heinz (2008): Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München. Dahrendorf, Ralf (1963): Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, München. Esping-Andersen, Gøsta (1985): Politics against Markets. The Social Democratic Road to Power, Princeton. 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