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Heinz Bude
Die Stunde der Gesellschaftstheorie?
Mittelweg 36 6/2011
Über Tatbestände der Ungleichheit,
Formen der Herrschaft und Artikulationen von Ideologie
Es ist die Wiederkehr der Soziologie im klassischen Format zu konstatieren: Öffentliches Interesse gewinnt nicht eine poststrukturalistische
(Moebius/Reckwitz 2008) oder eine postsoziale Soziologie (KnorrCetina 2007), die auf Bewegungen jenseits der sozialen Container oder
auf Veränderungen in den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen abhebt, sondern eine Soziologie, wie man sie von Ralf Dahrendorf
oder Erwin K. Scheuch kannte, die die Fragen von Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie ins Zentrum ihrer Aussagen stellt. Womit die Soziologie heute punktet, sind solche Fragen wie, wer die Gewinner der
gesellschaftlichen Verhältnisse sind und wer die Verlierer; wo die Parolen
ausgegeben und wo die Regeln gesetzt werden und wer sich wohl oder
übel fügen muss; wer lügt und sich über den Zustand der Welt betrügt
und wer, weil es angeblich keine Alternative gibt, belogen und betrogen
wird.
Der Soziologie wird eine Benennungsfunktion über die tatsächlichen
Gegebenheiten unserer gesellschaftlichen Lebensweise beigemessen. Die
Soziologie soll die Wahrheit über die Spaltung der Gesellschaft, die Unterdrückung der Menschen und die Zurechtweisung des Publikums zur
Sprache bringen. Wer dazu etwas zu sagen hat, wird Aufmerksamkeit
gewinnen.
Damit wird allerdings Abschied genommen von einer Interpretationskonstellation, die im letzten Vierteljahrhundert bestimmend war,
wo auf der einen Seite der Markt als Allheilmittel angepriesen und auf der
anderen die Kultur als Sphäre des Eigensinns hochgehalten wurde. Es ist
offenbar nicht mehr so, dass die soziologischen Argumente zwischen der
mikroökonomischen Dominanz und der ethnologischen Resistenz zerrieben werden. Es ist vielmehr die Gesellschaft selber, die als soziologischer Gegenstand wiederentdeckt wird. Die an allgemeinen Fragen interessierte Öffentlichkeit scheint Abstand von der Ökonomie des Marktes
wie von der Ethnographie von Kulturen genommen zu haben. Man will
wieder etwas über die gesellschaftlichen Sachverhalte wissen, die über
den Zuschnitt unserer Existenz entscheiden. Dahinter kann man durchaus Reste des Glaubens an die Möglichkeit einer kollektiven Bestimmung über die Art und Weise, wie wir leben wollen, vermuten. Im Subtext steckt im Begriff der Gesellschaft immer noch die Utopie einer
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nicht nur ökonomisch diktierten und nicht bloß kulturell hingenommenen Selbstbestimmung über unsere Lebensverhältnisse.
Mit den Themen Ungleichheit, Herrschaft und Ideologie wird freilich ein bestimmtes Wissen nachgefragt: Nicht ein Wissen nach der Art
eines historistischen Antiessentialismus, bei dem alles sich in Praktiken
und Interpretationen auflöst, vorgezogen wird vielmehr eine realistische
Epistemologie, die Aussagen über Zusammenhänge macht, die vor Augen
führt, warum wer das Nachsehen hat, wie wo entschieden wird und was
man sich so alles anhören muss, bevor einem die Ohren abfallen. Es geht
also nicht um das erkenntnistheoretische Weitertreiben der Selbstreflexion über die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, sondern,
in den Worten Edmund Husserls, um die »Rückkehr zu den Sachen
selbst«, von denen wir alle einen vortheoretischen Begriff haben.
Diese veränderte Nachfragesituation bringt für die Soziologie allerdings eine erhebliche Gefahr mit sich: nämlich dass sie einer diffusen
Stimmung der Empörung über den Kapitalismus ohne Grenzen, über die
Arroganz der Macht oder die Verblendung durch Sachzwänge nachgibt.
Sie diente dann mehr einem polemischen Ressentiment als der »angewandten Aufklärung« (Ralf Dahrendorf 1963) über Chancen, Rechte
und Deutungen unseres Zusammenlebens. Die Soziologie sagt dann
Wahrheiten, die das Publikum hören, aber nicht verstehen will.
Auch wenn wir immer wieder wissen wollen, wie es mit der Ungleichheit, der Herrschaft und der Ideologie unserer Gesellschaft aussieht, so
hat die Soziologie doch nicht immer wieder dieselbe Geschichte darüber
zu erzählen. Bleiben wir zuerst bei der Ungleichheit. Hier ist seit Anfang des Jahrhunderts die klassische Schematisierung sozialer Ungleichheit gemäß der meritokratischen Trias von Einkommen, Bildung und
Beruf um das so eigentümlich klinisch daherkommende Wort der Exklusion erweitert worden (etwa Kronauer 2002; Bude/Willisch 2006
und 2008; Bude 2008). Im prominent gewordenen Exklusionsbegriff
steckt genau genommen eine doppelte Botschaft: Einerseits wird eine
Steigerung im Verlangen nach Teilhabe konstatiert, weshalb die Leute
immer weniger bereit sind, sich mit dem abzufinden, was sie von Haus
aus mitbekommen haben. Und zum anderen ist die Steigerung in den
Voraussetzungen für Teilhabe nicht zu übersehen, weshalb immer mehr
von Bildung, lebenslangem Lernen und humaner Plastizität die Rede ist.
Hinter dieser doppelten Steigerung im Verlangen nach wie in den
Voraussetzungen für soziale Teilhabe kann man einen gesellschaftlichen Strukturwandel vermuten, der das Gesicht der alltäglich erfahrbaren Ungleichheit verändert hat. Es handelt sich um eine Verschärfungslogik auf der Grundlage von Teilhabeerweiterungen.
Das erste Stichwort dafür ist das der »funktionalen Arbeitsteilung«
infolge der Inkorporierung von Wissens- und Dienstleistungselemen14 Die Stunde der Gesellschaftstheorie?
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ten in fast allen beruflichen Positionen. Michael Vester hat von einer
»Kompetenzrevolution« (Vester/Teiwes-Kügler/Lange-Vester 2007) insbesondere in den industriellen Arbeitsplätzen gesprochen. Man kann
heute auch auf dem Bau nichts mehr werden, wenn einem die informationelle Durchgestaltung der Arbeitsvollzüge ein Buch mit sieben
Siegeln ist. Aber auch als Hausmeister reicht es nicht, unbedingte Loyalität an den Tag zu legen, man muss über eine gewisse interkulturelle
Kompetenz verfügen, um seiner eigentlichen Tätigkeit in einer großen
Wohnanlage mit einer Bewohnerschaft mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten nachgehen zu können. Für den Erwerb solcher Kompetenzen wird für gewöhnlich in den Institutionen der primären, der
sekundären oder der tertiären Bildung gesorgt. Der mittlere Schulabschluss soll einen nach einer verbreiteten Ansicht dazu befähigen, die
Rollen anderer zu übernehmen, nicht-repetitive Aufgaben zu bewältigen und sich flexibel zur Geltung zu bringen. Aber wie steht es um jene,
an denen diese komplexe Kompetenzaneignung vorbeigeht? Sie fristen
eine Schulkarriere in Restschulen und gelten dann selbst für »Jedermanns-Arbeitsmärkte« als nicht vermittelbar. Die »funktionale Arbeitsteilung« führt also zu einer Verschärfung des Unterschieds zwischen
den Kompetenten und den Inkompetenten.
Eine zweite hier relevante gesellschaftliche Veränderung ist das definitive Vergehen von, wie Joseph Schumpeter (1927) einst formuliert
hat, ethnisch homogenen Milieus in unserer Gesellschaft. Verschärfend
wirkt allerdings nicht die Migration an sich, da sich leicht der Nachweis
führen lässt, dass die große Mehrheit der Migranten in den OECDLändern Migrationsgewinner darstellen, verschärfend wirkt vielmehr
die tiefer gehende Spaltung zwischen der Masse der Migrationsgewinner
und einer Minderheit von Migrationsverlierern. Diese trifft nämlich
eine doppelte Diskriminierung. Sie gelten als sichtbarer Ausdruck misslungener Integration aus dem Blick der ethnisch dominanten Gruppe
innerhalb einer Gesellschaft und, was noch schwerer wiegt, sie verlieren
den Kontakt zu ihrer »Abstammungsgemeinschaft« (Weber 1922). Denn
nichts ist sozialen Aufsteigern unangenehmer als der Kontakt zu dem
Teil der eigenen Herkunftsgruppe, der es nicht geschafft hat. Der schlagende Beweis dafür ist das Bildungsverhalten der Migrationsgewinner,
die Schulen mit einem hohen Ausländeranteil für ihre Kinder meiden.
Einen weiteren Aspekt vertiefter Spaltung auf der Grundlage intensivierter Einbeziehung stellt die Transformation des Wohlfahrtsstaates
dar, die in allen OECD-Ländern stattgefunden hat (Gilbert 2002). Es
handelt sich um eine Politik der Aktivierung, von der die Botschaft ausgeht, dass man nicht länger darauf warten könne, bis die Arbeit zu einem
kommt, sondern dass verlangt wird, sich zur Arbeit hinzubewegen. Der
Wohlfahrtsstaat wird nicht mehr als ein Schutz vor Märkten aufgefasst
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(das war Esping-Andersens [1985] »politics against markets«), sondern
als ein Apparat, der einen befähigt, die Bewegungen der Märkte mitzuvollziehen (das ist Hillages und Pollards [1998] »politics of employability«). Der so transformierte Wohlfahrtsstaat schafft allerdings Probleme,
die er selbst nicht lösen kann. Denn was geschieht mit denjenigen, die
sich aus welchen Gründen auch immer nicht aktivieren lassen? Hier stößt
der Wohlfahrtsstaat mit seiner Politik von Anreizen und Sanktionen an
seine Grenzen. Wer trotz differenzierter Weiterqualifizierungsangebote
und trotz der angedrohten Sanktionen in Form von Leistungsreduktionen unbeweglich bleibt, kann eigentlich nur als »Sozialschmarotzer«
angesehen werden. Es wird nicht nur eine Spaltung zwischen der Population, die auf wohlfahrtsstaatliche Aktivierung anspricht, und derjenigen, die sich als resistent erweist, hervorgerufen, sie wird durch eine
Politik des Ressentiments auch noch verstärkt. Weil sich der Wohlfahrtsstaat nicht mehr mit einer Politik von Stillstellung des Arbeitsvermögens
begnügen will, bringt er notwendigerweise eine Ausschussbevölkerung
hervor, deren Makel darin besteht, sich nicht mobilisieren zu lassen.
Eine letzte Quelle von Spaltungsphänomenen geht auf das Neuarrangement der Geschlechter zurück, das sich aus der erweiterten Bildungs- und Erwerbsbeteiligung der Frauen ergibt. Die Prominenz der
Formel von der »work-life-balance« macht deutlich, dass gerade die gut
ausgebildeten Frauen von heute beides wollen: beruflich vorankommen
und zugleich eine Familie mit Kindern haben (Allmendinger 2009).
Das schafft ein noch wenig erkanntes Vulnerabilitätspotenzial bei den
Männern, die mit ihren traditionellen Karriere-Idealen unter Druck geraten. Besonders bei den Paaren, die sich aufgrund gleicher oder ähnlicher Bildungsvoraussetzungen kennengelernt haben, lässt sich für
den Mann nicht mehr das Modell der Familie als emotionale Gegenstruktur der Gesellschaft durchziehen. Unter der Bedingung der Ersetzung von Komplementaritäts- durch Reziprozitätsprinzipien (Lüscher/
Liegle 2003) wird die Familie selbst zum Schauplatz von Aushandlungskonflikten, die dem Mann immer weniger die Wahl der Flucht lassen. Wer einmal an den von den Frauen ausgehenden Reziprozitätserwartungen bei der Herstellung einer lebbaren »work-life-balance« in der
Familie gescheitert ist, wird als Mann so leicht nicht mehr auf den Beziehungsmärkten reüssieren. Es greift dann eine von der Familie ausgehende Exklusionslogik, die in einem Prozess generalisierter Selbstverwahrlosung münden kann.
Aufs Ganze gesehen enthüllt sich das mit dem Exklusionsbegriff bezeichnete neue Problem der Ungleichheit als paradoxer Zusammenhang von Anteil und Ausschluss. Es ist eine wachsende Ungleichheitssensibilität durch generalisierte Anteilssteigerung zu konstatieren. Das
darin verwobene Problem betrifft das »gedachte Ganze« (so M. Rainer
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Lepsius 1990 in Berufung auf Emerich Francis) der Ungleichheit. Welchen Anteil, so die ins Politische gewendete Fragestellung von Jacques
Rancière (2002), haben die Anteilslosen? Wo haben diejenigen noch
einen Ort, die aussortiert und abgeschrieben worden sind? Wie hoch ist
die Zahl der Zahllosen? Der Ungleichheitsdiskurs dreht sich mehr und
mehr um Restpopulationen, denen es an grundlegenden zivilisatorischen Kompetenzen mangelt. So lange man sich in einer Situation der
Unterprivilegiertheit einer Gruppe zuordnen kann, die auf einen Platz
im gedachten Ganzen Anspruch erhebt, so lange gehört man trotz gravierender Abstände in der Verfügbarkeit über Ressourcen materieller,
sozialer oder kognitiver Art dazu. Stellt sich für einen allerdings die
panische Frage, ob man überhaupt noch dazugehört, wird das Exklusionsempfinden schnell zu einem ursächlichen Faktor von Exklusionskarrieren (Bude/Lantermann 2006). So verweist die Ungleichheitsproblematik am Ende auf die Frage nach einer Vorstellung des Ganzen, wo
die einzelnen Gruppen sich wechselseitig Geltung zugestehen und derart eine Einheit der Differenzen bilden.
Auch bei der Herrschaft macht sich eine schwer durchschaubare
Komplikation mit zwiespältigem Ausdruck geltend. Auf der einen Seite
ist der Auftritt einer schamlosen territorialen Elite aus ungezügelten sozialen Aufsteigern zu studieren, die die politische Klasse insgesamt zu
demaskieren scheinen. Hier ist in erster Linie an Silvio Berlusconi in
Italien zu denken, mittlerweile auch an Geert Wilders in den Niederlanden, und für manche gehört auch Nicolas Sarkozy zu dieser neuen
Gruppierung politischer Führungsgestalten. Auf der anderen Seite ist die
Machtergreifung einer Schicht smarter Administratoren nicht zu übersehen, die sich als Komplexitätsbearbeiter und Mehrebenen-Spezialisten
bewähren und vor allem in der Brüsseler Elite der Europäischen Union
einen prominenten Ausdruck erlangt haben. Es erscheinen immer wieder Berichte von Expeditionen in die Brüsseler Apparate, bei denen
sich die Expediteure über ein kosmopolitisch interessiertes, kulturell
diszipliniertes und menschenrechtlich engagiertes Personal beeindruckt
zeigen (etwa Robert Menasse in der »Welt« vom 9. April 2011).
Die neue politische Elite Europas hat also ein zwiespältiges Gesicht:
Von den einen wird gelogen, unterschlagen und betrogen, sie verkörpern das Ideal einer rabiaten Selbstdurchsetzung; die anderen arbeiten
an übergreifenden Regulationsmustern, suchen die Stärken schwacher
Bindungen und erweitern die Räume von Ambiguitätstoleranzen. Es
ist ein Bild von Polarität und Interaktion: Die einen zielen auf die Verschärfung und die anderen suchen den Ausgleich. Die politische Herrschaft zeigt sich insgesamt verwilderter und gezähmter zugleich.
Worum geht es dabei? Es stehen sich offensichtlich zwei Parolen
gegenüber. »Hier spricht das Volk!«, rufen die populistischen Führer in
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den nationalstaatlichen Containern, »Hier werden die Dinge geregelt!«,
flüstern die Technokraten in den transnationalen Schaltzentralen. Berlusconi und Sarkozy zelebrieren den Ursprung der politischen Herrschaft im Souveränitätsverlangen, die gesichtslosen Euro-Bürokraten
exekutieren eine Form der Herrschaft in der Geste der Postsouveränität.
Der Volksherrschaft der Leute steht die Niemandsherrschaft der Netzwerke gegenüber. Die unentscheidbaren Fragen lauten dann: Wer spricht?
und: Wer hat das Sagen?
Das hier verborgene Problem ist das der konstituierenden Kollektivität. Europa sieht sich gerne im Bild einer Gesellschaft ohne Demos,
die Nationen hingegen kämpfen überall mit Parteien des Ethnos. Es
fehlen bis heute die soziologischen Begriffe dafür, wie eine Form der
politischen Herrschaft zu begreifen ist, der der Demos verloren gegangen
ist und die vom Ethnos bedroht wird. Da hilft weder der Apriorismus
der »republikanischen« Neugründung in der Tradition von Hannah
Arendt noch die soziologische Beschreibung der Politik in der Nachfolge von Niklas Luhmann. Die Wirkungsweise politischer Herrschaft
als Einheit von Teilhabe und Erleiden ist nicht nur begriffs-, sondern
auch anschauungslos geworden.
Bei der Ideologie schließlich ergeben sich die Komplikationen daraus, dass wir es, psychoanalytisch gesprochen, mit einem starken Verlangen ohne orientierendes Objekt zu tun haben. Man will alles und jedes
als Ideologie denunzieren, ohne einen Punkt der Wahrheit benennen zu
können, den man für sich akzeptiert. Das zeigt sich besonders in dem
Patt zwischen Markt- und Staatsskepsis. Wer die Geschichte nach dem
Mauerfall und nach der Pleite von Lehman-Brothers bilanziert, wird in
der Tat von der Gleichursprünglichkeit eines Markt- und Staatsversagens
ausgehen müssen. Die ideologische Debatte der Gegenwart ist durch
ein Vakuum gekennzeichnet, wo unklar ist, an was man sich halten
kann, um irgendwohin zu gelangen. »Es gibt so viele Dinge, die unseren
Zorn verdienen«, tönt es unter den kritischen Fraktionen eines polemischen Gesellschaftsbewusstseins. Es wird einem geraten, den Stromanbieter zu wechseln, das Konto bei einer unethischen Bank zu kündigen
und sich ein Auto mit 3,5-Liter Verbrauch anzuschaffen. Gegen fairen
Handel, alternative Energien und soziale Projekte gibt es offenbar keine
Einwände.
Die darin verborgene ideologische Problematik rührt daher, dass es
eine Diskrepanz zwischen dem biopolitischen Zuschnitt der Fragen
und dem gesellschaftstechnischen Design der Angebote auf ideologischem Gebiet gibt. Man will das demographische und das ökologische
Problem lösen und stößt auf die klassische Angebotspalette von Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus, die keine Unterschiede
mehr in dem gesuchten Unterschied machen. Das Thema der Ideolo18 Die Stunde der Gesellschaftstheorie?
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gien ist die Einheit von wahrer Erkenntnis und richtigem Handeln.
Die aber ist heute nicht mehr so ohne Weiteres herzustellen. Wahr kann
man sich im Bewusstsein eines ökologischen Kosmopolitismus fühlen,
doch ist damit noch lange kein Register des Handelns gegeben. Die ideologische Frage führt vielmehr, wie Maurice Merleau-Ponty (1952) nach
der Erfahrung des Totalitarismus gesagt hat, zur schwindelerregenden
Idee eines »Labyrinths spontaner Schritte«, die einen, wie es bei André
Breton hieß, »sublimen Punkt« suchen, wo das Leben des Einzelnen
sich mit den Anliegen aller berührt. Allerdings kann auch die intelligenteste Kombinatorik der klassischen ideologischen Angebote den
Moment des Zufalls nicht verleugnen, der jedem politischen Anfang innewohnt. Im postideologischen Zeitalter hält die Frage der Ideologie
daher das Problem der Geschichte offen.
Wieso schlägt im Bewusstsein all dessen heute die Stunde der Gesellschaftstheorie? Die Gesellschaftstheorie operiert mit der Vorstellung,
dass es einen Zusammenhang zwischen den Tatbeständen der Ungleichheit, den Formen der Herrschaft und den Artikulationen von Ideologie
gibt. In Bezug auf das Ungleichheitsthema stellt sie die Frage nach dem
»gedachten Ganzen« von Anteil und Ausschluss; in Bezug auf das
Thema der Herrschaft hält sie an der Idee einer konstituierenden Kollektivität fest; und im Hinblick auf die Ideologie stellt sie die Frage
nach der Wahrheit im Allgemeinen. Natürlich muss man sich dabei von
der Vorstellung eindimensionaler Determinationen lösen, die von irgendeiner Basis her irgendwelche Überbauten zu erklären sucht. Der Begriff
der Gesellschaft steht hier als Statthalter für die Unterstellung von
»Wahlverwandtschaften« oder zirkulären Bedingungsverhältnissen, die
einem Beobachter den Eindruck vermitteln, dass die Arten und Weisen,
wie Menschen einen Anteil gewinnen, wie sie auf bestimmte Rollen
festgelegt werden und wie über Rechtfertigungen solcher Verhältnisse
gedacht wird, etwas miteinander zu tun haben. Jedenfalls verweisen Ausschlussformen auf Subordinationsweisen, die durch Weltsichten stabilisiert werden.
Man ist müde davon, in der Soziologie nur etwas über einzelne Mechanismen und statistisch eruierbare Abhängigkeiten in Datenmengen zu
erfahren, fragt also nach Zusammenhangshypothesen, die die »Gesellschaft« nicht nur als eine Thematisierungsweise, sondern als eine Gefügeordnung in Erscheinung treten lassen. Natürlich erhebt sich dabei sofort
der Einwand einer unangemessenen holistischen Methodologie (Greve/
Schnabel/Schützeichel 2008), aber jede soziologisch relevante Erkenntnis operiert mit einer impliziten Totalisierungsfunktion (Lüdemann
2004). Wer wissen will, warum Menschen sich etwas schenken, ohne unmittelbar etwas davon zu haben, oder weshalb es für den Einzelnen
einen Unterschied macht, ob er sich als Teil einer Bezugsgruppe sehen
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kann oder von der panischen Frage getrieben wird, ob er irgendwo hingehört, sucht geradezu naturwüchsig nach einem erklärenden Zusammenhang, der, wie Durkheim seinerzeit gesagt hat, Soziales aus Sozialem erklärt.
Auch ist unmittelbar einsichtig, dass es einen Unterschied zwischen
Macht und Herrschaft derart gibt, dass Machteffekte sich zwischen Individuen ergeben, Herrschaft hingegen mit den Auftritts- und Einflusschancen kollektiver Akteure zu tun hat. Natürlich haben wir nicht
mehr eine harmonisch konstituierte Großgruppengesellschaft vor Augen,
aber deshalb ist die beunruhigende Frage nach den konstituierenden
Akteuren noch brenzliger geworden. Die einflussreiche These vom »clash
of civilizations« (Huntington 1998) oder das unbestreitbare Phänomen
der enormen Ausbreitungen evangelikaler Bewegungen weltweit (Berger)
beweisen, wie die gesellschaftliche Imagination Kollektivitäten im Widerstreit konstituiert und die Einzelnen nach Bezugsgruppen für ihre
Selbstsozialisation suchen.
Mit der Bezeichnung Gesellschaftstheorie verbindet sich zudem
drittens die Erwartung, dass es ein Medium der erfahrungswissenschaftlichen Befassung mit den »großen Problemen« unserer Zeit gibt.
Gesellschaftstheorie muss offenbar immer auch Gesellschaftsdiagnose
sein, die die Art und Weise, wie wir leben, in einen normativen Horizont stellt und insofern Hypothesen über den öffentlichen Selbstdeutungsbedarf erzeugt. Eine Soziologie, die sich einer solchen Erwartung
prinzipiell sperrt, lässt ein »unglückliches Bewusstsein« zurück, das nur
in einer bizarren Gedankenwelt des Transzendentalen Trost sucht.
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Literatur
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Zunehmende Kompetenzen? Wachsende Unsicherheit, Hamburg.
Weber, Max (1956 [1922]): Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen.
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Summary
The current crisis has sparked an interpretation of our state of affairs that
betrays neither faith in the market nor a commitment to culture. Society has returned as a notion that should render it possible to grasp the tangible loss of
trust in money and the perceptible weakness of symbols. The text argues that
this is the hour of theories of society, which redirect our focus to the connections
between social inequality, political domination, and hegemonic ideologies.
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