Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert unter dem Druck der

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Sonja Gross
Püntstr. 6
8942 Oberrieden
Tel.: 078 910 89 90
[email protected]
Abbildung 1
Matrikelnr.: 09-752-155
Hauptfach: Erziehungswissenschaft, 6. Semester
Nebenfächer: Psychologie und Betriebswirtschaftslehre
Der Sozialstaat im 21. Jahrhundert unter dem
Druck der Globalisierung
Die Rückkehr der sozialen Frage: Ein Vergleich des 19. und 21. Jahrhunderts
Universität Zürich
Institut für Erziehungswissenschaft
Freiestrasse 36
CH-8032 Zürich
SM9: Lern- und Bildungsprozesse unter
Bedingungen sozialer Ungleichheit
Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
Dozentin: Dr. Barbara Hobi
Abbildung 2
Abgabetermin: 10.06.12, Zürich
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
Inhaltsverzeichnis:
1.
Einleitung ............................................................................................................................ 3
2.
Begriffsdefinition „soziale Frage“ ...................................................................................... 4
3.
Die Soziale Frage im 19. Jahrhundert ................................................................................. 5
4.
5.
3.1.
Pauperismus und Industrialisierung (18.-19. Jh.) ........................................................ 5
3.2.
Die sozialen Folgen ..................................................................................................... 6
3.3.
Soziale Unruhe und Anfänge der Armenpflege .......................................................... 8
3.4.
Die politische Antwort: Der Wohlfahrtsstaat ............................................................ 10
Die Soziale Frage im 21. Jahrhundert ............................................................................... 10
4.1.
Globalisierungsprozesse ............................................................................................ 10
4.2.
Die postnationale Konstellation................................................................................. 11
4.3.
Die sozialen Folgen ................................................................................................... 15
4.4.
Der aktivierende Sozialstaat und die Rolle der Sozialpädagogik .............................. 16
Schlusswort ....................................................................................................................... 18
Literatur- und Abbildungsverzeichnis ...................................................................................... 21
2
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
1. Einleitung
„Eine neue soziale Frage beschäftigt Europa an der Jahrhundertwende: die Rückkehr von
Arbeitslosigkeit und Armut“ (Kronauer 2002, S. 45).
Oder, wie Beck (1997, S. 20) schreibt: „Die Länder der EU sind in den letzten zwanzig Jahren
um fünfzig bis siebzig Prozent reicher geworden. Die Wirtschaft ist viel schneller gewachsen
als die Bevölkerung. Trotzdem zählt die EU jetzt zwanzig Millionen Arbeitslose, fünfzig
Millionen Arme und fünf Millionen Obdachlose“. Aus den USA ist bekannt, dass das Wirtschaftswachstum lediglich die wohlhabendsten zehn Prozent bereichert hat. Obwohl dies in
Europa nicht anzunehmen ist, kann von einer ähnlichen Problematik ausgegangen werden
(ebd.). Im Zuge dieser Entwicklungen sprechen viele, unter anderem auch Kronauer (2002)
und Castel (2009) von der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts.
Im Rahmen dieser Arbeit möchte ich erstens die These, dass die neuen sozialen Probleme
diesen Überbegriff „soziale Frage“ verdient haben, prüfen und, falls sie bestätigt werden
kann, zweitens diskutieren, ob dies irgendwelche Implikationen nach sich zieht. Lässt sich aus
dem damaligen Verlauf der sozialen Probleme auf einen heutigen Lösungsansatz schliessen?
Dafür werden die sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts mit den sozialen Problemen im 21.
Jahrhundert verglichen. Wie weit gehen die Gemeinsamkeiten und wo treten Unterschiede
auf? Dabei soll auf die Entstehungsprozesse, die sozialen Probleme selbst, aber auch auf die
Reaktion des Staates eigegangen werden. Des Weiteren soll die Rolle der Sozialpädagogik
untersucht und zu den verschiedenen Zeitpunkten miteinander verglichen werden, um
schliesslich die Ausgangsfrage zu beantworten.
Aufgrund des beschränkten Rahmens dieser Arbeit wird nur auf staatlich-öffentlich initiierte
Interventionen der Sozialarbeit eingegangen. Die zahlreichen privaten Vereine, die Kirche,
Unterstützungskassen,
karitative
und
philanthropische
Einrichtungen
(vgl.
He-
ring/Münchmeier 2003, S. 27) sind jedoch nicht zu vernachlässigen.
Zu Beginn dieser Arbeit wird näher auf den Begriff „soziale Frage“ eingegangen. Darauffolgend wird in einem ersten Teil die soziale Frage im 19. Jahrhunderts aufgearbeitet. Es soll
verständlich gemacht werden, wie es dazu gekommen ist, wie die Auswirkungen waren und
wie darauf geantwortet wurde. Dabei wird hauptsächlich auf die Texte von Sabine Hering und
Richard Münchmeier (2003) und Johannes Schilling (2005) Bezug genommen. Für die Begriffserklärung wird der Text von Groenemeyer (2005) hinzugezogen. In einem zweiten Teil
werden die sozialen Probleme des 21. Jahrhunderts beleuchtet. Die Entstehungsprozesse
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Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
werden anhand des Ansatzes von Habermas (1998), der diese in der Globalisierung verankert
sieht, erläutert. Dies, um abschliessend die Problematiken der zwei unterschiedlichen Zeitalter
einander gegenüber stellen zu können und die eingangs formulierte Frage zu diskutieren.
2. Begriffsdefinition „soziale Frage“
Gleich zu Beginn soll die Frage, was denn unter der „sozialen Frage“ verstanden wird, geklärt werden. Natorp beschreibt 1922 die soziale Frage, als die Frage des „Phänomens der
Gewalt des Starken über den Schwachen“ (S. 121). Als zentral nennt er dabei den Machtmissbrauch durch die obere Schicht, insbesondere mittels finanziellem Kapital. Die Ursache
kann dementsprechend in der Besitzungleichheit gefunden werden und die Frage bezieht sich
darauf, wie denn nun dieser Zustand überwunden werden kann (ebd.). Im online Gabler Wirtschaftslexikon wird die soziale Frage ganz ähnlich definiert, nämlich als die Frage nach ausgewogenen Verhältnissen zwischen verschiedenen Berufsgruppen innerhalb der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung.
Die „soziale Frage“ ist laut Groenemeyer (2005, S. 1694) ausserdem Ausdruck für „soziale
Probleme“. Allerdings existiert für „soziale Probleme“ keine einheitliche Begriffsdefinition.
Vielmehr handelt es sich um einen Sammelbegriff, der unterschiedlichste Problemlagen zusammenfasst, so zum Beispiel: Armut, Kriminalität, Drogenkonsum usw. (a.a.O., S. 1693f).
Soziale Probleme sind aber immer auch gesellschaftlich konstruiert. Das bedeutet, dass sie
erst durch die allgemeine Wahrnehmung als „problematisch“ und die öffentliche Aufmerksamkeit entstehen (a.a.O., S. 1702). Der Grund, weshalb so unterschiedliche Problemlagen im
19. Jahrhundert unter dem einen Begriff „soziale Frage“ zusammengefasst werden, liegt in
ihrer gemeinsamen Entstehung - dem rapiden sozialen Wandel im Rahmen der industriell
kapitalistischen Entwicklung (a.a.O., S. 1694).
Resümierend kann die soziale Frage also verstanden werden als gesellschaftliches Ungleichgewicht, das verursacht wird durch die ungleiche Verteilung von verschiedenem, unter anderem ökonomischem, Kapital. Dieses Ungleichgewicht findet Ausdruck in sozialen Problemen,
welchen folglich eine gemeinsame Entstehungsgeschichte zugrunde liegt.
Auf die Entstehungsgeschichte der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts wird im Folgenden
näher eingegangen.
4
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
3. Die Soziale Frage im 19. Jahrhundert
3.1.
Pauperismus und Industrialisierung (18.-19. Jh.)
„Die soziale Frage“ ist erst seit den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein
gängiger Begriff (vgl. Hering/Münchmeier 2003, S. 27). Ihre Entstehung reicht jedoch viel
weiter zurück, nämlich sogar noch vor das Einsetzen der Industrialisierung. Denn, wie Schilling (vgl. 2005, S. 35) schreibt, ist der Pauperismus keine Folge der Industrialisierung, sondern schon vorher entstanden.
In diesem Abschnitt wird etwas näher auf diese Entstehung eingegangen, um ein tieferes
Verständnis für die Folgen und den Umgang damit zu schaffen.
Der Pauperismus geht der Industrialisierung voraus. Nicht die Industrialisierung, sondern
gerade ihre Verzögerung führt anfangs des neunzehnten Jahrhunderts zu einer Massenverarmung. Mit der Abschaffung der persönlichen Dienstbarkeit, der sogenannten „Bauernbefreiung“ von 1807 wird vielen Menschen erstmals die Möglichkeit zur ungehinderten Familiengründung gegeben (vgl. Schilling 2005, S. 35). Durch die gleichzeitige Ausweitung der medizinischen Versorgung, die Einführung neuer Hygienevorschriften und den verbesserten Lebensstandard verdoppelt sich die Bevölkerung in Deutschland zwischen 1800 und 1871. Die
Geburtenrate steigt an und die Säuglingssterblichkeit sinkt. Ausserdem erhöht sich die durchschnittliche Lebenserwartung um ca. 20 Jahre (vgl. Hering/Münchmeier 2003, S. 23). Zunächst wächst die Bevölkerung schneller als die Wirtschaft (vgl. Schilling 2005, S. 36).
Die Steigerung der Lebenserwartung geht einher mit einer höheren Arbeitslosigkeit und einem generell höheren Lebensrisiko. So zum Beispiel erlangt die Landbevölkerung durch die
Befreiung zwar grössere Autonomie, aber die Zahlungen, die dem vorherigen Besitzer für das
Land zu entrichten sind, sowie Missernten und Seuchen machen Lohnarbeit ausserhalb des
Hofes oft unumgänglich. Dies bedeutet in vielen Fällen weitgehend ungesicherte Einkommens- und Lebensverhältnisse (vgl. Hering/Münchmeier 2003, S. 23).
Nebst der Bauernbefreiung und dem enormen Bevölkerungswachstum prägt eine weitere
Entwicklung die Zeit. Das Bürgertum fordert im Kampf gegen die Feudalordnung, in dessen
Zuge auch die Französische Revolution von 1789 bis 1799 stattfand, eine neue Städteordnung: Eine Reform der Staatsverwaltung, Gewerbefreiheit, Aufhebung der Zünfte und Standesschranken, sowie die Beseitigung von Handelshemnissen. Die ständischen Schranken
werden aufgehoben, ebenso wie die Ausbildungs- und Zunftbeschränkungen. 1833 werden
die innerdeutschen Zölle radikal abgebaut und stattdessen Schutzzölle nach aussen eingerich5
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
tet. „Diese neuen Rechte ermöglichen mehr Freizügigkeit und freie Berufswahl durch die
Lösung des Einzelnen von alten Gruppen- oder Herrschaftsbindungen und bewirken einen
erheblich höheren Anteil an Mobilität innerhalb der Gesellschaft“ (Hering/Münchmeier 2003,
S. 19f). Die bürgerliche Gesellschaft, so wie wir sie heute kennen, bildet sich heraus.
Allerdings hat diese neue Gewerbefreiheit zunächst, gleich der Bauernbefreiung, nicht nur
positive Folgen für das Volk. Die Konkurrenz unter den Betrieben nimmt stark zu, was zu
immer mehr Pleiten bei den Kleinbetrieben führt, deren ehemaligen Eigentümer nun ihre
Arbeitskraft, wie viele andere, den wenigen Grossbetrieben zur Verfügung stellen müssen
(a.a.O.,S. 24). Auf die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Arbeiter wird im nächsten
Kapitel (3.2. Die sozialen Folgen) ausführlicher eingegangen.
Die Industrie befindet sich zu dieser Zeit in einem grossen Wachstum. Sie dient als Auffangbecken für die Armutsbevölkerung, indem sie den Armen und den Landlosen Arbeit gibt (vgl.
Hering/Münchmeier 2003, S. 28). Der Bergbau, die Metallverarbeitung und die Textilindustrie wachsen besonders stark an durch Neuerungen, wie die Dampfmaschine, den mechanischen Webstuhl und den Einsatz neuer Rohstoffe, wie zum Beispiel Gummi und Zement.
Ausserdem wird der Verkehrs- und Handelssektor stark ausgebaut. Die Postkutsche wird
durch eine Eisenbahn, die sich bald über ganz Europa erstreckt, abgelöst. Als Konsequenz
erhöht sich die Produktivität um ein Vielfaches (a.a.O., S. 20f). Gleichzeitig verschiebt sich
der Anteil von Beschäftigten innerhalb der einzelnen Wirtschaftssektoren bedeutend vom
primären zum sekundären und tertiären Sektor. Und während um 1800 der grösste Teil der
Bevölkerung auf dem Land lebt, haben 1910 66% der Bevölkerung ihren Wohnsitz in der
Stadt (vgl. Schilling 2005, S. 35).
Die Folgen der Aufklärung und der französischen Revolution sind weitreichend. Der Pauperismus und die Industrialisierung wälzen die Gesellschaftsverhältnisse radikal um. Überbevölkerung, Massenarmut und Arbeitslosigkeit sind die Folge. Im nächsten Kapitel wird aufgezeigt, was dies für das Leben der einfachen Bevölkerung bedeutet.
3.2.
Die sozialen Folgen
„Die städtischen Ballungszentren boten ein Bild der Armut, des Elends und der Verwahrlosung. Industrie und Markt brachte nicht Harmonie und Wohlstand, sondern spaltete die Gesellschaft“ (Schilling 2005, S. 35).
Mit der Vergrösserung des Angebots, der ansteigenden Konkurrenz und dem damit einhergehenden Rationalisierungsdruck sinken die Preise und fallen die Löhne (vgl. He6
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
ring/Münchmeier 2003 S. 21). Diese wirtschaftlichen Entwicklungen, zusammen mit den im
vorherigen Kapitel erläuterten Veränderungen (der höheren Mobilität, der Überbevölkerung
und Massenverarmung) ziehen tiefgreifende soziale Folgen nach sich.
Viele Menschen verelenden aufgrund der konjunkturabhängigen Massenarbeitslosigkeit. Ein
grosser Teil der Bevölkerung ergreift, in der Hoffnung, in der Stadt Arbeit zu finden, die
Landflucht. Die Städte wachsen daraufhin innert kürzester Zeit massiv an. Gleichzeitig werden die traditionellen Lebenszusammenhänge der Menschen vom Lande zerstört. Diese Entwicklung wird auch mit dem Begriff „Entwurzelung“ beschrieben. War die Gesellschaft bis
vor der Industrialisierung durch Stände bestimmt, so wird sie jetzt durch die immer grösser
werdenden Klassengegensätze unterteilt (vgl. Hering/Münchmeier 2003, S. 21). Durch die
tiefen Löhne, aufgrund des Überangebots an Arbeitskräften, und die steigenden Lebenshaltungskosten, sind die mittlere und untere Klasse dazu gezwungen, alle Familienmitglieder am
Erwerbsleben zu beteiligen. Und zwar unter, aus heutiger Sicht, unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Die Wochenarbeitszeit beträgt bis
zu 90 Stunden, das
bedeutet eine tägliche
Arbeitszeit von 12.85 Stunden, dazu kommen
lange Anmarschwege. Gearbeitet wird ohne
Pausen, Sonntagsruhe ist ein Fremdbegriff
und die Arbeitsbedingungen sind gesundheitsgefährdend und gefährlich. Kinder und
Frauen arbeiten unter denselben Bedingungen
wie Männer, bekommen aber tiefere Löhne
Abbildung 3
und werden deshalb als „Schmutzkonkurrenz“ bezeichnet. Trotzdem ist Fabrikarbeit (siehe
Abbildung 3) für die Mädchen und Frauen häufig attraktiver als eine Anstellung als Dienstmädchen, bei der sie gar keine Möglichkeit zur Beanspruchung von Privatsphäre oder Schutz
haben. Nicht selten werden sie unfreiwillig von den Hausherren geschwängert und sind dann
für ihr restliches Leben auf die Arbeit in der Prostitution angewiesen. Auch den Männern, die
in den Fabriken und Stollen arbeiten, fehlt es grundsätzlich an jeglichem Schutz. Viele Arbeiter verunfallen oder tragen lebenslange Schäden mit sich (a.a.O., S. 24f). Allerdings: „Überleben kann man nur, solange man arbeitet. Wer alt ist oder krank wird, ist verloren“ (a.a.O., S.
25). Denn durch die Entwurzelung besteht keine traditionelle Absicherung durch die Familie
und den Hof mehr. Jeder ist quasi auf sich alleine gestellt, denn die Löhne in den Fabriken
und bei den Dienstboten genügen nicht, um weitere Personen zu ernähren oder etwas für den
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Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
Krankheitsfall zurückzulegen. Kleinkinder bleiben während der langen Arbeitszeit oft unbeaufsichtigt. Sobald sie grösser sind, werden sie dann zur Mitarbeit gezwungen. Die Einhaltung der Schulpflicht wird kaum berücksichtigt (ebd.).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die sozialen Folgen gekennzeichnet sind
durch Überbevölkerung, Landflucht, Entwurzelung, Massenarbeitslosigkeit, Kinderarbeit,
unmenschliche Arbeitsbedingungen, Armut und Elend. Die industrielle Revolution ist ausserdem noch nicht fortgeschritten genug, um die Problematiken vollends auffangen zu können.
Aus dieser Tatsache geht hervor, dass die oben genannten Erscheinungen zunehmend durch
soziale Unruhen begleitet werden. Auf diese Unruhen und die Antwort des Staates wird im
folgenden Kapitel näher eingegangen.
3.3.
Soziale Unruhe und Anfänge der Armenpflege
Die politische Entwicklung gerät zunehmend unter den Einfluss der Wirtschaft. Die durch die
Industrialisierung geschaffenen Klassengegensätze führen zu politischen Konflikten und
Aufstände machen sich im ganzen industrialisierten Europa breit. In Frankreich findet 1830
die dreitägige Julirevolution statt, 1848 die nicht weniger berühmte Februarrevolution (vgl.
Hering/Münchmeier 2003, S. 21). Aus Deutschland ist der Weberaufstand in Schlesien von
1844 in die Geschichtsbücher eingegangen. In der Schweiz bringt der Brand von Uster 1832
die allgemeine Wut beispielhaft zum Ausdruck: Am Morgen des 22. November 1832 erscheint eine grosse Schar unzufriedener Handweber mit Stroh- und Reisigbündeln. Die Stimmung wird als geladen beschrieben. „Anfänglich erschien alles nur als Drohgebärde, bis ein
Steinwurf gegen eine Fensterscheibe den Sturm auf das Fabrikgebäude auslöste“ (Häseli,
online). Die Arbeiter stecken das Gebäude in Flammen und verhindern die Löscharbeiten, so
dass die Fabrik bis auf die Grundmauern niederbrennt (ebd.).
Dem Staat geht es zu dieser Zeit, nebst der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, vor
allem darum die Produktion am Laufen zu halten (vgl. Hering/Münchmeier 2003, S. 22). Um
eine weitere, umwälzende Revolution zu verhindern, sind Reformen unumgänglich. „Der
Lebensstandard des einzelnen Individuums ist zumindest so weit anzuheben, dass die allgemeine Unzufriedenheit nicht auf die Strasse drängt“ (a.a.O., S. 26). Dies bedeutet, dass ein
soziales Netz geschaffen werden muss, welches diejenigen Menschen, die gar nichts mehr
haben, auffängt. „Es ist die Geburtsstunde der modernen Sozialpolitik und mit ihr der Sozialarbeit“ (ebd.). Und wie weiter oben erwähnt, die Zeit der Herausbildung des Begriffs „soziale
Frage“. Zunächst sind die Reaktionen des Staates allerdings nur repressiver, nicht sozialpoliti8
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SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
scher Natur. Eine Umorganisation der Armenpflege scheint zwar nötig, eine staatliche Intervention jedoch nicht zwingend. Die Bemühungen des Staates zielen vor allem auf die Aufrechterhaltung der traditionellen Lebensformen - diese Zeit geht als „Biedermeier“ in die
Geschichte ein. Unterstützt wird dieses Verhalten des Staates durch den aufkommenden
Wirtschaftsliberalismus und die weitverbreitete Ansicht, dass Armut zwar nicht gottgewollt,
aber sehr wohl selbstverschuldet ist (a.a.O., S. 27f). Der Arme und die Bettler standen schon
immer unter dem Verdacht faule Leute zu sein (vgl. Huster 2008, S. 246).
Konsequenterweise ist die Armenfürsorge zunächst abschreckend, ohne Rechtsanspruch und
angegliedert an die Polizei. Sie wird begleitet mit dem maximal möglichen Grad an Diskriminierung und Stigmatisierung. Unangekündigte Hausbesuche, Aberkennung der Bürgerrechte
und Arbeitshäuser sind damit einhergehende Massnahmen. Als unausweichliche Folge nimmt
der Anteil an Armen jedoch weiterhin zu (vgl. Hering/Münchmeier 2003, S. 29).
„Verbesserungen finden im Rahmen der öffentlichen Armenpflege in den Jahren bis 1871 u.a.
nach dem Vorbild des preussischen Gesetzes über die Verpflichtung zur Armenfürsorge
(1842) und den Neuerungen des so genannten Elberfelder Systems statt“ (ebd.). Das System,
das in Elberfeld, einer grossen Industriestadt, eingeführt wird, gilt zu dieser Zeit als eines der
wirksamsten Systeme zur Armenfürsorge und findet demzufolge viele Nachahmer. Zentral ist,
dass die Stadt in Bezirke und Quartiere aufgeteilt wird, wobei jeder Bezirk einen Vorsteher
und jedes Quartier einen Pfleger hat. Die Pfleger prüfen und kontrollieren jeweils zwei bis
vier Arme. Ihre Arbeit ist ehrenamtlich. Das heisst allerdings nicht, dass sie auch freiwillig
arbeiten, denn jeder Bürger ist dazu verpflichtet dieses Amt für drei Jahre zu übernehmen.
Um Dauerleistungen zu vermeiden, wird die Unterstützung jeweils auf 14 Tage begrenzt.
Primäres Ziel dieser Unterstützungsleistung ist die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt.
Die Hilfsbedürftigen sind daher verpflichtet, jede ihnen zugewiesene Arbeit anzunehmen. Aus
einer Weiterentwicklung des Elberfelder Systems entsteht das Strassburger System. Wichtige
Neuerungen sind das Entfallen der Quartiere, Professionalisierung und Zentralisierung (vgl.
Schilling 2005, S. 37ff).
Jedoch kann auch dieses System die soziale Frage nicht lösen. Die repressive Armenfürsorge
genügt nicht, um dem steigenden Anteil Hilfsbedürftigen entgegen zu wirken. Erst mit der
Einführung der Sozialgesetzgebung scheint eine Lösung in Sicht (a.a.O., S. 40). Mit dieser
beschäftigt sich das nächste Kapitel.
9
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
3.4.
Die politische Antwort: Der Wohlfahrtsstaat
Bismarck verfolgt mit seiner Sozialpolitik zwei Ziele. Zum einen gilt es zu verhindern, dass
die Arbeiterschaft die bestehenden Verhältnisse stürzt und zum anderen muss er einen Weg
finden, die Staatskasse von den hohen Kosten der Armenfürsorge zu entlasten (vgl. Schilling
2005, S. 40).
Die Einführung des Sozialistengesetzes, das jeglichen Zusammenschluss der Arbeiter zu einer
Organisation oder einem Verein verbietet, dient zur Erreichung des ersten Zieles. Zur weiteren Bekämpfung der Not erlässt er eine Reihe von Arbeiterversicherungsgesetzen. 1883 führt
er die Krankenversicherung ein, ein Jahr darauf die Unfallversicherung und 1889 folgen die
Alters- und Invalidenversicherung. Die Idee liegt bei der „Verknüpfung des Versicherungszwanges mit einem Rechtsanspruch auf Unterstützung“ (ebd.). Das bis heute gültige Prinzip,
dass man das Recht auf Versorgung durch eine regelmässige Beitragszahlung erwirbt, wird
erstmals eingeführt (ebd.). Der Staat tritt zum ersten Mal als Wohltäter auf und der Grundstein für den „Wohlfahrtsstaat“ ist gelegt. Bis er vollentwickelt ist, dauert es allerdings noch.
Denn zunächst profitiert alleinig die Fabrikarbeiterschaft von den neuen Regelungen (vgl.
Vogel 2011, online).
Der Staat legt die Grundsteine zur Lösung der sozialen Frage durch die Einführung einer
generellen Hilfe der Sozialpolitik. Er sorgt für die rechtlichen Rahmenbedingungen, setzt sich
auf finanzieller, aber auch auf sozialer Ebene ein. Die materielle Hilfe ist somit für einen
grossen Teil der Betroffenen gewährleistet, was dazu führt, dass sich die Sozialpädagogik auf
tiefer liegende Probleme konzentrieren kann. Diese Lösung währt rund ein Jahrhundert lang.
Nun stehen wir aber vor einer neuen Herausforderung. Mehr dazu, im nächsten Kapitel.
4. Die Soziale Frage im 21. Jahrhundert
4.1.
Globalisierungsprozesse
Waren im 19. Jahrhundert die Herausforderungen für den Staat und die Gesellschaft durch die
Prozesse der Industrialisierung konstituiert, so sind sie heute verursacht durch die Globalisierungsprozesse. So lautet die These von der im Folgenden ausgegangen wird. Nach Habermas
(1998, S. 94/Beck 1997, S. 13) gerät der Sozialstaat, der aus dem sozialen Wandel des 19.
Jahrhunderts hervor gegangen ist, unter den aktuellen Bedingungen der Globalisierung, immer mehr in Bedrängnis.
10
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
In einem ersten Schritt wird der Begriff „Globalisierung“ und die Bedingungen, die sie mit
sich bringt, erläutert. In einem nächsten Schritt werden aufbauend die Auswirkungen auf den
Nationalstaat abgeleitet und die sozialen Folgen besprochen. Und schliesslich wird abermals
die politische Antwort untersucht.
Es gibt keine einheitliche oder allgemeingültige Begriffsdefinition der Globalisierung. In
Anlehnung an Habermas (1998, S. 101) wird in dieser Arbeit die Globalisierung als Prozess
hin zur Globalität, und nicht als Endzustand, beschrieben. Dieser Prozess umfasst die Intensivierung von Verkehrs-, Kommunikations- und Austauschbeziehungen über nationale Grenzen
hinaus. Die ganze Welt wird immer mehr vernetzt. „Netzwerk“ ist hierbei zu einem Schlüsselbegriff geworden. In Netzwerke eingebunden sind Waren, Kapital, Geld, aber auch Personen und Informationen. Ausdruck findet dies in der interkontinentalen Ausbreitung von Telekommunikation, den Medien, dem Massentourismus, der Massenkultur, als auch in den
grenzüberschreitenden Risiken von Grosstechnik und Waffenhandel, um nur einige Beispiele
zu nennen (vgl. Habermas 1998, S. 102).
Die ganze Wirtschaft unterliegt einem Strukturwandel. In den westlichen Ländern ist eine
Verschiebung vom sekundären zum tertiären Sektor, dem Dienstleistungsbereich, und noch
weiter zum quartären Sektor, hin zu einer Wissensgesellschaft zu beobachten. Unter den
verschärften Bedingungen des globalen Wettbewerbs sehen sich die Unternehmen gezwungen, die Arbeitsproduktivität zu steigern und den Arbeitsablauf insgesamt so zu rationalisieren, dass „der langfristige Trend zur Freisetzung von Arbeitskräften“ noch mehr angekurbelt
wird (a.a.O., S. 120). Die Folgen sind weitreichend und können zu diesem Zeitpunkt kaum
richtig abgeschätzt werden.
„Die Prämissen des Sozialstaates und des Rentensystems, der Sozialhilfe und der
Kommunalpolitik, der Infrastrukturpolitik, die organisierte Macht der Gewerkschaften, das überbetriebliche Verhandlungssystem der Tarifautonomie ebenso wie die
Staatsausgaben, das System der Steuern, die „Steuergerechtigkeit“ - alles schmilzt
unter der neuen Wüstensonne der Globalisierung in die Gestaltbarkeit(szumutung)
hinein“ (Beck 1997, S. 14).
4.2.
Die postnationale Konstellation
Habermas publiziert 1998 ein Buch mit dem Titel: Die postnationale Konstellation. Er geht,
ähnlich wie Beck, von der folgenden Annahme aus: „Die wohlfahrtstaatliche Massendemokratie westlichen Zuschnitts steht (allerdings) am Ende einer zweihundertjährigen Entwick11
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
lung, die mit dem aus der Revolution hervorgegangenen Nationalstaat begonnen hat“ (S. 94).
Dies würde bedeuten, dass die „Lösung der sozialen Frage im 19. Jahrhundert“, der Sozialstaat in seiner ursprünglichen Form, bedroht ist. Wie Habermas zu dieser oben genannten
These kommt, beziehungsweise welche Auswirkungen die Globalisierung auf den Sozialstaat
und schliesslich die Gesellschaft hat, wird nachfolgend anhand seiner Theorie aufgezeigt.
Nahezu alle Staaten sind Nationalstaaten. Offensichtlich erfüllt der Nationalstaat wichtige
Erfolgsvoraussetzungen für die demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft. Unser ganzes
heutiges System, im Speziellen auch das Sozialwesen, ist darauf aufbauend. Die Funktionsweise des Nationalstaates lässt sich unter vier Gesichtspunkten analysieren. Als erster Aspekt
des modernen Staates sind die (a) Verwaltung und Steuerung zu nennen, als zweiter Aspekt
die (b) territoriale Begrenzung, die zu drittens, der (c) nationalen Identität führt und den Staat
schliesslich zu einem (d) Rechts- und Sozialstaat macht (vgl. Habermas 1998, S. 97).
a) Der Nationalstaat ist ein Verwaltungs- und Steuerungsstaat. Die Trennung von Staat und
Gesellschaft, von Politik und Wirtschaft wird durch gesetzliche Regelungen des Staates reguliert (a.a.O., S. 98). Neue Entwicklungen und gesellschaftlicher Wandel führen allerdings
dazu, dass die Ordnungskapazität einzelner Staaten überfordert wird. Beispielhaft dafür sind
die Störung ökologischer Kreisläufe, das Ozonloch oder saurer Regen oder aber die Störanfälligkeit grosstechnischer Anlagen, was zum Beispiel zur Katastrophe in Tschernobyl geführt
hat. Die Staatsgrenzen sind in diesen Fällen porös. Internationale Organisationen versuchen
diese Kontrolleinbussen einzelner Nationalstaaten zu kompensieren. Eine solche Kompensation ist bis anhin allerdings nicht möglich bezüglich der Steuerproblematik. „Die beschleunigte Kapitalmobilität erschwert den staatlichen Zugriff auf Gewinne und Geldvermögen, und
die verschärfte Standortkonkurrenz führt zur Schrumpfung der nationalen Steuereinnahmen“
(a.a.O., S. 106). Ausserdem ruft die blosse Drohung mit Kapitalabwanderung eine Kostensekungsspirale hervor und schreckt gleichzeitig die Steuerfahndung ab, das Recht durchzusetzen. Als Resultat sind die Steuern auf Spitzeneinkommen, Kapital und Gewerbe drastisch
gesunken, so dass sich der Anteil an Gewinnsteuern an den gesamten Steuereinnahmen stark
verringert hat. Dies auf Kosten der Normalverdiener (a.a.O., S. 107). Beck (1997, S. 19f)
kritisiert zudem, dass ausgerechnet die Reichsten zu virtuellen Steuerzahlern werden, indem
sie auf legale aber illegitime Weise das demokratische Gemeinwohl, das sie in Anspruch
nehmen, untergraben. Die meisten transnationalen Grossunternehmen, wie Siemens zahlen
zudem schon lange keine Steuern im Inland mehr. Beck (1997, S. 21) bringt es folgendermassen auf den Punkt:
12
Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
„Es ist der Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet die Globalisierungsverlierer in Zukunft alles, Sozialstaat wie funktionierende Demokratie, bezahlen sollen,
während die Globalisierungsgewinner Traumgewinne erzielen und sich aus ihrer
Verantwortung für die Demokratie der Zukunft stehlen.“
Er folgert daraus, dass die grosse Frage nach der sozialen Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung neu verhandelt werden muss (ebd.).
b) Der Nationalstaat als Territorialstaat: Der Bereich und die Grenzen der Ausübung staatlicher Gewalt sind durch das Staatsgebiet definiert und durch diese territoriale Einschränkung
wird wiederum die Staatsangehörigkeit festgelegt. Denn das demokratische „Prinzip der
Selbsteinwirkung“ setzt ein „Selbst“ voraus (vgl. Habermas 1998, S. 98f).
Die Prämisse, dass sich das Staatsgebiet mit der Staatsangehörigkeit deckt und mit dem
Schicksal der nationalen Gesellschaft übereinstimmt, ist heutzutage aber anzuzweifeln. Immer
seltener besteht eine Kongruenz zwischen Beteiligten und Betroffenen. Als Standardbeispiel
dient die Geschichte des Atomreaktors, den ein Nachbarstaat nach anderen Verfahren und
Standards als den eigenen bauen lässt (a.a.O., S. 108). Dasselbe Phänomen - die Nichtdeckungsgleichheit - kann jedoch auch im Inland, zum Beispiel in Bezug auf Abstimmungen,
beobachtet werden.
c) Eine weitere Eigenheit des Nationalstaates und Voraussetzung für die demokratische
Selbstbestimmung, wie schon im Name enthalten, ist die Nation, beziehungsweise die nationale Identität. Dies erfordert eine kulturelle Integration, der zunächst „zusammengewürfelten
Bevölkerung“. Erst durch eine gemeinsame Identität und Loyalität kommt die rechtlich vermittelte Zusammengehörigkeit zu Bewusstsein. Und erst dieses Bewusstsein macht einen
Staat zum Nationalstaat, in dem für einander Steuern gezahlt oder der Wehrdienst geleistet
wird (vgl. Habermas 1998, S. 99f).
Heute werden erste Risse im Gemäuer der Nation sichtbar. Es mehren sich „ethnozentrische
Reaktionen“ des Nationalvolkes gegen alles Fremde. „Hass und Gewalt gegenüber Ausländer,
gegen Andersgläubige und Andersfarbige, aber auch gegen Randgruppen und Behinderte und,
wieder einmal, gegen Juden“ (a.a.O., S. 111). Auch Entsolidarisierungen, verursacht durch
Umverteilungsprozesse und –fragen sind vermehrt zu beobachten (ebd.). Die Gründe dafür
können in zwei verschiedenen Prozessen gesucht werden. Zum einen in dem, was Habermas
kognitive Dissonanzen nennt und zum anderen in der hybriden Differenzierung. Etwas einfacher ausgedrückt, prallen einerseits verschiedene kulturelle Lebensformen aufeinander und
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Sonja Gross
SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
verhärten die nationale Identität und andererseits weicht die materielle Weltkultur homogene
Lebensformen auf (a.a.O., S. 111-116).
d) Der Nationalstaat ist des Weiteren auch Rechts- und Sozialstaat, dessen Legitimität in der
demokratischen Teilhabe begründet liegt. Volkssouveränität, die ihren Ausdruck in den Bürgerrechten findet, und freie Meinungs- und Willensbildung konstituieren dieses System. Die
Adressaten des Rechts sind gleichzeitig als dessen Autoren zu verstehen. Die Aufgabe des
Sozialstaates liegt darin, allen eine „chancengleiche Nutzung gleichverteilter Bürgerrechte“
zu ermöglichen (vgl. Habermas 1998, S. 100f). Genau darin liegt die Stärke des demokratischen Verfassungsstaates. Wenn nämlich die Partizipation bzw. die Bürgerrechte aller gewährleistet sind, vermag das politische System die Lücken sozialer Integration zu schliessen.
Allerdings ist dies nur so lange möglich, wie die „anerkannten Massstäbe sozialer Gerechtigkeit“ eingehalten werden. Ansonsten kann eine Entsolidarisierung kaum abgewendet werden
(a.a.O., S. 117f). Es stellt sich natürlich die Frage, was die „anerkannten Massstäbe sozialer
Gerechtigkeit“ sind und wer diese festlegt. Es handelt sich hierbei um Massstäbe, die aus der
gesellschaftlichen und politischen Diskussion heraus entstehen und die diesbezüglichen Einstellung des Volkes widerspiegeln. Der Staatsbürger muss also das Gefühl von einem „gerechten“ Staat haben, in dem jeder das bekommt, was er verdient. Der Sozialstaat, welcher
unter anderem die zentralen Umverteilungsfunktionen innehat, hat die schwierige Aufgabe,
die Balance auf dem schmalen Grad namens soziale Gerechtigkeit, zwischen den Abgründen
Ungerechtigkeit und Entsolidarisierung, zu halten.
Wo dieser Grad angesichts des schrumpfenden Steueraufkommens verläuft, ist offensichtlich.
In Deutschland kann zwar nicht, ebenso wenig wie in der Schweiz, von einem „Abbau des
Sozialstaates“ gesprochen werden, wie dies in England und den USA der Fall ist, aber es lässt
sich ein bedeutender Rückgang der Sozialhaushalte, sowie eine Verschärfung der Zugangsbedingungen zu den Versicherungssystemen beobachten (vgl. Habermas 1998, S. 118).
Insgesamt kann eine bedrohliche Schwächung des Nationalstaates festgestellt werden, die
sich in der Besteuerungsproblematik, der fehlenden Kongruenz zwischen Beteiligten und
Betroffenen, dem drohenden Zerfall des Zusammenhaltes und der fortschreitenden Entsolidarisierung zeigt. Die Politik wird zunehmend durch den Markt bestimmt oder, wenn man so
weit gehen will wie Habermas, verdrängt (vgl. Habermas 1998, S. 41).
Wie in Kapitel 4.1. angedeutet, ist die momentane wirtschaftliche Entwicklung aber noch aus
einem weiteren Grund bedenklich. Es scheint nämlich, dass wer die Gewinne steigern will,
Arbeitsplätze streichen muss, um am Wettbewerb mithalten zu können. Dies führt zur para14
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SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
doxen Situation, dass die Wirtschaft wächst und mit ihr die Arbeitslosigkeit (vgl. Beck 1997,
S. 15).
Beck (1997, S. 20) resümiert: „Die neue Zauberformel lautet: Kapitalismus ohne Arbeit plus
Kapitalismus ohne Steuern.“
Wie eingangs, in Kapitel 2, definiert, fasst der Terminus „soziale Frage“ verschiedene soziale
Probleme, denen eine gemeinsame Ursache zugrunde liegt, zusammen. Der rapide soziale
Wandel unter dem Zeichen der Globalisierung kann als gemeinsame Ursache für die sozialen
Probleme im 21. Jahrhundert herangezogen werden. Wie sich die sozialen Probleme konkret
zeigen, das wird im nächsten Kapitel kurz umrissen.
4.3.
Die sozialen Folgen
In der Soziologie werden die sozialen Probleme, bzw. die sozialen Folgen dieser Entwicklungen seit den 2000er Jahren unter dem Titel „neue Exklusions- und Prekarisierungsprozesse“
untersucht und diskutiert (vgl. Mutz 2011, S. 138). Wie sich diese Prozesse der Exklusion und
Prekarisierung zeigen, wird in diesem Kapitel erläutert.
Die Richtigkeit der Formel „Wirtschaftswachstum schafft Beschäftigung“ wird zu Recht
immer mehr angezweifelt. In der Tat steigt die Arbeitslosigkeit zunehmend. Laut Castel
(2009, S. 27) hat sie inzwischen eine Grössenordnung von 10% der Erwerbsbevölkerung
angenommen. Gleichzeitig nehmen sogenannte prekäre oder „atypische Beschäftigungsformen“ seit den 70er Jahren immer mehr zu (vgl. Mutz 2011, S. 139). Prekäre Arbeitsverhältnisse ersetzen vermehrt Normalarbeitsverhältnisse: Teilzeitarbeit, Gelegenheitsjobs, befristete
Arbeitsverträge, Arbeit auf Abruf und sogenannte Ich-AGs sind keine Seltenheit. Es gibt
zahlreiche „Working Poor“: Menschen, die arbeiten und trotzdem arm sind. „Armut trotz
Arbeit“ ist ein zunehmendes Phänomen (vgl. Castel 2009, S. 32). „Berufswege verlaufen
nunmehr diskontinuierlich, im Gegensatz zu Zeiten, als sie sich häufig innerhalb ein und
desselben Unternehmens abspielten und eine lineare Entwicklung durchliefen“ (Castel 2009,
S. 26). Dabei sind keineswegs nur untere Schichten von diesen Prekarisierungssprozessen
betroffen. Prekarität betrifft die unterschiedlichsten sozialen Gruppen. Wobei die am stärksten
benachteiligten Schichten aber am häufigsten berührt werden (a.a.O., S. 31).
Für die Betroffenen bedeutet dies oft ein Leben knapp an oder unter der Armutsgrenze. Ausserdem bringen die prekären Arbeits- und Lebensformen ein hohes Mass an sozialer Unsicherheit mit sich (vgl. Mutz 2011, S. 137).
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Diese Entwicklung der Prekarisierung wird, wie angedeutet, begleitet durch eine zweite Entwicklung: Den Exklusionsprozessen. Dabei ist mit Exklusion, nach Kronauer, keine individuelle Problemlage, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis gemeint. Bei diesem geht es nicht
mehr nur um die Frage nach oben-unten, sondern vermehrt um die Frage von drinnen und
draussen. Problematiken um die es dabei geht sind: „Gezielte Ausgrenzung, funktionale
Ausschliessung und existenzielle Überflüssigkeit“ (Mutz 2011, S. 143f).
„Prekarisierung beschreibt einen einschneidenden Wandel in der Arbeits- und Lebenswelt und
den daraus folgenden Umbau sozialer Beziehungen, die wiederum soziale Teilhabe einschränken“ (ebd.). Prekarisierung kann, muss aber nicht zu sozialer Exklusion führen (ebd.).
Durch die beschriebenen wirtschaftlichen Entwicklungen, Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse, ist die Prekarität und mit ihr die soziale Unsicherheit zunehmend. Davon
betroffen sind alle Lebensbereiche: Die Erwerbsarbeit, soziale Beziehungen und gesellschaftliche Teilhabe (vgl. Mutz 2011, S. 142f). Dies führt zu einer ständigen Mehr- und Überbelastung der Sozialversicherungssysteme (vgl. Galuske 2008, S. 12).
Die These, dass von einer neuen sozialen Frage des 21. Jahrhunderts gesprochen werden
kann, kann hiermit eindeutig bestätigt werden.
4.4.
Der aktivierende Sozialstaat und die Rolle der Sozialpädagogik
Wie sieht die Reaktion des Staates aus angesichts der erläuterten Entwicklungen: Dem Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich, der Besteuerungsproblematik, den Prekarisierungsund Exklusionsprozesse?
Im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt sich, ausgehend von der sozialen Frage im 19.
Jahrhundert, der sozialstaatliche Wohlfahrtsstaat, ein Erfolgsmodell. Das 20. Jahrhundert wird
deshalb auch als das „Sozialpädagogische Jahrhundert“ bezeichnet (vgl. Maeder & Nadai
2005, S. 184). Das sozialstaatliche Modell gerät jedoch immer mehr unter den Druck der
Globalisierung (siehe Kapitel 4.2.). Die Wirtschaft und der Wettbewerb nehmen den Sozialbereich zunehmend ein. Maeder und Nadai (2005, S. 185) bringen es so auf den Punkt: „Sozialpolitik gilt heute eher als Wachstumshindernis, denn als Standortvorteil.“ Zudem scheint der
Glaube an den Liberalismus und den sich selbstregulierenden Markt stärker denn je. Daher
auch die Wiederkehr der allgemeinen Annahme, dass wer Arbeit finden will, auch welche
findet. Der Sozialstaat wird vor diesem Hintergrund von der Politik als „zu teuer“ kritisiert
und weiter wird er angeklagt, die „Faulheit“ nur zu fördern, was in den Schlagzeilen um
„Sozialbetrug“ gut zum Ausdruck kommt (vgl. Galuske 2008, S. 13).
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Damit wird bereits angedeutet, wie die Orientierungen des neuen Modells sind. Galuske
(2005, S. 13) reduziert diese auf zwei Punkte: „Mehr Markt und mehr Selbstverantwortung.“
Der aktivierende Sozialstaat setzt prinzipiell auf weniger staatliche Regierung und dafür auf
mehr Markt und Wettbewerb (ebd.). Dieses Prinzip wird auch auf die Bürger und das Sozialsystem übertragen. Die Kosten sozialer Sicherung werden (wieder) privatisiert und der Einzelne soll mehr Selbstverantwortung übernehmen. Der Staat wechselt von „welfare“ zu
„workfare“, vom helfenden zum fördernden. Durch „gezielte Aktivierung“ soll die Lücke, die
durch den Rückzug des Sozialstaates entsteht, gefüllt werden. Die neue Formel lautet: „Fördern und Fordern“ (Galuske 2005, S. 15). „Demnach muss das alleinige Ziel moderner Sozialpolitik sein, den Einzelnen zur Teilnahme und Teilhabe auf den Märkten zu befähigen. Die
Schlüssel dazu sind Bildung und Qualifizierung in ihrer ganzen Palette“ (a.a.O., S. 16, zit.
nach Butterwegge 2007, S. 29).
Die Konsequenzen für die Sozialpädagogik sind erheblich. Der alte Grundsatz, dass sie Hilfe
zur Selbsthilfe leisten soll, lautet heute: „Hilfe zum Wettbewerb“ (a.a.O., S. 18). Die Sozialpädagogik dient als rechte Hand der neoliberalistischen Politik - die Menschen sollen fit
gemacht und den Erfordernissen der Ökonomie angepasst werden. Aber nicht nur ihr Programm, sondern auch sie selbst soll sich der neuen wirtschaftlichen Wettbewerbssituation
anpassen. Das heisst, die Anbieter der Sozialen Arbeit stehen vermehrt zueinander in Konkurrenz. Effiziente Zielerreichung und hierarchische, autoritäre Beziehungen zwischen Helfer
und Hilfesuchendem prägen die Sozialpädagogik (a.a.O., S. 18-21). Das ganze Modell basiert
auf dem blinden Glauben an den liberalistischen Markt und geht von der Annahme aus, dass
die Wirtschaft alle Menschen, die nur wollen, auffangen kann. Dies obwohl zahlreiche Theorien und langfristige Entwicklungstrends stark dagegen sprechen (a.a.O., S. 23/siehe Kapitel
4.1.). Weshalb die momentane Tendenz der Sozialpädagogik die Rolle des „technologischen
Erfüllungsgehilfen“, der neuen Ideologie der Politik unter dem Stern des Wirtschaftsliberalismus, anzunehmen so beunruhigend ist, braucht wohl nicht weiter erläutert zu werden.
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5. Schlusswort
Die „soziale Frage“ ein Begriff, der verschiedenste soziale Problematiken mit derselben
Ursache beschreibt und sich ursprünglich auf die Problemlagen des 19. Jahrhunderts bezog,
feiert sein Comeback: Die „neue soziale Frage“ beschäftigt Europa (siehe Kapitel 1&2).
Liegt die gemeinsame Ursache der sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts im Pauperismus
und der Industrialisierung, so liegt sie heute im durch die Globalisierung angekurbelten Strukturwandel. Beide Jahrhundertwenden sind geprägt von einem rapiden sozialen Wandel. Während es im 19. Jahrhundert die Eisenbahn, die Dampfschifffahrt und der Telegraph sind, die
Handel und Personen- und Informationsaustausch rapide beschleunigen und verbilligen, so
wird das Netzwerk heute durch neue Technologien, wie zum Beispiel das Internet, aber auch
durch internationale Handelsverträge und Abkommen weiter intensiviert (siehe Kapitel
3.1.&4.1.).
Die Herausforderungen im 19. Jahrhundert entstehen aus der Überbevölkerung, der Landflucht und den Entwurzelungsprozessen, die zu Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut,
Kinderarbeit und unmenschlichen Arbeitsbedingungen ohne soziale Absicherung führen. Die
Politik gerät zunehmend unter den Einfluss der wirtschaftlichen Entwicklung. Die entstehenden Klassengegensätze führen zu politischen Konflikten und Aufständen. Zunächst reagiert
der Staat aber nur repressiv. Ziel ist es, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Unterstützt wird
dieses durch die aufkommende wirtschaftsliberalistische Haltung. Bei der Armenpflege geht
es einerseits um Abschreckung und andererseits um schnellstmögliche Wiedereingliederung
in den Produktionsprozess - das Individuum und seine Problemlage spielen nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings führt dieses System zu keiner Lösung: Der Anteil an Hilfsbedürftigen, sowie die Unzufriedenheit steigen stetig (siehe Kapitel 3.3.). Erst mit der Einführung der
Sozialversicherungen durch Bismarck, die den Grundstein für den Wohlfahrtsstaat legen,
bessert sich die Lage. Es ist der Beginn einer Erfolgsstory. Das „sozialpädagogische Jahrhundert“ wird eingeläutet (vgl. Galuske 2005, S. 9). Die Sozialpädagogik ist befreit von der
finanziellen Belastung und kann sich an der Lebenswelt ihrer Adressaten orientieren. Dabei
hat sie ein „doppeltes Mandat“ zu erfüllen. Einerseits muss sie nämlich den Anforderungen
des Staates gerecht werden und andererseits muss sie sich an den individuellen Problemlagen
ihres Klientels orientieren (vgl. Böhnisch/Lösch 1973, S. 27).
Dieses System zeigt gegen Ende des letzten Jahrhunderts immer mehr Risse. Die neue soziale
Frage ist in der Entstehung. Sie beschäftigt sich mit der ansteigenden Arbeitslosigkeitsrate,
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den zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen, den Exklusionsprozessen und der
damit einhergehenden sozialen Unsicherheit (siehe Kapitel 4.3.). Die sozialstaatliche Lösung,
wie sie aus der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts hervor gegangen ist, scheint heute nicht
mehr zu greifen. Der Wohlfahrtsstaat wird durch die Globalisierungsprozesse, zusammen mit
dem Nationalstaat, auf dessen Prämissen er aufbaut, immer mehr geschwächt. Durch die
Besteuerungsproblematik fehlt es an finanziellen Mitteln, durch den internationale Standortwettbewerb verschärfen sich die wirtschaftlichen Bedingungen und die Kongruenz zwischen
Betroffenen und Beteiligten nimmt ab, was sich im drohenden Zerfall des Zusammenhaltes
und der fortschreitenden Entsolidarisierung zeigt. Ausserdem steigt, paradoxerweise, mit dem
Wirtschaftswachstum auch die Arbeitslosigkeitsrate. Und dennoch wird an der Idee des Wirtschaftsliberalismus festgehalten (siehe Kapitel 4.1./4.2.).
Die Reaktion des Staates erinnert an die erste Antwort des Staates auf die soziale Frage im 19.
Jahrhundert - das repressive Modell. Der aktivierende Staat orientiert sich ebenfalls primär an
der Wirtschaft. „Mehr Markt und mehr Selbstverantwortung“ ist das Motto (vgl. Galuske
2005, S. 13) und die Sozialpädagogik hat sich diesem unterzuordnen. Ob dieser Ansatz zu
einer Lösung führt, ist allerdings mehr als fraglich. Denn selbst wenn alle Hilfsbedürftigen
markttauglich wären, so heisst das nicht, dass ihnen der Markt auch die nötige Hilfe anbietet.
Meiner Meinung nach sind der Wohlfahrtsstaat und die Sozialversicherungen, Lösungen auf
die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, in dieser Form nur wenig erfolgsversprechend in
Hinsicht auf die neue soziale Frage. Denn gerade die Risse in diesem System haben ja erst zur
neuen Problematik geführt (siehe Kapitel 4.2.).
Es stellt sich die Frage, was der Staat überhaupt für Möglichkeiten hat, um die Problematik
nachhaltig zu bekämpfen. Aus der Theorie von Habermas geht hervor, dass der Nationalstaat
dermassen geschwächt ist und unter Druck steht, dass er kaum eine Möglichkeit mehr hat, um
den problematischen Entwicklungen entgegenzuwirken (siehe Kapitel 4.2.).
Solange sich die Sozialpädagogik dem Staat unterordnet, wird sie deshalb auch kaum etwas
erreichen können. Es stellt sich natürlich auch die Frage, was sie denn überhaupt erreichen
will: Gibt sie sich mit „Symptombekämpfung“ zufrieden oder will sie nachhaltig etwas verändern? Da das Erste langfristig gesehen wenig Sinn macht, möchte ich nur kurz auf das
Zweite eingehen. Um dies zu erreichen, braucht es einen umgreifenden Paradigmenwechsel.
Die Sozialpädagogik darf sich nicht länger als verlängerten Arm des Staates sehen. Stattdessen so ist der Vorschlag, soll sie sich, nach dem Vorbild von NGOs (Nichtregierungsorganisationen), wie zum Beispiel WWF, vermehrt politisch aktiv zeigen und einen klaren eigenen
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Standpunkt beziehen. Was der Staat an Einfluss und Macht verliert, gewinnen grosse Unternehmen. Diese sind gezwungen immer mehr Verantwortung zu übernehmen und sind dementsprechend auch grossem Legitimitätsdruck ausgesetzt. Beispielhaft sieht man das an den
Umweltproblematiken, wo sich je länger je mehr Unternehmen engagieren (vgl. Scherer
2003, S. 19).
Mein Vorschlag ist, dass die Sozialpädagogik vermehrt als autonomer Akteur handelt und
einerseits versucht mit bedeutenden Unternehmen zusammenzuarbeiten und andererseits mehr
Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit betreibt. Denn schlussendlich liegt es in der Hand der
Unternehmen, fairere Arbeitsbedingungen zu schaffen und angemessen Steuern zu zahlen.
Dies machen sie aber meist erst, wenn der Druck der Öffentlichkeit genug hoch ist. In den
Umweltfragen hat sich gezeigt, dass sich, bei gegebenem Druck, etwas ändert. Für eine Integration und Abschwächung der Entsolidarisierungsprozesse müssen aber, nebst den finanziellen Voraussetzungen, vor allem gesellschaftliche erfüllt sein. Diese können nur durch das
Volk geschaffen werden. Aufklärungsarbeit könnte dabei aber einen entscheidenden Beitrag
leisten.
Diese Ideen müssten noch weiter geprüft und ausgearbeitet werden. Was hat die Sozialpädagogik für Ressourcen? Wie kann sie diese mobilisieren? Wie könnte sie in der Öffentlichkeit
auftreten? Was hat sie für Möglichkeiten, um direkt mit den Unternehmen und Organisationen ins Gespräch zu kommen? Dies wären beispielsweise weiterführende Fragen.
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SM9, Seminar: Die soziale Frage im 21. Jahrhundert
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