Originalartikel lesen - Österreichische Ärztezeitung

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© contrast
Vermutlich jeder fünfte Österreicher leidet
am Reizdarmsyndrom
(RDS), einer funktionellen gastrointestinalen Störung. Bis zu 60
Prozent der Betroffenen leiden an psychischen Störungen.
Im Zentrum der
Therapie stehen
Aufklärung, Beratung
und Begleitung.
Von Gabriele Moser*
Reizdarmsyndrom
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DFP - Literaturstudium
ROM II-Kriterien des Reizdarmsyndroms
Hauptkriterien: Abdominelle Schmerzen während zwölf Wochen (nicht zwangsläufig
konsekutiv) oder länger während der letzten zwölf Monate mit zumindest zwei der folgenden drei Kennzeichen:
1. Vermindert nach der Defäkation
2. Verbunden mit einer Änderung der Stuhlfrequenz
3. Verbunden mit einer Änderung der Stuhlkonsistenz
Krankheitsbild
und Symptome
Funktionelle gastrointestinale Erkrankungen sind durch Symptome definiert, die man nicht als Folge von
strukturellen organischen Veränderungen verstehen kann. Weltweit leiden
sechs bis 25 Prozent der Bevölkerung
an einem RDS. Österreichische Daten
fehlen, die Prävalenz dürfte zwischen
15 und 22 Prozent liegen, wobei Frauen häufiger betroffen sind (60 bis 75
Prozent). Nur rund 20 bis 50 Prozent
der Betroffenen suchen wegen eines
RDS ärztliche Hilfe, welche vor allem
wegen der deutlich verminderten Lebensqualität mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit und des psychischen Leidensdrucks gesucht wird. Eine Definition des RDS wurde in den inzwischen
allgemein anerkannten Rom II-Kriterien versucht, die durch eine internationale Expertengruppe erarbeitet wurden (Tab 1).
Dabei teilt man das RDS in drei
Untergruppen je nach dem vorherrschenden Symptom ein:
1. Diarrhoe-betontes RDS
(> drei Stühle täglich)
2. Obstipations-betontes RDS
(< drei Stühle wöchentlich)
3. Schmerzbetontes RDS
Nicht selten findet man (in zeitlichen Abständen) auch alle drei Formen
bei einem Betroffenen, wobei auch andere funktionelle Störungen wie beispielsweise die funktionelle Dyspepsie
(„Reizmagen“) bei Patienten mit Reizdarm häufiger auftreten können.
Fakultative Kriterien:
1. Änderung der Stuhlform
2. Änderung der Defäkation, Gefühl der inkompletten Entleerung
3. Schleimbeimengung
4. Blähungen
Tab. 1
Klassifikation des Reizdarmsyndroms
nach klinischem Schweregrad
Klinischer Schweregrad
Parameter
FBDSI
Prävalenz [%]
Behandelnde Institution
Symptomkonstanz
Beeinträchtigung täglicher Aktivität
Inanspruchnahme des Gesundheitswesens
Dysfunktionelles Krankheitsverhalten
Psychiatrische Diagnosen
Mild
Mittel
Schwer
<37
70
Primär
+
-
37-110
25
Sekundär
+
+
++
+
+
>110
5
Tertiär
+++
+++
+++
+++
+++
- nicht vorhanden, + wenig, ++ mäßig, +++ stark ausgeprägt.
FBDSI: Functional Bowel Disorders Severity Index
Pathophysiologisches Erklärungsmodell
und Entwicklung in der Forschung
In den Jahren zwischen 1950 und
1980 hat man angenommen, dass vorwiegend Motilitätsstörungen den Beschwerden zugrunde liegen. In den
90er Jahren wurde gezeigt, dass das
ZNS die Schmerzerfahrung durch Modulation der viszeralen afferenten Reize
verändern kann. Umgekehrt wird das
enterische Nervensystem (ENS, auch
„little brain“ genannt) über das ZNS
(zum Beispiel durch Stress) moduliert.
Diese „Brain-Gut-Axis“ wurde insbesonders in den letzten 15 Jahren intensiv erforscht (Abb. 1 und 2).
Patienten mit einem RDS zeigen im
Vergleich zu beschwerdefreien Personen ein gesteigertes viszerales Schmerzempfinden zum Beispiel auf Deh-
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Tab. 2
nungsreize im Darm. Dieses Konzept
der „viszeralen Hypersensitivität“ besagt, dass Betroffene physiologische
Stimuli aus dem Darm im Vergleich zu
beschwerdefreien Personen bereits als
schmerzhaft empfinden. Normalerweise nimmt man nur massive Kontraktionen (zum Beispiel bei einer Gastroenteritis) als Alarmsymptome krampfartig wahr, beim RDS werden auch normale Verdauungsprozesse oder Gasbildung im Darm als unangenehm oder
schmerzhaft empfunden (Abb. 3).
Diese (rein) viszerale Überempfindlichkeit kann durch Ereignisse wie eine
infektiöse Enteritis, psychische (Dis-)
Stress-Situationen, Emotionen wie
Angst, Ärger usw. oder beispielsweise
eine Laktoseintoleranz ausgelöst oder
verstärkt werden. Beim RDS sind 2
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Gesicherte pathophysiologische Mechanismen des RDS
Viszerale Hyperalgesie Psychische Störungen, psychischer Distress, belastende
Lebensereignisse Postenteritisch/Postinfektiös
Tab. 3
Alarmsymptome/Alarmzeichen
Fieber Ungewollter Gewichtsverlust Blut im Stuhl, Anämie Monotones,
aber progredientes Beschwerdebild Beginn jenseits des 50. Lebensjahres
Störung der Nachtruhe durch die Symptome
Tab. 4
Veränderungen des Serotoninstoffwechsels beschrieben, wobei Serotonin
zu 95 Prozent im Magen-Darm-Bereich und nur zu fünf Prozent im ZNS
lokalisiert ist. Serotonin ist sowohl an
der Regulation der Peristaltik, Sekretion und viszeralen Sensitivität als auch
an der zentralen Affektregulation beteiligt.
Psychische Störungen und
chronischer Dis-Stress
Verglichen mit Gesunden leiden
RDS-Patienten häufiger unter psychischen Störungen (bis zu 60 Prozent)
wie Depression, Angst, somatoformen
Störungen, allgemein belastenden Lebenssituationen (chronischer Distress),
posttraumatischen Störungen oder an
chronischen Schmerzen. Personen, die
an RDS laborieren und ärztliche Hilfe
Entwicklung der Forschung
suchen, leiden im Vergleich zu Personen mit Symptomen eines RDS, die
nicht ärztliche Hilfe suchen („non-patients” oder „non-consulters“) häufiger
an psychischen Störungen. Diese sind
auch häufiger im Vergleich zu Patienten mit anderen organischen gastroenterologischen Erkrankungen. Es gibt
Hinweise für eine zentrale Hypervigilanz für gastrointestinale Reize bei
Angststörungen. Das Erleiden sexueller
oder körperlicher Gewalt in Kindheit,
Adoleszenz oder später wird für 20 bis
30 Prozent der IBS-Patienten angegeben, verglichen mit 14 Prozent bei anderen gastrointestinalen Erkrankungen
und zehn Prozent in der Normalbevölkerung.
Der Schweregrad des RDS kann je
nach dem Ausmaß der Beschwerden,
der psychosozialen Belastungen, der
Arbeitsfähigkeit und Inanspruchnahme
von Institutionen/Personen des Gesundheitswesens eingeteilt werden
(Tab. 2).
Postinfektiöses
Reizdarmsyndrom
Eine bakterielle Darminfektion vor
Beginn des RDS wird bei rund zehn
Prozent der RDS-Patienten beschrieben. Psychische Auffälligkeiten (Ängstlichkeit, Hypochondrie, Alltagsstress),
Dauer der Durchfälle, bakterielle Toxine und weibliches Geschlecht sind
nachgewiesene Risikofaktoren für die
Entwicklung eines postinfektiösen
RDS. Das postinfektiöse RDS ist typischerweise durchfallsdominant und hat
eine bessere Prognose.
Ernährungsfaktoren
und Reizdarmsyndrom
Ernährungsfaktoren können die
Symptome des RDS beeinflussen, die
zugrunde liegenden Mechanismen sind
derzeit noch unklar. Vereinzelt finden
sich in der Literatur Hinweise auf eine
mögliche Nahrungsmittelallergie (erhöhte IgG-Antikörper) mit Verminderung der Symptome bei konsequenter
Eliminationsdiät. Die Autoren fordern
aber selbst weitere Studien, bevor diagnostische oder therapeutische Empfehlungen gegeben und Patienten mit
oft kaum durchführbaren Diäten belastet werden. Gesicherte pathophysiologische Mechanismen sind in Tab. 3 angeführt.
Diagnose
Abb. 1
3
Die Österreichische Gesellschaft für
Gastroenterologie und Hepatologie hat
in einer interdisziplinären Arbeits- ❯ österreichische ärztezeitung ❮ 11 ❮ 10. juni 2005
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Differenzialdiagnosen des RDS
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
Laktoseintoleranz
Parasitäre Infektionen
Bakterielle Infektionen
Opportunistische Infektionen (bei HIV)
Malabsorbtion (Zöliakie, Pankreatitis..)
Metabolische Störungen und endokrine
(hormonproduzierende) Tumore
Psychiatrische Erkrankungen
Intestinale Pseudoobstruktion
Andere Dickdamerkrankungen
(Kollagencolitis, mast-cell disease ...)
Medikamtente (z.B Laxantienabusus)
Tab. 5
zent der gesamten Kosten des Gesundheitssystems verursachen. Die direkten Krankheitskosten für das RDS
werden in den USA pro Jahr auf neun
Milliarden US-Dollar, die indirekten
auf 16 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Anamnese
gruppe Leitlinien zur Diagnose
und Therapie des RDS erarbeitet. Wesentlich ist die Diagnose auf Basis der
Symptomatik im Sinn der Erfüllung
der ROM II-Kriterien (symptom-basierte Diagnose). Der gezielte Ausschluss relevanter Differenzialdiagnosen bleibt auf Wesentliches begrenzt
und richtet sich nach möglichen
Alarmsymptomen (Tab. 4).
Das RDS soll nicht als reine Ausschlussdiagnose
(„Durchuntersuchung, bis alles andere ausgeschlossen
werden kann“) verstanden werden.
Eine wiederholte Diagnostik bei
Brain-Gut-Axis
gleich bleibender Symptomatik soll
jedenfalls vermieden werden. Mehrere
Studien haben gezeigt, dass bei einer
adäquaten Erstabklärung weitere Untersuchungen nicht sinnvoll sind.
Dies ist sowohl für die Betroffenen als
auch vom gesundheitsökonomischen
Gesichtspunkt bedeutsam. Aufgrund
des großen Leidensdruckes, mangelnder Betreuung und Unsicherheiten
werden nicht selten (auch von ärztlicher Seite) trotz aufrechter Diagnose
weitere, kostenaufwändige und wenig
sinnvolle Untersuchungen angestrebt
(„doctor shopping”). In den Ländern
der westlichen Welt soll RDS 0,5 Pro-
Erfassen der RDS-Symptome: Konstante oder intermittierende abdominelle Schmerzen stellen das Kardinalsymptom des RDS dar. Eine Diarrhoe
(mehr als drei Stühle pro Tag) ist häufig mit imperativem Stuhlgang verbunden. Diarrhoe und Obstipation können abwechseln, letztere ist häufig mit
dem Gefühl der inkompletten Entleerung, Schleimbeimengungen, Blähungen und einem Distensionsgefühl des
Abdomens verbunden, eine klinische
Objektivierung ist meist nicht möglich.
So genannte „Alarmsymptome/Zeichen“ weisen darauf hin, dass andere
Ursachen den Beschwerden zugrunde
liegen könnten. Diese erfordern eine
weitere Abklärung (Tab. 4).
Die orientierende psychosomatische
Diagnostik beinhaltet empathische (offene) Fragen nach psychosozialen
Belastungen (insbesondere vor Beginn
der Beschwerden) und nach Symptomen einer psychischen Störung wie
zum Beispiel einer Depression oder einer Angsterkrankung. Weiters kann die
Frage nach dem aktuellen Anlass der
Arztkonsultation oder die subjektive
Krankheitstheorie der Patienten Hinweise auf Belastungen oder eine Angststörung (zum Beispiel Kanzerophobie)
geben.
Abb. 2
4
Wichtig ist die Erfassung der psychosozialen Einschränkung der Betroffenen, die sich häufig auf Grund ihrer
Beschwerden zunehmend sozial zurückziehen. Allein dadurch werden
psychische Störungen entwickelt bezie❯ österreichische ärztezeitung ❮ 11 ❮ 10. juni 2005
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DFP - Literaturstudium
hungsweise verstärkt. Zur Identifikation von Triggerfaktoren ist das Führen
eines Symptomtagebuches hilfreich.
Verminderte oder überschießende Zufuhr von Ballaststoffen, eine übermäßige Zufuhr von schwer resorbierbarem
Zucker wie Fruktose, Sorbit oder von
Stimulantien der Peristaltik wie Kaffee
oder Tee können die Symptome eines
RDS auslösen oder verstärken. Daneben können ACE-Hemmer, Beta-Blokker, Antibiotika, Protonenpumpeninhibitoren, SSRIs oder NSARs Diarrhoen
oder abdominelles Unwohlsein auslösen. Kalziumantagonisten, Opiate, Anticholinergika und trizyklische Antidepressiva können zu Obstipation führen.
Körperliche Untersuchung
Die körperliche Untersuchung
schließt eine rektalen Untersuchung
ein, typische körperliche Befunde des
RDS fehlen.
Labor-Basisdiagnostik
Zur Basisdiagnostik zählen Blutbild,
Blutsenkung, CRP und die Stuhluntersuchungen auf okkultes Blut. Vor allem
bei Diarrhoe sind die Bestimmung der
Elektrolyte, des Serum-Albumins, der
Schilddrüsenfunktionsparameter, der
Leber- und Pankreasenzyme, der endomysialen Antikörper sowie Stuhluntersuchungen auf bakterielle und parasitäre Erreger wichtig.
Koloskopie
Empfehlenswert ist eine Koloskopie
mit Biopsie bei Patienten ab dem 40.
Lebensjahr, speziell bei Patienten mit
positiver Familienanamnese bezüglich kolorektaler Karzinome oder chronisch entzündlicher Darmerkrankungen (Morbus
Crohn, Colitis ulcerosa). Bei Verdacht auf
das Vorliegen einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung ist eine Ileokoloskopie auch bei fehlenden systemischen Entzündungszeichen vor dem
40. Lebensjahr indiziert.
Spezielle Diagnostik bei Hinweisen auf
andere Erkrankungen
H2-Atemtest mit Laktosebelastung:
Bei Verdacht auf eine Laktosemalabsorption wird ein H2-Atemtest mit
Laktosebelastung empfohlen. Bei 25
Prozent der Patienten mit RDS liegt
auch eine Laktosemalabsorbtion vor,
wobei zumindest bei einem Teil der Betroffenen durch eine entsprechende
Diät eine Verminderung der Symptome erreicht werden kann.
Viszerale Hypersensitivität
Enteroklysma (Sellink-Passage,
Doppelkontrastuntersuchung des
Dünndarms): Diese wird nur bei Verdacht auf Morbus Crohn des Dünndarms, der im Anfangsstadium mit
dem RDS verwechselt werden kann,
empfohlen.
Defäkogramm, Ano-rektale
Manometrie, Kolontransitzeit: Diese
Untersuchungen sind vor allem bei Patienten mit hartnäckiger Obstipation
zur Diagnose einer Beckenbodendysfunktion, einer Rektozele, eines Anismus oder einer „slow transit constipation“ indiziert. Diese Basisuntersuchung
reicht zum Ausschluss der wichtigsten
Differenzialdiagnose (Tab. 5) aus. Weiterführende Untersuchungen sollten
vor allem in gastroenterologischen Spezialambulanzen erwogen werden.
Prognose
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine
zusätzliche (neue) gastrointestinale Erkrankung bei gleich bleibenden Beschwerden auftritt, ist gleich groß wie
bei gesunden Personen. Die RDS-Beschwerden bleiben lange konstant: 30
Prozent der Patienten sind nach fünf
Jahren unverändert symptomatisch,
nur fünf Prozent werden beschwerdefrei. Hingegen haben durchschnittlich
50 Prozent der Patienten mit postinfektiösem RDS nach sechs Jahren
kaum noch Symptome.
Therapie
Im Zentrum der Therapie steht die
Aufklärung, Beruhigung, Beratung
und Begleitung der Betroffenen. Folgende Schritte und Richtlinien zur Behandlung des RDS wurden in den
USA an der Mayo Clinic erarbeitet
und evaluiert:
Abb. 3
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Etablierung einer vertrauensvollen
Arzt-Patienten-Beziehung, in der die
Sorgen und Ängste der Patienten berücksichtigt werden;
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Stufen der Behandlung
Realistische Ziele setzen (keine Heilung, aber
Symptomminderung).
Je mehr Punkte berücksichtigt werden, desto weniger Arztbesuche
benötigen die Betroffenen. Folgende Behandlungsstufen (Abb. 4) sind
empfehlenswert:
Stufen der
Behandlung
Abb. 4
Ausreichende und einfache Erklärung der viszeralen Hypersensitivität (zum Beispiel mit einer Zeichnung);
Beruhigung und Aufklärung über
das Beschwerdebild (keine „bösartige“
Erkrankung);
Kosten/Nutzen-Analyse bei der Diagnostik;
Einbeziehung der Betroffenen bei
Behandlungsstrategien;
Kontinuierliche und langfristig geplante Betreuung (zum Beispiel regelmäßig vereinbarte Termine alle drei bis
sechs Wochen, dann alle drei bis sechs
Monate);
sen und selbst Modifikationsvorschläge
(Nahrung, Stressreduktion usw.) machen. Dies ist meist der erste (verhaltenstherapeutische) Schritt, Betroffenen selbst Kontrolle über die Beschwerden zu geben und gegebenenfalls einen
Einstieg für psychotherapeutische Methoden zu finden. Im Sinn eines salutogenetischen Ansatzes kann auch das
Augenmerk auf die symptomfreien Tage gerichtet werden, um Anhaltspunkte
zu bekommen, wann und warum die
Beschwerden nicht auftreten.
Symptomtagebuch
Aufklärung/Beruhigung darüber, dass verschiedene Stimuli wie Nahrungsmittel, Hormonveränderungen (Menstruationszyklus) oder
Stress zur Überreaktion des Darmes
führen können. Wichtig ist: Die Beschwerden sind nicht eingebildet, und
es gibt wissenschaftliche Erklärungsmodelle mit messbaren Veränderungen.
Monitoring und Identifikation von
„Triggern”: Führen eines Symptomtagebuchs (Abb. 5) zur Identifikation von
symptomverstärkenden oder -auslösenden Faktoren über rund zwei, bei Frauen (hormonelle Einflüsse) über vier
Wochen. Der Patient soll bestärkt werden, selbst Assoziationen zu beobachten, diese bei der nächsten Visite in circa drei bis sechs Wochen zusammenfas-
Diät- und Lebensstilmodifikation:
Laktose, Koffein, fettreiche Nahrung,
Alkohol, zuckerfreier Kaugummi (Sorbitol), große und/oder gasproduzierende Mahlzeiten, aber auch hastige Nahrungsaufnahme und Essen unter psychisch belastenden Umständen (unter
Zeitdruck oder bei gleichzeitiger Problembesprechung usw.) können Beschwerden verstärken. Eine ballaststoffreiche Kost kann Blähungen verstärken, andererseits kann eine probatorische ballaststoffreiche Kost für Patienten mit Obstipation hilfreich sein.
Psychotherapeutische Maßnahmen
(Abb. 6) zählen zu den wirkungsvollsten Behandlungsmethoden. Es ist
wichtig, dass auch bei Überweisung zu
einer entsprechenden psycho
Symptomtagebuch
Datum / Zeit
Beschreiben Sie Ihre Symptome
z.B.: Bauchkrämpfe
Beschreiben Sie die
die Situation:
Beschreiben Sie, wie
Sie sich fühlten:
Was dachten Sie, und was
haben Sie unternommen?
Wie intensiv waren diese?
(0=gar nicht bis 10=extrem)
Was machten Sie gerade?
Was aßen Sie?
Wer war dabei?
Hatten Sie Ihre Regel?
z.B.: “Habe mich geärgert
über ...
Traurig? Zornig?
z.B.: Entspannung gesucht, ...
Wurde „panisch”
Abb. 5
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Psychotherapeutische Behandlungen
Kognitive Verhaltenstherapie
Symptomtagebuch, Übungen, Änderung von Anpassungsstörungen (Verhalten/Gedanken) mit Besserung der Symptomkontrolle
Interpersonelle psychodynamische Psychotherapie
Identifikation und Verarbeitung von Beziehungsschwierigkeiten
Hypnose („Gut focussed Hypnotherapy”)
Entspannung mit Suggestion zur Reduktion von abdominellen Empfindungen
Entspannungstechniken
Muskuläre und psychische Entspannung zur Reduktion von autonomen Reaktionen
Abb. 6
somatischen beziehungsweise psychotherapeutischen Behandlung (psychosomatische Spezialeinrichtungen,
niedergelassene Psychotherapeuten) die
primäre Betreuung beim zuweisenden
Arzt weitergeführt wird. Realistische
Ziele sind wesentlich: Verminderung
der körperlichen sowie psychischen
Symptome, eine Reduktion von Stress
und eine deutliche Besserung der Lebensqualität durch Kontrolle über die
Symptome sind erreichbar. In mehreren
Studien sind verschiedene Therapiemethoden beim RDS erfolgreich eingesetzt
worden, wobei keine Psychotherapiemethode einer anderen wesentlich überlegen zu sein scheint und auch Kombinationstherapien erfolgreich waren.
Psychotherapeutische
Methoden
In den meisten randomisiert-kontrollierten Studien wurde bei schwerem
RDS Psychotherapie mit „herkömmlichen“ (symptomatisch-medikamentösen) Behandlungen verglichen, dabei
zeigte die Psychotherapie auch in den
Langzeitnachuntersuchungen einen
deutlich besseren Erfolg.
Manchester entwickelt. In wissenschaftlichen Studien konnte mit standardisierten Methoden nachgewiesen
werden, dass sich gastrointestinale
Funktionen und die viszeraler Hypersensitivität unter dem Einfluss von
Hypnose verändern beziehungsweise
normalisieren.
Die „gut-directed-Hypnose” bringt
auch eindrucksvolle Langzeiterfolge
bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie. Wissenschaftliche Studien
zeigten, dass zwölf Sitzungen mit
Hypnose zu je einer Stunde pro Woche ausreichen. Allerdings werden an
der Hypnose-unit der Gastroenterologischen Abteilung in Manchester auch
integrierte psychotherapeutische Gespräche im Rahmen dieser Sitzungen
gewährleistet (im Sinne einer Hypnotherapie).
Pharmakotherapie sollte lediglich
bei Bedarf und symptomorientiert für
das prädominante Symptom verordnet
werden. Die Placeboansprechrate bei
Patienten ist allgemein sehr hoch (bis
zu 80 Prozent). In der Praxis werden
hauptsächlich Spasmolytika und anticholinergische Substanzen, Antidiarrhoika, Laxantien, Prokinetika oder
Antiemetika eingesetzt. In einer Metaanalyse wurden für das Reizdarmsyndrom fünf Substanzen effektiver als
Placebo eingestuft: Cimetropiumbromid, Pinaveriumbromid, Octyloniumbromid, Trimebutin und Mebeverin
(diese als regelmäßige Therapie, siehe
Abb. 7).
Symptomorientierte
Pharmakotherapie
In allen internationalen Übersichtsarbeiten und Metaanalysen wird der
Einsatz von (niedrig dosierten) Antidepressiva (Amitryptilin, Paroxetin…)
vor allem bei Patienten mit mittelschweren und schweren Schmerzzuständen und bei therapierefraktären
Fällen empfohlen. Wichtig ist die Erklärung, dass die Therapie zur Änderung der Schmerzschwelle empfohlen
und nicht primär zur antidepressiven
Behandlung gegeben wird. Weiters
Symptomorientierte Pharmakotherapie
„Gut-directed”
Hypnotherapie
Der Einsatz einer spezifisch auf den
Bauch („gut-directed”) gerichteten
Hypnose zur Behandlung des Reizarmsyndroms wurde erfolgreich in
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Abb. 7
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DFP - Literaturstudium
Fallstricke der Arzt-Patient-Beziehung
müssen die Patienten aufgeklärt werden, dass Nebenwirkungen in den ersten drei Wochen stärker sein können
und die eigentliche Wirkung erst ab
der dritten Behandlungswoche zu erwarten ist. Viele Patienten setzen aus
Unkenntnis dieser Tatsache die Medikation vorzeitig ab. Antidepressiva sollten beim RDS drei bis zwölf Monate
eingenommen werden. Dann kann
versucht werden, diese wieder auszuschleichen.
Die Arbeitsgruppe der US-amerikanischen gastroenterologischen Gesellschaft empfiehlt aufgrund der Evidenz
in der Literatur (evidence based medicine) die Psychotherapie bei allen Formen des RDS und trizyklische Antidepressiva bei der schmerzdominanten
Form des RDS. Kurzpsychotherapien
konnten jedenfalls als die kostengünstigsten und wirksamsten Behandlungen im Vergleich zu allen anderen oben
angeführten Methoden nachgewiesen
werden.
Die Wirksamkeit von Phytotherapeutika, oberflächenaktiven Substanzen und Bakterienpräparaten beim
RDS ist wissenschafltich noch nicht
ausreichend untersucht, die Evidenz
der Wirksamkeit muss derzeit mit „unsicher“ angegeben werden. Eine Anwendung dieser Substanzen kann
(noch) nicht empfohlen werden.
Die von der US-amerikanischen
gastroenterologischen
Gesellschaft
empfohlenen neuen Substanzen, der 5
HT4-Rezeptoragonist Tegaserod zur
Behandlung
von Patientinnen mit obstipat io n s d o minanter Form des
Abb. 8
RDS, und der 5
HT3-Rezeptorantagonist Alosetron für Frauen mit der diarrhödominanten Form des RDS, sind in Österreich und Deutschland nicht zugelassen.
Fallgruben bei
Diagnose und Therapie
RDS bei chronisch entzündlichen
Darmerkrankungen (CED): 40 Prozent der Patienten mit CED in Remission leiden gleichzeitig unter Symptomen eines RDS, was bei der Behandlung dieser Patienten berücksichtigt
werden muss.
Laktoseintoleranz: Manchmal wird eine Laktoseintoleranz als Ursache der
Beschwerden vermutet und auch diagnostiziert, ohne dass sich dann bei einer entsprechenden Diät eine Minderung der RDS-Symptomatik einstellt.
In diesem Fall muss angenommen werden, dass sich ein RDS bei einer Laktosemalabsorbtion entwickelt hat und
unabhängig von dieser die viszerale
Hypersensitivität weiterbesteht.
Antibiotika-assoziierte Diarrhoen:
Nach Antibiotikagabe tritt häufig
Durchfall auf. Eine pseudomembranöse Colitis kann mit dem Nachweis von
C. difficile toxin im Stuhl und durch
die Endoskopie verifiziert werden.
Seltene Erkrankungen, die nur bei
weiteren Hinweisen abgeklärt werden
sollten: Gallensalzmalabsorbtion, Hormon-induzierte Diarrhoen (Carcinoid,
Gastrinom, Vipom...), eine Endometriose, Mastozytose, intestinale Pseud-
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obstruktion, Hirschsprung'sche Erkrankung oder eine akut intermittierende Porphyrie sind selten in Betracht
zu ziehen. Pilzbefall des Darms ist nur
bei Immundefizienz (HIV-Infektion
usw.) anzunehmen, Pilze in Stuhlproben finden sich normalerweise auch bei
Gesunden.
Fallstricke einer „gestörten ArztPatienten-Kommunikation“
Die schwierigste Aufgabe für nicht
psychosomatisch geschulte Ärzte ist die
empathische und längerfristige Betreuung von Patienten mit Reizdarmsyndrom (beziehungsweise auch anderen
funktionellen Störungen). Insofern
kann eine gestörte Kommunikation/Beziehung in der ärztlichen Praxis
einer Minderung der Beschwerden entgegenwirken (Abb. 8) und die Hilflosigkeit der Betroffenen (und manchmal
auch der Betreuenden) verstärken. Eine psychosomatische Zusatzausbildung
ist empfehlenswert, um diese Patienten
professionell zu betreuen und das gesteigerte Hilfesuchen („doctor shopping“) der Betroffenen bei verschiedenen Ärzten und Institutionen (health
care seaking) zu verhindern.
*) Univ. Prof. Dr. Gabriele Moser,
Universitätsklinik für Innere Medizin IV/AKH
Wien, Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien; Tel.
01/40 400/47 41; Fax-DW: 47 35, e-mail:
[email protected]
Lecture Board: Univ. Prof. Dr. Harald
Vogelsang, Universitätsklinik für Innere Medizin
IV/AKH Wien, Univ. Prof. Dr. Herbert Tilg,
Krankenhaus Hall in Tirol, Univ. Prof. Dr. Heinz
Hammer, Universitätsklink Graz
Herausgeber: Univ. Klinik für Innere Medizin IV ,
Medizinische Universität Wien
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