7. Ausgabe - Die Staatstheater Stuttgart

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Reihe 5
Das Magazin der Staatstheater Stuttgart
Oper Stuttgart / Stuttgarter Ballett / Schauspiel Stuttgart
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Nr. 7 März – Mai 2017
EDITORIAL
SCHWERPUNKT
REISEN
Hinsetzen, festhalten,
abheben, loslegen!
Ein Heft für alle Sesselpiraten, Egotouristen,
Lehnstuhlentdecker.
Ein Heft über die große
weite Welt, die sich
öffnet, sobald wir aus
unseren Leben aussteigen – und in das Leben
anderer einsteigen
Stell dein Weltbild auf den Kopf! Auch Erinnerungsfotos kann man ganz anders
­betrachten, wenn der Künstler Max Kersting sie beschriftet hat
Im Theater werden fremde Erfahrungen
in etwas Eigenes verwandelt, das zweifeln macht,
glücklich oder traurig Carolin Emcke (Seite 20)
www.porsche.de/SocialResponsibility
Porsche ist stolz auf die erfolgreiche Partnerschaft mit dem Stuttgarter
Ballett und wünscht Ihnen viel Vergnügen in der aktuellen Spielzeit.
Kraftstoffverbrauch (in l/100 km) innerorts 12,6–10,4 · außerorts 6,8–6,7 · kombiniert 9,0–8,0; CO2-Emissionen kombiniert 208–184 g/km
Titelmotiv: Carolin Löbbert Foto: Max Kersting (aus dem Buch Drei unbeschwerte Tage )
Noch immer das schönste Duett:
gemeinsam Höchstleistungen vollbringen.
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Reisen macht Spaß, und es bildet; selbst
wenn wir kein Flugticket in den Händen
halten, sondern eines für Schauspiel, Oper
oder Ballett. Die Künste sind wie Veranstalter, die uns an fremde Orte entführen
und die Welt durch die Augen anderer
Menschen erleben lassen. Dabei staunen
wir, leiden mit, steigen auf, stürzen ab. Das
ist mal betörend, mal verstörend, mal ist
es versichernd, dann wieder verunsichernd.
Aber immer bereichern uns diese Touren,
denn sie erweitern unseren Horizont.
Während wir mehr oder weniger fest
auf unseren vier Buchstaben sitzen, heben
wir innerlich ab und erforschen, was ist,
was geht und was kommt. Wir erkunden
unsere Denk-, Fühl-, ­Handlungs- und
Möglichkeitsräume. Das gilt für jeden ganz
persönlich. Und das gilt für uns alle,
als Gesellschaft.
Wie andere Künste auch kartieren
Schauspiel, Oper und Ballett ständig unsere
Gegenwart, setzen und verschieben
Grenzen. Und wir? Gehen mit, erleben
Spannungen, erleben Ent-Spannung
(oder auch nicht) und gehen auf Studien­
reise durch unsere Empfindungen.
In diesem Heft bereisen wir die Karte
der Möglichkeiten. Wir zeigen Orte, an die
uns Autoren, Schauspieler, Regisseure,
Choreographen, Tänzer, Sänger und Musiker
führen. Und wohin diese Menschen gehen,
wenn sie Inspiration suchen; wir erzählen
von Rückzugs- und Sehnsuchtsorten.
Dieses Heft ist ein Plädoyer für das
Reisen. Wir glauben nämlich, dass uns ein
großes Stück Menschlichkeit ­verloren
geht, wenn wir aufhören, uns zu bewegen
und bewegen zu lassen.
Steigen Sie ein, nehmen Sie Platz,
gehen Sie mit uns auf die Reise!
Die Staatstheater Stuttgart
3
INHALT
28
44
12
Junge Seite
Was eine Bühnenbildnerin alles
aus Knete bastelt
Jetzt kommt’s
Ein Hornist erzählt, welche
Stelle an dem Lied Still
Falls the Rain ihn berührt
3
Eine neue
Zeit bricht an
Editorial
So ging es zu in
einem Londoner Kaffeehaus des 18. Jahrhunderts. Menschen aus
ganz Europa strömten
damals in die Stadt,
das Bürgertum entdeckte
die Freiheit und die
Oper den Kapitalismus.
Eine Zeitreise
FOYER
6
Bilder
12
Momente
13
Das Requisit
14
Mein Weg
Sie kam mit vierzehn allein nach Stuttgart:
Agnes Su ist die lässige Kalifornierin
in der Compagnie des Stuttgarter Balletts
16 Auch Eugen Jebeleanu verließ seine
Heimat. Kultur-Kollisionen gehören zum
Repertoire des rumänischen Regisseurs
Karte der Sehnsüchte
Wir zeichnen das Leben als Landschaft und
die Stücke der Spielzeit als (Alb)traumziele
20
Schule der Gefühle
Journalistin Carolin Emcke empfiehlt zur
Erweiterung des persönlichen, emotionalen
Horizonts: regelmäßige Theaterbesuche
22
26
26
Heimkehr in
die Fremde
Mitten daneben stehen
Wenn die Heimkehr uns zu Fremden macht:
eine Kurzgeschichte von Kat Kaufmann
Kat Kaufmann über
den Kulturschock beim
Nachhausekommen
28
Obskure Orte,
an die uns Oper,
Schauspiel und
Ballett entführen
Sein Himmel: Aldeburgh
In einem englischen Küstendorf fand Komponist Benjamin Britten sein Glück. Hier
schuf er auch seine letzte Oper Der Tod in
Venedig, nach Thomas Manns Novelle
18
Welche
Stadt
ist dies?
Breaking Barock
London, wie es der Komponist Georg
Friedrich Händel erlebt haben muss
30
4
Hinter den Fassaden
Wie Martin Walsers erster Roman
Stuttgarts gute Gesellschaft vorführte
35
Eine Hölle namens Venedig
Regisseur und Choreograph Demis Volpi
erzählt, was ihn an Brittens Oper fasziniert
36
Ein Mann, zwei Welten
Louis Stiens tanzt klassisches Ballett
und tobt sich in Electro-Klubs aus
Fotos: Kat Kaufmann; Peter Palec; Andreas Labes
18
Illustration: Andi Meier; Carolin Löbbert; Stich von William Hogarth, Lebrecht Music and Arts Photo Library/Alamy Stock Foto
BÜHNE: REISEN
BACKSTAGE
40
Kantinengespräch
Franziska Walser und Felix Klare über den
Unterschied zwischen Film und Theater
41
In der Probe
Was eine Zuschauerin bei der Probe des
Stuttgarter Balletts erlebte
42
Mein Arbeitsplatz
Schön vorsichtig! Orchesterwart Ralf Kühner
trägt Instrumente und Verantwortung
42
Abgeschminkt
Es muss wehtun: Pablo von Sternenfels
erzählt, wie er den Heldentod tanzt
43
Infografik
Alles andere als schädlich: wie Parasiten
unsere Ökosysteme am Laufen halten
44
Junge Seite
Für große und kleine Leser, Rätsellöser
und Kinder, die zum Opernchor wollen
46
36
Nacht­
wanderer
Für sein neues Stück
streifte Choreograph Louis Stiens
im Dunklen
durch Stuttgart
20
Gegen
den Hass
Carolin Emcke
kennt sich mit dem
Gegenteil von Liebe
aus. Im Interview
erklärt sie, wie man
Toleranz trainiert.
Und welchen Anteil
Bühnen haben
Was war da los?
Ein Foto und seine Geschichte
5
FOYER
FOYER
Olifant heißt solch ein Horn aus
Elfenbein. Ritter Roland blies es,
dem Tode nah, um Rettung zu
holen. So berichtet das Heldenepos
Orlando furioso – die Geschichte
voller Abenteuer und Liebeswahn
inspiriert seit 500 Jahren Künstler
in ganz Europa. Händel schuf
daraus seine Oper Ariodante (Premiere am 5. März im Opernhaus).
Einen verspielten Abend mit Musik
und Lesungen aus dem furiosen
Text gibt es im Spielraum Oper am
9. März im Kammertheater
6
7
Foto: picture alliance/akg
Epische Länge
FOYER
Foto: Hugo Jehle/SWR Historisches Archiv
The King of Less
Er war oft in Stuttgart, sogar
eine Rentner-Dauerkarte für die
Bundesgartenschau besaß der
leidenschaftliche Spaziergänger.
Von 1966 bis 1986 kam Samuel
Beckett (5. v. r.) regelmäßig hierher,
um mit den experimentierfreudigen Redakteuren des SDR minutiös komponierte TV-Avantgarde
zu produzieren. Die gleiche zeitlose wie irritierende Konzentra­
tion zeichnet sein Endzeitdrama
Glückliche Tage aus; Premiere
am 3. März im Kammertheater
8
9
FOYER
Foto: Roman Novitzky
Schwer begehrt
Diese Hände gehören zu Jason
Reilly, Erster Solist und Kammertänzer beim Stuttgarter Ballett.
Bei den Ballerinen ist er der
­gefragteste Tanzpartner der Compagnie, denn keiner hält, trägt,
wirft und fängt so sicher wie er. In
einer normalen Arbeitswoche,
in der hebungsreiche Handlungs­
ballette wie Onegin, Othello oder
Romeo und Julia geprobt werden,
stemmen diese Hände durchschnittlich neunzig Tonnen, das
macht: achtzehn Tonnen am Tag
10
11
FOYER
JETZT KOMMT’S!
Es gibt Momente, da wird es noch stiller
im Saal. Menschen an den Staatstheatern Stuttgart
und ihre Lieblingsszenen
AMELIE HALLER (12),
Schülerin aus Stuttgart, fragt:
ISABELLE GRUPP (41),
Leiterin der Statisterie beim
Schauspiel Stuttgart, antwortet:
Du hast recht: In vielen
­Stücken stehen Erwachsene
auf der Bühne und spielen
Kinder. Bei uns werden zum
Beispiel Pünktchen und
Anton oder die Räubertochter
Ronja von Schauspielern
dargestellt, die Mitte zwanzig
sind und Anfang dreißig.
Schauspieler am Theater ist
eben ein richtiger Vollzeitjob:
Man muss, gerade für große
Hauptrollen, viel Text auswendig lernen und sich gleichzeitig merken, was man auf
der Bühne tun soll. Das wird
wochenlang jeden Tag mit den
Kollegen geübt. Kinder haben
dafür zu wenig Zeit, weil sie, so
wie du, zur Schule gehen.
Außerdem gibt es ein Jugendschutzgesetz, das regelt, wie
viel Kinder arbeiten dürfen: nur
ein paar Stunden pro Woche.
Für kleinere ­Rollen, die nicht so
viel Vorbereitung brauchen,
engagieren wir aber möglichst
oft Kinder. Denn wer spielt ein
Kind schon besser als ein Kind?
Das Protokoll führte Christoph
Kolossa. Wenn Sie auch
eine Frage haben, dann schreiben
Sie uns eine E-Mail an
[email protected]
12
Hoffnung
Still Falls the Rain von Benjamin Britten »Dieses Lied für Tenor, Horn und Klavier ist
ein Klagegesang, mit dem Britten der Opfer
der deutschen Luftangriffe auf London
1940/41 gedenkt. Zunächst wechsle ich
mich mit dem Tenor Stuart Jackson ab,
zum Schluss vereinigen sich die Stimmen
und gehen auf in etwas Neuem – genau
an der Stelle, an der die Stimme Gottes
erklingt und von der Liebe zu uns Menschen
spricht. Nach allem Dunkel ein ungeheurer
Moment der Ruhe und des Trostes.«
REIMER KÜHN ist Solo-Hornist des
Staatsorchesters Stuttgart. Brittens
Lied spielt er beim 6. Kammerkonzert
am 26. April in der Liederhalle
Gänsehaut
La Bayadère, 3. Akt, 2. Bild »Die Szene
Königreich der Schatten ist umwerfend!
Wenn das Corps de ballet in weißen Tutus
nacheinander auf die Bühne kommt
und sich synchron wie ein einziger Körper
bewegt, da bekommen die Zuschauer
Gänsehaut. Aber auch die Leidenschaft
des letzten Solos von Nikija, der Hauptrolle, kurz bevor sie stirbt, ist sehr beeindruckend und ergreifend. Und die Musik
ist wunderschön.«
Unheimlich dekadent
ELISA BADENES ist Erste Solistin
beim Stuttgarter Ballett. Mit
La Bayadère gastiert das Tokyo Ballet
vom 7. bis 9. April im Opernhaus
Steil, steil aufwärts,
durch alle Sphären stößt du,
bis zu den Sternen
Fliegen
E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen, ab Minute 10 »Wenn
Salomon Idler vom Fliegen träumt und
sich vorstellt, wie er als Vogel durch die Luft
jagt, dann wird das Publikum ganz still.
Manuel Harder spricht den Monolog dieses
Schusters aus dem 17. Jahrhundert so
mitreißend, dass er total plausibel klingt.
Das ist einer der schönsten Momente
des Stücks, weil man in der Stille spürt,
dass jeder gerade seinen eigenen Wünschen
hinterherträumt.«
SUSANNE SCHIEFFER gehört zum
Ensemble des Schauspiels Stuttgart.
Im Sammelsurium spielt sie Salomon
Idlers bodenständige Ehefrau
Fotos: Christoph Kolossa; Sebastian Klein; Kiyonori Hasegawa; Roman Novitzky; Florian Schellhorn; Annette Cardinale
Warum
werden Kinder
im Theater von
Erwachsenen
gespielt?
Das Requisit Als das vollendet war,
was Kirill Serebrennikov sich Wochen
vorher ausgemalt hatte, legte er
sich bäuchlings auf den Teppich vor
den Büros der Stuttgarter Oper.
Mit seinem Smartphone schoss er ein
paar Fotos und veröffentlichte sie
auf seiner Facebook-Seite. So glücklich war er über den kristallbesetzten
Totenkopf mit Mickymaus-Ohren: ein
Paradox, ganz nach dem Geschmack
des Regisseurs.
Das böse Funkeln des Requisits
markiert einen Wendepunkt in ­Richard
Strauss’ Oper Salome. Herodes
bittet seine Stieftochter Salome, für
ihn zu tanzen, und verspricht, ihr
jeden Wunsch zu erfüllen. Der Vater
erwartet etwas von dem üblichen
Luxus, mit dem er sein Kind zum
»material girl« verwöhnt hat. Doch
sie? Setzt die Maske auf und fordert
den Kopf des Jochanaan, eines
­Mannes, den sie begehrt, der sie aber
in seinem religiösen Eifer zurückweist. Serebrennikov, 47 Jahre alt und
einer der aufregendsten Regisseure
der russischen Theater- und Opernszene, hat Salome als Sittengemälde
einer Familie angelegt, die jedes
Gefühl verloren hat – nur nicht die
Lust auf Dekadenz.
Inspiration für das Sinnbild dieser
sinnentleerten Gier fand er in dem
von Diamanten überzogenen Schädel
aus Platin, den der Brite Damien
Hirst vor zehn Jahren geschaffen und
für 75 Millionen Euro verkauft hat.
Die Arbeit gilt als teuerstes Werk eines
lebenden Künstlers. Die einen sahen
in ihr die Maßlosigkeit eines Kunststars, andere ein geniales Spiegelbild
der Gegenwart.
Serebrennikovs Idee haben die
Maskenbildner Astrid Schikorra und
Jürgen Siegert realisiert. Er formte
den Kunststoffkopf, sie besetzte ihn
in einer Woche Feinarbeit mit
Swarovski-Steinen. Solch aufwendige
Requisiten entstehen nur selten in
ihren Händen, in diesem Fall schaute
der Regisseur sogar täglich vorbei.
»Das hat man auch nicht oft«, erzählt
Schikorra. »Er hat bei jedem Stein
geguckt, wo er am besten sitzt.« Am
Ende war sie genauso zufrieden
wie der Regisseur. Kai Schächtele
SALOME
von Richard Strauss
ab 26. März im Opernhaus
13
FOYER
AGNES SU (20)
im Stuttgarter
Café Academie
der schönsten
Künste. 2010
kam sie als
Ballettschülerin
an die John
Cranko Schule
nach Stuttgart.
Anfang dieses
Jahres wurde sie
zur Halbsolistin
befördert
Meisterwerke aus
der Sammlung
Arthur und Hedy
Hahnloser-Bühler
MEIN WEG
Abbildung: Édouard Manet, Amazone (Ausschnitt), 1883, Hahnloser/Jaeggli Stiftung Winterthur © Reto Pedrini, Zürich | Gestaltung: KMS TEAM, München
Angekommen
Agnes Su zog mit vierzehn Jahren allein von Orange County/USA nach
­Stuttgart. Ihre kalifornische Lässigkeit hat sie sich bis heute erhalten
14
Dennoch war der Anfang in Stuttgart nicht leicht; im
Internat der John Cranko Schule war sie die einzige Amerikanerin ihres Jahrgangs. Fuhren die anderen Schüler
zu ihren Familien, blieb sie oft allein. »So wurde ich zu
einer guten Beobachterin. Wenn ich nichts zu tun hatte,
studierte ich die Menschen in meiner Umgebung.« Heute
greift die Zwanzigjährige gern zu Pinsel und Ölfarbe, um
zu malen, sie schaut sich Ausstellungen an und genießt
es, in Stuttgart alles zu Fuß zu erledigen.
Nach dem Diplom bekam Su sofort einen Platz in der
Compagnie. Seit ein paar Wochen übernimmt sie als
Halbsolistin Solorollen. Den Zuschauern prägt sie sich
vor allem als moderne Tänzerin ein. Ungemein lässig
und zugleich auf Zack, gibt sie den Stücken zeitgenössischer Choreographen eine eigene Note. »Im modernen
Tanz ist man so schön geerdet«, sagt sie. Inzwischen
meistert sie auch pure Klassik, etwa als traumschöne
Königin der Dryaden in Don Quijote. Ihre Vielseitigkeit
ist das beste Startkapital auf dem Weg nach oben – den
Su sicher ganz gelassen gehen wird. Julia Lutzeyer
BALLETTABEND NACHTSTÜCKE
ab 24. März im Schauspielhaus
1996
Newport Beach
USA
2010
Stuttgart
Deutschland
Foto: Roman Novitzky
E
in schönes Haus mit Pool, zwei Hunde, ein sonniges Klima und der Pazifik gleich vor der Tür:
»Ich bin in einem Paradies aufgewachsen«, sagt
Agnes Su. »Das wurde mir erst bewusst, als ich Süd­
kalifornien verließ.« Die unbeschwerten Jahre in ihrer
Geburtsstadt Newport Beach haben sie geprägt. »Ich bin
eine gelassene Person, Hektik mag ich nicht.«
Bewegung allerdings sehr wohl. Als Kind wirbelte sie
singend zur Musik umher, also schickte ihre Mutter sie
mit acht Jahren zum Tanzunterricht. Su lernte Ballett,
Modern Dance, Stepp- und Jazztanz, und ihre Lehrer
erkannten: Der Wildfang hat Talent. Bald wechselte sie
auf die Akademie in der Nachbarstadt, bei internationalen Wettbewerben bot man ihr Stipendien an. »Die
Entscheidung für die John Cranko Schule und damit für
Stuttgart lag nahe«, sagt sie. »Unterrichtsfächer und Repertoire passten perfekt zu meiner Ausbildung.« Nur hieß
das für die damals Vierzehnjährige, um die halbe Welt
zu ziehen. Mobil zu sein, Chancen zu nutzen, wo immer
sie liegen, das hatten die Eltern ihr vorgelebt. Sie waren
über Frankreich und Kanada nach Kalifornien gezogen,
»weil es dort die besten Schulen für uns gab«, sagt Su.
3.2.
bis 18.6.
2017
BONNARD
CÉZANNE
MANET
VALLOTTON
VAN GOGH
FOYER
EUGEN
­JEBELEANU (28)
inszeniert
Fassbinders
Katzelmacher
mit jungen
Schauspielern
in der Spiel­
stätte Nord
MEIN WEG
Er geht fremd
Um sein Leben zu leben,
verließ Eugen Jebeleanu
seine Heimat Rumänien.
Seitdem gehört der
Clash der Kulturen zum
Material des Regisseurs
17.
19.
LIEDERHALLE
1989
Temeswar
Rumänien
2007
Bukarest
16
Gleichgesinnte und legte los. Schon 2010 gründete er
seine eigene Kompanie. Die hat ihr Zuhause in Bukarest, tourt aber oft durch Frankreich: »So verbinden wir
die Regionen, wir lassen die Werke der einen durch die
Kultur der anderen zirkulieren.«
Aus der neuen Freiheit und der Arbeit mit seiner Truppe wuchs der Wunsch, Regie zu führen, und so machte er
seinen Master in Paris. Dort liegt heute sein Lebensmittelpunkt – und das Zuhause seiner zweiten Kompanie.
Jebeleanus Stücke erzählen von Außenseitern und
Antihelden, von Orten und ihren sozialen Spielregeln.
Elle est un bon garçon (»Sie ist ein guter Junge«) etwa
handelt von einer rumänischen Transfrau und ihren
Nachbarn im Dorf. »Die sind offener als manche Leute
in den Metropolen, die das Stück anschauen.«
Nun also Deutschland und Fassbinder, den ­Jebeleanu
für seine aufwühlenden Dramen bewundert. An Katzel­
macher gefällt ihm, dass es weder gute noch böse
­Charaktere gibt. »Die Figuren sind mal Täter und mal
Opfer, das ist doch viel interessanter.« Kirsten Gleinig
KATZELMACHER von Rainer Werner Fassbinder
Premiere am 7. April im Nord
2012
Bukarest
Rumänien
2014
Paris
Frankreich
2017
Stuttgart
Deutschland
MÄRZ
Foto: Vlad Bîrdu
I
ch mag die Mischung der Menschen«, sagt ­Eugen
Jebeleanu nach seinem ersten Spaziergang durch
Stuttgarts Straßen. »Die Atmosphäre ist sehr europäisch, wie eine Kreuzung aus Paris und Bukarest.« Zwischen den beiden Städten pendelt der junge Regisseur
seit Jahren, er liebt das Wechselbad der Kulturen.
Deutschland hat er nie zuvor besucht, jetzt inszeniert er
am Schauspiel Stuttgart Rainer Werner Fassbinders
­Katzelmacher, ein Stück über die 60er-Jahre, über Liebe,
Langeweile und Gewalt, das wie ein Echo in der heutigen Flüchtlingskrise hallt. Jebeleanu war von dem Projekt sofort angefixt. Das Fremde ist sein großes Thema,
er will verstehen, was passiert, wenn ein Fremder in
unsere Mitte tritt. Warum so viele Menschen mit Angst
oder Hass reagieren.
Um in seiner Arbeit solche Fragen zu stellen, verließ Jebeleanu Rumänien 2009 bald nach dem Schauspielstudium. Die Theater seiner Heimat waren ihm zu
staatstragend, er träumte von unabhängigen, politisch
engagierten Projekten. Seine Chance sah er in Frankreichs Theaterlandschaft mit ihren vielen freien Kompanien. Bei einem Praktikum in Paris fand er schnell
2010
Paris
Frankreich
GU T E S D E S I G N K AU F E N
WWW.B L IC KFANG.CO M
BÜHNE
11
Was Sie für
diese Reisen brauchen?
Eintrittskarten!
9
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OPER
STUTTGART
1 Ariodante
2 Benjamin Britten
3 British Phantasies
(6. Kammerkonzert)
4 Così fan tutte
5 Figaros Hochzeit
6 Giuseppe Verdi
7 G. F. Händel
8 Junge Oper
9 Meine drei Tenöre
(4. Liedkonzert)
10Nabucco
11 Peter Tschaikowsky
12Salome
13Seelenlandschaften
(4. Sinfoniekonzert)
14 Der Tod in Venedig
15 W. A. Mozart
16 Zerrissener Wanderer
(6. Sinfoniekonzert)
STUTTGARTER
BALLETT
17 Noverre-Gesellschaft: Junge Choreographen
18Bolero
19 Dark Glow
20 Don Quijote
21 Falling Angels
22Faun
23 John Cranko
24Krabat
25 La Bayadère
26 Le Spectre de la Rose
27Nachtstücke
28 Romeo und Julia
29 Sergej Prokofiev
30 Ssss …
31 Maurice Béjart
32Der Tod in Venedig
SCHAUSPIEL
STUTTGART
33 Anton Tschechow
34 Der Kirschgarten
35 Ehen in Philippsburg
36 Glückliche Tage
37 Kasimir und Karoline
38Katzelmacher
39 Martin Walser
40 Ödön von Horváth
41Parasiten
42 Rainer Werner
Fassbinder
43 Samuel Beckett
44 Nordlabor
Alle Infos zur aktuellen
Spielzeit finden Sie unter:
staatstheater-stuttgart.de
18
29
6
43
ILLUSTRATION: CAROLIN LÖBBERT
12
23
16
Würde man das Leben als Landkarte zeichnen,
gäbe es wohl viele Orte, an denen manche Menschen zu
oft, andere zu selten und viele noch nie waren.
Zum Glück gibt es Schauspiel, Oper und Ballett, die
uns entführen, verführen – und bewegen
19
15
7
19
39
BÜHNE
Die Journalistin hat ein Buch über den Hass geschrieben
und somit auch eines über sein Gegenteil. Sie empfiehlt,
das Leben immer wieder durch fremde Augen zu erleben
INTERVIEW: RALF GRAUEL
Carolin Emcke, wird die Welt besser?
Oder wird sie schlechter?
Die Frage stelle ich mir nie. Die Welt ist
eben unsere. Und dazu gehört das Finstere,
Schwere und das Beglückende auch. Ich versuche, aufmerksam und dankbar zu bleiben
für das, was einem geschenkt wird. Und auf
das Ungerechte oder Unerträgliche einzuwirken, so gut es eben geht.
Was hat sich mit dem Anschlag auf den
Berliner Weihnachtsmarkt verändert?
Das ist wohl zu früh zu sagen. Wir wissen
nicht, ob die Besonnenheit, mit der bislang
auf den Anschlag reagiert wurde, obsiegt.
Was hat Sie rund um das Attentat
überrascht?
Überrascht hat mich die Fähigkeit der Menschen in der Stadt, beides gleichzeitig zu zeigen: Anteilnahme und Trauer einerseits, aber
eben auch eine vernünftige Form des Weiterlebens, des Sich-nicht-aus-der-Ruhe-bringenLassens. Das war sehr beeindruckend.
Woher kommt der Hass der Gegenwart?
Dieser Hass entsteht nicht spontan, und
er ist auch nicht individuell. Sondern dieser Hass ist gemacht. Er wird vorbereitet
und produziert in ideologischen Mustern.
In Rastern der Wahrnehmung, in all jenen
Diskursen und Filmen, in denen bestimmte Menschen nicht mehr als Menschen, als
Individuen präsentiert werden, sondern nur
noch als Angehörige einer Gruppe. Dieser
Hass wird gefertigt durch Begriffe und Bilder,
die Menschen versehen mit negativen Eigenschaften, in denen sie beschrieben werden
als »kriminell«, ,»krank«, »gierig«, »pervers«,
in denen ihnen als Kollektiv bestimmte
Neigungen zugedacht werden, wieder und
wieder, so lange, bis sich Assoziationsketten ausbilden. Dann wird »Muslim«
immer mit »rückständig« verbunden oder
»Jude« mit »mächtig«, »schwarz« mit »gefährlich« … Es sind diese Raster des Hasses,
die vorbereitet und geprägt werden von den
Wie lassen sich diese Prägungen ändern?
Den Hass unterbrechen oder unterbinden
lässt sich nicht so leicht, wenn da der Zorn
und der Hass schon ausagiert werden. Aber
ebendiese Raster, in denen vorab die Weltsicht verengt wird, in denen Menschen nur
noch vereinheitlicht und kollektiviert werden,
diese Muster, in denen die einen ausgegrenzt
und die anderen eingegrenzt werden, die lassen sich frühzeitig unterbrechen. Das kann
jede und jeder. Diese Muster prägen alle: in
Gesprächen, in Witzen, in Begegnungen, sie
werden verbreitet in Theatern, in Filmen, in
der Schule. Dagegen können alle wirken.
Theater sind auch Orte, an denen wir
Perspektiven wechseln, fremde Welt­
bilder bereisen, Muster brechen. Jedoch
scheinen die Künste nur die ohnehin
schon Reisefreudigen zu erreichen.
Sie klingen so pessimistisch. Das ist gegenwärtig eine merkwürdig verbreitete Neigung: Sich selbst zu entmündigen, das ist
ungeheuer en vogue. Wissen Sie: Es ist doch
großartig, was an einem einzigen Theaterabend geschehen kann! Dass Menschen sich
hinsetzen und zwei, drei Stunden still sind,
zuhören, zuschauen wollen, anderen, Schauspielerinnen und Schauspielern, Sängern,
Tänzern, die von anderen Figuren erzählen.
Da werden fremde Leben und Erfahrungen
auf der Bühne verwandelt in, ja, wenn es
gelingt, in etwas Eigenes; etwas, das verstehbar wird, oder etwas, das irritiert, zum
Nachdenken anregt, das zweifeln macht,
glücklich oder traurig. Das in jedem Fall die
Zuschauer zwingt, sich mit etwas außerhalb
zu befassen, das womöglich etwas Inneres
Hass 2016: Attentat am Berliner Breitscheidplatz. Svetoslav U. tritt im Oktober in einer Berliner U-Bahn-Station einer Frau in den Rücken und verletzt
sie­dabei­schwer.­Demonstration­der­»Hogesa«­(Hooligans­gegen­Salafi­sten)­in­Köln,­direkt­nach­den­Silvester-Ausschreitungen­am­Domplatz­
20
spiegelt. Das ist doch großartig. Dabei werden andere Sprachen, Bilder, Sichtweisen,
andere Körperlichkeiten, andere Arten zu lieben oder zu leiden angewandt und gezeigt.
Und da fragen Sie ernsthaft, ob das nicht zu
wenig sei? Das ist ungeheuer viel!
nehmen für die Gewaltandrohungen und
die Hetze, die sie bislang allzu oft tolerieren.
Viele Kulturstätten müssen
als Hintergrund für Protestspektakel
herhalten. Dagegen setzen sich die
Häuser mit künstlerischen Mitteln zur
Wehr. Wie wirksam kann das sein?
Ich plädiere nicht für »mehr Streit«. Ich plädiere für einen Diskurs, der sich durch nicht
nachlassendes Differenzieren, durch Selbstzweifel und durch genaues Beobachten
auszeichnet. Der Hate Poetry Slam ist ein
besonderes Format, das Journalistinnen und
Journalisten erfunden haben (Deniz Yücel,
Ebru Taşdemir, Yassin Musharbash, Özlem
Gezer …), die allein aufgrund ihres Namens
eine Flut widerlicher Leserbriefe erhielten.
Sie wurden darin rassistisch beschimpft,
abgewertet, beleidigt – und irgendwann haben sie sich eben entschlossen, sich nicht
mehr allein mit dieser Post auseinanderzusetzen und verletzen zu lassen, sondern
sich zusammenzutun und diese Post mit
der Öffentlichkeit zu teilen. Sie sitzen alle
an diesen Hate­Poetry-Abenden, lesen aus
den Briefen vor – und bringen einander und
die Zuhörer zum Lachen. Sie kehren also den
Hass um, lassen ihn nicht mehr demütigend
und belastend sein, sondern sie amüsieren
sich darüber. So sind sie nicht mehr Objekt,
sondern Subjekt. Das ist ein richtiges Spektakel. Es knüpft an die alte Tradition vieler
Bürgerrechtsbewegungen an: Begriffe oder
Sprache, die einen verletzt, zu re-signifizieren, ihr ihre Wucht zu nehmen, indem man
sie sich selbst aneignet.
Da klingt wieder dieser Pessimismus durch.
Noch mal: Ich lehne diese Form des Pessimismus ab, der einem den eigenen Mut und
die eigene Lust am Handeln nimmt, weil er
vorab schon alles für nutzlos erklärt. Ich
bin auch nicht sicher, ob sich manchmal
dahinter nicht einfach nur Bequemlichkeit
verbirgt. Ich möchte nicht unterscheiden
zwischen hehren, wichtigen Formen des
demokratischen Engagements und anderen, unwichtigen Formen. Ich würde sagen,
wir können es uns politisch gar nicht mehr
leisten, wählerisch zu sein.
Fotos: Odd Andersen/AFP/Getty Images; Polizei Berlin/dpa; Karsten Schoene/laif; Martin Sigmund; Schaubühne Berlin; Björn Klein; picture alliance/Sven Simon
Kann man im
Theater das Lieben lernen,
Carolin Emcke?
»Zulieferern des Hasses«, weiterverbreitet,
mal ahnungslos und mal absichtsvoll, bis sie
eben bei Menschen auf der Straße als quasi
natürliche Gefühle ankommen. Diejenigen,
die den Hass dann ausagieren, indem sie andere Menschen anbrüllen, diffamieren und
angreifen, die sind nur das Ende einer langen
Abfolge an Prägungen des Hasses.
Mit Streit und Hass lässt sich heute
gut Geld verdienen. E­Mails, Facebook,
Twitter nähren unsere Hysterie.
Die Geschäftsmodelle der Social Media
beruhen darauf, dass …
... ich weiß nicht, ob E-Mails in diese Reihung
gehören.
Eltern von Kita­ oder schulpflichtigen
Kindern dürften da andere Erfahrungen
machen. Aber Sie haben recht, E­Mails
bleiben meist intern. Während die
Onlinehysterie den Traffic erhöht und
somit die Werbeeinnahmen.
Social Media befördern sicherlich eine eigene Eskalationslogik. Und sie belohnen Hass
und Aggressivität. Es gibt glücklicherweise
inzwischen eine kluge und folgenreiche
Debatte über die notwendigen Eingriffe in
diese Öffentlichkeit. Auch Social-MediaUnternehmen werden verstärkt gedrängt
werden müssen, Verantwortung zu über-
Sie plädieren ja selbst für mehr direkte
Auseinandersetzung, mehr Streit.
In Ihrem Buch beschreiben Sie die Hate
Poetry Slams. Wozu sind die gut?
Sie selbst haben ein eigenes Format
geschaffen, den Streitraum an der
Berliner Schaubühne. Ihre Erfahrung
damit?
Das ist kein Ort des Streits. Der Titel ist ein
Etikettenschwindel: Das sage ich auch seit
über zwölf Jahren auf jeder Veranstaltung.
Es ist einfach ein gemeinsames Nachdenken
auf der Bühne und mit den Zuschauern. Wir
wollen keine Pseudokonflikte inszenieren
CAROLIN EMCKE (49)
wurde für Gegen den Hass
mit dem Friedenspreis des
Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Im November
und Dezember 2016 lasen Ensemblemitglieder des Schauspiels Stuttgart im Foyer des
Schauspielhauses vor jeder
Vorstellung aus dem Buch
wie in den Talkshows. Wir wollen miteinander Fragen erörtern, die uns interessieren.
Sie singen ein Lob des Pluralismus und
des Unreinen . Ein schönes Lied, aber
doch auch ein altes, oder?
Was soll ich darauf antworten? Die Würde
des Menschen ist unantastbar – ist auch keine neue Formel. Aber deswegen ist sie doch
immer noch gültig und wahr.
Sie beschreiben die Wege zum Hass.
Was sind die Auswege? Was führt rein
in Liebe, Zugewandtheit, Empathie?
Ich glaube, es wäre zu viel verlangt, dass alle
einander auch »lieben« müssten. Das Gute
an einer liberalen, säkularen Demokratie ist
ja, dass wir einander nicht mögen müssen.
Wir müssen die Lebensweisen oder die Überzeugungen der anderen oder ihren jeweiligen
religiösen Glauben nicht teilen. Wir müssen
sie nicht einmal verstehen. Wir müssen nur
aushalten, dass es diese Verschiedenheiten
gibt. Wir müssen einander nur lassen können.
Anti-Hass 2016: Die Aktion Shakespeare in Love am Stuttgarter Opernvorplatz. Carolin Emcke im Berliner Streitraum mit Marina und Herfried Münkler.
Mit »Spiegel-Barrikaden« startete das Schauspiel Stuttgart im Oktober seine Diskussionsreihe zur Initiative Offene Gesellschaft
21
BÜHNE
Mit 22 Jahren zog
Martin Walser nach
Stuttgart, um als
Fernsehredakteur
beim Süddeutschen
Rundfunk zu arbeiten; hier schulte er
seinen kritischen
Blick. Im März feiert
der Schriftsteller
seinen neunzigsten
Geburtstag
Hinter den
Fassaden
Neureiche, Kleinbürger, Prostituierte und Pressezaren:
In seinem Roman Ehen in Philippsburg ließ Martin
Walser 1957 das Personal des Wirtschaftswunders aufmarschieren. Was seine Figuren antreibt, ist die
Gier nach Macht und Karriere. Was sie gemein haben,
sind reale Vorbilder in Stuttgarts guter Gesellschaft
TEXT: JÖRG MAGENAU
Die Stuttgarter
Eberhardstraße 1950
mit dem Tagblatt-Turm
im Hintergrund
22
23
M
artin Walsers Debütroman
Ehen in Philippsburg war
noch nicht gedruckt, da
wurde sein Autor schon mit
dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet.
1957 war das, Siegfried Unseld, damals noch
Lektor im Suhrkamp Verlag, hatte das Manuskript in einer Rohfassung eingereicht.
Dabei mussten ihm die verzweifelten Wasserstandsmeldungen seines Autors doch in
den Ohren gelegen haben, der ihm geschrieben hatte: »Mein Skript ergibt, gegen meinen
Widerstand, einen konventionellen Roman,
leider ohne Handlung. Jetzt stellen Sie sich
das vor: ein konventioneller Roman, und
dann noch nicht einmal eine Handlung! Es
ist schlimm. Aber ich schreibe weiter, was
auch immer dabei herauskommen mag.«
So ganz handlungslos war der Roman
aber nicht und konventionell schon gar
nicht. Im Oktober 1956 hatte Walser, 29-jährig, einen Auszug bei der Tagung der Gruppe 47 vorgelesen und bei den versammelten
Schriftstellerkollegen damit Aufmerksamkeit erregt, dass er sich so ganz und gar der
bundesdeutschen Gegenwart zuwandte. Das
war ungewöhnlich in diesem vorzugsweise
Kriegserlebnisse ventilierenden Kreis.
Im Jahr zuvor hatte Walser mit einer kleinen, surrealistischen Erzählung den »Preis
der Gruppe 47« ergattert. Jetzt legte er einen
brillanten, messerscharfen Gesellschafts­
roman vor, der die unterschiedlichsten Macht­
verhältnisse beschreibt – im Berufsleben
ebenso wie in der Familie und in der Liebe.
Auch wenn die Ära des Wirtschaftswunders inzwischen tief in die Vergangenheit
versunken sein mag, so bleibt das beschriebene Personal vertraut: all die Großkopferten, Industriemagnaten, Pressezaren und
Intendanten, die Neureichen und Kleinbürger, verarmte Autoren, kunstbeflissene
Gattinnen, lackierte Sekretärinnen, Industriearbeiter, Putzfrauen, Prostituierte, und
mitten unter ihnen der junge, aus der Provinz zugezogene Journalist Hans ­Beumann,
der unbedingt teilhaben will an dieser durch
24
Aufstiegshoffnung, Machtentfaltung und
Heuchelei zusammengehaltenen Gesellschaft. Nur eines kam nicht vor: die Vergangenheit des Nationalsozialismus, der
Krieg und der Holocaust – denn das kam ja
tatsächlich nicht vor, sondern war begraben
unter einem großen Schweigen.
Ehen in Philippsburg besteht aus vier geschickt miteinander verzahnten Geschichten: Auf die von Hans Beumann, der der Karriere zuliebe eine Frau heiratet, die er nicht
liebt, folgt die Episode um den Frauenarzt
Dr. Benrath, der sich mit seiner Geliebten
vergnügt, bis die Ehefrau Selbstmord begeht.
Die Geschichte vom Rechtsanwalt Dr. Alwin,
der einen tödlichen Autounfall verschuldet,
während die Ehefrau neben ihm sitzt und er
im Rückspiegel die begehrte Nebenbuhlerin
betrachtet. Zuletzt fügte Walser noch den
morbiden Schriftsteller Berthold Klaff hinzu, eine skurrile Dachkammerexistenz, die
an Hermann Hesses Steppenwolf erinnert.
»Ehebrüche in Philippsburg« wäre vielleicht der passendere Titel für diese bitterbösen Geschichten gewesen, kommt die Ehe
darin doch als ziemlich abgenutzte Institu­
tion vor. Nicht nur die Ehefrauen bleiben auf
der Strecke, sondern ebenso die Geliebten.
Liebe ist Mittel zum Zweck, bestenfalls schöner Zeitvertreib. Moral – das sagt Dr. Benrath
beim Besuch seiner Geliebten – diene vor
allem dazu, das Dasein zu erleichtern, so
wie »der Gehorsam einem vorgegebenen Stil
gegenüber das Einrichten einer Wohnung
leicht macht«. Moral ist also nicht mehr als
ein Kleidungsstück, das je nach Bedarf getragen wird. Es ist dieser entlarvende Blick,
der Ehen in Philippsburg aktuell erscheinen
lässt, auch wenn Ehebrüche längst nicht
mehr das Skandalon sind.
Liebe, Frauen, Frauen und Frauen
Der Roman handelt von Intrigen, ­übler Nachrede, Gerüchten, doch auch von Freund­
schafts­möglich­keiten, vom Bemühen um
Anerkennung und von der unstillbaren Sehnsucht nach Liebe. Er beschreibt Stuttgart zu
Beginn der 50er-Jahre. Dieses Philippsburg
mit den Villen auf den Hängen und engen
Straßen unten im Kessel war zweifellos
Stuttgart. Hier hatte Walser die Erfahrungen
gesammelt, die in den Roman einflossen.
Noch als Student in Tübingen war Walser
1950 freier Mitarbeiter des Süddeutschen
Rundfunks geworden. Er hatte Stücke für ein
Studententheater geschrieben, die einem
Rundfunkmann auffielen – und schon fand
er sich in Stuttgart wieder, als Redakteur und
Reporter. In der Nachkriegszeit konnte man
sehr schnell Karriere machen: Es war ja alles leer geräumt und der SDR eben erst von
der amerikanischen Besatzungsmacht in
deutsche Hände übergeben worden. Endlich
verdiente Martin Walser eigenes Geld und
konnte zusammen mit seiner Frau ­Käthe
eine Wohnung in der Reitzensteinstraße 22
beziehen, ein »Armutsquartier«, wie er später sagte. Aber immerhin wohnten sie nun
zusammen; von Tübingen aus hatte er Käthe
nicht besuchen können, weil ihm das Geld
für die Zugfahrt zum Bodensee fehlte.
Im SDR arbeitete er zunächst für die Unterhaltungsabteilung. Da fühlte er sich wohl.
Stimmungen zu erzeugen war ihm lieber
als Meinungen hervorbringen zu müssen.
Er schrieb Couplets für eine Sendung mit
dem schönen Titel Klingende Wochenpost
und lieferte Dialoge für die Nörgelecke der
Hausfrauen, wo er zwei erfundene Frauenfiguren sich etwa um die Frage streiten ließ,
ob man sich ein Telefon anschaffen sollte.
Bald gehörte Walser zur »Genietruppe«
um den aus dem Exil zurückgekehrten Intendanten Fritz Eberhard. Der Antifaschist
und Sozialdemokrat beeindruckte Walser
so sehr, dass er ihn in der Romanfigur des
Dr. ten Bergen porträtierte. Von heute aus
gesehen, hat Walser uns mit dieser um ihre
Unabhängigkeit kämpfenden Gestalt die
Erinnerung an die Frühzeit des öffentlichrechtlichen Rundfunks bewahrt. Ten Bergen
kämpft im Roman vergebens um seine Wiederwahl. Walser nahm damit vorweg, was
tatsächlich erst 1958 eintrat, als Eberhard
als SDR-Intendant abgewählt wurde.
Der Rundfunk jener Tage war die wichtigste Alimentieranstalt des Literatur­betriebs.
Im Funkhaus nutzte Walser Begegnungen
mit Gästen wie dem Bestsellerautor Ernst
Heimeran für heimliche Porträtstudien. Der
eitle Philippsburger Dichter Dieckow dürfte
ohne derlei Vorübungen kaum entstanden
sein. Berthold Klaff war, wie Walser selbst
später einräumte, dem Schriftstellerkollegen Arno Schmidt nachempfunden, den er
protegierte und als Hörspielautor zum SDR
holen wollte. Und schließlich war ja Walser
selbst Vorbild für seinen Hans Beumann, der
sich darum bemüht, Zugang zu den wichtigen Kreisen zu finden oder wenigstens einen
einträglichen Job.
Dennoch ist das Buch kein Schlüsselroman, es lässt sich nicht einfach auf die abgebildeten Verhältnisse und ihr Personal rückübertragen. Dass Walser aber wie stets ein
Selbstporträt lieferte, ist trotzdem wahr. Das
ergibt sich aus der Art, wie er die Welt sieht
Fotos vorherige Seite: F. C. Gundlach/SWR Historisches Archiv; Willy Pragher/Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg Diese Seite: Privatarchiv Martin Walser; Deutsches Literaturarchiv Marbach
BÜHNE
und wie er sie in Sprache verwandelt, aus der
Summe der Stimmungen und Blickwinkel.
Und aus seinen großen Themen: Abhängigkeit, Liebe, Frauen, Frauen und Frauen.
Als Ehen in Philippsburg zwischen Oktober 1954 und August 1956 entstand, waren
die Walsers schon wieder aus Stuttgart weggezogen, nach Korb im Remstal, um Abstand
zu der als bedrohlich empfundenen Großstadt zu gewinnen. 1957 zogen sie zurück
an den Bodensee, nach Friedrichshafen, wo
man – inzwischen waren zwei Töchter geboren – eine billigere Wohnung fand. Auch die
Arbeit beim Rundfunk hatte Walser eingestellt, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Kein geringes Risiko für einen jungen
Familienvater. Erst aus der Distanz zu Stuttgart war so ein Stuttgart-Roman möglich;
erst nach dem Abschied vom SDR konnte er
den Journalismus zum Thema machen.
Mal furios, mal maulfaul:
Martin Walser (r.) mit
dem Zeitfunk-Team des
SDR 1950. Im Garten
mit dem Schriftstellerkollegen Uwe Johnson
(Foto unten, r.) und
Tochter Franziska um
1960. Die Ehen, sein
Debüt­roman, erschienen
1957 bei Suhrkamp
Weniger prüde, als wir heute glauben
Zur Preisverleihung 1957 erschien er nach
einer Gallenblasenoperation direkt aus
dem Krankenhaus als fadendünne Gestalt
von nur noch 62 Kilo. Das Preisgeld von
10 000 Mark – viel Geld in den 50er-Jahren –
hätte er gut gebrauchen können. Den Scheck
überreichte er aber seiner Mutter, um ihr zu
beweisen, dass Schriftsteller ein richtiger
Beruf sei. Dass er die Ehen zudem der Mutter
widmete, war dennoch ein Wagnis, musste
Walser doch fürchten, die gläubige Katholikin könnte das Buch auch lesen. Erst als der
Pfarrer sagte, dass es gut sei, war sie von der
Profession des Sohnes überzeugt.
Bis der Roman im Herbst 1957 endlich
erschien, waren noch einige Überarbeitungen nötig. Der Verleger Peter ­Suhrkamp
störte sich vor allem an der drastischen
Darstellung einer Abtreibung und deren
Folgen, besonders an einem Satz, von
dem er glaubte, dass Walser ihn eines
Tages ­bereuen werde. Erst nach langem
brief­lichen Hin und Her durfte der Satz,
der eine unschöne sexuelle Erfahrung beschreibt, bleiben. Er lautet: »Damals, nach
der schlimmen Geschichte mit den Ärzten,
da war er bei Anne wochenlang auf winzige
Knöchelchen gestoßen, Gelenkpfännchen,
so klein, dass man sie kaum sah, aber so
spitz und hart, dass sie sich beide wundgekratzt hatten daran, zuerst waren sie schön
erschrocken, er mehr als Anne, sie hatte die
winzigen Überreste, die er zutage gefördert hatte, jedesmal sorgfältig gesammelt
und hatte sie in ihrer Schmuckdose beigesetzt.« In der Kritik spielte diese Passage
EHEN IN
PHILIPPSBURG
nach dem Roman
von Martin Walser
Uraufführung
am 11. März im
Schauspielhaus
aber kaum eine Rolle – abgesehen davon,
dass der Roman wegen der Abtreibungsgeschichte in der DDR nicht erscheinen konnte und in England, wo nicht nur Abtreibung,
sondern auch das Schreiben darüber verboten war, Änderungen nötig wurden. Nimmt
man den Tenor der sehr wohlwollenden Kritiken zum Maßstab, war die Adenauer-Zeit
weniger prüde, als wir heute glauben.
Walser betrat die literarische Bühne mit
einem großen, unerschrockenen Werk. Er
ist darin schon ganz und gar erkennbar in
seiner Sprachlust und Ausdrucksvirtuosität. Kritiker fühlten sich an Balzac, Proust
und an Kafka erinnert. Mit dem scharfen
Blick des Neuankömmlings, dem die Dinge
und sozialen Verhaltensweisen noch nicht
selbstverständlich geworden sind, sezierte
er die Stuttgarter Gesellschaft. Erstaunlich
souverän schilderte er die sozialen Milieus,
als hätte er sich schon immer darin bewegt.
Auch wenn die Ehen nur ein Anfang sind,
ahnt man schon, dass Walser im Lauf der
Jahrzehnte zu einem Chronisten der bundesdeutschen Geschichte werden würde.
JÖRG MAGENAU ist Journalist und Autor von
Martin Walser. Eine Biographie (Rowohlt 2008).
Zuletzt erschien von ihm Princeton 66. Die
abenteuerliche Reise der Gruppe 47, wo Walser
auch als Abwesender eine Rolle spielt
25
Von jeder großen Reise kehrt der Reisende als
Fremder zurück. Über die Dissonanz des Nachhausekommens.
Eine Kurzgeschichte von Kat Kaufmann
Mitten daneben stehen
BÜHNE
»Na? Und? Wie is’n das so, so ’ne Weltreise? Auch
Mensch. Und jetzt schon so erwachsen. Und auch noch die ganze
kaputt jetzt, wa? Schlaucht, wa?«
Welt gesehen hat er jetzt …«
Dein Onkel Dietmar sitzt dir gegenüber, seine
»Ja, Michi, komm. Erzähl mal! Wie isses denn so bei den Hotten-
Haut ist speckig und glänzt in der Sonne. Er nimmt
totten? Wir müssen uns ja gar nich groß bewegen – die kommen ja
einen Schluck von seinem Bier.
jetzt alle zu uns! Haste bestimmt auch schon mitbekomm, wa? Am
»Ach, Dietmar … lass doch meinen Jungen erst
Bahnhof? Die sind ja wie Wilde, ne – nur Dreck, wo sie nur hinkomm,
mal ankommen, Mensch. Na, Michi? Komm, was Kaltes jetzt, ja? Ist
und das is ja keine Sprache, was die da ham, das ist ja wie als würde
aber auch eine Hitze dies Jahr, wa? Manometer, du …«, sagt Mutter und
man ’n Radio kaputt schlagn und dann auf laut drehn, die können ja
stellt ein Tetrapak Orangensaft auf den Tisch. Daneben eine Karaffe
gar nicht reden, die könn ja nur schreien! Wie aufm Basar, weißte?
mit Wasser auf einem Tablett, mit feinen Zitronenscheiben, die darin
Ja klar weißte das, hast ja jetzt was gesehn von der Welt, warst ja bei
schwimmen. Hat sie in der Küche aus der Plastikflasche umgefüllt.
denen. Also hier machen die nur Ärger. Will gar nicht wissen, wie es
Weil das die feinen Herrschaften so machen in ihren Tele­novelas. Es
bei denen daheim aussieht, da wo die herkommen … Hoff ich ma,
will nicht zum Chaos, das inzwischen auf dem Tisch herrscht, passen.
dass du da auch ein Haufen Müll für unsereins hinterlassen hast.
Der volle Aschenbecher, halb leere Teller, Aprikosenkerne und Fliegen
Kat Kaufmann stammt aus St. Petersburg.
Die Schriftstellerin, Komponistin und
Foto­grafin lebt in Berlin. Ihr Debütroman
Superposition (Hoffmann und Campe)
gewann 2015 den Aspekte-Literaturpreis.
Der Roman Die Nacht ist laut, der Tag ist
finster (Tempo) erscheint im April
auf dem Obstkorb.
Im Garten nebenan wird gegrillt.
»Ach, guck mal an!«, schreit Schmidt rüber und winkt dir mit der
Grillzange über den Zaun, »der Michi is zurück! Moni, schau mal! Der
sach ma – bei den Negern warst du doch auch, oder nicht? Ja, da
nickt er, klar war er … Und? Wie sind die so, die prallen Weiber dort?
Kannste ja ’n Bier aufm Arsch abstellen!«, lacht Dietmar. Und seine
Frau schenkt sich noch eine Schorle ein. »Ooch, Elkchen«, sagt er zu
ihr, »brauchste doch nich eingeschnappt sein.«
Weltenbummler! Komma auf ’ne Wurst vorbei, wa? Ma wieder was
Heimisches, was Ordntliches in’n Bauch bekomm … Apropos ›bekom-
»Wir reden zu Hause«, sagt Elke schroff, weil sie seinetwegen
men‹ – das Reisen ist dir wohl aufs Gemüt geschlagen, was? Ganz
schon zu oft zum Gynäkologen musste. So was erzählt dir deine Mut-
schweigsam isser geworden, unser Michi, Mensch …«
ter. So was willst du gar nicht wissen.
Du winkst zurück und siehst wieder zu, wie Arne, dein Cousin,
Und Elke steht jetzt auf und geht zum Schmidt nebenan, sich
den Kuchen in sich reindrückt. Früher war er nur fett, jetzt ist er noch
eine Bratwurst auf den Teller legen lassen. Und Dietmar überlegt
pickelig dazu.
bestimmt gerade, ob er einen seiner Bangkok-Urlaube nicht vielleicht
doch mal probeweise gegen Mosambik tauscht. Bier und fetter Arsch.
»Na, schau mal, das is’n Appetit …«, sagt Dietmar und klopft sei-
Paradies. Ganz gedankenverloren ist er jetzt.
nem Arne auf den Rücken, dass der fast erstickt an dem Schokoladen-
Du hast noch nicht ein Wort gesagt. Aber das scheint niemanden
Himbeer-Desaster in seinem Mund, »is auch ganz schön gewachsen,
zu jucken. Du willst auch gar nichts sagen. Sie amüsieren sich doch
der Kleene, seit du weg bist, Michi, was?«
Gewachsen ist gar kein Ausdruck. Er ist drei seiner selbst.
Du nickst und versuchst ein Lächeln.
DER KIRSCHGARTEN
VON ANTON TSCHECHOW
»Der wird Polizist, unser Arne! Stimmt’s, Arne?«
Premiere am 13. April
im Schauspielhaus
Aber Arne kann gar nichts sagen, weil Mund komplett zugepfropft. Nickt nur genervt.
»Jaja, da brauchen sie starke Kerle wie unsereins«, sagt Dietmar
und tätschelt sich den Bauch.
»Jaja, Dietmar, das wissen wir doch alle …«, sagt Mutter, »aber
jetzt lass doch mal endlich unseren Globetrotter zu Wort kommen«,
komm, Michi, jetzt erzähl doch mal ein bisschen. Mein lieber Michi …
Alle werden sie groß, und schon sind sie weg … so schnell. Weißt du
noch, als du klein warst? Wie du nackig dort hinten bei den Schmidts
ins aufblasbare Wasserbecken gepullert hast? Ach, warst du niedlich,
Foto: Kat Kaufmann
sagt sie und nimmt sich ein paar Erdbeeren aus der Schüssel, »jetzt
26
Stellvertretend, verstehste? Weil die doch hier bei uns und so … Aber
Der Kirschgarten ist das letzte Stück,
das der Russe Anton Tschechow vor
seinem Tod 1904 fertigstellte. Im Zentrum
steht die Gutsbesitzerin Ranjewskaja,
die nach Jahren im Ausland in ihre
Heimat zurückkehrt und feststellt, dass
der Ort ihrer Kindheit kaputt ist – bis
auf den Kirschgarten, der in voller Blüte
steht. Das Stück erzählt von der Überforderung einer Gesellschaft, die sich
verändern muss und sich aus Sentimentalität und mangelndem Glauben an
die Zukunft am Alten festklammert.
Ranjewskajas Unvermögen, sich der Realität zu stellen, mündet in die Katastrophe.
prächtig, der eine mit seinen Träumen von Fremdenverkehr, der andere mit Kuchen und Tante Elke jetzt mit dem Nachbarn, der ihr, so
wie es aussieht, gerade den weltbesten Witz erzählt hat – denn sie
kommt aus dem Gekicher nicht mehr raus – und oben ohne seine
braun gebratene Wurst serviert.
Mutter schweigt. Lehnt ihren Kopf an deine Schulter und atmet
erleichtert aus. Zum ersten Mal seit Vaters Tod siehst du sie glücklich.
»Komm mal mit!«, sagt sie plötzlich, und du stehst auf und gehst
ihr nach. Ganz aufgeregt läuft sie voran, dreht sich nach dir um und
ist jedes Mal, wenn sie dich hinter sich erblickt, von Neuem glücklich.
»Siehst du, Michi? Hier! Hab ich gepflanzt. Auf Papas Asche. Das
war nicht leicht, davon was mitnehmen zu dürfen. Darfst du keinem erzählen, ja, mein Michi? Eine Kirsche ist das. Die hat er doch so gemocht,
die Kirschen. Sie soll nächstes Jahr blühen. So wie unsere Familie.«
27
BÜHNE
Breaking Barock
Als Georg Friedrich Händel an die Themse zog,
war London die größte Stadt der Welt.
Voll mit Menschen, Spannungen und Ideen
TEXT: MICHAEL MATTHIASS
Die Londoner Fleet
Street (mit Blick auf
Ludgate Hill) kurz
vor dem Kollaps.
Händels letzte Oper
Ariodante beschrieb
die Vorzeichen des
gesellschaftlichen
Wandels
28
Bild: Stich von Gustave Doré, Lebrecht Music and Arts Photo Library/Alamy Stock Foto
I
n dem Jahr, in dem Händel hier seine
Oper Ariodante uraufführt, im Jahr
1735, ist London nicht nur die größte
Stadt des Planeten, prachtvolle Heimat von Königen, pochendes Herz des
Welthandels, es ist zugleich seuchengeplagter Moloch. Zwischen herrschaftlichen
Villen, in deren Gärten Damen in französischem Tuch vor dem Tee noch etwas flanieren, und den Gassen der Unterschicht, in
denen menschliche E
­ xkremente und Tierkadaver auf den nächsten Regen warten,
der sie in die stinkende Themse spülen soll,
liegen oft nur ein paar Steinwürfe.
Die besten Musiker, Künstler, Dichter und
Denker Europas zieht es hierher, vom Adel
hofiert und mit üppigen Apanagen versehen.
Aber nicht nur die geistige Elite kommt; Tausende andere, weniger Privilegierte drängen
in die überfüllten Armenviertel, in denen
aufgeschlitzte Kehlen und eine horrende
Kindersterblichkeit Normalität sind. Über
allem hängt der »London fog«, eine übel riechende Glocke, in der Dünste aus offenen
Armengräbern und Sickergruben mit Rauch
aus Hunderttausenden Kohleöfen und dem
ewigen Nebel des Themsetals eine unheilige
Allianz eingehen. Wer sich kein Riechwasser
leisten kann, hält die Fenster geschlossen.
Es ist die Stadt, in der alle Risse der beginnenden Moderne sichtbar werden. An jeder
Straßenecke gibt es nun Zeitungen zu kaufen, Dutzende verschiedene. Produziert in der
Fleet Street, dem selbstbewussten Herzen
der Presse, gelesen und lauthals diskutiert
in den vielen neuen »coffee houses«. Mit den
Zeitungen bekommen die Menschen eine
Stimme, die zwischen Arm und Reich stehen und den eigentlichen Reichtum der Stadt
ausmachen: das erstarkende Bürgertum, unabhängig, offen für Diskurs und Diskussion,
handfest, städtisch, sensationslüstern.
Die Emanzipation von der verkrusteten
Adelsgesellschaft, die hier beginnt, ist ein
Vorläufer jenes Freiheitsdrangs, mit dem nur
vierzig Jahre später die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit erkämpfen werden.
Mit der blinden, unbewussten Treffsicherheit, die Kunst immer dann an den Tag legt,
wenn große Umbrüche bevorstehen, erzählt
auch Händels Ariodante von diesem Riss: Es
ist die Geschichte eines Emporkömmlings,
der versucht, gegen große Widerstände in
die erlauchten Kreise des adligen Establishments einzudringen. Das Bürgertum, neben
dem König der Hauptanteilseigner des neuen Theatergebäudes am Covent Garden, hat
keine Mühe, diese Geschichte zu decodieren.
Ariodante wird ein Erfolg.
Es ist ein Pyrrhussieg. Denn die Oper
an sich hat Konkurrenz bekommen – die
Art von Konkurrenz, die zugleich lachhaft
und bedrohlich ist. 1727 wird The Beggar’s
­Opera uraufgeführt, später Vorlage von
Brechts Dreigroschenoper. In allem ist sie
der Gegenentwurf zu Qualität und Genia­lität
händelscher Werke: Ironisch, persiflierend,
musikalisch nichts weiter als die »grea­test
hits« der Saison, aber für jedermann verständlich in Englisch gesungen, trifft sie den
Nerv der Zeit. Am Ende kapituliert die klassische italienische Oper kurzzeitig; mit dem
erfreulichen Nebeneffekt, dass sich Händel
englischsprachigen Oratorien zuwendet und
mit dem Messias die wohl längste inoffizielle
Nationalhymne der Welt erschafft.
Hochkultur versus Massenkultur, das zieht
sich auch durch Londons Architektur: Christo-
pher Wrens Saint Paul’s Cathedral, Englands
neue Ikone barocker Baukunst, erhebt sich
über eine Stadt, die nach dem verheerenden
Brand 1666 mit wenig Gestaltungswillen und
noch weniger Mitteln zu einem baufälligen
Moloch mutiert ist. Krebsartig wuchernde,
sich über alles Maß verdichtende Stadtviertel
machen London zur Hauptstadt billig zusammengezimmerter einstürzender Neubauten,
zur Brutstätte von Seuchen und Verbrechen.
Bis hier Polizisten patrouillieren, dauert es
noch fünfzehn Jahre – und ein weiteres Jahrhundert, bis 1858 »The Great Stink« fast die
Verlegung des Parlaments und damit endlich
ein Abwassersystem erzwingt.
Doch gerade diese Verdichtung und die
Zuwanderung aus aller Welt (auch von Menschen wie in Ariodante) machen London zur
Keimzelle des Kapitalismus. Hier rast die Moderne voran, weil alle um einen Platz an der
Sonne ringen: Mediziner (1735 wird die erste
erfolgreiche Blinddarmoperation durchgeführt), Politiker (10 Downing Street wird 1735
Amtssitz des Premierministers) und: Opernhäuser. Nun gibt es zwei, und nur wer das
kleine, aber zahlungskräftige Pub­likum auf
seine Seite zieht, überlebt. Das beste Mittel
schon damals: Superstars mit entsprechenden Gagen. Händel verdient im Vergleich zu
ihnen höchstens mittelmäßig, er muss mit
jeder neuen Oper einen Hit liefern, um Shareholder zufriedenzustellen, quartalsgetrieben,
sozusagen; aber das macht seine Opern nur
genauer, schärfer, radikaler.
Kunst, Gesellschaft, Politik – 1735 ist alles
in Bewegung, in Gang gesetzt von der »Aufklärung«, die erst Köpfe wie Newton oder
Leibniz und dann die Gesellschaft ergreift.
Mit ihr kommt ein radikal neues Bild des
Menschen in die Welt: Gleich erschaffen, mit
gleichen Rechten, zu Träumen berechtigt, so
fasst es die US-amerikanische Bill of Rights
1789 zusammen. Schlechte Zeiten für alle
»von Gottes Gnaden«, und auch in London
fragen die unteren Stände immer lauter nach
Gerechtigkeit, Chancengleichheit oder wenigstens einem menschenwürdigen Leben.
Und Händels neue Oper? Ist bei allem
barocken Raffinement ein Spiegel der Zeit.
Ariosts Geschichte erzählt, wie das junge
Paar gegen das alte Ritual des Gottes­urteils
die Wahrheit setzt und das Licht der Erkenntnis über den Glauben stellt.
Ein Jahr voller Risse und zugleich voller
Schönheit. Wie passend, dass es das Geburtsjahr von Ariodante ist.
ARIODANTE
von Georg Friedrich Händel
Premiere am 5. März im Opernhaus
29
BÜHNE
Aldeburgh
war sein Graceland,
sein Neverland
Kaum 1000 Einwohner hatte Aldeburgh,
als Benjamin Britten
und sein Gefährte
Peter Pears 1947 hierherzogen. Seitdem ist
es auch Heimat eines
der größten britischen
Musikfestivals
In einem englischen Küstenstädtchen fand der Komponist
Benjamin Britten sein Glück und sein Zuhause.
Hier stellte er sich am Ende seines Lebens seiner dunklen
Seite, als er seine letzte Oper schrieb: Der Tod in Venedig
TEXT: TOBIAS RENTZSCH UND RALF GRAUEL
30
31
Unzertrennliches Paar: Peter Pears (l.) und Benjamin Britten Anfang der 40er
N
och recht jung sind die
Männer, die im Frühjahr
1937 aufeinandertreffen
und sich perfekt ergänzen
werden. Der jüngere, Benjamin Britten, seine Freunde nennen ihn
»Benji«, ist 24 Jahre alt, seit vier Jahren schon
fertig studierter Komponist, mit fünfzehn
hatte das Wunderkind Hunderte von Stücken komponiert, nun schreibt er Musik für
Dokumentarfilme. Er ist ein zurückhaltender
Mann, höflich, grüblerisch und schon in jungen Jahren mit dieser sperrigen, zarten Aura
eines britischen Landadligen ausgestattet.
Der andere ist Chorsänger bei der BBC,
drei Jahre älter und heißt Peter Pears. Er ist
ein luftiger Typ und hat, was Britten fehlt:
Leichtigkeit, Unbeschwertheit, Selbstbewusstsein, Lebensfreude, Sex-Appeal. Vor
allem hat er eine Stimme, die, so wird Pears’
Nichte Sue Phipps Jahre später erzählen, für
Britten eine »erotische Offenbarung« ist.
Schon bald werden die beiden Männer
nach New York gehen, einer Einladung des
Schriftstellers W. H. Auden folgend, und
dort von Karrieren träumen, vielleicht sogar
in Hollywood. Doch ihre Herzen hängen an
England, 1942 machen sie sich auf den Weg
zurück. Noch bei der Überfahrt wird Britten
die Arbeit an Peter Grimes aufnehmen, der
Oper, die aus beiden Weltstars machen wird.
Rund hundert Werke wird Benjamin Britten schreiben, für Orchester und Chöre, da-
32
wird ihre Möglichkeit einer Insel, ihr Graceland, ihr Neverland, ihr Paisley Park.
Im Frühsommer 1948 sind sie auf Tournee mit Brittens Albert Herring, jener herrlich
komischen Coming-of-Age-Geschichte um
einen Gemüsehändlerjüngling, der dank seiner Tugendhaftigkeit und mangels weiblicher
Konkurrenz im Dorf zum Maikönig gewählt
wird. Pears hat eine Idee: Warum organisieren wir unsere Aufführungen nicht selbst?
Veranstalten ein Festival? Wo wir leben, uns
wohlfühlen und allerlei Gäste empfangen?
Was folgt, ist Geschichte. Die nur wenige
Schritte von ihrem Wohnhaus entfernte Aldeburgh Jubilee Hall wird Heimat des seither
stattfindenden Aldeburgh Festivals. Nahezu
jedes Jahr steht eine Neukomposi­tion Brittens auf dem Spielplan, den man rasch um
weitere Veranstaltungen erweitert: Dichterlesungen, Schauspielaufführungen, Kunstausstellungen – das Rückgrat jedoch bildet
weiterhin die Musik.
Da ist einerseits Brittens English Opera
Group, 1947 nach dem Krieg aus der Not und
Lust heraus gegründet, das eigene künstlerische Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Andererseits entwickelt sich das Festival stetig weiter, dank seiner zweiten Säule
Pears, der sein Repertoire um das deutsche
Lied erweitert; Rezitale von Schubert und
Schumann sind die Folge. Die von Pears und
Britten eingespielte Winterreise gilt vielen
bis heute als Referenz.
Gespräche mit dem Geheimdienst
neben Kammermusiken, Lieder, ein Requiem
und zwölf Opern. Im Königreich wird man
Britten zum größten britischen Komponisten nach Henry Purcell erklären. Er habe
Großbritannien zurück auf die Landkarte
der Klassik gesetzt, wird es heißen. All dies
wird mit Peter Grimes beginnen und mit der
Hauptrolle, die Britten für Pears’ Stimme
schreibt – so wie jeden anderen wichtigen
Gesangspart der nächsten drei Jahrzehnte.
Der Komponist und der Sänger werden
ein Paar. Ihre Geschichte ist die zweier Männer, die vor der Zeit ihr Leben leben, sich ein
Zuhause schaffen. Aber so modern und offen
die Welt, die sie in den folgenden dreißig Jahren erschaffen, so dezent und zurückhaltend
werden sie dabei vorgehen müssen. Das gilt
vor allem für Britten.
In Aldeburgh, einem Fischerstädtchen
an der Ostküste Englands, hundert Meilen
nordöstlich von London, kaufen sie zwei Jahre nach dem Krieg ein Häuschen. Aldeburgh
Aldeburgh wird zum Mekka der Musikbegeisterten. Bis heute hält sich die Anziehungskraft des Festivals. Vor ein paar Jahren
schrieb ein Besucher ins Gästebuch: »Think
of all the music written / before the birth of
Benjamin Britten. And then – think of Ben.«
Doch auch die Leben zahlreicher Menschen, die sich gar nicht mal so sehr für
Musik interessierten, dürften von Britten und
Pears berührt worden sein. Zu einer Zeit, in
der die Begriffe »schwul« oder »lesbisch« so
noch gar nicht existieren, in der »Homosexualität« ein Strafbestand ist, wohnen die
beiden Männer unter einem Dach, leben ihr
Leben, lassen jeden, der möchte, daran teilhaben. Stets werden sie dabei misstrauisch
beäugt von Polizei und Geheimdienst. Jede
Auszeichnung strapaziert die Toleranz der
politischen Klasse, immer wieder wird Britten vom britischen Innenministerium vorgeladen, muss sich Befragungen unterziehen.
Sein Auftreten wird geholfen haben. Und
die Tatsache, dass er sich tatsächlich nie
zu Pears bekennt. Doch der Tenor hat da-
Foto vorherige Seite: Seymour Rogansky/Alamy Stock Foto Diese Seite: Britten-Pears Foundation; Popperfoto/Getty Images; Philip Vile/Britten-Pears Foundation; Keystone Pictures USA/Alamy Stock Foto; Nigel Luckhurst/Lebrecht; Brian Seed/Lebrecht
BÜHNE
mit kein Problem, 1980 erzählt Pears: »Das
Wort ›gay‹ war nicht in seinem Vokabular,
es gab da diese sehr puritanische Ader in
Ben. Er dachte, dass anständiges Benehmen,
ordentliche Manieren zu einem schönen Leben dazugehören – zu einem würdevollen
Leben, wenn Sie so wollen.«
Erst als England 1967 den »Homo-Para­
grafen« abschafft, legt sich das Interesse
der staatlichen Stellen. Es dürfte kein Zufall
sein, dass genau in diesem Jahr die britische
Königin, Elisabeth II., zum ersten Mal das
Aldeburgh Festival mit ihrer Anwesenheit
beehrt und zum zwanzigjährigen Jubiläum
die neue Konzerthalle einweiht. Zwei Jahre
später wird das Gebäude abbrennen, nach
dem Wiederaufbau steht ihre Majestät 1969
erneut an der Seite Benjamin Brittens.
Umso erstaunlicher, dass dieser alles
Konservative pflegende Mann am Ende seines Lebens hinter die tugendhafte Fassade
tritt, die er so sorgsam aufrechthielt. Ende
der 60er macht sich Britten an die Vertonung
von Thomas Manns Der Tod in Venedig. Es
ist ein dunkler Stoff, das negative Abbild
seines Lebens. »Ben schreibt an einer bösartigen Oper, und es bringt ihn um!«, notiert
Pears damals in seinem Tagebuch.
Tatsächlich verschlechtert sich in den
Jahren danach Brittens Gesundheit. Doch
niemand kann ihn abhalten, Manns berühmte Novelle von 1911 zu bearbeiten. Der Tod
in Venedig erzählt von den letzten Wochen
eines Dichters, Gustav von Aschenbach, der
nach einem Leben voller Pflicht und Rechtschaffenheit am Strand von Venedig einen
Knaben erblickt. Überwältigt von seinen Gefühlen und seiner Sehnsucht nach diesem
Tadzio, löst sich alles um und in ihm auf;
Aschenbach verliert nach und nach seine
Fassung, vergeht als gepuderter Geck [Mehr
dazu im Interview, Seite 35].
Ein Lebenswerk voller Kinder
Warum muss Britten ausgerechnet diese
Geschichte erzählen? Wohl weil sie rausmusste. Britten war schwul, und er war
pädo­phil. Heerscharen von Musikwissenschaftlern und Journalisten haben seit
den 80er-Jahren die vielen Spuren ausgelesen, die er in Werk und Biografie hinterlassen hat. Etliche Filme, Bücher (Britten’s
Children), Symposien (zuletzt Illuminating
Britain im Londoner Barbican Centre) widmen sich der Frage, wie weit der Komponist
in seiner Liebe zu Knaben ging.
Das Ergebnis aller Investigationen lässt
Britten noch bewundernswerter erscheinen.
Sein Werk ist voller Kinderopern, Kinder­
Oben r.: Ab 1967
besuchte Königin
Elisabeth II. regelmäßig Brittens (r.)
Aldeburgh Festival.
Oben l.: Britten im
Arbeitszimmer des
Red House (darunter
von außen). Mitte:
Das Aldeburgh
Festival, bis heute
ein buntes Mekka der
Musikfreunde. Unten
(v. r.): Pears, Britten
und ihr Produzent
John Culshaw bei
Plattenaufnahmen im
heimischen Tonstudio
33
BÜHNE
chöre, den meisten, selbst fern von klassischer Musik Aufgewachsenen, dürfte sein
The Young Person’s Guide to the Orchestra
vertraut sein; eine Art Peter und der Wolf,
ohne Peter, Wolf oder Handlung, dafür mit
jeder Menge Variationen und Fugen eines
Themas von Henry Purcell. Musikwissenschaftler haben die hervorstechenden Häufungen des Wortes »boy« in seinen Opern
analysiert. Nahezu jeder Gast im Red House
wurde aufgespürt, befragt, von englischen
Journalisten, die berüchtigt sind, in ihrem
Skandaldurst legale Grenzen zu überschreiten. Unter den Hunderten von Jungen, die bei
Britten ein und aus gingen, teilweise über
Wochen bei ihm wohnten, im Bett des Komponisten schliefen, findet sich kein einziger
Verdacht eines Missbrauchs. So wird Britten
durch das Paradies, das er selbst geschaffen hat, gewandelt sein: aufrecht, abstinent,
glücklich, platonisch liebend, unglücklich.
»Der Tod in Venedig ist alles, wofür Peter und ich jemals gestanden haben«, sagte
Britten einmal »völlig unvermittelt« zu dem
englischen Autor, Freund und Biografen
Donald Mitchell: »Ich habe mich seitdem
oft gefragt, ob Benjamin damit nicht nur
auf das offene Bekenntnis anspielt, das die
Oper hinsichtlich seiner eigenen, sich nach
›Tadzios‹ sehnenden Homosexualität macht,
sondern ob er damit nicht eben auch jene
gezwungenermaßen gebotene Zurückhaltung meinte. Ihr Fehlen, also das Nichtvorhandensein dieser wohlüberlegten, selbst
auferlegten Disziplin, macht ja gerade den
Ruin Aschenbachs aus. Genau dafür aber
stand Britten: Einerseits für diese Disziplin,
anderseits aber bekannte er sich auch unmissverständlich zu seiner grundsätzlichen
und manchmal übermächtigen – jedoch nie
ausschließlichen – Quelle der Inspiration.«
Und so schreibt Britten am Ende seines
Lebens seine »naked opera«. Wie schon
Thomas Mann 62 Jahre zuvor, nur in viel
schlechterer Verfassung, arbeitet er sich in
einem Kraftakt durch sein Lebensthema. In
diesem Licht ist Der Tod in Venedig nicht nur
die Geschichte eines Zerfalls, sondern auch
die ihres Gegenteils: Es ist die Geschichte
einer großartigen Enthaltsamkeit.
Die Berührung
Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig steckt voller
Andeutungen und Fantasien. Wie bringt man das auf die Bühne?
Brittens Oper findet dafür eine geniale wie bewegende Lösung
INTERVIEW: RALF GRAUEL
Demis Volpi, was ist der Unterschied
zwischen Thomas Manns Novelle
Der Tod in Venedig und der Ballettoper
von Benjamin Britten?
Demis Volpi: Vieles, was im Text nur angedeutet wird, oft als innerer Monolog, muss
auf der Theaterbühne konkret werden.
Er stirbt als Baron of Aldeburgh
34
Ein alter Mann kann sich doch nicht
einfach so aus seinem Liegestuhl
erheben und einem Knaben seine Liebe
gestehen.
Wie werden Gedanken zu Handlung?
Zum Beispiel hat Aschenbach in der Novelle mehrere »Gegenspieler«, die optisch
alle etwas miteinander gemein haben: rote
Haare, ein totenkopfartiges Gesicht. In der
Oper werden alle diese Figuren von einem
Sänger verkörpert, so wird die Verwandtschaft viel konkreter: Als würde sich hier
jemand immer wieder neu verkleiden, um
Aschenbach in eine bestimmte Richtung zu
drängen. Auch dass Aschenbach sich nie
überwindet, mit dem Jungen zu sprechen,
wird in der Oper noch deutlicher, wenn sie
sich tatsächlich gegenüberstehen.
Wie stellt man diese Sprachlosigkeit auf
der Bühne dar?
Fotos: Nigel Luckhurst/Lebrecht; picture alliance/United Archives; Roman Novitzky
Stumme Begegnung: Tadzio, seine Mutter und Aschenbach in der Uraufführung von Der Tod in Venedig
beim Aldeburgh Festival 1973. Unten: Tadzio und Aschenbach im Film von Luchino Visconti 1971
Die Hauptfigur des Aschenbach schreibt
Britten wieder für die Stimme seines Lebens,
Pears, nun ein reifer Mann von sechzig, ihm
widmet er die Oper. Der Uraufführung beim
Aldeburgh Festival 1973 kann Britten nicht
beiwohnen. Er ist zu schwach, kurz darauf
wird er am Herzen operiert. Von der Operation wird er sich nie erholen, fortan ist er auf
den Rollstuhl angewiesen und auf Pflege.
Im Dezember 1976 stirbt er als »Baron
Britten of Aldeburgh in the County of Suffolk«. Im Sommer noch hatte ihn die Queen
in den Adelsstand erhoben. Britten stirbt
in den Armen von Pears, der aus den USA
angereist war, wo er sein Debüt an der New
Yorker Met ausgerechnet in der Rolle des
Aschenbach gefeiert hatte.
»Für den Unglücklichen ist der Tod keine
Katastrophe«, sagt er auf dem Sterbebett zu
Rose, seiner Pflegerin. Ein typischer BrittenSatz. Als höflich zugewandter Trost ausgesprochen, klingt er nach, um Jahre später
seine enigmatische Botschaft zu entfalten.
Wir sollten uns Benjamin Britten als
glücklichen Menschen vorstellen. Er hatte
eine Heimat gefunden, seinen Traum gelebt,
mit der Liebe seines Lebens. Wir sollten uns
diesen Mann als noblen, wahrlich großen
Menschen vorstellen. Denn ganz anders als
die tragische Figur des Gustav von Aschenbach bewahrte Britten Haltung. Diese Haltung wird ihn gerettet haben. Aber nicht nur
ihn hat sie gerettet, sondern eben auch die
vielen Menschen, deren Leben er so wunderbar berührt – und unversehrt gelassen hat.
sterben und er und Tadzio allein übrig bleiben. Tatsächlich ist seine Unentschlossenheit aber auch eine Entscheidung dafür, Tadzio und seine Mutter nicht vor der nahenden
Cholera zu warnen, eine Entscheidung, den
Jungen sterben zu lassen.
Demis Volpi, Hauschoreograph am
Stuttgarter Ballett. Der Tod in Venedig
ist seine erste Regiearbeit an der
Oper Stuttgart
Terrain! Sie kommunizieren mit ihren Körpern. Aber wir erleben die Familie wie durch
Aschenbachs Brille.
Myfanwy Piper, von der das Libretto stammt,
fand eine geniale Lösung. Sie war übrigens
die Ehefrau von John Piper, dem Künstler,
der fast alle Bühnenbilder für Brittens Opern
entwarf. Myfanwy Piper legte Tadzio und die
Mutter als sprachlose Figuren an, als Tänzer.
Was passiert mit Aschenbach?
Das klingt verführerisch.
Es geht um eine Reise am Ende eines Lebens, das aus Pflichterfüllung und Verzicht
bestand. So eine schonungslose Reise ins
eigene Innere finde ich gar nicht langweilig!
Für Aschenbach ist es durchaus schockierend, was aus ihm hervorbricht, sobald er
sich erlaubt, sich ein wenig gehen zu lassen: die ganzen unerfüllten Sehnsüchte.
Die Spannung entsteht aus der Sehnsucht
Aschenbachs und seiner Unfähigkeit, zu
handeln. Dieser Schmerz, dieses Sehnen
machen ihn so lächerlich und auch egozentrisch. Er träumt davon, dass alle anderen
Ja, in gewissem Sinne wird der Junge völlig
auf seinen Körper reduziert, so wie Aschenbach sich selbst lange auf seinen Intellekt
reduziert hat. Diese Wahl der Ausdrucksmittel macht völlig klar, dass es zwischen
den beiden gar nicht zur Kommunikation
kommen könnte: Es sei denn, Tadzio würde
plötzlich zu singen oder Aschenbach zu tanzen beginnen.
Wie kommunizieren Mutter und Sohn
miteinander, wenn sie nicht sprechen?
Da bin ich als Choreograph auf gewohntem
Nichts. Und dann doch alles! Aschenbach
bleibt die ganze Zeit über auf der Bühne. Er
hat zwar eine Reise unternommen, doch ist
er völlig immobil. Alles kommt zu ihm.
Ist das nicht eintönig?
Er könnte es sich aber selbst eingestehen,
anstatt sich auf lächerliche Weise mit Platon und Apollo zu rechtfertigen. Ich glaube,
es geht auch um mehr als Pädophilie. Die
Körperlichkeit ist nur der Gipfel dessen, was
Aschenbach empfindet und nicht zulässt.
Welche Rolle spielt die Stadt Venedig?
Eine große und dann aber auch wieder keine!
Sie ist zum Beispiel überhaupt nicht zu sehen. Aschenbachs Reise geht nach innen; die
Stadt ist nur ein Symbol für die Sehnsucht,
für das Fremde, für ungefilterte Inspiration,
aber auch für Verfall und Kitsch. Aber Britten
hat mit seiner Oper eine musikalische Überhöhung von Venedig geschaffen.
Und die lautet?
Die Stadt war für ihn Sehnsuchtsort und Inspiration. Er war, glaube ich, zehnmal dort.
In der Musik hören wir das Schaukeln der
Gondeln auf den Kanälen, wir spüren die
Weite des Meeres am Lido, und wir sehen
die majestätische Stadtansicht bei der Hafeneinfahrt. Britten hat sogar den originalen
Klang der Glocken des Doms von Venedig
nachkomponiert. Eigentlich möchte man
gleich hinfahren – trotz allem!
KOPRODUKTION
OPER STUTTGART &
STUTTGARTER BALLETT
DER TOD IN VENEDIG
Oper von Benjamin Britten
Premiere am 7. Mai im Opernhaus
35
BÜHNE
Mit achtzehn Jahren
zog er von München
nach Stuttgart.
Weil er wusste: Hier
kann man schon als
junger ­Tänzer Choreographien entwickeln
Die zwei Seelen
des Louis Stiens
Tagsüber ist er Tänzer und Choreograph am Stuttgarter Ballett.
Nachts tobt er sich in Electro-Klubs aus.
Führt der Mann ein Doppelleben? Im Gegenteil: Für Louis Stiens
wäre das eine ohne das andere gar nicht machbar
TEXT: BJÖRN SPRINGORUM FOTOS: PETER PALEC
36
37
BÜHNE
Hang zur Finsternis:
Stiens’ erste Choreographie verarbeitete
den Amoklauf von
Winnenden, in seinem
Stück Rausch ging
es um Sex, Drogen und
Verletzlichkeit
D
a, eine Krähe.« Louis S
­ tiens
zeigt auf das Dach des Opernhauses. Die Dämmerung ist
in die Stadt gekrochen, auf
dem Giebel zeichnet sich
pechschwarz die Silhouette des Schicksalsvogels ab. »Das passt ja zu Krabat«, sagt
er leise und schmunzelt. In dem Stück des
Stuttgarter Balletts tanzt der junge Mann
gerade einen der Müllerburschen, die sich
jede Nacht in Raben verwandeln.
Einen sechsten Sinn für Tiere habe er
schon lange, erzählt Stiens und läuft los, mit
großen Schritten durch das Lichtermeer der
Innenstadt, die Hände in den Taschen einer
wärmenden Daunenjacke vergraben.
Als er 2009 mit achtzehn aus München
kam, um in Stuttgart die John Cranko Schule
zu besuchen, wohnte er zunächst im Vorort
Sommerrain, bei Traudel, der besten Freundin seiner Großmutter. Auf dem Heimweg
vom Ballettunterricht traf der schüchterne
­Neuankömmling hin und wieder eine Katze –
ein besonderer, rarer Moment. »Immer wenn
ich sie sah, ging es mir besser.« Für ihn habe
das nichts mit Aberglauben zu tun. Eher mit
einer tief empfundenen Mystik, mit einem
Bewusstsein für all jene Dinge, die sich an
der Peripherie der Realität abspielen.
Mittlerweile ist er 25, und Traudel lebt
nicht mehr. Ihrem Andenken widmet er
seine neueste Choreographie Qi, eine ­Reise
in die Nacht, die er für den Ballettabend
­Nachtstücke kreiert. Es sei ein verwunschenes, dunkles Stück, sagt Stiens. Beeinflusst
habe ihn wie schon zuvor die Melancholie der Filme Rainer Werner Fassbinders,
speziell eine Szene aus der Effi-Briest-­
Verfilmung. Außerdem konfrontiere er gern
klassische mit modernen Elementen, in
38
­ iesem Fall ein barockes Ambiente mit
d
elektronischer Klubmusik.
Electro ist neben dem Ballett seine zweite große Leidenschaft. Stiens legt gelegentlich in Klubs auf, er findet, DJs und Choreographen hätten einiges gemein: »Beide
präsentieren ihre Kunst den Menschen als
Momentaufnahme in der Dunkelheit.« In
dem Stück Rausch schuf er 2014 aus seinen
beiden Passionen ein von harten TechnoBeats befeuertes Porträt seiner Genera­tion:
junge Menschen zwischen Freundschaft und
Gewalt, ihre Sinnsuche in Fernsehen, Sex
und Alkohol.
»Ich mag es, mich in den dunklen Räumen der Klubs von der Lautstärke der Musik
berauschen zu lassen«, sagt er, als wir an
dem Electro-Klub Romantica an der Hauptstätter Straße vorüberlaufen, seinem Lieblingsschuppen in der Stadt. Überraschende
Worte, würde man ihn nur als den spiellustigen Mann kennen, der auf der Bühne das
Publikum zum Lachen bringt und Herzen
gewinnt. Doch zu seiner Persönlichkeit gehören eben auch die dunklen Stunden, die
er im Taumel der Kreativität verbringt. »Die
Nacht hat für mich etwas ganz Besonderes«, sagt er und bleibt auf dem Wilhelmsplatz stehen, inmitten der Menschen und
irgendwie entrückt. Er schaut sich um, sucht
die Sterne am Himmel. »In der Nacht verstummt alles, rückt anderes in den Fokus.
Diese Stille bietet mir Momente der Klarheit.« Stiens lässt sich gern in der Dunkelheit zu seinen Choreographien inspirieren,
er ist offen für eine Welt hinter den Dingen.
Das sieht man in seinen Stücken, aber auch
in seinen wachen, melancholischen Augen.
Mit Vorliebe greift er finstere Themen
auf. In Mäuse verarbeitete er den Amoklauf
von Winnenden; bei Dancer in the Dark war
er die rechte Hand von Marco Goecke, dem
Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts. Goecke ist für ihn Mentor und Vorbild, von ihm hat er seine Vorliebe für die
enge Verzahnung von klassischem Ballett,
modernem Tanz und viel Gestik. Das macht
Stiens’ Stücke zu Ausnahmen: Sie verneinen das Erbe nicht; sie beleuchten es nur
aus dem Blickwinkel eines jungen Mannes
auf der Suche nach sich selbst.
Stiens stammt aus einer Musikerfamilie,
mit sechs Jahren begann er mit dem Ballettunterricht an der Heinz-Bosl-Stiftung
in München. Nach Stuttgart zog ihn nicht
etwa der Ruf der Compagnie und der John
Cranko Schule. Davon erfuhr er erst viel
später. »Mir gefiel, dass man hier schon
so früh selbst choreographieren kann.« Er
nutzt diese Möglichkeit konsequent und
mit Mut, sieht sich selbst mittlerweile als
Tänzer mit dem Herzschlag eines Choreo­
graphen. Sein Talent ist längst über Stuttgart hinaus bekannt, seine Reise beginnt
gerade erst. Mit federnden Schritten geht
er davon, im Schein der Laternen wirkt es
wie der Abgang von der Bühne.
BALLETTABEND NACHTSTÜCKE
ab 24. März im Schauspielhaus
Drei Stücke sind an diesem Abend zu sehen:
Choreographien, inspiriert von dem, was
sich jenseits des Tageslichts und des wachen
Verstandes abspielt. Mal melancholisch
und mal surreal, versetzen sie den Betrachter
in eine andere Welt.
Ssss … von Edward Clug, Qi von Louis Stiens,
Falling Angels von Jiří Kylián
39
BACKSTAGE
Klare: Beim Film ist die Herausforderung,
Szenen in der praktischsten Reihenfolge zu
spielen. Oft hat die Dramaturgie eine szenische Klammer, die Geschichte beginnt zum
Beispiel in einem Krankenhaus und endet
auch genau dort. Dann drehst du das am selben Tag, also Anfang und Ende. Du musst
die Emotion abrufen, die deine Figur über
die ganze Geschichte hinweg aufbaut. Im
Theater baut es sich dagegen in Echtzeit auf.
Walser: Da spielen wir an einem Abend
eine ganze Geschichte …
Klare: … in einem Riesenbogen.
»Was ist schöner: fürs Fernsehen
oder am Theater zu arbeiten?«
Viele Schauspieler wechseln immer wieder
zwischen Bühne und Filmset. Franziska
Walser und Felix Klare über den Unterschied,
vor einem Kameraobjektiv zu spielen oder
vor Hunderten von Menschen
Ihr Herz schlägt also fürs Theater?
EIN KANTINENGESPRÄCH
Klare: Film will immer nah an der Realität
sein, selbst Science-Fiction wird möglichst
realistisch inszeniert. Eigentlich ist aber vieles Fake. Nach zwei Minuten Dreh heißt es
»Cut!«. Beim Theater kannst du dich fallen
lassen. Du kannst behaupten, auf dem Mond
zu sein, und es funktioniert, obwohl alles Äußerliche nur behauptet ist. Du brauchst als
Zuschauer keinen Soundtrack, der dir sagt,
wann du traurig sein sollst. Das Theater ist
auf seine Weise viel realer als der Film.
Walser: Stimmt. Theater erschafft eine besondere Form von Gegenwart, vor Zeugen,
dem Publikum. Beim Film ist meist nur ein
kleiner, exklusiver Kreis anwesend. Man
hofft, dass auch hier der Moment real wird
und etwas Besonderes geschieht. Aber es
bleibt meist ein wenig künstlich. Man dreht
ja immer nur Schnipsel, von denen man
nicht mal weiß, ob sie in der Endfassung
vorkommen werden.
Bedeutet Film immer Kompromiss?
Walser: Nein, das kommt auf den Film an.
Ich habe auch bei Dreharbeiten sehr reale,
berührende Erlebnisse gehabt.
40
FRANZISKA WALSER (64) ist am Schauspiel Stuttgart in Samuel Becketts Glückliche Tage zu sehen.
Für ihre Nebenrolle im Film Ein halbes Leben bekam sie 2010 den Grimmepreis. FELIX KLARE (38)
spielt im Stuttgarter Tatort den Kommissar Sebastian Bootz. Am Schauspiel gastiert er nach mehre­
ren Jahren Bühnenabstinenz für die Inszenierung von Martin Walsers Roman Ehen in Philippsburg
Fotos: Conny Mirbach; Christoph Kolossa
Frau Walser, Herr Klare, was mögen Sie
lieber: Film oder Theater?
Klare: Es hat zeitlich nicht reingepasst. Aber
das darf eigentlich nicht passieren. Am Theater findet die persönliche Entwicklung statt,
in der Auseinandersetzung mit den Kollegen,
der Psychologie der Figuren. Fernsehen war
auf meiner Schauspielschule, Ernst Busch in
Berlin, verpönt und galt als Pipifax …
Walser: Man spürt meistens den Druck
der Einschaltquoten, alles wird irrsinnig
schnell abgedreht. Man kann aber auch
Glück haben. Im Herbst habe ich einen Film
über evangelikale Christen gemacht. Mein
Mann Edgar Selge und ich spielen darin
ein Pastoren­ehepaar, dessen Lebenstraum
zerbricht. Wir haben das Drehbuch im Entstehen begleitet, so wurde der Film über ein
halbes Jahr hinweg zu unserem Projekt. An
manchen Stellen haben wir dann sogar improvisiert.
Walser: Ich will Fernsehen und Theater
gar nicht gegeneinander ausspielen. Oft
ist es aber so, dass die Arbeit am Theater
genauer ist, wirklich in die Tiefe geht. So
ein Filmdrehbuch wird relativ schnell und
kurzfristig erstellt. Aber die Theaterstücke Wie prominent macht TV?
oder Romane, die wir inszenieren, haben Walser: Ich habe das Glück, dass Frauen
schon eine eigene Geschichte hinter sich. beim Film immer geschminkt sind. Privat
Die Auseinandersetzung damit trägt dich mache ich das selten. So leicht bin ich also
nicht zu erkennen.
ganz woandershin.
Klare: Durch die Sprache der Literatur Klare: Ich werde, seitdem ich beim Tatort
kommt im Theater eine besondere Empfin- bin, täglich angesprochen. Das habe ich
dung hinzu. »Gib mir mal die Butter« ist ein völlig unterschätzt. Die Begegnungen sind
Satz für ein Fernsehdrehbuch, da musst du meist sehr oberflächlich. Da kommt einer,
nicht lange drüber nachdenken, und er ist zack, macht ein Foto mit dem Handy und
auch schnell vergessen. Fernsehen ist vor al- geht wieder. Es gibt aber auch nette Molem ein visuelles Medium. Mit Literatur geht mente. Neulich sagte jemand: »Ich kenman schwanger, sie hallt nach. Während der ne dich irgendwoher, warst du nicht auf
monatelangen Arbeit an einem Stück werden dem Theresien-Gymnasium, bei Frau Sodie Sätze zu Begleitern im Alltag, du bewegst undso?« Und ich darauf: »Ja, stimmt, wie
sie in dir und kommst ihnen auf die Spur. war noch mal dein Name?« (lacht)
Walser: Was es heißt, einem Stoff
Walser: In Stuttgart
gibt es ein tolles Thea­
richtig nachzuspüren, merke ich
Damit im Theater alle
wissen, was auf den
jetzt wieder bei Samuel Beckett.
ter­
publikum. Das hat
Bühnen passiert, gibt es
Wir proben ja gerade Glückliche
eine Haltung zu dem,
Durchsagen im ganzen
Tage. Ich habe mit dem Regisseur
was du tust, und ist ganz
Haus. Die schönsten
Armin Petras schon seit Mai letzten
wach bei der Sache. Da
drucken wir in Reihe 5
Jahres geprobt, scheibchenweise,
werde ich schon mal in
weil ich zwischendurch immer fürs
der U-Bahn angesproFernsehen gedreht habe. Der Text
chen, weil jemand über
hat mich also lange begleitet. Er
das Stück diskutieren
begann regelrecht ein Eigenleben
möchte. Neulich an der
DURCHSAGE
zu führen.
Kasse im Supermarkt
23. Nov., 11.15 Uhr
hörte ich von hinten:
Klare: Ich bin gerade voll in diesem
Beleuchtung
Wechsel drin, vom Fernsehen in die
»Na, die Stimme ­kenne
für den Verfolger,
Theaterwelt. Zuletzt habe ich eiich doch. Frau ­Walser!
bitte!
Wann spielen Sie wienen Tatort gedreht, jetzt gehen die
­Proben zu Martin Walsers Ehen in
der hier?« Hast du schon
Damit die Darsteller
beim Hin- und Herlaufen
Philippsburg los, dem frühen Roin Stuttgart gespielt?
auf der Bühne nicht im
man deines Vaters.
Klare: Es wird jetzt das
Dunkeln verschwinden,
Walser: Er freut sich sehr darauf!
erste Mal sein.
muss ein Mitarbeiter der
Wann haben Sie denn das letzte
Walser: Du kannst dich
Beleuchtung ihre Bewegungen begleiten. Der
freuen!
Mal Theater gespielt, Herr Klare?
Verfolger ist ein ScheinKlare: Das ist fast fünf Jahre her.
Die Fragen stellte
werfer, der zum Einsatz
Walser: Was? So lange?
Martin Theis
kommt, sobald es turbulent wird. Das passiert
bei Ronja Räuber­tochter
ziemlich oft.
IN DER PROBE MONIKA KRIMMER (33) aus Waiblingen besuchte eine DURCHLAUF­
PROBE des Balletts Don ­Quijote. In
einer Durchlaufprobe tanzen alle
Beteiligten im Ballettsaal das Stück
einmal von Anfang bis Ende. In den
Hauptrollen tanzten Ami Morita
und David Moore. Sie sind in dieser
Spielzeit erstmals als Kitri und
Basilio zu sehen
Was haben Sie erwartet?
Ich kannte nur das Film­klischee
von Ballettproben, bei denen
es furchtbar streng und unerbittlich zugeht. Diese Vorstellung
hatte ich dann auch im Kopf.
Was ist passiert?
Das genaue Gegenteil! Zwar
haben die beiden Ballettmeister
ständig Anweisungen hineingerufen und bei Unterbrechungen
Korrekturen gemacht, aber
alles auf sehr freundliche Art.
Und die Tänzer waren auch
sehr menschlich, viele haben
zwischendurch gelacht. Das
Ganze hat mich ein bisschen an
einen Abend unter Freunden
erinnert. Aber aufmerksam
waren sie eigentlich immer. Und
die Sprünge haben sie nicht
nur angedeutet, die waren wirklich richtig hoch!
Worauf werden Sie
bei der Aufführung achten?
Auf die Übergänge. In der
Probe wurde jede Szene einzeln
geübt, die Tänzer stellten sich
neu auf. In der Vorstellung muss
dann alles ineinanderfließen.
Ich freue mich schon!
DON QUIJOTE
von Maximilian Guerra
ab 19. Mai im Opernhaus
Die Fragen stellte Christoph Kolossa.
Möchten auch Sie eine Probe
besuchen? Dann schreiben Sie
uns eine E-Mail an
[email protected]
41
BACKSTAGE
ABGESCHMINKT
INFOGRAFIK
Der Bühnentod
Meister der Manipulation
Ein bisschen Schmerz muss sein: Pablo von Sternenfels
erzählt, wie man das Sterben spielt – tanzend
Für ihr Projekt Parasiten beschäftigt Regisseurin Anna-Elisabeth Frick sich mit den
Lebewesen, die die meisten für nutzlose Schmarotzer halten. Ohne die Inhalte
des Stücks vorwegzunehmen, bieten wir hier eine naturwissenschaftliche Einführung
Vogelfutter
Für viele Vögel sind
die kranken Fische ein
gefundenes ­Fressen.
Im Darm des Vogels
nistet sich der Saugwurm ein, produziert
Tausende Eier, die mit
den Ausscheidungen
ins Wasser gelangen
MEIN ARBEITSPLATZ
RALF KÜHNER (47)
ist Orchesterwart bei den
Staatstheatern
Welche Aufgaben hat ein
Orchesterwart?
Ich baue die Instrumente,
Stühle und Pulte für das
Orchester auf. Außerdem verwahre und ordne ich während
der Probenzeit die Notenblätter. Die Musiker leihen sie
bei mir aus, gegen Unterschrift.
denn wir wissen ja nicht, wie er sich anfühlt. Letztlich ist es auf der
Bühne wie in der Realität: Menschen sterben, wie sie gelebt haben.
Mercutio in Romeo und Julia ist ein leidenschaftlicher Charakter, er
Ja, total! Ich arbeite für die
besten Musiker, und ich bin
immer nah dran an der Musik.
Was will man mehr?
macht ständig Witze und gibt den starken Mann. Also albere ich weiter herum, nachdem der Degen mich durchbohrt hat. Ich krümme
mich vor Schmerz, stürze, stehe aber immer wieder auf, küsse die
Die Kontrabässe sind sehr
schwer, sie zu transportieren
ist körperlich anstrengend.
Und wenn wir bei manchen Produktionen neunzig Musiker
im Graben unterbringen, wird
es eng. Da ist Krea­
tivität gefragt. Ich
setze mich auf jeden
einzelnen Stuhl und
mache Trockenübungen, um den Platz­
DURCHSAGE
bedarf abzuschätzen.
42
Mädchen und trinke. Mein Gesicht ist verzerrt, doch ich ringe bis
zum Ende darum zu lachen. Diese Szene ist lang, man hat viel Zeit
Fischfutter
Tausende Schwanz­
larven verlassen Tag
für Tag eine befallene
Schnecke und
schwimmen durch
die Sümpfe, bis sie
ihren nächsten Wirt
finden, den kalifornischen Killifisch
für dieses Ringen. Man kann aber auch viel falsch machen.
Deshalb entwickeln wir eine Sterbeszene im Ballettsaal besonders sorgfältig. Die Atmosphäre während der Probe ist anders als
5. Januar, 9.50 Uhr
Das Klavier
kann weg
Dass schon bei der
Ouver­türe einer Oper
etwas auf der Bühne
passiert, kommt selten
vor. Eine der Ausnahmen
ist die Inszenierung des
Fliegenden Holländers.
Weil das Orchester nicht
zu jeder Probe dieser
Szene spielt, kommt ein
­Klavier am Bühnenrand
zum Einsatz. S
­ obald
es seinen Dienst getan
hat, muss es weg.
sonst, ruhiger. Anfangs reden wir nur, um genau zu verstehen,
was da passiert. Es gibt viel Schönes und Geheimnisvolles in
der Welt des Todes, man muss keine Angst vor ihm haben.
Geht es dann ans Tanzen und Spielen, genügt es nicht, eine
Choreo­graphie zu lernen. Das Sterben muss aus mir kommen. In
mancher Probe liege ich als Toter am Boden und denke: Mann,
es hat nicht geklappt, ich bin immer noch hier. Ich muss eben
auch im Kopf bereit sein zu gehen. Klappt es gut, empfinde ich
im Moment des Todes wirklich Traurigkeit. Doch wenn ich nach
der Szene zu mir zurückkehre, die Vorstellung für mich vorbei
ist, dann fühle ich mich super. Diese intensiven E
­ motionen sind
toll, dafür liebe ich meinen Beruf.« Hiltrud Bontrup
PABLO VON STERNENFELS ist in John Crankos Romeo und Julia als Mercutio zu sehen.
Ab 29. April im Opernhaus
Foto: Christoph Kolossa Illustration: Bernd Schifferdecker Infografik: Karolina Pyrcik
Was ist schwierig an Ihrer
Arbeit?
Ich mag die Barockkomponisten,
da reicht ein kleines
Orchester aus. Nur
das obligatorische
Cembalo ist ein
ziemlicher Brocken!
Interview:
Christoph Kolossa
Hier steckt der Wurm drin
Euhaplorchis californiensis heißt der
kleine Saugwurm, der diesen Zyklus kon­
trolliert und in kalifornischen Salzsümpfen
lebt. Wird ein Fisch infiziert, steigt die
Wahrscheinlichkeit auf das Dreißigfache,
dass er von einem Vogel gefressen wird.
US-amerikanische Ökologen haben
dieses Ökosystem nachgebaut – ohne den
Parasiten. Nach kurzer Zeit fiel es in
sich zusammen: Die Schnecken vermehrten sich hemmungslos, fraßen Algen ab,
der Teich kippte um. Und: Die Population
der Vögel schwand, da sie erheb­liche
Probleme hatten, einen nicht erkrankten
Fisch auch nur zu erblicken
»Der Tod muss vom Herzen kommen, und das ist gar nicht so leicht,
Und das macht Spaß?
Haben Sie
einen Lieblings­
komponisten?
Schneckenfutter
Fischfressende Vögel
scheiden die winzigen
Eier des Saugwurms
mit ihrem Kot aus. Der
wird von Hornschnecken
gefressen. In den
Schnecken schlüpfen
kleine Larven, kastrieren
die Schnecke und beginnen mit der Produktion
von Schwanzlarven
Fischplage
Die Schwanzlarven
bohren sich in den
Fisch, wandern durch
Gefäße zum Hirn,
wo sie eine Art NeuroTeppich bilden: Befallene Fische ­erleiden
Krämpfe, schwimmen
an die Oberfläche, wo
sie zur Beute werden
Sie sind überall! Um den Faktor
4:1 überwiegen Parasiten Nicht­
parasiten. Allein auf jedes Säugetier kommen Hunderte, teilweise
Tausende Parasiten, die darauf
spezialisiert sind, in einer molekular definierten Nische im Innern
ihres Wirtstieres zu überleben.
Treiber der Evolution Als Antwort
auf die stressigen Angriffe erfand
die Natur die sexuelle Fortpflanzung:
das ständige Neumischen der DNA.
Eine andere Antwort ist Symbiose:
Der Störer wird in den Organismus
und die Bedürfnisse des Gestörten
integriert – er wird Nützling.
Innovative Ingenieure »Der
Parasit erfindet eine neue Logik. Er
kreuzt, er diagonalisiert den Austausch. Er versucht, Stimme gegen
Substanz zu tauschen, Luftiges
gegen Solides und Superstruktur
gegen Infrastruktur«, so der französische Philosoph Michel Serres.
PARASITEN
Ein Projekt von
Anna-Elisabeth Frick
Premiere am
17. März im Nord
43
JUNGE SEITE
Für Kinder ab 6 Jahren
mit Singerfahrung
fi­ndet­am­27.­März­im­
Opernhaus ein
VORSINGEN FÜR DEN
KINDERCHOR statt.
Mehr Infos auf: www.
oper-stuttgart.de/
kinderchor
Obwohl ihre Eltern
reich sind, schleicht
Pünktchen sich nachts
aus dem Haus, um
ihrem armen Freund
Anton beim »Geld
verdienen« zu helfen.
Erich Kästners
PÜNKTCHEN UND
ANTON wird am
16. April im Schauspielhaus gezeigt.
AM THEATER ARBEITEN
Von Narrenkleidern
und Feuerwehreinsätzen
Als Kostüm- und Bühnenbildnerin arbeitet Katharina Schlipf
für Ballett, Oper und Theater. Für Demis Volpis Krabat hat sie
eine zauberhafte Ausstattung entworfen
Sie sind Bühnen­ und
Kostümbildnerin.
Hatten Sie diesen
Berufswunsch schon
immer?
Als Kind habe ich in meiner Heimatstadt Rottweil Theater gespielt.
An dem kleinen Theater
mussten alle mitanpacken, auch beim Malen der
Bühnenbilder. Fasnet trägt man in Rottweil traditionelle Kostüme. Bei der Kostümbildnerin, die auch
mein »Narrenkleidle« genäht hat, habe ich mit dreizehn mein erstes Schulpraktikum gemacht, später,
mit fünfzehn, folgte eins im Malsaal in Stuttgart.
Ja, ich wollte immer Kostüme und Bühnen machen.
In der Regel gestaltet eine Bühnenbildnerin
das Bühnenbild, eine Kostümbildnerin
die Kostüme. Sie machen beides. Warum?
Mich hat immer beides interessiert. Wenn ich mit
Demis Volpi an einem Stück arbeite, entwickle ich
immer Bühne und Kostüme. Aber es gibt auch Regisseure, für die ich nur das Bühnenbild entwerfe.
Was ist Ihnen an Krabat wichtig?
Bei dem Ballett wollte ich zeigen, wie unfrei
das Leben der Jungen bei dem Müller ist, der sich
als böser Magier entpuppt, und dass es fast unmöglich ist, aus diesem Gefängnis auszubrechen.
Auch Krabats Faszination für die Zauberei wollte
ich zeigen. All dies ließ sich sehr gut mit Mehlsäcken darstellen: Sie sind ein Zeichen für die
schwere Arbeit in der Mühle, lassen sich zu hohen
Mauern auftürmen, fliegen durch die Luft. Allerdings haben sie die Werkstätten ganz schön
herausgefordert.
In einer Mühle hatte ich alte Mehlsäcke gefunden.
Nach dieser Vorlage sollten 1400 Säcke genäht
und dann auch das richtige Füllmaterial gefunden
werden. Es sollte leicht sein und doch so aussehen,
als wären die Säcke schwer. Es durfte nicht brennbar sein. Immer wenn wir glaubten, das Richtige
gefunden zu haben, kam die Feuerwehr und hielt
einen Bunsenbrenner dran. Erst nach drei Monaten
fingen die Styroporkügelchen nicht mehr Feuer.
1 2= T 3 4 5 6= T +
Manchmal bringen Einschränkungen sehr gute Ergebnisse. Bei Krabat habe ich für die Müllerjungen
mit dickem, einengendem Leinenstoff gearbeitet,
um ihr Gefangensein zu betonen. Tanzen konnten
die Jungen darin natürlich trotzdem.
Im Ballett werden Geschichten mit Bildern und
Körpersprache erzählt. Ist es nicht schwer,
Geschichten ganz ohne Worte zu verstehen?
Auch bei Krabat war uns sehr wichtig, dass die Zuschauer die Geschichte mit dem feinen Zusammenspiel von Tanz, Musik, Bühne und Kostümen verstehen, selbst wenn sie das Buch nicht gelesen haben.
Wir haben es deshalb mit Schulklassen getestet.
Und: Es funktioniert!
Interview: Isabelle Erler
1
Lieblingsbeschäftigung
2 3 4 5 6 7 8 + EN
NACHGEFRAGT
Was macht eigentlich ein
Schauspieler, wenn er keine
Vorstellung hat?
Tänzer brauchen Kostüme, die sie nicht
einengen. Schränkt das Ihre Ideen ein?
Der Choreograph, die Dramaturgin und ich sprechen
vor allem zu Anfang sehr viel über das Stück und
wie wir mit Tanz, Bühne und Kostümen die Geschichte verständlich erzählen können. Bei diesem
Austausch entstehen meine ersten Ideen. Die Entwürfe diskutieren wir dann gemeinsam.
44
Alter
Inwiefern?
Denken Sie sich so etwas allein aus?
Links­prüft­Katharina­Schlipf­die­Rabenfl­ügel­
für Krabat. Die Mehlsäcke für das Bühnenmodell
(oben) formte sie einzeln aus Knete
Name
Illustration: Andi Meier
Kurz nachdem Krabat
seine Lehrstelle in einer
Mühle angetreten hat,
merkt der Waisenjunge,
dass er in die Fänge
eines schwarzen Zauberers geraten ist. Der
einzige Ausweg, sich
und seine Freunde zu
befreien ist … die Liebe.
Das magisch-märchenhafte Ballett KRABAT
von Demis Volpi nach
dem Roman von
Otfried Preußler ist am
11., 17., 18., 27. und
29. März im Opernhaus
zu sehen.
THEATERKINDER
In diesen Kostümen treten Frau Müller und Herr Schulz am liebsten auf.
Was stellen sie dar? Schreibe die Lösung auf. Dann streiche, tausche oder
ergänze die Buchstaben der Worte den Zahlen entsprechend. Nun weißt
du, was die beiden am Theater machen. Tipp: Der erste Buchstabe ist ein S!
Foto: Roman Novitzky; Katharina Schlipf; Martin Sigmund
TERMINE
FÜR DICH
RÄTSELHAFT
F
ür ein neues Theaterstück besprechen Regisseur und Schauspieler zunächst, was
wichtig ist und wie die Figuren am besten dargestellt werden könnten. Dann lernt
der Schauspieler seine Rolle auswendig. Manchmal muss er auch Dinge lernen, die er
noch nicht kann, Akkordeon spielen zum Beispiel oder Einrad fahren. Im Anschluss
wird geprobt. Geprobt. Und geprobt. Erst ohne, später mit Kostüm, richtig geschminkt
und auf der fertig ausgestatteten Bühne. Weil der Schauspieler in mehreren Stücken
mitspielt, lernt und probt er auch für mehrere Stücke gleichzeitig. Und wenn das
Theater im Sommer pausiert, dreht er schon mal einen Film. Manchmal bleibt auch
Zeit, einfach auf dem Sofa zu liegen oder in den Urlaub zu fahren.
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n.
Vor vier Jahren habe ich die
Oper Peter Pan gesehen. Da
haben so viele Kinder mitgesungen – danach wollte ich unbedingt in
diesen Chor. Zum Glück hat es mit dem
Vorsingen geklappt! Insgesamt sind wir
im Kinderchor der Oper Stuttgart
über sechzig Sängerinnen und
Sänger zwischen sechs und
neunzehn Jahren, jeder singt
pro Spielzeit meist in mehreren Opern mit, ich diesmal
in Tosca, Der Schaum der
Tage, Pique Dame und
Carmen, meiner Lieblingsoper. Vor Premieren
proben wir etwa dreimal
die Woche. Ich finde das
nicht schlimm, denn ich
habe im Chor viele Freunde,
die ich eben nur hier treffe. Einmal hat
Sir Simon Rattle uns zu einem Auftritt
nach Berlin eingeladen. Aber leider hat
es mit den Zeitplänen nicht gepasst,
und wir sind nicht gefahren. Echt schade.
Der Applaus am Ende einer Aufführung
ist immer toll, aber am tollsten ist er bei
Schulaufführungen! Da klatschen alle
Zuschauer total wild und trampeln mit
den Füßen.
45
Reihe 5 im Abo!
BACKSTAGE
DURCHSAGE
10. Januar, 10.10 Uhr
Für die
Zaubersäcke bitte
mit Funkgerät
kommen!
Kostenlos und viermal im Jahr
bieten wir Ihnen noch mehr
Geschichten vor, auf und hinter
der Bühne.
Foto: Vladislav Parapanov
Demis Volpis Ballett
Krabat spielt in der Mühle
eines Zauberers, unzählige Mehlsäcke bilden
das Bühnenbild – und
bewegen sich wie von
Geisterhand geworfen. Die
Meister dieses magischen
Effekts sind Techniker, die
sich hinter der Bühne mit
Funkgeräten verständigen.
WAS WAR DA LOS?
Michael Nagl, Bassist am Opernstudio der Oper Stuttgart:
»Ich bin gebürtiger Wiener. Doch selbst für einen Angehörigen
einer Wintersportnation ist es nicht üblich, im Skianzug in eine
Theaterkantine zu spazieren, um sich für die Pause einen Joghurt
zu holen. Mein Aufzug ist ein Kostüm, das ich in Eugen Onegin trage. Die Oper, komponiert von Peter Tschaikowsky nach Puschkins
gleichnamigem Epos, spielt in einer Gesellschaft, die an Kommerz
und Kapitalismus kaputtzugehen droht. Die Regisseurin Waltraud
Lehner hat die Handlung in eine russische Version von St. Moritz
verlegt: einem Ort, in dem Wintersport auch darin besteht, seinen
Reichtum zur Schau zu stellen. Ich singe eine relativ kleine Rolle,
doch auch meine Figur kann sich nicht blicken lassen ohne das Outfit der Saison. In der Kantine muss ich nur aufpassen, mit den Skiern
auf den Schultern nicht die Regale der Kühltheke abzuräumen.«
Lösung von Seite 45: Statisten
IMPRESSUM
Herausgeber
Die Staatstheater Stuttgart
Geschäftsführender Intendant
Marc-Oliver Hendriks
Intendant Oper Stuttgart
Jossi Wieler
Intendant Stuttgarter Ballett
Reid Anderson
Intendant Schauspiel Stuttgart
Armin Petras
46
Konzept ErlerSkibbeTönsmann &
Grauel Publishing GmbH
Beratung der Herausgeber
Johannes Erler, Ralf Grauel
Redaktion Ralf Grauel (Ltg.),
Hiltrud Bontrup, Isabelle Erler (Junge
Seite); Christoph Kolossa
Redaktion für Die Staatstheater
Stuttgart Thomas Koch, Claudia
Eich-Parkin (Oper); Vivien Arnold,
Ronja Ruppert (Ballett); Carolina
Gleichauf, Jan Hein (Schauspiel)
Gestaltung Anja Haas; Inga Albers
Anzeigen Simone Ulmer
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Druck Bechtle Druck&Service GmbH,
Esslingen
Erscheinungsweise 4 × pro Spielzeit
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www.staatstheater-stuttgart.de
Hauptsponsor des
Stuttgarter Balletts
Förderer des
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Partner der
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Per Post an:
Die Staatstheater Stuttgart – Publikationen
Postfach 10 43 45, 70038 Stuttgart
Online unter:
www.staatstheater-stuttgart.de/reihe5
220 000 LITER WEIN *
* Als Kurfürst Carl Theodor
in Heidelberg sein großes Fass
aufmachte, blieb keine Kehle
trocken. Genießen im großen Stil.
In den historischen Mauern
des Südens.
www.tourismus-bw.de
[email protected]
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