Programmheft 2013 (1,2 MiB)

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Richard Wagner
DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
Romantische Oper in drei Aufzügen
Uraufführung am 2. Januar 1843 am königlichen
Hoftheater in Dresden
Eine Veranstaltung der Theater Nordhausen/
Loh-Orchester Sondershausen GmbH im Auftrag
der Stadt Sondershausen
Kai Günther
„Mit dem Fliegenden Holländer wurde das moderne Musikdrama geboren.“
(Ernest Newman)
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Liebe Besucherinnen und Besucher der
Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen,
sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Besucherinnen und Besucher,
im Wagner-Jahr freue ich mich ganz besonders, dass wir Ihnen zu den Thüringer
Schlossfestspielen Sondershausen die packende Oper Der fliegende Holländer in unserem schönen Schlosshof präsentieren können. Die Musik Richard Wagners war schon
zu Lebzeiten mit unserem traditionsreichen Loh-Orchester sehr verbunden, denn es war
eines der ersten Orchester in unserem Land, das seine Werke aufgeführt und damit zu
deren Durchbruch beigetragen hat.
pünktlich zum 200. Geburtstag von Richard Wagner ankert Der fliegende Holländer auf
dem Schlosshof zu Sondershausen. Wir können miterleben, wie der zu ewiger Seefahrt
verdammte Kapitän um die Liebe ringt. Wird er sich von seinem Fluch befreien können?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen gehen in diesem Sommer bereits in das achte Jahr. In dieser Zeit haben sie sich als
ein überregional angesehenes und gefragtes Festival etabliert, viele Menschen konnten
seither wunderschöne Abende hier in unserer kleinen Stadt erleben. Darüber bin ich
sehr glücklich.
Bereits zum 8. Mal wird der malerische Schlosshof Veranstaltungsort für große Aufführungen. Der Zuspruch ist beeindruckend: Seit 2006 haben sich die Besucherzahlen
verdoppelt – die Festspiele sind ein Magnet für Theaterfreunde aus dem gesamten
Bundesgebiet geworden.
„Die Musik ist die Sprache der Leidenschaft“, hat Richard Wagner einmal gesagt. Genießen Sie auch in diesem Jahr bezaubernde und mitreißende Musik. Und verweilen
Sie ein bisschen in unserem schönen Schlosshof. Unsere Gastronomie lädt Sie ein, sich
auch kulinarisch in der Pause sowie vor und nach den Vorstellungen verwöhnen zu
lassen.
Ich wünsche Ihnen ein unvergessliches Opernerlebnis hier bei uns in der Musik- und
Bergstadt Sondershausen.
Mit Wagners romantischer Oper leisten die Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen
einen fulminanten Beitrag zum Richard-Wagner-Jahr 2013.
Thüringen ist Kulturland. Zu seinen wichtigsten Kulturschätzen gehören die Theater und
Orchester. Hier in Sondershausen wird ihre lange Tradition mit dem vor fast 400 Jahren
gegründeten Loh-Orchester besonders spürbar. Die Landesregierung bekennt sich zu
der besonderen Bedeutung der Kultur in Thüringen. Wir sorgen für eine stabile Finanzierung der Theater und Orchester.
Zum Gelingen der Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen 2013 tragen viele Menschen und Institutionen bei. Ich danke allen Mitarbeitern, Künstlern und Musikern für
ihr Engagement und wünsche Ihnen und dem Publikum spannende und erfolgreiche
Festspiele.
Ihr
Ihr
Joachim Kreyer
Bürgermeister der Stadt Sondershausen
Christoph Matschie
Thüringer Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur
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handlung
Erster Aufzug
An der norwegischen Steilküste gerät das Schiff Dalands in einen starken Sturm, so dass
er in der Bucht von Sandvike vor Anker gehen muss. Sein Steuermann soll Wache halten,
doch er schläft ein und bemerkt nicht die Ankunft eines weiteren Schiffes in der Bucht. Es
ist jenes des Holländers, der dazu verdammt ist, ewig auf dem Meer herumzuirren. Einst
wollte er im Sturm ein Kap umsegeln und hatte geschworen, es notfalls bis in alle Ewigkeit zu versuchen. Der Teufel, so die Sage, hat ihn beim Wort genommen. Nur alle sieben
Jahre darf er einmal an Land, um sich eine Frau zu suchen. Ist sie ihm treu bis in den Tod,
so ist er erlöst. Diese Frist ist gerade um. Im Gespräch mit Daland erfährt der Holländer,
dass Daland eine Tochter hat und hält umgehend um ihre Hand an. Da der Holländer Daland dafür reiche Schätze verspricht, willigt dieser ohne Zögern ein.
Zweiter Aufzug
Die Frauen in Dalands Heimat sind bei der Arbeit und denken an ihre seefahrenden Männer.
Nur Senta, die Tochter Dalands, ist untätig und träumt versunken vor einem Bild des fliegenden Holländers. Dessen Schicksal kennt sie durch Marys Erzählungen schon seit vielen
Jahren. Die Mädchen fürchten, dass Erik, der um Sentas Hand anhalten will, eifersüchtig
wird. Um dem eintönigen Gesang der Mädchen ein Ende zu machen, beginnt Senta selbst
zu singen. In ihrer Ballade schildert sie das Schicksal des Holländers. Sie selbst will ihn von
seinem Fluch erlösen. Die anwesenden Mädchen sind ebenso entsetzt wie Erik, der gerade gekommen ist, um Dalands Rückkehr anzukündigen. Zur Warnung schildert Erik Senta
einen Traum, in dem Daland mit einem fremden Mann an Land kommt, den Senta küsst
und mit dem sie auf das Meer hinaussegelt. Kurz darauf erscheint Daland tatsächlich mit
einem Unbekannten. Senta sieht in ihm den Holländer und dieser in ihr seine Erlöserin.
Senta verspricht dem Holländer „Treue bis zum Tod“. Daland kann die Verlobung der beiden
bekanntgeben.
Dritter Aufzug
Die norwegischen Matrosen feiern mit ihren Frauen ausgelassen ihre Rückkehr. Auf dem
Schiff des Holländers bleibt es dagegen auch dann noch ruhig, als die Feiernden immer
spöttischer die Besatzung zum Mitfeiern animieren. Plötzlich erwacht das Schiff scheinbar
zum Leben, und der nun einsetzende Spuk treibt die norwegischen Matrosen in die Flucht.
Erik erinnert Senta an ihren einstigen Treueschwur, sie jedoch weist den Liebenden ab und
gemahnt ihn an ihre neuen „hohen Pflichten“. Der Holländer wird Zeuge dieses Streits und
glaubt nicht mehr an die Treue Sentas, hat sie diese doch Erik gegenüber schon einmal
gebrochen. Er gibt daher das Zeichen zum erneuten Aufbruch. Senta will das nicht zulassen und sich vor den Augen aller in den Tod stürzen.
Joshua Farrier, Kathleen Parker
ZUR BEWEGTEN GESCHICHTE VON WAGNERS OPER
von Juliane Hirschmann
„Die Fabel von dem Fliegenden Holländer ist wie er ist, glaubt nicht an Weibertreue
euch gewiß bekannt. Es ist die Geschichte und erlaubte daher dem verwünschten
von dem verwünschten Schiffe, das nie in Kapitän, alle sieben Jahre einmal ans
Land zu steigen und zu heiraten und bei
den Hafen gelangen kann und jetzt schon
seit undenklicher Zeit auf dem Meere her- dieser Gelegenheit seine Erlösung zu
betreiben. Armer Holländer! Er ist froh
umfährt. (...) Jenes hölzerne Gespenst,
genug, von der Ehe selbst wieder erlöst
jenes grauenhafte Schiff führt seinen Namen von seinem Kapitän, einem Holländer, und seine Erlöserin loszuwerden, und er
begibt sich dann wieder an Bord.“
der einst bei allen Teufeln geschworen,
daß er irgendein Vorgebirge (…) trotz des So liest sich der Einstieg in die Sage vom
fliegenden Holländer, wie sie Heinrich
heftigsten Sturms, der eben wehte, umHeine in seiner Erzählung Aus den Meschiffen wolle, und sollte er auch bis zum
moiren des Herren von Schnabelewopski
Jüngsten Tage segeln müssen. Der Teufel
hat ihn beim Wort gefaßt, er muß bis zum schildert. Wagner lernte Heines sehr ironische Darstellung wahrscheinlich schon
Jüngsten Tag auf dem Meere herumirren,
unmittelbar nach deren Erscheinen im
es sei denn, daß er durch die Treue eines
Jahr 1834 kennen. Auch wenn Wagner
Weibes erlöst werde. Der Teufel, dumm
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es später rückblickend anders beschrieb,
so wurde Heines Version wohl doch zur
unmittelbaren Inspirationsquelle für die
Oper Der fliegende Holländer. Zweifellos
Spuren hinterlassen haben in Wagners
Holländer darüber hinaus die intensiven
(Natur-)Erlebnisse seiner abenteuerlichen
Seereise von Pillau in der Danziger Bucht
durch die Ost- und Nordsee nach London
im Jahr 1839. 1837 war Wagner Kapellmeister in Riga geworden; hochverschuldet
hatte er jedoch schon zwei Jahre später
gemeinsam mit seiner Frau Minna vor
seinen Gläubigern die Flucht ergriffen. In
seiner Autobiographischen Skizze von 1842
notierte er: „Diese Seefahrt wird mir ewig
unvergeßlich bleiben; sie dauerte drei
und eine halbe Woche und war reich an
Unfällen. Dreimal litten wir von heftigstem
Sturme, und einmal sah sich der Kapitän
genöthigt, in einem norwegischen Hafen
Herren des Opernchores und Extrachores
einzulaufen. Die Durchfahrt durch die norwegischen Schären machte einen wunderbaren Eindruck auf meine Phantasie; die
Sage vom fliegenden Holländer, wie ich sie
aus dem Munde der Matrosen bestätigt
erhielt, gewann in mir eine bestimmte, eigenthümliche Farbe, die ihr nur die von mir
erlebten Seeabenteuer verleihen konnten.
(…) Der fliegende Holländer, dessen innige
Bekanntschaft ich auf der See gemacht
hatte, fesselte [später in Paris, Anm. d.
Red.] fortwährend meine Phantasie (…).“
Wann genau Wagner den Entschluss fasste, eine Oper über die Holländer-Sage zu
schreiben, wissen wir nicht. Ein Entwurf
in französischer Sprache vom Frühjahr 1840 ist das früheste erhaltene Dokument:
Wagner hielt sich in Paris auf, erhoffte sich
dort den großen Durchbruch als Komponist
und bewarb sich daher dank Giacomo
Meyerbeers Vermittlung mit einem Prosa-
entwurf zu einer Holländer-Oper um einen
Kompositionsauftrag an der Grand Opéra.
Doch Wagner bekam den ersehnten Auftrag nicht. Finanzielle Engpässe zwangen
ihn vielmehr, den Entwurf an die Grand
Opéra zu verkaufen, aus dem die Librettisten Paul Foucher und Bénédict-Henry
Révoil sowie der Komponist Pierre Louis
Philippe Dietsch eine Holländer-Oper
schufen. Dass deren Uraufführung am
9. November 1842 an der Pariser Grand
Opéra zu einem Misserfolg wurde, war
für Wagner günstig. Denn er hatte inzwischen ein eigenes Libretto geschrieben,
bis November 1841 die Musik komponiert
und hoffte auf eine Uraufführung. Diese
erlebte er schließlich am 2. Januar 1843
in Dresden.
Nach Die Feen (1833/1834), Das Liebesverbot (1834–1836) und Rienzi (1837–
1840) ist der Holländer Wagners vierte
vollendete Oper. Er schrieb das Werk,
das einerseits in der Tradition der romantischen Geisteropern steht (wie Carl
Maria von Webers Freischütz, 1821, oder
Heinrich Marschners Der Vampyr, 1828),
andererseits aber einen gegenüber den
vorangegangenen Werken neuen Stil
zeigt, in nur sieben Wochen. Doch zufrieden gab Wagner sich nie, immer wieder
setzte er erneut den Rotstift an. Einer der
wichtigsten Eingriffe ist jener in die Instrumentation im Jahr 1846, die er stark
entschlackte. Inhaltlich folgenschwer
waren die Ergänzungen jeweils am Ende
der Ouvertüre und im dritten Akt zum so
genannten „Erlösungsschluss“ kurz nach
Vollendung des Tristan im Jahr 1860.
WUSSTEN SIE SCHON …
… dass der fliegende Holländer womöglich
auf eine historische Figur aus dem 17.
Jahrhundert zurückgeht, auf den niederländischen Ostindienfahrer Bernard Fokke?
Er war bekannt für die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der er von den Niederlanden nach Java fuhr, und man glaubte
ihn daher im Bund mit dem Teufel. Als er
von seiner letzten Fahrt nicht zurückkehrte,
ging man davon aus, dass er nun als fliegender Holländer im Auftrag des Teufels
die Meere kreuzen müsse.
… dass die Sage vom fliegenden Holländer
von Anfang an mit dem Kap der Guten
Hoffnung in Verbindung gebracht wurde?
… dass in dem bekanntesten Werk des
englischen Dichters Samuel Taylor Coleridge das gespenstische Schiff mit dem
verfluchten Kapitän erscheint? 1798
schrieb Taylor die Ballade The Rime of the
Ancient Mariner (Die Ballade vom alten
Seemann). Sie gilt als Beginn der englischen Romantik und hatte großen Einfluss auf die englische Sprache.
… dass die Legende vom fliegenden Holländer im 19. Jahrhundert vor allem in der
englischen und deutschen Literatur zu finden ist? Wilhelm Hauff etwa schrieb Die
Geschichte von dem Gespensterschiff
(erschienen 1826), in der die Legende in
einen orientalisch-islamischen Kontext
transportiert ist. Mit ziemlicher Sicherheit
war Hauffs Erzählung sowohl Heine als
auch Wagner vertraut.
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„DAS MYTHISCHE GEDICHT DES VOLKES“ – WAGNER ÜBER DEN
FLIEGENDEN HOLLÄNDER
AUF DEM WEG ZUM MUSIKDRAMA – ZUR MUSIK DER OPER
von Barry Millington
„Die Gestalt des Fliegenden Holländers ist
das mythische Gedicht des Volkes; ein
uralter Zug des menschlichen Wesens
spricht sich in ihm mit herzergreifender
Gewalt aus. Dieser Zug ist, in seiner allgemeinsten Bedeutung, die Sehnsucht nach
Ruhe aus Stürmen des Lebens. In der heiteren hellenischen Welt treffen wir ihn in
den Irrfahrten des Odysseus und in seiner
Sehnsucht nach der Heimat, Haus, Herd
und – Weib, dem wirklich Erreichbaren
und endlich Erreichten des bürgerfreudigen Sohnes des alten Hellas. Das irdisch
heimatlose Christentum fasste diesen
Zug in die Gestalt des ‚ewigen Juden‘;
(…) ihm blieb (…) als einzige Hoffnung
die Aussicht auf das Nichtmehrsein. Am
Schlusse des Mittelalters lenkte ein neuer,
tätiger Drang die Völker auf das Leben
hin: Weltgeschichtlich am erfolgreichsten
äußerte er sich als Entdeckungstrieb. Das
Meer ward jetzt der Boden des Lebens,
aber nicht mehr das kleine Binnenmeer der
Hellenenwelt, sondern das erdumgürtete
Weltmeer. (…) die Sehnsucht des Odysseus nach Heimat, Herd und Eheweib
zurück hatte sich, nachdem sie an den
Leiden des ‚ewigen Juden‘ bis zur Sehnsucht nach dem Tode genährt worden,
bis zu dem Verlangen nach einem Neuen,
Unbekannten (…) gesteigert. Diesen
ungeheuer weit ausgedehnten Zug treffen
wir im Mythos des fliegenden Holländers
(…). Wir treffen auf eine vom Volksgeiste
bewerkstelligte, merkwürdige Mischung
des Charakters des ewigen Juden mit
dem des Odysseus. (…) Als Ende seiner
Eine der auffälligsten Nummern des Werks
ist die Ballade der Senta im 2. Akt; sie beginnt mit dem gleichen erregenden Streichertremolo aus leeren Quinten, das auch
die Ouvertüre eröffnet, und mit dem Hornrufmotiv des Holländers, das zuerst stampfend in den tiefen Instrumenten und dann
in der Singstimme zu hören ist. So wichtig
Sentas Ballade auch sein mag: Wagners
Bemerkung, die er ein Jahrzehnt nach der
Komposition des Werks in Eine Mitteilung
an meine Freunde machte, dass nämlich
die gesamte Oper sich aus dem „thematischen Keim“ der Ballade entwickelt hätte,
sollte als das angesehen werden, was sie
ist: ein nachträglicher Versuch, den Fliegenden Holländer als Vorform eines durchkomponierten Musikdramas vorzustellen,
nicht als altmodische Nummernoper. Es
stimmt zwar, dass Elemente der Ballade in
einigen der anderen zentralen Nummern
des Werks auftauchen, z. B. im Monolog
des Holländers, im Duett Senta – Holländer
sowie im Finale. Es trifft auch zu, dass eine
melodische Idee, die man als „Erlösungsmotiv“ bezeichnen könnte, an anderen Stellen
im Werk wiederkehrt. Aber solche Formen
der Wiederkehr sind weit entfernt von der
strukturellen Organisation, die den Ring
kennzeichnet, in dem eine große Zahl von
Leitmotiven einer systematischen Ausarbeitung in großem Rahmen unterworfen wird.
Auch wenn Der fliegende Holländer noch
kein durchkomponiertes Musikdrama ist,
so ist er doch auch keine „Nummernoper“
im althergebrachten Sinne mehr. Die
deutsche romantische Oper rückte in den
Leiden ersehnt er, ganz wie Ahasveros,
den Tod; diese, dem ewigen Juden noch
verwehrte Erlösung kann der Holländer
aber gewinnen durch – ein Weib, das sich
aus Liebe ihm opfert: Die Sehnsucht nach
dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen
dieses Weibes; dies Weib ist aber nicht
mehr die heimatlich sorgende, vor Zeiten
gefreite Penelope des Odysseus, sondern
es ist das Weib überhaupt, aber das
noch unvorhandene, ersehnte, geahnte,
unendlich weibliche Weib, – sage ich es
mit einem Worte heraus: das Weib der
Zukunft. (…)”
(„Eine Mitteilung an meine Freunde“,
Zürich 1851)
Kathleen Parker, Alexandra Sherman
ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts
von der Unterteilung in Nummern mit verbindenden Rezitativen allmählich ab.
Wagner trieb diesen Prozess mit seinem
Holländer voran, insofern als die einzelnen
Aufzüge kleine Gruppen von miteinander
verbundenen Nummern enthalten: Nr. 4
beispielsweise wird als „Lied, Szene,
Ballade und Chor“ bezeichnet.
Ein besonders auffälliges Merkmal der
Partitur ist der Kontrast zwischen der
„äußeren“, öffentlichen Welt von Daland,
Erik, den norwegischen Matrosen und
den Mädchen einerseits und andererseits
der „inneren“ Welt der Vorstellung, in der
Senta und der Holländer leben. Die äußere
Welt ist durch traditionelle Formen und
Harmonien gekennzeichnet; die regelmäßigen zweitaktigen Phrasen in Eriks
Kavatine im dritten Aufzug sind ein extremes Beispiel dafür. Für die Darstellung
der inneren Welt suchte Wagner dagegen
häufig, sich von den Zwängen einer regelmäßigen periodischen Struktur zu befreien: Der Monolog des Holländers im ersten
Akt kommt diesem Ziel am nächsten. Die
einzige bemerkenswerte Ausnahme von
dieser Dichotomie ist Eriks Traumerzählung
Auf hohem Felsen, in der unregelmäßige,
bruchstückhafte Phrasen eine entsprechend traumähnliche Atmosphäre heraufbeschwören.
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WIE KANN JEDER EINZELNE SEIN GLÜCK FINDEN?
Der Regisseur Toni Burkhardt über den Fliegenden Holländer
Ist die Geschichte um Senta und den Holländer eine Liebesgeschichte?
Zuerst denkt man, ja klar. Dann fragt man
sich: Was ist das denn tatsächlich zwischen den beiden? Im großen Duett im
2. Akt fragt sich der Holländer z. B. selbst:
„Die düstre Glut, die ich hier fühle brennen,
sollt’ ich Unseliger sie Liebe nennen? Ach
nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil“.
Man bekommt seine Zweifel. Ist es vielleicht doch eher eine Zweckgemeinschaft?
Wir haben bei den Proben lange darüber
gesprochen. Was ist Liebe überhaupt?
Die Antwort darauf ist nicht leicht. Da ist
etwas zwischen den beiden, etwas sehr
Intensives, ein tiefes Verständnis füreinander, eine Seelenverwandtschaft – auch
das könnte man Liebe nennen. Sie sind
füreinander bestimmt, brauchen einander:
Der Holländer braucht Senta, um endlich
Erlösung zu finden, und Senta braucht ihn,
sein Schicksal, um ihrem Leben einen Sinn
geben zu können, der jenseits der Heilsversprechen jener Gesellschaft liegt, in der
sie lebt. Profitstreben etwa und ewiger
Fortschrittsglaube lassen das Individuum in
einer grauen Masse verschwinden.
Kann denn der Holländer Erlösung finden?
Das können und wollen wir mit unserer
Inszenierung nicht beantworten, das muss
jeder für sich selbst tun. Auch Wagner hat
das offen gelassen. Der neue Schluss, die
musikalische Erlösung, die er übrigens erst
Jahre nach der Uraufführung komponiert
hat, ist eine Zukunftsvision, die für ihn in
seiner Zeit nicht denkbar war. Ist sie es
heute? Bewusst bedient Wagner sich des
Mythos’ als einer Erzählung, die über Zeiten
und Grenzen hinaus Gültigkeit hat. Es ist
die Aufgabe jedes Einzelnen, sich damit
auseinanderzusetzen und das Gesehene
auf seine Gegenwart zu reflektieren. Hans
Blumenberg nannte das die „Arbeit am Mythos“. Wir können diesen Mythos nur aktualisieren und die Gedanken der Zuschauer
in eine bestimmte Richtung bringen.
Ihr habt die Geschichte in eurer Inszenierung um die Wende zum 20. Jahrhundert
angesiedelt, einer Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Ist die Geschichte für dich
heute auch aktuell?
Roger Krebs
Klar! Jeder Mythos kreist um allgemeingültige Fragen, Menschheitsfragen, nicht um
ein historisches Thema. Wie jeder Einzelne
sein Glück finden kann, seine Erfüllung im
Leben – die Frage wird immer aktuell
sein. Was bringt mir Erfüllung in meinem
Leben? Darüber gibt es ganz verschiedene
Ansichten. Und was passiert, wenn Ansichten darüber miteinander kollidieren
oder Menschen unglücklich und zu Außenseitern werden? Wie geht eine Gesellschaft
mit diesen Menschen um? Werden sie mit
Zwang festgehalten, auf Spur gebracht?
Oder wendet man sich von ihnen ab?
Senta und der Holländer sind exemplarische Figuren. Senta ist in einer Gesellschaft gefangen, mit deren „Idealen“ sie
nicht glücklich werden kann, und es gibt
für sie keinen Weg heraus. Also träumt
sie sich in eine Fantasiewelt, in der sie als
Erlöserin des Holländers ihrem Leben einen
Sinn geben kann. Die Frage ist nur, wohin
kann das führen. Und was ist, wenn all die
Hoffnungen nichts als Fantasie waren,
wenn es in der Realität gar keinen Ausweg
gibt? Der Holländer ist sogar weniger eine
Figur als ein Prinzip. Sein Schicksal wird
oft als Sinnbild für den Lebensweg des
Menschen gedeutet. Er steht außerhalb
der Gesellschaft, will aber gar nicht zurückkehren, sondern sucht nur ewige Ruhe
und Frieden. Was er dafür tut ist egoistisch
und radikal. In seiner großen Auftrittsarie
zum Beispiel Die Frist ist um beschwört
er das Ende der Welt herauf, nur um sein
Heil zu finden, wünscht nichts mehr als
den Weltenbrand, die ewige Vernichtung.
Das ist eine weitere interessante Facette
des Stücks: Was passiert, wenn eigene
Kai Günther, Kathleen Parker
Interessen mit denen anderer kollidieren,
anderen sogar schaden?
Wagners Oper sieht mehrere verschiedene
Schauplätze vor. Welche Gedanken haben
dich und den Bühnenbildner Wolfgang
Rauschning zu eurem Bühnenbild auf dem
Schlosshof geleitet, der ja nur sehr begrenzte Umbaumöglichkeiten bietet?
Wir haben versucht alles in einen Raum zu
bringen, der – je nach Nutzung – alles sein
kann, auch Ausdruck des Innenlebens der
Figuren. Inspiriert hat uns ein Schiffswrack
mit Strandgut. Da zeigt sich auch einiges
von Sentas Innenwelt und vom Zustand einer Gesellschaft, die sich festgefahren hat.
Und natürlich wollten wir die maritime
Atmosphäre im Holländer aufgreifen, die
Enge und Abgeschiedenheit des Hafendorfes, das raue Leben ganz nah an den
Naturgewalten.
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SENTA UND HOLLÄNDER – ZWECKGEMEINSCHAFT STATT ROMANTIK?
von Udo Bermbach
Vergegenwärtigt man sich das Verhältnis
vom Holländer zu Senta, so ergibt sich
eine zunächst verblüffende Einsicht: Der
Holländer sucht zu seiner Erlösung keine
bestimmte Frau, sondern eine beliebige,
die sich ihm ohne Fragen und Bedenken
verbinden und also opfern soll. Nun also ist
seine Wahl auf Senta gefallen, nachdem der
Vater sie als schön und treu gepriesen hat.
Aus der Perspektive des Holländers könnte
damit seine „Erlösung“ beginnen – und so
vereinbart er mit Daland, dem Vater Sentas,
ein Tauschgeschäft: seine Schätze gegen
die Frau – Ware gegen Ware, wie es in
eben der Gesellschaft üblich ist, die Wagner
durch eine Revolution überwinden möchte.
Der Tausch freilich wird deshalb möglich,
weil Senta ihrerseits über einen Ausbruch
Marian Kalus
aus den sie bedrängenden Verhältnissen
seit langem nachdenkt, dies vor einem Bild,
das einen unbekannten Seemann – den
Holländer – zeigt, der für sie alle Hoffnung
verkörpert, „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) zu finden.
Als der Holländer plötzlich vor ihr steht, sie
zur Frau will, sieht sie ihre Chance: Er ist der
Mann, der sie „erlösen“ kann – und den umgekehrt sie „erlösen“ will –‚ mit dessen
Person sie in ihrer Fantasie alle noch unausgeschöpften Möglichkeiten ihres bisher so
armseligen Lebens verbindet. Zwei Außenseiter treffen hier aufeinander: ein Mann,
der auf Erden – sprich: innerhalb der gegebenen Verhältnisse – keine Heimat finden
kann, und eine Frau, die in ihren Fantasien
längst die Realität hinter sich gelassen hat.
Beide sind sie, aus unterschiedlichen Motiven, in eine vergleichsweise ähnliche
Lebenssituation geraten, beide bedürfen
sie eines Partners, um ihren Wunsch zu
verwirklichen.
Im großen Duett der dritten Szene des
zweiten Aufzugs bekennen sich Senta und
der Holländer zueinander und ihrem Ziel:
zueinander zu gehören, um sich, jeder für
sich, erlösen zu können. Es ist nicht jene
selbstlose, von Wagner immer wieder als
Gegenentwurf zu Macht und Politik verstandene Liebe, wie sie etwa Elisabeth zu
Tannhäuser, Sieglinde zu Siegmund, Eva zu
Stolzing oder Isolde zu Tristan empfinden,
die Senta zu dem Holländer treibt und
diesen zu ihr; es ist der egoistische Wunsch
bei beiden, den anderen jeweils als „Hilfe
zum Ausstieg“ zu nutzen.
Damen und Herren des Opernchores und Extrachores
Textnachweise:
S. 2: Zitat Ernest Newman bei Peter Wapnewski in einem Radiobeitrag des Kulturradio vom RBB
über Richard Wagner am Sonntag, 13. Januar 2013, auf: http://www.kulturradio.de/content/rbb/
kul/download/richard _ wagner/2 _ folge _ 13012013.file.html/Wagner%20Folge%2002.pdf;
S. 9: Wussten Sie schon …, zusammengestellt aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Die _ Geschichte _ von _ dem _ Gespensterschiff#cite _ note-1; http://de.wikipedia.org/wiki/Fliegender _ Holl%C3%A4nder _ %28Sage%29; http://de.wikipedia.org/wiki/The _ Rime _ of _ the _ Ancient _
Mariner; S. 10: Richard Wagner, „Das mythische Gedicht des Volkes“ – Wagner über den fliegenden Holländer, Zitat aus: Eine Mitteilung an meine Freunde (1851), in: Attila Csampai, Dietmar
Holland (Hrsg.), Richard Wagner. Der fliegende Holländer. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek
bei Hamburg 1982, S. 81/82; S. 11: Barry Millington, Auf dem Weg zum Musikdrama – zur Musik
der Oper, in: Ders. (Hrsg.), Das Wagner-Kompendium. Sein Leben – seine Musik, München 1996,
S. 298/299; S. 14: Udo Bermbach, Zweckgemeinschaft statt Romantik?, Auszug aus dem Artikel:
„Wann dröhnt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht?“ Überlegungen zum
Holländer-Mythos, in: Programmheft der Bayerischen Staatsoper zu Der fliegende Holländer, Premiere am 26. Februar 2006, S. 43/44.
Die Texte von Barry Millington und Udo Bermbach werden gekürzt abgedruckt.
Die Darstellung der Handlung auf S. 6 und der Artikel auf S. 7–9 von Juliane Hirschmann sowie
das Gespräch mit dem Regisseur Toni Burkhardt auf S. 12/13 sind Originalbeiträge für dieses
Programmheft.
Die Probenbilder von Tilmann Graner entstanden eine Woche vor der Premiere auf der Klavierhauptprobe (www.foto-tilmann-graner.de).
Impressum
Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH
Spielzeit 2012/2013, Intendant: Lars Tietje,
Redaktion und Gestaltung: Dr. Juliane Hirschmann, Layout: Landsiedel | Müller | Flagmeyer,
Nordhausen, Programmheft Nr. 9 der Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen
Thüringer Schlossfestspiele
Sondershausen
Postfach 11 20 | 99701 Sondershausen
Telefon
Telefax
(0 36 32) 6 22-7 02
(0 36 32) 6 22-4 04
[email protected]
www.schlossfestspiele-sondershausen.de
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