Richard Wagner DER FLIEGENDE HOLLÄNDER Romantische Oper in drei Aufzügen Uraufführung am 2. Januar 1843 am königlichen Hoftheater in Dresden Eine Veranstaltung der Theater Nordhausen/ Loh-Orchester Sondershausen GmbH im Auftrag der Stadt Sondershausen Kai Günther „Mit dem Fliegenden Holländer wurde das moderne Musikdrama geboren.“ (Ernest Newman) 4 5 Liebe Besucherinnen und Besucher der Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen, sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Besucherinnen und Besucher, im Wagner-Jahr freue ich mich ganz besonders, dass wir Ihnen zu den Thüringer Schlossfestspielen Sondershausen die packende Oper Der fliegende Holländer in unserem schönen Schlosshof präsentieren können. Die Musik Richard Wagners war schon zu Lebzeiten mit unserem traditionsreichen Loh-Orchester sehr verbunden, denn es war eines der ersten Orchester in unserem Land, das seine Werke aufgeführt und damit zu deren Durchbruch beigetragen hat. pünktlich zum 200. Geburtstag von Richard Wagner ankert Der fliegende Holländer auf dem Schlosshof zu Sondershausen. Wir können miterleben, wie der zu ewiger Seefahrt verdammte Kapitän um die Liebe ringt. Wird er sich von seinem Fluch befreien können? Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen gehen in diesem Sommer bereits in das achte Jahr. In dieser Zeit haben sie sich als ein überregional angesehenes und gefragtes Festival etabliert, viele Menschen konnten seither wunderschöne Abende hier in unserer kleinen Stadt erleben. Darüber bin ich sehr glücklich. Bereits zum 8. Mal wird der malerische Schlosshof Veranstaltungsort für große Aufführungen. Der Zuspruch ist beeindruckend: Seit 2006 haben sich die Besucherzahlen verdoppelt – die Festspiele sind ein Magnet für Theaterfreunde aus dem gesamten Bundesgebiet geworden. „Die Musik ist die Sprache der Leidenschaft“, hat Richard Wagner einmal gesagt. Genießen Sie auch in diesem Jahr bezaubernde und mitreißende Musik. Und verweilen Sie ein bisschen in unserem schönen Schlosshof. Unsere Gastronomie lädt Sie ein, sich auch kulinarisch in der Pause sowie vor und nach den Vorstellungen verwöhnen zu lassen. Ich wünsche Ihnen ein unvergessliches Opernerlebnis hier bei uns in der Musik- und Bergstadt Sondershausen. Mit Wagners romantischer Oper leisten die Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen einen fulminanten Beitrag zum Richard-Wagner-Jahr 2013. Thüringen ist Kulturland. Zu seinen wichtigsten Kulturschätzen gehören die Theater und Orchester. Hier in Sondershausen wird ihre lange Tradition mit dem vor fast 400 Jahren gegründeten Loh-Orchester besonders spürbar. Die Landesregierung bekennt sich zu der besonderen Bedeutung der Kultur in Thüringen. Wir sorgen für eine stabile Finanzierung der Theater und Orchester. Zum Gelingen der Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen 2013 tragen viele Menschen und Institutionen bei. Ich danke allen Mitarbeitern, Künstlern und Musikern für ihr Engagement und wünsche Ihnen und dem Publikum spannende und erfolgreiche Festspiele. Ihr Ihr Joachim Kreyer Bürgermeister der Stadt Sondershausen Christoph Matschie Thüringer Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur 6 7 handlung Erster Aufzug An der norwegischen Steilküste gerät das Schiff Dalands in einen starken Sturm, so dass er in der Bucht von Sandvike vor Anker gehen muss. Sein Steuermann soll Wache halten, doch er schläft ein und bemerkt nicht die Ankunft eines weiteren Schiffes in der Bucht. Es ist jenes des Holländers, der dazu verdammt ist, ewig auf dem Meer herumzuirren. Einst wollte er im Sturm ein Kap umsegeln und hatte geschworen, es notfalls bis in alle Ewigkeit zu versuchen. Der Teufel, so die Sage, hat ihn beim Wort genommen. Nur alle sieben Jahre darf er einmal an Land, um sich eine Frau zu suchen. Ist sie ihm treu bis in den Tod, so ist er erlöst. Diese Frist ist gerade um. Im Gespräch mit Daland erfährt der Holländer, dass Daland eine Tochter hat und hält umgehend um ihre Hand an. Da der Holländer Daland dafür reiche Schätze verspricht, willigt dieser ohne Zögern ein. Zweiter Aufzug Die Frauen in Dalands Heimat sind bei der Arbeit und denken an ihre seefahrenden Männer. Nur Senta, die Tochter Dalands, ist untätig und träumt versunken vor einem Bild des fliegenden Holländers. Dessen Schicksal kennt sie durch Marys Erzählungen schon seit vielen Jahren. Die Mädchen fürchten, dass Erik, der um Sentas Hand anhalten will, eifersüchtig wird. Um dem eintönigen Gesang der Mädchen ein Ende zu machen, beginnt Senta selbst zu singen. In ihrer Ballade schildert sie das Schicksal des Holländers. Sie selbst will ihn von seinem Fluch erlösen. Die anwesenden Mädchen sind ebenso entsetzt wie Erik, der gerade gekommen ist, um Dalands Rückkehr anzukündigen. Zur Warnung schildert Erik Senta einen Traum, in dem Daland mit einem fremden Mann an Land kommt, den Senta küsst und mit dem sie auf das Meer hinaussegelt. Kurz darauf erscheint Daland tatsächlich mit einem Unbekannten. Senta sieht in ihm den Holländer und dieser in ihr seine Erlöserin. Senta verspricht dem Holländer „Treue bis zum Tod“. Daland kann die Verlobung der beiden bekanntgeben. Dritter Aufzug Die norwegischen Matrosen feiern mit ihren Frauen ausgelassen ihre Rückkehr. Auf dem Schiff des Holländers bleibt es dagegen auch dann noch ruhig, als die Feiernden immer spöttischer die Besatzung zum Mitfeiern animieren. Plötzlich erwacht das Schiff scheinbar zum Leben, und der nun einsetzende Spuk treibt die norwegischen Matrosen in die Flucht. Erik erinnert Senta an ihren einstigen Treueschwur, sie jedoch weist den Liebenden ab und gemahnt ihn an ihre neuen „hohen Pflichten“. Der Holländer wird Zeuge dieses Streits und glaubt nicht mehr an die Treue Sentas, hat sie diese doch Erik gegenüber schon einmal gebrochen. Er gibt daher das Zeichen zum erneuten Aufbruch. Senta will das nicht zulassen und sich vor den Augen aller in den Tod stürzen. Joshua Farrier, Kathleen Parker ZUR BEWEGTEN GESCHICHTE VON WAGNERS OPER von Juliane Hirschmann „Die Fabel von dem Fliegenden Holländer ist wie er ist, glaubt nicht an Weibertreue euch gewiß bekannt. Es ist die Geschichte und erlaubte daher dem verwünschten von dem verwünschten Schiffe, das nie in Kapitän, alle sieben Jahre einmal ans Land zu steigen und zu heiraten und bei den Hafen gelangen kann und jetzt schon seit undenklicher Zeit auf dem Meere her- dieser Gelegenheit seine Erlösung zu betreiben. Armer Holländer! Er ist froh umfährt. (...) Jenes hölzerne Gespenst, genug, von der Ehe selbst wieder erlöst jenes grauenhafte Schiff führt seinen Namen von seinem Kapitän, einem Holländer, und seine Erlöserin loszuwerden, und er begibt sich dann wieder an Bord.“ der einst bei allen Teufeln geschworen, daß er irgendein Vorgebirge (…) trotz des So liest sich der Einstieg in die Sage vom fliegenden Holländer, wie sie Heinrich heftigsten Sturms, der eben wehte, umHeine in seiner Erzählung Aus den Meschiffen wolle, und sollte er auch bis zum moiren des Herren von Schnabelewopski Jüngsten Tage segeln müssen. Der Teufel hat ihn beim Wort gefaßt, er muß bis zum schildert. Wagner lernte Heines sehr ironische Darstellung wahrscheinlich schon Jüngsten Tag auf dem Meere herumirren, unmittelbar nach deren Erscheinen im es sei denn, daß er durch die Treue eines Jahr 1834 kennen. Auch wenn Wagner Weibes erlöst werde. Der Teufel, dumm 8 9 es später rückblickend anders beschrieb, so wurde Heines Version wohl doch zur unmittelbaren Inspirationsquelle für die Oper Der fliegende Holländer. Zweifellos Spuren hinterlassen haben in Wagners Holländer darüber hinaus die intensiven (Natur-)Erlebnisse seiner abenteuerlichen Seereise von Pillau in der Danziger Bucht durch die Ost- und Nordsee nach London im Jahr 1839. 1837 war Wagner Kapellmeister in Riga geworden; hochverschuldet hatte er jedoch schon zwei Jahre später gemeinsam mit seiner Frau Minna vor seinen Gläubigern die Flucht ergriffen. In seiner Autobiographischen Skizze von 1842 notierte er: „Diese Seefahrt wird mir ewig unvergeßlich bleiben; sie dauerte drei und eine halbe Woche und war reich an Unfällen. Dreimal litten wir von heftigstem Sturme, und einmal sah sich der Kapitän genöthigt, in einem norwegischen Hafen Herren des Opernchores und Extrachores einzulaufen. Die Durchfahrt durch die norwegischen Schären machte einen wunderbaren Eindruck auf meine Phantasie; die Sage vom fliegenden Holländer, wie ich sie aus dem Munde der Matrosen bestätigt erhielt, gewann in mir eine bestimmte, eigenthümliche Farbe, die ihr nur die von mir erlebten Seeabenteuer verleihen konnten. (…) Der fliegende Holländer, dessen innige Bekanntschaft ich auf der See gemacht hatte, fesselte [später in Paris, Anm. d. Red.] fortwährend meine Phantasie (…).“ Wann genau Wagner den Entschluss fasste, eine Oper über die Holländer-Sage zu schreiben, wissen wir nicht. Ein Entwurf in französischer Sprache vom Frühjahr 1840 ist das früheste erhaltene Dokument: Wagner hielt sich in Paris auf, erhoffte sich dort den großen Durchbruch als Komponist und bewarb sich daher dank Giacomo Meyerbeers Vermittlung mit einem Prosa- entwurf zu einer Holländer-Oper um einen Kompositionsauftrag an der Grand Opéra. Doch Wagner bekam den ersehnten Auftrag nicht. Finanzielle Engpässe zwangen ihn vielmehr, den Entwurf an die Grand Opéra zu verkaufen, aus dem die Librettisten Paul Foucher und Bénédict-Henry Révoil sowie der Komponist Pierre Louis Philippe Dietsch eine Holländer-Oper schufen. Dass deren Uraufführung am 9. November 1842 an der Pariser Grand Opéra zu einem Misserfolg wurde, war für Wagner günstig. Denn er hatte inzwischen ein eigenes Libretto geschrieben, bis November 1841 die Musik komponiert und hoffte auf eine Uraufführung. Diese erlebte er schließlich am 2. Januar 1843 in Dresden. Nach Die Feen (1833/1834), Das Liebesverbot (1834–1836) und Rienzi (1837– 1840) ist der Holländer Wagners vierte vollendete Oper. Er schrieb das Werk, das einerseits in der Tradition der romantischen Geisteropern steht (wie Carl Maria von Webers Freischütz, 1821, oder Heinrich Marschners Der Vampyr, 1828), andererseits aber einen gegenüber den vorangegangenen Werken neuen Stil zeigt, in nur sieben Wochen. Doch zufrieden gab Wagner sich nie, immer wieder setzte er erneut den Rotstift an. Einer der wichtigsten Eingriffe ist jener in die Instrumentation im Jahr 1846, die er stark entschlackte. Inhaltlich folgenschwer waren die Ergänzungen jeweils am Ende der Ouvertüre und im dritten Akt zum so genannten „Erlösungsschluss“ kurz nach Vollendung des Tristan im Jahr 1860. WUSSTEN SIE SCHON … … dass der fliegende Holländer womöglich auf eine historische Figur aus dem 17. Jahrhundert zurückgeht, auf den niederländischen Ostindienfahrer Bernard Fokke? Er war bekannt für die unglaubliche Geschwindigkeit, mit der er von den Niederlanden nach Java fuhr, und man glaubte ihn daher im Bund mit dem Teufel. Als er von seiner letzten Fahrt nicht zurückkehrte, ging man davon aus, dass er nun als fliegender Holländer im Auftrag des Teufels die Meere kreuzen müsse. … dass die Sage vom fliegenden Holländer von Anfang an mit dem Kap der Guten Hoffnung in Verbindung gebracht wurde? … dass in dem bekanntesten Werk des englischen Dichters Samuel Taylor Coleridge das gespenstische Schiff mit dem verfluchten Kapitän erscheint? 1798 schrieb Taylor die Ballade The Rime of the Ancient Mariner (Die Ballade vom alten Seemann). Sie gilt als Beginn der englischen Romantik und hatte großen Einfluss auf die englische Sprache. … dass die Legende vom fliegenden Holländer im 19. Jahrhundert vor allem in der englischen und deutschen Literatur zu finden ist? Wilhelm Hauff etwa schrieb Die Geschichte von dem Gespensterschiff (erschienen 1826), in der die Legende in einen orientalisch-islamischen Kontext transportiert ist. Mit ziemlicher Sicherheit war Hauffs Erzählung sowohl Heine als auch Wagner vertraut. 10 11 „DAS MYTHISCHE GEDICHT DES VOLKES“ – WAGNER ÜBER DEN FLIEGENDEN HOLLÄNDER AUF DEM WEG ZUM MUSIKDRAMA – ZUR MUSIK DER OPER von Barry Millington „Die Gestalt des Fliegenden Holländers ist das mythische Gedicht des Volkes; ein uralter Zug des menschlichen Wesens spricht sich in ihm mit herzergreifender Gewalt aus. Dieser Zug ist, in seiner allgemeinsten Bedeutung, die Sehnsucht nach Ruhe aus Stürmen des Lebens. In der heiteren hellenischen Welt treffen wir ihn in den Irrfahrten des Odysseus und in seiner Sehnsucht nach der Heimat, Haus, Herd und – Weib, dem wirklich Erreichbaren und endlich Erreichten des bürgerfreudigen Sohnes des alten Hellas. Das irdisch heimatlose Christentum fasste diesen Zug in die Gestalt des ‚ewigen Juden‘; (…) ihm blieb (…) als einzige Hoffnung die Aussicht auf das Nichtmehrsein. Am Schlusse des Mittelalters lenkte ein neuer, tätiger Drang die Völker auf das Leben hin: Weltgeschichtlich am erfolgreichsten äußerte er sich als Entdeckungstrieb. Das Meer ward jetzt der Boden des Lebens, aber nicht mehr das kleine Binnenmeer der Hellenenwelt, sondern das erdumgürtete Weltmeer. (…) die Sehnsucht des Odysseus nach Heimat, Herd und Eheweib zurück hatte sich, nachdem sie an den Leiden des ‚ewigen Juden‘ bis zur Sehnsucht nach dem Tode genährt worden, bis zu dem Verlangen nach einem Neuen, Unbekannten (…) gesteigert. Diesen ungeheuer weit ausgedehnten Zug treffen wir im Mythos des fliegenden Holländers (…). Wir treffen auf eine vom Volksgeiste bewerkstelligte, merkwürdige Mischung des Charakters des ewigen Juden mit dem des Odysseus. (…) Als Ende seiner Eine der auffälligsten Nummern des Werks ist die Ballade der Senta im 2. Akt; sie beginnt mit dem gleichen erregenden Streichertremolo aus leeren Quinten, das auch die Ouvertüre eröffnet, und mit dem Hornrufmotiv des Holländers, das zuerst stampfend in den tiefen Instrumenten und dann in der Singstimme zu hören ist. So wichtig Sentas Ballade auch sein mag: Wagners Bemerkung, die er ein Jahrzehnt nach der Komposition des Werks in Eine Mitteilung an meine Freunde machte, dass nämlich die gesamte Oper sich aus dem „thematischen Keim“ der Ballade entwickelt hätte, sollte als das angesehen werden, was sie ist: ein nachträglicher Versuch, den Fliegenden Holländer als Vorform eines durchkomponierten Musikdramas vorzustellen, nicht als altmodische Nummernoper. Es stimmt zwar, dass Elemente der Ballade in einigen der anderen zentralen Nummern des Werks auftauchen, z. B. im Monolog des Holländers, im Duett Senta – Holländer sowie im Finale. Es trifft auch zu, dass eine melodische Idee, die man als „Erlösungsmotiv“ bezeichnen könnte, an anderen Stellen im Werk wiederkehrt. Aber solche Formen der Wiederkehr sind weit entfernt von der strukturellen Organisation, die den Ring kennzeichnet, in dem eine große Zahl von Leitmotiven einer systematischen Ausarbeitung in großem Rahmen unterworfen wird. Auch wenn Der fliegende Holländer noch kein durchkomponiertes Musikdrama ist, so ist er doch auch keine „Nummernoper“ im althergebrachten Sinne mehr. Die deutsche romantische Oper rückte in den Leiden ersehnt er, ganz wie Ahasveros, den Tod; diese, dem ewigen Juden noch verwehrte Erlösung kann der Holländer aber gewinnen durch – ein Weib, das sich aus Liebe ihm opfert: Die Sehnsucht nach dem Tode treibt ihn somit zum Aufsuchen dieses Weibes; dies Weib ist aber nicht mehr die heimatlich sorgende, vor Zeiten gefreite Penelope des Odysseus, sondern es ist das Weib überhaupt, aber das noch unvorhandene, ersehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, – sage ich es mit einem Worte heraus: das Weib der Zukunft. (…)” („Eine Mitteilung an meine Freunde“, Zürich 1851) Kathleen Parker, Alexandra Sherman ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts von der Unterteilung in Nummern mit verbindenden Rezitativen allmählich ab. Wagner trieb diesen Prozess mit seinem Holländer voran, insofern als die einzelnen Aufzüge kleine Gruppen von miteinander verbundenen Nummern enthalten: Nr. 4 beispielsweise wird als „Lied, Szene, Ballade und Chor“ bezeichnet. Ein besonders auffälliges Merkmal der Partitur ist der Kontrast zwischen der „äußeren“, öffentlichen Welt von Daland, Erik, den norwegischen Matrosen und den Mädchen einerseits und andererseits der „inneren“ Welt der Vorstellung, in der Senta und der Holländer leben. Die äußere Welt ist durch traditionelle Formen und Harmonien gekennzeichnet; die regelmäßigen zweitaktigen Phrasen in Eriks Kavatine im dritten Aufzug sind ein extremes Beispiel dafür. Für die Darstellung der inneren Welt suchte Wagner dagegen häufig, sich von den Zwängen einer regelmäßigen periodischen Struktur zu befreien: Der Monolog des Holländers im ersten Akt kommt diesem Ziel am nächsten. Die einzige bemerkenswerte Ausnahme von dieser Dichotomie ist Eriks Traumerzählung Auf hohem Felsen, in der unregelmäßige, bruchstückhafte Phrasen eine entsprechend traumähnliche Atmosphäre heraufbeschwören. 12 13 WIE KANN JEDER EINZELNE SEIN GLÜCK FINDEN? Der Regisseur Toni Burkhardt über den Fliegenden Holländer Ist die Geschichte um Senta und den Holländer eine Liebesgeschichte? Zuerst denkt man, ja klar. Dann fragt man sich: Was ist das denn tatsächlich zwischen den beiden? Im großen Duett im 2. Akt fragt sich der Holländer z. B. selbst: „Die düstre Glut, die ich hier fühle brennen, sollt’ ich Unseliger sie Liebe nennen? Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil“. Man bekommt seine Zweifel. Ist es vielleicht doch eher eine Zweckgemeinschaft? Wir haben bei den Proben lange darüber gesprochen. Was ist Liebe überhaupt? Die Antwort darauf ist nicht leicht. Da ist etwas zwischen den beiden, etwas sehr Intensives, ein tiefes Verständnis füreinander, eine Seelenverwandtschaft – auch das könnte man Liebe nennen. Sie sind füreinander bestimmt, brauchen einander: Der Holländer braucht Senta, um endlich Erlösung zu finden, und Senta braucht ihn, sein Schicksal, um ihrem Leben einen Sinn geben zu können, der jenseits der Heilsversprechen jener Gesellschaft liegt, in der sie lebt. Profitstreben etwa und ewiger Fortschrittsglaube lassen das Individuum in einer grauen Masse verschwinden. Kann denn der Holländer Erlösung finden? Das können und wollen wir mit unserer Inszenierung nicht beantworten, das muss jeder für sich selbst tun. Auch Wagner hat das offen gelassen. Der neue Schluss, die musikalische Erlösung, die er übrigens erst Jahre nach der Uraufführung komponiert hat, ist eine Zukunftsvision, die für ihn in seiner Zeit nicht denkbar war. Ist sie es heute? Bewusst bedient Wagner sich des Mythos’ als einer Erzählung, die über Zeiten und Grenzen hinaus Gültigkeit hat. Es ist die Aufgabe jedes Einzelnen, sich damit auseinanderzusetzen und das Gesehene auf seine Gegenwart zu reflektieren. Hans Blumenberg nannte das die „Arbeit am Mythos“. Wir können diesen Mythos nur aktualisieren und die Gedanken der Zuschauer in eine bestimmte Richtung bringen. Ihr habt die Geschichte in eurer Inszenierung um die Wende zum 20. Jahrhundert angesiedelt, einer Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Ist die Geschichte für dich heute auch aktuell? Roger Krebs Klar! Jeder Mythos kreist um allgemeingültige Fragen, Menschheitsfragen, nicht um ein historisches Thema. Wie jeder Einzelne sein Glück finden kann, seine Erfüllung im Leben – die Frage wird immer aktuell sein. Was bringt mir Erfüllung in meinem Leben? Darüber gibt es ganz verschiedene Ansichten. Und was passiert, wenn Ansichten darüber miteinander kollidieren oder Menschen unglücklich und zu Außenseitern werden? Wie geht eine Gesellschaft mit diesen Menschen um? Werden sie mit Zwang festgehalten, auf Spur gebracht? Oder wendet man sich von ihnen ab? Senta und der Holländer sind exemplarische Figuren. Senta ist in einer Gesellschaft gefangen, mit deren „Idealen“ sie nicht glücklich werden kann, und es gibt für sie keinen Weg heraus. Also träumt sie sich in eine Fantasiewelt, in der sie als Erlöserin des Holländers ihrem Leben einen Sinn geben kann. Die Frage ist nur, wohin kann das führen. Und was ist, wenn all die Hoffnungen nichts als Fantasie waren, wenn es in der Realität gar keinen Ausweg gibt? Der Holländer ist sogar weniger eine Figur als ein Prinzip. Sein Schicksal wird oft als Sinnbild für den Lebensweg des Menschen gedeutet. Er steht außerhalb der Gesellschaft, will aber gar nicht zurückkehren, sondern sucht nur ewige Ruhe und Frieden. Was er dafür tut ist egoistisch und radikal. In seiner großen Auftrittsarie zum Beispiel Die Frist ist um beschwört er das Ende der Welt herauf, nur um sein Heil zu finden, wünscht nichts mehr als den Weltenbrand, die ewige Vernichtung. Das ist eine weitere interessante Facette des Stücks: Was passiert, wenn eigene Kai Günther, Kathleen Parker Interessen mit denen anderer kollidieren, anderen sogar schaden? Wagners Oper sieht mehrere verschiedene Schauplätze vor. Welche Gedanken haben dich und den Bühnenbildner Wolfgang Rauschning zu eurem Bühnenbild auf dem Schlosshof geleitet, der ja nur sehr begrenzte Umbaumöglichkeiten bietet? Wir haben versucht alles in einen Raum zu bringen, der – je nach Nutzung – alles sein kann, auch Ausdruck des Innenlebens der Figuren. Inspiriert hat uns ein Schiffswrack mit Strandgut. Da zeigt sich auch einiges von Sentas Innenwelt und vom Zustand einer Gesellschaft, die sich festgefahren hat. Und natürlich wollten wir die maritime Atmosphäre im Holländer aufgreifen, die Enge und Abgeschiedenheit des Hafendorfes, das raue Leben ganz nah an den Naturgewalten. 14 15 SENTA UND HOLLÄNDER – ZWECKGEMEINSCHAFT STATT ROMANTIK? von Udo Bermbach Vergegenwärtigt man sich das Verhältnis vom Holländer zu Senta, so ergibt sich eine zunächst verblüffende Einsicht: Der Holländer sucht zu seiner Erlösung keine bestimmte Frau, sondern eine beliebige, die sich ihm ohne Fragen und Bedenken verbinden und also opfern soll. Nun also ist seine Wahl auf Senta gefallen, nachdem der Vater sie als schön und treu gepriesen hat. Aus der Perspektive des Holländers könnte damit seine „Erlösung“ beginnen – und so vereinbart er mit Daland, dem Vater Sentas, ein Tauschgeschäft: seine Schätze gegen die Frau – Ware gegen Ware, wie es in eben der Gesellschaft üblich ist, die Wagner durch eine Revolution überwinden möchte. Der Tausch freilich wird deshalb möglich, weil Senta ihrerseits über einen Ausbruch Marian Kalus aus den sie bedrängenden Verhältnissen seit langem nachdenkt, dies vor einem Bild, das einen unbekannten Seemann – den Holländer – zeigt, der für sie alle Hoffnung verkörpert, „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) zu finden. Als der Holländer plötzlich vor ihr steht, sie zur Frau will, sieht sie ihre Chance: Er ist der Mann, der sie „erlösen“ kann – und den umgekehrt sie „erlösen“ will –‚ mit dessen Person sie in ihrer Fantasie alle noch unausgeschöpften Möglichkeiten ihres bisher so armseligen Lebens verbindet. Zwei Außenseiter treffen hier aufeinander: ein Mann, der auf Erden – sprich: innerhalb der gegebenen Verhältnisse – keine Heimat finden kann, und eine Frau, die in ihren Fantasien längst die Realität hinter sich gelassen hat. Beide sind sie, aus unterschiedlichen Motiven, in eine vergleichsweise ähnliche Lebenssituation geraten, beide bedürfen sie eines Partners, um ihren Wunsch zu verwirklichen. Im großen Duett der dritten Szene des zweiten Aufzugs bekennen sich Senta und der Holländer zueinander und ihrem Ziel: zueinander zu gehören, um sich, jeder für sich, erlösen zu können. Es ist nicht jene selbstlose, von Wagner immer wieder als Gegenentwurf zu Macht und Politik verstandene Liebe, wie sie etwa Elisabeth zu Tannhäuser, Sieglinde zu Siegmund, Eva zu Stolzing oder Isolde zu Tristan empfinden, die Senta zu dem Holländer treibt und diesen zu ihr; es ist der egoistische Wunsch bei beiden, den anderen jeweils als „Hilfe zum Ausstieg“ zu nutzen. Damen und Herren des Opernchores und Extrachores Textnachweise: S. 2: Zitat Ernest Newman bei Peter Wapnewski in einem Radiobeitrag des Kulturradio vom RBB über Richard Wagner am Sonntag, 13. Januar 2013, auf: http://www.kulturradio.de/content/rbb/ kul/download/richard _ wagner/2 _ folge _ 13012013.file.html/Wagner%20Folge%2002.pdf; S. 9: Wussten Sie schon …, zusammengestellt aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Die _ Geschichte _ von _ dem _ Gespensterschiff#cite _ note-1; http://de.wikipedia.org/wiki/Fliegender _ Holl%C3%A4nder _ %28Sage%29; http://de.wikipedia.org/wiki/The _ Rime _ of _ the _ Ancient _ Mariner; S. 10: Richard Wagner, „Das mythische Gedicht des Volkes“ – Wagner über den fliegenden Holländer, Zitat aus: Eine Mitteilung an meine Freunde (1851), in: Attila Csampai, Dietmar Holland (Hrsg.), Richard Wagner. Der fliegende Holländer. Texte, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 81/82; S. 11: Barry Millington, Auf dem Weg zum Musikdrama – zur Musik der Oper, in: Ders. (Hrsg.), Das Wagner-Kompendium. Sein Leben – seine Musik, München 1996, S. 298/299; S. 14: Udo Bermbach, Zweckgemeinschaft statt Romantik?, Auszug aus dem Artikel: „Wann dröhnt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht?“ Überlegungen zum Holländer-Mythos, in: Programmheft der Bayerischen Staatsoper zu Der fliegende Holländer, Premiere am 26. Februar 2006, S. 43/44. Die Texte von Barry Millington und Udo Bermbach werden gekürzt abgedruckt. Die Darstellung der Handlung auf S. 6 und der Artikel auf S. 7–9 von Juliane Hirschmann sowie das Gespräch mit dem Regisseur Toni Burkhardt auf S. 12/13 sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Die Probenbilder von Tilmann Graner entstanden eine Woche vor der Premiere auf der Klavierhauptprobe (www.foto-tilmann-graner.de). Impressum Herausgeber: Theater Nordhausen/Loh-Orchester Sondershausen GmbH Spielzeit 2012/2013, Intendant: Lars Tietje, Redaktion und Gestaltung: Dr. Juliane Hirschmann, Layout: Landsiedel | Müller | Flagmeyer, Nordhausen, Programmheft Nr. 9 der Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen Thüringer Schlossfestspiele Sondershausen Postfach 11 20 | 99701 Sondershausen Telefon Telefax (0 36 32) 6 22-7 02 (0 36 32) 6 22-4 04 [email protected] www.schlossfestspiele-sondershausen.de