2.2.2 Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot Das

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2.2.2 Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
Das Hauptanliegen des zweiten Essays wurde von Dmitriev zum Abschluss
des vorherigen Aufsatzes angekündigt:
„Mittels einer exakten Analyse bemühen wir uns zu beweisen, dass die
allgemein bekannte und zu einem Truismus gewordene These, dass die
unbegrenzte freie Konkurrenz dazu tendiert, die Preise auf die notwendigen
Produktionskosten zu senken, nicht mehr als eine willkürliche Annahme ist,
die sowohl den Tatsachen der ökonomischen Wirklichkeit als auch der
Grundannahme der ökonomischen Theorie über das Streben jedes Wirtschaftssubjektes nach größtem Vorteil widerspricht. Wir versuchen dagegen klar und deutlich zu zeigen, dass, als allgemeine Regel, die unbegrenzte freie Konkurrenz immer dazu tendiert, die tatsächlichen Produktionskosten über das Niveau der notwendigen hinaus zu erhöhen, d.h. über das
Niveau, welches bei einem gegebenen Stand der Produktionstechnik das
geringst mögliche ist.“ (Erster Essay, S. 63 f., kursiv im Original)1
In der Literatur wurde aus dieser sowie vorangegangenen Bemerkungen
Dmitrievs (Erster Essay, Kapitel V, S. 60 f.) geschlossen, dass es in seiner
Wettbewerbstheorie darum geht, die klassische Vorstellung der natürlichen
Preise (Dmitrievs „notwendige“ Produktionskosten) als Gravitationszentrum
der Marktpreise zu widerlegen und stattdessen zu zeigen, dass beide Größen
permanent voneinander abweichen.2 Sein Konkurrenzverständnis sei somit
primär klassisch: Wettbewerb bedeute nicht Mengenanpassung bei gegebenen Preisen, sondern eine Kapitalbewegung im Zuge des Profitratenausgleichs.3
Eine solche Einschätzung greift aber zu kurz: Dmitriev möchte generell
die These widerlegen, dass zunehmende Konkurrenz – im Sinne einer steigenden Anbieterzahl – zu Preissenkungen führt (ebenda, S. 62). Er kritisiert
damit alle Ansätze, welche die Zahl der Konkurrenten mit der Preishöhe in
Verbindung bringen sowie bei vollkommenem Wettbewerb langfristig einen
Preis gleich dem Stückkostenminimum ableiten, unabhängig davon, ob sie
1 In diesem Kapitel wird der Verweis auf Dmitrievs Werk wieder im Text vorgenom-
men, alle anderen Quellen erscheinen in den Fußnoten.
2 Vgl. Skourtos, M., Der „Neoricardianismus“ ..., a.a.O., S. 169 sowie Skourtos, M.,
Market Processes ..., a.a.O., S. 239.
3 Vgl. Schefold, B., V. K. Dmitriev ..., a.a.O., S. 94.
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Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
den Gravitationsprozess thematisieren oder nicht. Darüber hinaus passe – so
Dmitriev – die klassische Wettbewerbsanalyse nur unter der Annahme in
dieses Schema, dass Kapitalwanderungen mit sektoralen Unternehmerübertritten gleichgesetzt werden und dadurch jede Erhöhung der Anbieterzahl das
Branchenkapital erhöht. Diese Annahme hält er allerdings für willkürlich
(ebenda). Deshalb wendet sich Dmitriev in seinem ersten Kapitel des zweiten
Essays auch direkt der Untersuchung Cournots zu.
2.2.2.1 Der Ansatz Cournots
Ausgangspunkt der Cournot’schen Analyse ist die Betrachtung eines
Monopolisten (seines „Mineralquellenbesitzers“).4 Dessen Gewinn (Nettoerlös) G ermittelt sich aus der Differenz zwischen dem Bruttoerlös E = Df (D)
sowie den Gesamtkosten K = ϕ (D ) :
(37)
G = E − K = Df ( D) − ϕ ( D)
D = F ( p ) bezeichnet die Gesamtnachfrage und p = f (D) den Marktpreis.
Die Nachfrage sei „normal“ („Gesetz der Nachfrage“): F ′( p ) = dD dp < 0
bzw. f ′( D) = dp dD < 0 .5 Der Monopolist kann laut Cournot nun entscheiden, ob er die Angebotsmenge fixiert und die Nachfrager über den Preis
bestimmen lässt, oder sein Aktionsparameter ist der Preis und die Nachfrager
setzen die Menge fest. In beiden Fällen ergibt sich das gleiche Resultat. Bei
Mengenpolitik wird der Gewinn des Monopolisten maximal, wenn gilt:
G′ =
dG
= f ( D) + Df ′( D) − ϕ ′( D) = 0
dD
G ′′ =
d 2G
= 2 f ′( D) + Df ′′( D) − ϕ ′′( D) < 0
dD 2
(38)
Die erste Gleichung impliziert die Notwendigkeit des Ausgleichs von
Grenzerlös und Grenzkosten. Die hinreichende zweite Bedingung erfordert,
dass die Steigung der Grenzerlösfunktion kleiner sein muss als der Anstieg
4 Vgl. Cournot, A., Untersuchungen über die mathematischen Grundlagen der Theorie
des Reichtums, Jena 1924, S. 47 ff.
5 Vgl. ebenda, S. 35 ff.
Der Ansatz Cournots
127
der Grenzkostenkurve. Sowohl für ertragsgesetzliche als auch lineare
Kostenverläufe kann diese Bedingung in der Regel als erfüllt vorausgesetzt
werden.6 Konzentrieren wir uns deshalb wie Dmitriev auf die notwendige
Gewinnmaximierungsbedingung. Diese kann unter Berücksichtigung der
oben genannten Definitionen folgendermaßen umgeformt werden (S. 17,
Gleichung ⟨19⟩):7
(39)
D+
dD
[ p − ϕ ′( D)] = 0
dp
Cournot untersucht nun zwei Sonderfälle, die später auch in der Kritik
Dmitrievs eine Rolle spielen. Zum einen wird ein linearer Kostenverlauf ohne
Fixkosten unterstellt: ϕ ( D) = Du . Darin bezeichnet u die konstanten Kosten
einer Produkteinheit, welche mit den Grenzkosten zusammenfallen. Damit
verwandelt sich (39) in (S. 18, Gleichung ⟨24⟩):8
(40)
D+
dD
( p − u) = 0
dp
Im anderen Spezialfall wird von den Kosten abstrahiert: ϕ ( D) = 0 . Aus (39)
ergibt sich dann (S. 14, Gleichung ⟨12⟩ sowie S. 7, Gleichung ⟨1⟩):9
(41)
D+ p
dD
= F ( p ) + pF ′( p) = 0
dp
Cournot führt jetzt sukzessive weitere Unternehmen ein.10 Betrachtet wird
dabei ein vollkommener Markt, d.h. das Produkt ist homogen, es existieren
keinerlei Präferenzen und die Markttransparenz ist vollständig. Unter diesen
Bedingungen existiert nur ein Preis. Alle Anbieter verfolgen eine Mengenstrategie und sprechen sich nicht ab.
Berücksichtigt werden müsste nun die Interdependenz der Unternehmer,
ihre Entscheidungen werden von den Handlungen der Konkurrenten beeinflusst. Im einfachsten Fall des Dyopols ist damit der Gewinn des einen auch
6 Vgl. hierzu Ott, A. E., Grundzüge der Preistheorie, 3. Aufl., Göttingen 1991, S. 181 ff.
7 Vgl. Cournot, A., Untersuchungen …, a.a.O., S. 48.
8 Vgl. ebenda, S. 51.
9 Vgl. ebenda, S. 71 und 47.
10 Vgl. ebenda, S. 68 ff.
128
Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
von der Mengenwahl des anderen abhängig: G1 = f [ D1 , D2 ( D1 )] bzw.
G 2 = f [ D2 , D1 ( D2 )] . Für die Gewinnmaximierung des 1 hat das zur Folge
(analog für 2):
(42)
G1′ =
dG1 ∂G1 ∂G1 dD2
=
+
=0
dD1 ∂D1 ∂D2 dD1
Um dieses Problem lösen zu können, muss dem (zunächst unbekannten)
Reaktionskoeffizienten dD2 dD1 ein plausibler Wert beigelegt werden. Das
Kernproblem der Oligopolpreistheorie besteht in der Aufstellung sinnvoller
Reaktionshypothesen.11
Cournot unterstellt bekanntlich autonomes Verhalten: Jeder Unternehmer
geht davon aus, dass alle anderen auf seine Angebotsvariation nicht reagieren. Weil die Konkurrenten ihren wechselseitigen Einfluss nicht berücksichtigen und damit das Typische einer Oligopolsituation ausgeschlossen wird,
beschreibt Cournot kein Oligopol – wie die Einordnung seines Ansatzes in
vielen Lehrbüchern nahe legt –, sondern ein „mehrfaches Monopol“. Er
selbst hat den Begriff „Oligopol“ auch nicht benutzt. Formal bedeutet seine
Verhaltensannahme einen Reaktionskoeffizienten von Null und gemäß (42),
dass ein Anbieter seine Gewinnfunktion nach der eigenen Absatzmenge
partiell differenziert, die Mengen der anderen also als Konstante behandelt.
Im allgemeinen Fall von n Konkurrenten lauten die Gewinnfunktionen:
(43)
Gi = Di f ( D) − ϕ i ( Di )
n
mit D = ∑ Di = D1 + D2 + K + Dn
i =1
Die individuelle Gewinnmaximierung liefert folgendes Gleichungssystem:
(44)
Gi′ =
∂Gi
= f ( D) + Di f ′( D) − ϕ i′ ( Di ) = 0
∂Di
Dmitriev ist nur an einem Vergleich der sich ergebenden Gesamtgrößen bei
verschiedener Teilnehmerzahl n interessiert. Die Summation von (44) ergibt:
(45)
n
nf ( D) + Df ′( D) − ∑ ϕ i′ ( Di ) = 0
i =1
11 Vgl. Ott, A. E., Grundzüge …, a.a.O., S. 210.
Der Ansatz Cournots
129
Berücksichtigt man wiederum f ( D) = p sowie f ′( D) = dp dD , dann lässt
sich (45) umformen zu (S. 17, Gleichung ⟨18⟩):12
(46)
D+
n
dD 

np
−
ϕ i′ ( Di ) = 0
∑

dp 
i =1

Bei fehlenden Produktionskosten erhält man (S. 15, Gleichung ⟨13⟩):13
(47)
D + np
dD
=0
dp
In diesem Fall resultieren aus den Bedingungen (44) im Gleichgewicht
identische individuelle Angebotsmengen: D1 = D2 = K = Dn . Dasselbe folgt
bei Annahme konstanter Grenzkosten, d.h. bei der Unterstellung einer (hier
von Fixkosten abstrahierenden) linearen Kostenfunktion. Dann vereinfacht
sich (46) zu (S. 18, Gleichung ⟨21⟩):14
(48)
D+n
dD
( p − u) = 0
dp
Die letzten drei Gleichungen eignen sich nun zur Darstellung der verschiedenen Marktverhältnisse. Für n = 1 erhält man aus (46)-(48) unmittelbar die
Ausdrücke (39)-(41) des Monopols. Den anderen Extremfall bildet bei
n → ∞ das Polypol (Cournots „unbeschränkter Wettbewerb“; Dmitrievs
„unbegrenzte freie Konkurrenz“). Formt man (48) um, so ergibt sich:15
(49)
p+
1 dp
1 dp p
1 

D= p+
p = p 1 +
=u
n dD
n dD D
 nε 
mit ε =
dD p
<0
dp D
Dies ist nichts anderes als die bekannte „Amoroso-Robinson-Relation“ im
Gewinnmaximum (Grenzerlös gleich Grenzkosten), wobei ε die direkte
Preiselastizität der Nachfrage bezeichnet. Für n → ∞ erhält man nun unmit12 Vgl. Cournot, A., Untersuchungen …, a.a.O., S. 75.
13 Vgl. ebenda, S. 73.
14 Cournot trifft diese Annahme in seinem VII. Kapitel nicht.
15 Dmitriev (S. 19) und Cournot (Kapitel VIII, S. 78) gelangen zur „Grenzkosten-Preis-
Regel“ auf anderen Wegen: Cournot vernachlässigt in der Bedingung (44) Di; Dmitriev
modifiziert die Preis-Absatz-Funktion zu p = p und maximiert anschließend den Nettoerlös eines Anbieters.
130
Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
telbar die „Grenzkosten-Preis-Regel“ des Polypols. Für den Fall steigender
Grenzkosten gilt somit (S. 19, Gleichung ⟨27⟩):16
(50)
p − ϕ i′ ( Di ) = 0
Bei konstanten Grenzkosten erhält man (S. 20, Gleichung ⟨33⟩):
(51)
p−u = 0
Beide Fälle werden von Dmitriev sowohl algebraisch als auch graphisch
analysiert (S. 19 ff.; darin Abb. 2.5). Zu beachten ist jedoch, dass in einer
Situation linearer Kosten im Unterschied zum Monopol nun Schwierigkeiten
bei der Gewinnmaximierung auftreten:17 Die hinreichende Bedingung für ein
Maximum ist bei einem Preis gleich den (konstanten) Grenzkosten verletzt,
denn die Ableitung von (51) nach der Menge liefert einen Wert von Null
anstelle eines geforderten negativen. Das bedeutet aber, dass die gewinnmaximierende Menge indeterminiert bleibt, weil die Bedingung Preis gleich
Grenzkosten für jede Ausbringung gilt. Somit müssen weitere Kriterien, wie
z.B. Kapazitätsgrenzen, eingeführt werden. Doch selbst dann produzierte bei
Vorhandensein von Fixkosten jeder Polypolist mit Verlusten, da im Falle
linearer Kostenfunktionen die Grenzkosten und die variablen Stückkosten
übereinstimmen. Würde die „Grenzkosten-Preis-Regel“ befolgt, dann deckte
der Verkaufserlös die Gesamtkosten nicht.
Dmitriev erkennt, dass der Anreiz eines Unternehmers zur individuellen
Angebotserweiterung bei konstanten Grenz- sowie fehlenden Fixkosten nur
bei einem Preis gleich den Grenzkosten (die von ihm auch als „notwendige
Produktionskosten“ tituliert werden) verschwindet, und er sieht in seiner
Graphik (Abb. 2.5) auch, dass dann Erlös- und Kostengerade zusammenfallen. Trotzdem nennt er diese Situation ein Gleichgewicht, auf die Unbestimmtheit der Menge weist er nicht hin (S. 23).
Nun haben wir alle Informationen, um das zentrale Ergebnis Cournots
bezüglich der Wirkung von Wettbewerb abzuleiten, welches mit der Schlussfolgerung der Klassiker zusammenfällt. Aus (49) lässt sich erkennen: Je
16 Vgl. Cournot, A., Untersuchungen …, a.a.O., S. 78.
17 Vgl. zum Folgenden ausführlich Ott, A. E., Grundzüge ..., a.a.O., S. 166 ff.
Der Ansatz Cournots
131
größer n ist, desto kleiner wird p sein. Zunehmende Konkurrenz führt also zur
Preissenkung.18
Das wiederum bedeutet, dass sämtliche Gewinne mit steigender Anbieterzahl sinken und im Extremfall des Polypols (mit Ausnahme der in den
Kosten enthaltenen „Normalprofite“) verschwinden. Und man könnte sich
fragen, wie das auch Cournot tut,19 warum die Anbieter sich nicht irgendwie
verständigen, um den Gesamtgewinn zu maximieren, der doch eigentlich den
größten Profit für jeden brächte. Für Cournot ist die Sache klar: Da die
Menschen nicht frei von „Irrtum und Unbedacht“ sind, gehen alle Unternehmer davon aus, dass eine individuelle Angebotserweiterung keine Reaktion
der Konkurrenten nach sich zieht, so dass sich ein „augenblicklicher Gewinn“
(bénéfice momentané) realisieren lasse, wodurch sich der Profit des agierenden Anbieters auf Kosten der anderen im Vergleich zum Status Quo erhöht.
Aber auch seine Konkurrenten denken so, und es kommt deshalb zu einem
Resultat, dass sich für alle als das ungünstigste herausstellt.20
Dmitriev anerkennt die Instabilität der Totalgewinnmaximierung aufgrund von „Fehlern der Wirtschaftsrechnung“, weil die Wahrscheinlichkeit,
sich an die „Absprache“ zu halten (er nennt das „Zurückhaltungswahrscheinlichkeit“), im Cournot-Modell stets kleiner Eins, mithin die „Irrtumswahrscheinlichkeit“ positiv ist (S. 16 f.). Essentielle Voraussetzung der Cournot’schen Verhaltenshypothese ist jedoch die Annahme, dass Produktionsund Absatzmenge zu jedem Zeitpunkt gleich sind. Nur dann könne ein
Unternehmer davon ausgehen, dass die Konkurrenten auf seine Angebotserweiterung nicht sofort reagieren können und er einen zusätzlichen Gewinn
verbucht. Die Annahme „Angebot gleich Produktion“ bildet nun den
Hauptkritikpunkt Dmitrievs: Nicht nur sei sie wirklichkeitsfremd, sondern sie
widerspreche auch der Prämisse der Gewinnmaximierung („dem Streben
nach größtem Vorteil“). Den Beweis dieser Hypothese tritt er ab dem zweiten
Kapitel an.
18 Vgl. Cournot, A., Untersuchungen ..., a.a.O., S. 73.
19 Vgl. ebenda, S. 71.
20 Vgl. ebenda, S. 72.
132
Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
2.2.2.2 Die Kritik Dmitrievs
2.2.2.2.1 Konjekturales statt autonomes Verhalten
Dabei nähert sich Dmitriev dem Problem auf indirektem Weg: Bevor er die
Gleichheit von produzierter und angebotener Menge in Frage stellt, untersucht er in einem ersten Schritt, was denn passierte, wenn die Verhaltensannahme Cournots ersetzt würde:
„Die Unveränderlichkeit des Angebotes seitens der übrigen Unternehmer ...
stellt also die notwendige Bedingung dar, um jenen momentanen Gewinn
erhalten zu können, welcher den Stimulus der Erweiterung des Angebotes
der konkurrierenden Kaufleute darstellt ... Wir würden vollkommen andere
Resultate erhalten, wenn wir annähmen, dass das Angebot ... sofort ausgeweitet werden kann.“ (S. 24 f., Hervorhebung im Original)
Diese sofortige Angebotsausweitung vernichtete nämlich die Möglichkeit
eines zusätzlichen Gewinns.21 Und unter der Annahme fehlender Kosten
sowie eines vollkommenen Marktes könne man bereits zu Beginn der
Analyse davon ausgehen, dass die Unternehmer sich den Markt teilen und
alle die gleichen Mengen anbieten:
„Unter der Bedingung der augenblicklichen Angebotsausweitung müssten
wir in unserer Analyse tatsächlich annehmen, dass die individuellen Angebote D1, D2, ... während jeder gegebenen Minute einander gleich sind (kraft
derselben Erwägungen,22 aufgrund derer Cournot angenommen hat, dass
nach Eintreten des Gleichgewichts D1 = D2 = D3 = ...).“ (S. 25, Hervorhebungen im Original)
Nun ist deutlich erkennbar, um was für ein neues Modell es sich handelt.
Dmitriev unterstellt im Unterschied zu Cournot ein konjekturales Verhalten:
Jeder Unternehmer berücksichtigt in seinen Entscheidungen die erwarteten
Reaktionen der anderen auf seine Aktion. Formal bedeutet dies, dass er die
Angebotsmengen seiner Konkurrenten nicht mehr als Konstante betrachtet,
21 Mit einer ähnlichen Prämisse bei Preispolitik auf dem unvollkommenen Markt
arbeitet Helmedag, F., Gleichgewicht im heterogenen Oligopol, in: Jahrbücher für
Nationalökonomie und Statistik, Bd. 208 (1991), S. 54 ff.
22 „Gleiche Beschaffenheit und Lage der Quellen“ (Cournot, A., Untersuchungen ...,
a.a.O., S. 71).
Konjekturales statt autonomes Verhalten
133
so dass der Reaktionskoeffizient in (42), S. 128 ungleich Null wird. Bei Dmitriev nimmt dieser den Wert Eins an, wie aus seiner Annahme Di = Dj (i ≠ j)
folgt: dDi dDj = 1. Er beschreibt hier offenbar einen Markt, auf dem alle
Anbieter „im Gleichschritt“ handeln:23 Jeder Unternehmer variiert gleichzeitig sowie in gleicher Richtung und Höhe seine Menge.24 Der einzelne Anbieter sieht sich somit einer Teilnachfragefunktion gegenüber, die der n-te Teil
der Gesamtnachfrage ist:25 Aus D1 = D2 = ... = Dn und D1 + D2 + ... +Dn = D
folgt unmittelbar nDi = D bzw. Di = D n. Aus (43) (siehe S. 128) werden bei
fehlenden Kosten dann die individuellen Gewinnfunktionen:
(52)
Gi = Di f ( D) =
1
Df ( D) = Di f (nDi )
n
Daraus ergibt sich für die notwendigen Bedingungen das System:
Gi′ =
(53)
⇔
dGi
= f (nDi ) + Di f ′(nDi )n = f ( D) + nDi f ′( D) = 0
dDi
1
f ( D) + Di f ′( D) = 0
n
Die Summation der einzelnen Gleichungen liefert f ( D) + Df ′( D) = 0 , was
unter Berücksichtigung von p = f (D) bzw. D = F ( p) in den oben angeführten Ausdruck (41) des Monopols umgeformt werden kann (S. 26,
Gleichung ⟨1⟩ sowie S. 27, Fn. 3, Gleichung ⟨12⟩):
(41)
D+ p
dD
= F ( p ) + pF ′( p) = 0
dp
23 Vgl. Ott, A. E., Grundzüge ..., a.a.O., S. 156 f.
24 Skourtos behauptet, dass die Akteure Dmitrievs „aktive, eine konkrete Preispolitik
verfolgende und zu Absprachen bereite Unternehmungen“ sind (Skourtos, M., Der
„Neoricardianismus“ ..., a.a.O., S. 172; Kursivschreibungen hinzugefügt). Weder für das
eine noch das andere lässt sich ein Beleg finden.
25 Erwähnenswert ist, dass diese Teilnachfragekurve mit der DD'-Kurve Chamberlins
übereinstimmt. Denn dessen Annahme einer parallelen Preispolitik liefert dieselbe Teilnachfragefunktion wie Dmitrievs parallele Mengenpolitik (vgl. auch Ott, A. E., Grundzüge ..., a.a.O., S. 156 f. und 171). Dies wird nicht der einzige Berührungspunkt zwischen Dmitriev und Chamberlin bleiben. Dazu in 2.2.2.8.2/3, S. 163 ff./170 ff. mehr.
134
Die Kritik Dmitrievs
Die Änderung der Verhaltenshypothese modifiziert die Wirkung der Konkurrenz auf das Marktergebnis erheblich: Da die Unternehmer jetzt erwarten,
dass sie sich durch eine individuelle Angebotserweiterung von Anfang an nur
schlechter stellen können, werden sie diese unterlassen und sich damit
implizit auf die monopolistische Preis-Mengen-Kombination einigen.26 Dies
ist im Spezialfall ohne Kosten unproblematisch, weil gleichzeitig mit der
(hier aus der Marktlogik plausiblen) Mengenaufteilung die Gewinnverteilung
bestimmt ist. Jeder Anbieter erhält den n-ten Teil des Gesamtgewinns.
Individuelle und Gesamtgewinnmaximierung sind unabhängig von der
Anbieterzahl miteinander kompatibel (vgl. (52) und (53)).
„Auf diese Weise sehen wir, dass bei der Möglichkeit einer plötzlichen
Angebotserweiterung für eine beliebige Anzahl isolierter auf dem Markt
konkurrierender Unternehmer derselbe Angebotsumfang wie auch bei einem Monopolisten (oder im Falle, wenn zwischen den Konkurrenten eine
Vereinbarung bestünde) am vorteilhaftesten sein wird. Diese Schlussfolgerung widerspricht völlig der gesamten Wettbewerbstheorie von Cournot.
Somit gelten die Cournot’schen Schlussfolgerungen nur solange, wie seine
(willkürliche) Annahme gilt, dass die Warenmenge, die in jeder gegebenen
Zeiteinheit a b g e s e t z t wird, ganz genau der Menge entspricht, welche
in derselben Zeiteinheit p r o d u z i e r t wurde.“ (S. 26, Hervorhebungen
im Original)
Die Annahme der Gleichheit von Produktion und Absatz sei aber unzulässig,
weil sie, abgesehen von ihrer Realitätsferne, dem ökonomischen Prinzip
widerspricht, wie Dmitriev im zweiten Schritt zu zeigen versucht (S. 27 ff).
2.2.2.2.2 Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
Der „Trick“ besteht nun darin, Produktions- und Angebotsentscheidungen
voneinander zu trennen sowie zu schauen, ob beide zum gleichen Ergebnis
führen. Dmitriev bedient sich hierfür eines zweistufigen Ansatzes: Er geht
davon aus, dass die Unternehmer zuerst ihre zu produzierenden Mengen qi
26 Selbstverständlich ergibt sich das gleiche Resultat, falls man die Anbieter als Einheit
betrachtet. Solch ein „Kollektivmonopol“ kann z.B. durch eine Fusion oder Kartellierung entstehen. Falls die Gewinnaufteilung geklärt ist, lässt sich das Gleichgewicht in
der Regel bestimmen. Im Dmitriev-Ansatz ist von einer solchen expliziten Absprache
jedoch keine Rede.
Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
135
wählen, deren Summe den Gesamtausstoß Q ergibt. Gegeben dieser Produktion treffen sie anschließend in Abhängigkeit von der Nachfrage (der
möglichen Absatzmenge) ihre Angebotsentscheidung.27
Die Problemlösung geht er nun wiederum durch Einschlagen eines Umweges an: Eine irgendwie bestimmte Gesamtproduktion annehmend, suchen
die Unternehmer auf der zweiten Stufe ihre gewinnmaximale Angebotsmenge. Diese antizipierend, treffen sie auf der ersten Stufe ihre Produktionsentscheidung.28
Angebotsentscheidung:
Auf der zweiten Stufe nehme man z.B. mit Cournot an, dass die Produktionshöhe Q der aus Gleichung (47) ermittelten Größe D entspreche:
(47)
D + np
dD
dQ
= 0 → Q + np
=0
dp
dp
Im Falle fehlender Produktionskosten (was Dmitriev weiterhin unterstellt)
ergab sich auf der ersten Stufe demnach analog den Gewinnmaximierungsbedingungen (44) von S. 128 sowie ∑qi = Q die Gleichheit der individuellen
Produktionsmengen: q1 = q2 = ... = qn = Q n. Die Frage ist nun, ob die Wettbewerber unter Berücksichtigung des ökonomischen Prinzips eine Angebotsmenge D = Q bzw. D n = Q n wählen werden.
Fall 1:
Den Bezug zwischen beiden Stufen stellt Dmitriev über die Absatzwahrscheinlichkeit DQ her (S. 28). Er nimmt an, dass diese für alle Anbieter
wegen identischer Produktions- und Absatzbedingungen gleich groß ist.29
Wegen qi = qj (i ≠ j) sowie Bernoullis „Gesetz der großen Zahlen“ folgert
Dmitriev daraus, dass auch die Absatzmengen gleich sein müssen (ebenda):
27 Die Auffassung, dass die Eigenart der Dmitriev’schen Konstruktion darin bestünde,
dass die Produktionskonkurrenz erst nach Festlegung der Absatzmenge wirksam würde,
wird in vorliegender Arbeit nicht geteilt. Vgl. Skourtos, M., Der „Neoricardianismus“ ...,
a.a.O., S. 177.
28 Man beachte, dass dieses Vorgehen exakt der Lösung sequentieller Spiele durch
Rückwärtsinduktion entspricht.
29 Im Cournot-Modell beträgt sie annahmegemäß Eins.
136
Die Kritik Dmitrievs
D1 = D2 = ... = Dn = D n. Setzt man dies wieder in die individuellen Gewinnfunktionen (hier Erlösfunktionen) (43) (siehe vorn, S. 128) ein, ergibt sich
eine zu (52) (siehe S. 133) analoge Gleichung, woraus erneut die Optimumbedingung (41) folgt (Dmitriev, S. 29, Gleichung ⟨12⟩):
(41)
D+ p
dD
=0
dp
Da die aus Gleichung (41) ermittelte Gesamtabsatzmenge D geringer ist als
der mit (47) berechnete Produktionsumfang Q, schlussfolgert Dmitriev, dass
die Unternehmer in der Regel eine geringere Menge anbieten wollen, als sie
produzieren: D < Q (S. 29). Nur für einen Monopolisten (in diesem Fall
verwandelt sich (47) in (41)) entspricht sein Angebot der Produktion.30
Sobald mehr als ein Unternehmer existiert, wird sich das Gesamtangebot auf
dem Monopolniveau ergeben und geringer sein als die durch Konkurrenz
bestimmte Produktionshöhe. Dies gelte auch dann, wenn die Annahmen
identischer Einzelproduktionen sowie gleicher Absatzwahrscheinlichkeiten
sukzessive aufgehoben werden.
Fall 2:
Unter der Voraussetzung qi ≠ qj sowie „gleich günstiger Marktlage“ aller
Beteiligten (gleiche Absatzwahrscheinlichkeit DQ) findet es Dmitriev
plausibel anzunehmen, dass sich die individuellen Absatzmengen proportional zu den Einzelproduktionen verhalten (S. 29, Gleichung ⟨45⟩):31
30 Dmitriev führt noch eine weitere Ausnahme an (S. 30 f.): Wenn die Produktionsmen-
ge kleiner als die aus (41) bestimmte Größe ist, gelte auch für n Konkurrenten D = Q.
Diese Aussage ist nicht nachvollziehbar, weil sie bedeutete, dass in (47) n < 1 würde.
Das hat nun aber nichts mehr mit Konkurrenz zu tun. Die einzige (wenn vielleicht auch
unwahrscheinliche) Möglichkeit bestünde darin, dass ein Monopolist seine Kapazitätsgrenze vor dem Ausgleich von Grenzerlös und Grenzkosten (hier Null) erreicht. Die
Aussage, dass er soviel anböte wie produzierte, veränderte sich dadurch aber nicht.
31 Dmitrievs Rezensent Šapošnikov hält diese grundlegende Annahme für willkürlich
und lehnt deshalb alle dessen darauf aufbauenden Ergebnisse ab: Dmitrievs Interpretation einer „gleich günstigen Marktlage“ als Relation im Sinne einer identischen Absatzwahrscheinlichkeit verbinde Produktion und Absatz in unzulässiger Weise. Denn in der
Realität gehöre der Produktionsumfang nicht zu den den Absatz determinierenden
Bedingungen. Für die Käufer eines Produktes spiele es keine Rolle, wie viel davon
produziert werde. Bei „gleich günstiger Marktlage“ verkauften alle Unternehmer absolut
Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
(54)
Di =
137
D
Q
qi → D = Di
q
i
Q
Einsetzen von (54) in die Gewinnfunktionen (43) ohne Kosten führt zu:
(55)
Q 
Gi = Di f ( D) = Di f  Di 
q
 i

Diese Erlöse werden maximal, wenn gilt:32
Gi′ =
(56)
⇔
Q 
Q Q
dGi
Q
= f  Di  + Di f ′ Di  = f ( D) + Di f ′( D) = 0
q
q
q
qi
dDi
 i

 i
 i
qi
f ( D) + Di f ′( D) = 0
Q
Die Summation der einzelnen Gleichungen liefert f ( D) + Df ′( D) = 0 , was
unter Berücksichtigung von p = f (D) wieder den Ausdruck (41) des Monopols ergibt (S. 29, Gleichung ⟨12⟩):
(41)
D+ p
dD
=0
dp
Dieselbe Formel erhielte man, wenn sich die Absatzwahrscheinlichkeiten
durch die Einführung spezifischer Koeffizienten in (54) zusätzlich unterscheiden würden (S. 30, Fn. 6).
Alle Annahmen führen also zum selben Resultat: Das erlösmaximale
Gesamtangebot entspricht der Monopolmenge, der sich ergebene Marktpreis
liegt höher als der von Cournot bei Konkurrenz von n Anbietern bestimmte:
gleich viel und nicht relativ zur individuellen Produktion. Vgl. Šapošnikov, N. N.,
Svobodnaja konkurrencija …, a.a.O., S. 87. Freilich trifft diese Kritik Dmitriev hier
nicht, weil sich im Falle fehlender Kosten tatsächlich herausstellt, dass Angebots- und
Produktionsumfang unabhängig voneinander sind (siehe unten). Bei der von Šapošnikov
geforderten Annahme gleicher Absätze ergibt sich sofort Fall 1. Anders wird es bei
Voraussetzung steigender Kosten sein. Dann geht die Produktionsmenge über die
Grenzkostenfunktion in das Angebotskalkül der Unternehmer ein.
32 Zu beachten ist, dass bei der Bestimmung der Absatzmengen die Produktionshöhen
als gegeben betrachtet werden.
138
Die Kritik Dmitrievs
„Wie wir sehen, ist unsere Schlussfolgerung diametral entgegengesetzt der
von Cournot. Die oben durchgeführte Analyse zeigt uns, dass, egal wie die
n konkurrierenden Unternehmer ihre Produktproduktion auf der Jagd nach
momentanem Vorteil ausweiten würden, der Marktpreis des Produktes
ungeachtet dessen niemals unter jenen Preis fallen kann, welchen ein Monopolist festlegte, da dieser Preis für jeden der konkurrierenden Unternehmer am vorteilhaftesten sein wird ... Der Wettbewerb hat Einfluss auf den
Umfang der Produktion, aber durchaus nicht auf den Umfang des Angebots
bei gegebenem Produktionsumfang.“ (S. 30 f., Hervorhebung im Original)
Zur Verdeutlichung des letzten Satzes begibt sich Dmitriev nun auf die erste
Stufe (S. 31 ff.).
Produktionsentscheidung:
Bisher wurde ein Produktionsumfang unterstellt, wie er aus der Cournotschen Untersuchung resultierte. Wird dieser bei Antizipation der Angebotsentscheidung aber genau jene Höhe annehmen?
Auf der zweiten Stufe ergab sich, dass der optimale Gesamtabsatz unabhängig von der Zahl der Marktteilnehmer stets gleich groß ist und der Monopolmenge entspricht. Dazu korrespondiert ein ganz bestimmter Preis. Beide
Größen verändern sich nicht, einerlei welche Höhe die Produktion annimmt.
Das bedeutet, dass sich der Gesamterlös nur erhöhen wird, solange die Ausbringung noch kleiner als die Monopolmenge ist. Dort wird sein Maximum
erreicht. Jede weitere Produktionserhöhung ließe ihn unverändert (S. 31).
Für einen Monopolisten würde es sich offensichtlich nicht lohnen, seine
Produktion weiter auszudehnen, sie entspricht seinem Angebot (das wurde
bereits oben herausgefunden). Sobald aber mehrere Unternehmen auf dem
Markt agieren, wird für jedes einzelne ein Anreiz bestehen, mehr zu produzieren, weil sich dadurch sein Erlösanteil am (konstanten) Gesamterlös
vergrößert. Denn im Dmitriev-Modell ist dieser an den individuellen Anteil
der Gesamtproduktion gekoppelt (vgl. (54)). Das von Dmitriev abgeleitete
Resultat eines ab der Monopolmenge konstanten Gesamterlöses führt nun
selbst bei Vorraussetzung einer sofortigen Reaktion der Konkurrenten dazu,
dass der Anreiz zur Produktionsausweitung nicht verschwindet, weil sich
auch in diesem Fall der individuelle Erlös nicht verringern kann. Deshalb
wird die Produktion stetig anwachsen und nicht bei der von Cournot aus (47)
ermittelten Höhe stoppen:
Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
139
„Und so, ungeachtet dessen, dass in jedem gegeben Moment, in dem die
produzierte Menge eine konstante Größe darstellt, der Angebotsumfang
und der Preis sowohl für einen Monopolbesitzer als auch für konkurrierende Unternehmer völlig gleich bestimmt wird, ermittelt man den Produktionsumfang selbst in diesen beiden Fällen jedoch vollkommen unterschiedlich: Während ein Monopolist eine Produktionshöhe gleich dem Gesamtangebot wählt, die zum größten Gesamterlös führt, werden die konkurrierenden Unternehmer, auf der Jagd nach momentanem Vorteil, ihre Produktion
und gleichzeitig auch die Gesamtproduktion grenzenlos steigern. Wie wir
sehen, unterscheidet sich dieses Resultat von der Cournot’schen Schlussfolgerung ...“ (S. 32, Hervorhebungen im Original)
Es ist klar, und Dmitriev weist darauf hin (S. 29, Fn. 5; S. 33), dass dieses
(eigenartige) Resultat nur durch die Annahme fehlender (von der Produktionsmenge abhängiger) Kosten zustande kam. Dadurch kann die Angebotsentscheidung völlig unabhängig von der Ausbringungshöhe getroffen werden
(wie man in (41) am fehlenden Q sieht). Bei jedem beliebigen Produktionsumfang ergibt sich der gleiche Absatz. Ob und wie dieses Ergebnis im
realistischen Fall positiver Kosten modifiziert werden muss, versucht
Dmitriev ab dem dritten Kapitel zu zeigen.
Nicht-lagerfähige Güter:
Zur Verdeutlichung der Argumentation dieses Kapitels konzentrieren wir uns
auf Dmitrievs grundlegende Graphik, welche es erlaubt, Modellstruktur und
Lösungskonzept in relativ anschaulicher Weise darzustellen sowie die
bisherige Analyse der kostenlosen Produktion zu integrieren.33
Wie bereits angedeutet, unterscheidet Dmitriev streng zwischen Produktions- und Absatzentscheidung. Abbildung 2 sieht zwar zunächst wie die in
vielen Lehrbüchern übliche Gegenüberstellung von Erlös- und Kostenkurve
zur Ermittlung der Gewinnfunktion aus. Jedoch werden diese Kurven durch
die zweistufige Entscheidung anders konstruiert bzw. modifiziert. Zur
33 Siehe zur graphischen Darstellung Dmitrievs Zweiter Essay, S. 36, Abb. 2.6. Auf die
zur Graphik korrespondierenden Optimum- bzw. Gleichgewichtsbedingungen wird an
entsprechender Stelle hingewiesen. Der Übersichtlichkeit wegen und zur Fallunterscheidung wurde Dmitrievs Diagramm in zwei Abbildungen aufgespalten. Für den direkten
Vergleich mit dem Originaltext blieben seine Beschriftungen gleich.
140
Die Kritik Dmitrievs
Ableitung der Ergebnisse des Dmitriev-Modells erweist es sich deshalb als
hilfreich, den Konstruktionsschritten zu folgen.
Geld
A
ω
R
N
t1
N1
f
R1
a
R0
t
T
l
L
0
ϑ
L1
d
D
β α
M
M1
K
K0
K1
K2
K4
D, Q
G(Q)
0
M
K
K2
Q
Abbildung 2
Betrachten wir zuerst wieder die zweite Stufe: Welche Menge werden die
Unternehmer bei einem bestimmten Produktionsumfang insgesamt absetzen
wollen, d.h., wie hoch ist ihr „tatsächliches Angebot“ D bei gegebenem
„potentiellen Angebot“ Q?34
Beginnen wir mit dem einfachsten Fall, in dem das potentielle Angebot
der in der betrachteten Periode produzierten Menge entspricht. Die hergestellten Waren können nicht gelagert werden, sondern verderben, falls sie
keinen Absatz finden (S. 34). Jeder Produktionshöhe Q ist durch die Gerade
der „notwendigen“ Produktionskosten 0A exakt eine Kostensumme Qu
zugeordnet.35 Diese fiel aber bereits in der ersten Stufe an und wird hier als
konstant unterstellt. Das bedeutet, dass unabhängig von der zu bestimmenden
Absatzhöhe D die gleichen Produktionskosten aus dem Warenverkauf erlöst
werden müssen. In der Graphik wird die zu einer bestimmten Ausbringung
korrespondierende Kostensumme Qu deshalb als Waagerechte über der
34 Die Unterscheidung zwischen „tatsächlichem“ und „potentiellem“ Angebot führt
Dmitriev auf S. 41 ein.
35 Dmitriev sieht erneut von Fixkosten ab und setzt die „notwendigen“ Produktions-
stückkosten u = tanϑ als konstant voraus (S. 34).
Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
141
Mengenachse symbolisiert, wie durch lL1 (für Q = M1) und t1t (für Q = K1)
angedeutet. Nehmen wir nun die Gesamterlöskurve 0D hinzu, welche von
Dmitriev in Anlehnung an Auspitz und Lieben auch als „Nachfragekurve“
bezeichnet wird (S. 40). Diese Funktion ist von der abgesetzten Menge
abhängig (Df(D)). Und da die Kosten auf dieser Stufe als konstant vorausgesetzt werden, stimmen Gewinn- und Erlösmaximierungsbedingung überein
(S. 34 f., Gleichungen ⟨40⟩ und ⟨51⟩).36 Zu beachten ist dabei, dass das
tatsächliche nicht größer als das potentielle Angebot sein kann (D ≤ Q).
Bei einer Produktionshöhe M1 ist der Gewinn (bzw. Erlös) nun am größten, wenn die gesamte Menge M1 abgesetzt wird. Dasselbe gilt für jede
Produktion kleiner gleich der gesamterlösmaximalen Menge K. Anders sieht
es bei der Herstellung K1 aus: In diesem Fall lohnt es sich für die Unternehmer, weniger als K1 anzubieten. Der optimale Absatz wird der gesamterlösmaximalen Menge K entsprechen. Halten wir also fest: Solange die Produktion K nicht übersteigt, werden die Unternehmer genauso viel absetzen wollen,
wie produziert wurde (D = Q). Für jede darüber hinaus gehende Erzeugung
gilt D < Q. Dieses Kalkül ist unabhängig von der Zahl der Anbieter (S. 35).
Welche Produktionshöhe wird nun aber tatsächlich gewählt? Dafür müssen wir uns auf die erste Stufe der Produktionsentscheidung begeben. Ins
Blickfeld rückt jetzt der im unteren Teil von Abbildung 2 dargestellte
Gesamtgewinn als Funktion der insgesamt produzierten Menge: G(Q). Für
die Produktionsmengen bis K entspricht die Kurvenkonstruktion der herkömmlichen Vorgehensweise: Da in diesem Bereich Produktion und Absatz
gleich groß sind, korrespondieren die Ordinaten der Funktion zu den
vertikalen Abständen zwischen Gesamterlöskurve und „notwendiger“
Produktionskostengerade. Eine Produktionsausweitung über K hinaus führt
dagegen zu keiner Absatzzunahme. Das impliziert, dass der Erlös sich nicht
36 Dies gilt sowohl für ein Monopol als auch für den Fall mehrerer Anbieter. Dmitriev
erreicht diese Übereinstimmung wie vorher (vgl. (54) auf S. 137) durch die Annahme
einer „gleich günstigen Lage“ aller Unternehmer, womit sich das individuelle Angebot
proportional der Einzelproduktion verteilt (S. 35). Das hat zur Folge, dass sich, wie in
der Abbildung angedeutet, die individuelle Erlösfunktion 0d sowie die Kostenfunktion
0a eines Anbieters in demselben Verhältnis zu den entsprechenden Gesamtkurven
befinden, die Gewinnverteilung mithin determiniert ist. Alle Anbieter werden, wie
ebenfalls aus der Zeichnung ersichtlich, die gleichen Absatzmengen wählen, die auch
ein abgestimmtes Verhalten hervorbrächte. Deshalb genügt es, sich im Folgenden auf
die Gesamtgrößen zu konzentrieren.
142
Die Kritik Dmitrievs
verändert, die Kosten aber steigen.37 Bei einer Produktionshöhe von K2 sind
beide gleich groß und der Gewinn wird Null.
Ein Monopolist wählt nun offensichtlich die gewinnmaximale Ausbringung M, welche er gleichzeitig anzubieten beabsichtigt. Der sich ergebene
Preis beträgt tanα, sein Gewinn LN. Anders sieht die Entscheidung bei n
Anbietern aus: Für sie besteht trotz des sinkenden Gesamtgewinns durch die
Verknüpfung ihres Gewinnanteils mit ihrer Erzeugung ein Anreiz zur
individuellen Produktionsausdehnung, sofern jeder Einzelne von einer nur
verzögerten Reaktion seiner Konkurrenten ausgehen kann. Im Unterschied
zum Absatzbereich hält Dmitriev diese Annahme Cournots, wie bereits
angesprochen, im Produktionsbereich für plausibel (S. 40).38
Die Verhaltensasymmetrie zwischen den beiden Entscheidungsstufen hat
in seinem Modell nun weitreichende Konsequenzen: Sie führt zu unterschiedlichen Stückkosten im Monopol und Oligopol bzw. Polypol. Denn der
individuelle Anreiz zur Produktionsausdehnung wird in den beiden letztgenannten Marktformen erst bei der Menge K2 enden. Der Gesamtgewinn
beträgt dann Null.39 Der Marktpreis ist tanβ, weil die n Unternehmer bei der
Erzeugung K2 insgesamt nur die erlösmaximale Menge K verkaufen wollen
(D), was impliziert, dass der Preis bei ε = –1 fixiert wird.40 Die überschüssige
Produktion (Q – D) verdirbt. Das potentielle Angebot Q lässt sich demzufolge in zwei Teile zerlegen:
37 Genau genommen hätte Dmitriev die Erlösfunktion deshalb ab ihrem Maximum als
Parallele zur Abszisse einzeichnen müssen, so wie er es im vorigen Kapitel verbal
beschrieb. Siehe oben, S. 138. Dann änderte sich auch an der graphischen Ermittlung des
Gewinns als vertikaler Abstand zwischen Erlös- und Kostenfunktion nichts.
38 Alternativ lässt Dmitriev ausdrücklich Markteintritte zu (S. 49). Die Einschätzung,
dass in seiner Wettbewerbstheorie Eintrittsschranken existieren (vgl. Schefold, B., V. K.
Dmitriev ..., a.a.O., S. 98) sowie die damit verbundene Kritik, dass er die Wirkung
potentieller Konkurrenz auf den Preis vernachlässige und somit seine Resultate revidiert
werden müssten (vgl. z.B. Šapošnikov, N. N., Svobodnaja konkurrencija ..., a.a.O., S.
89), ist deshalb unbegründet. Tatsächlich spielt es in seinem Konkurrenzmodell keine
Rolle, ob Markteintrittsbarrieren existieren oder nicht. Unabhängig von der Anbieterzahl
(für n > 1) stellt sich dieselbe Preis-Mengen-Kombination ein.
39 Den formalen Beweis der Allgemeingültigkeit der These, dass es für jeden Unternehmer vorteilhaft ist, seine Produktion auszudehnen, und im Gleichgewicht der
Gesamtgewinn auf Null gesunken ist, tritt Dmitriev auf S. 42-46 an.
40 Denn im Erlösmaximum gilt: p + D ( dp dD ) = 0 ⇔ 1 + 1 ε = 0 . Daraus folgt für die
direkte Preiselastizität der Nachfrage: ε = −1 .
Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
(57)
143
Q = D + (Q − D )
Für die Gesamtkosten ergibt sich dann (S. 47, Gleichung ⟨72⟩):41
(58)
(Q − D )u 

Qu = Du + (Q − D )u = D u +

D

Da sich die Unternehmer entscheiden, weniger anbieten als produzieren zu
wollen, bürden sie sich also zusätzliche, über die „notwendigen“ Stückkosten
u hinaus gehende Aufwendungen pro Verkaufseinheit auf. Diese stellen
allgemein eine Funktion des Vorrates (Q – D) dar: u v ( ariabel ) = ϕ (Q − D ) D .
Für den Fall verderblicher Waren sind sie mit u v = (Q − D )u D spezifiziert.
Die Zusatzkosten ϕ (Q − D) bzw. (Q − D)u werden von Dmitriev „Realisationskosten“ genannt und bilden die Wechselwirkung von Produktions- und
Absatzentscheidung ab (S. 47).
Graphisch werden die Realisationskosten, ausgehend vom maximalen
Absatzniveau D = Q bis zum vollständigen Nichtverkauf der Produktion
(D = 0), vertikal zu den jeweiligen, durch die Gerade 0A ausgedrückten
„notwendigen“ Kosten addiert. Die sich dadurch ergebene “Gesamtkostenkurve“ beschreibt die bei einem bestimmten Produktionsniveau Q von der
Gesamtverkaufsmenge D zu tragenden Kosten (S. 55).
Im vorliegenden Fall ist die „Gesamtkostenkurve“ eine horizontale Gerade, da bei verderblichen Waren die Zusatzkosten den notwendigen Produktionskosten nicht verkaufter Einheiten entsprechen: ϕ (Q − D) = (Q − D)u .
Deren vertikale Addition, ausgehend von D = K2 bis D = 0, zu den jeweiligen
„notwendigen“ Kosten ergibt die zu Q = K2 korrespondierende „Gesamtkostenkurve“ fω. Nur bei einer Absatzhöhe D = K deckt der Verkaufserlös alle
Kosten. Die Gesamtkosten pro abgesetzter Einheit (u + uv) betragen dann wie
der Preis tanβ.
Dieses aus Abbildung 2 ermittelte Gleichgewicht beider Stufen im Fall
von n Anbietern kann unter Berücksichtigung von p = f(D) sowie der
allgemeinen Definition von uv algebraisch durch folgendes System beschrieben werden (S. 47, Gleichungen ⟨75⟩-⟨77⟩):
41 In den folgenden Formeln wurde bereits ein späterer Notationswechsel Dmitrievs
berücksichtigt. Vgl. S. 47, Fn. ⟨c⟩.
144
(59)
Die Kritik Dmitrievs
  
ϕ (Q − D)  
 d  D  f ( D) − u −
 
D
 =0
  

dD


 Df ( D) − Qu = D  f ( D) − u − ϕ (Q − D)  = 0



D


Der maximale Gewinn wird im Falle mehrerer Anbieter gleich Null sein. Das
ergibt sich auch bei der traditionellen Analyse vollkommener Konkurrenz, so
bei Cournot und Ricardo. Die konjekturale Verhaltensweise auf der Absatzstufe führt bei Dmitriev aber zu einem ganz anderen Gleichgewicht: Statt
eines Produktions- und Absatzvolumens K0 werden K2 respektive K gewählt.
Fassen wir die Analyse nicht-lagerfähiger Waren zusammen: Bei „unbegrenzter freier Konkurrenz“ wird das Angebot immer kleiner als die Produktion sein. Dabei ergibt sich ein Marktpreis, welcher den „Gesamtstückkosten“
entspricht. Diese sind aufgrund des bewussten Nichtverkaufs von Waren
systematisch höher als die „notwendigen“ Kosten pro Absatzeinheit. Da es
für einen Monopolisten keinen Grund gibt, mehr zu produzieren als anzubieten, fallen bei ihm nie „Realisationskosten“ an. Die Kostensituationen von
Monopol und Polypol unterscheiden sich permanent. Das polypolistische
Gleichgewicht R differiert von der Monopollösung N darüber hinaus durch
eine höhere Angebotsmenge sowie einen niedrigeren Preis und entspricht
somit nicht dem Gesamtgewinnmaximum.42 Dennoch liegt es in Abbildung 2
links von der Lösung R0 Cournots, führt also zu einem höheren Preis und
einer geringeren Absatzmenge.
Lagerfähige Güter:
An diesen grundlegenden Resultaten wird sich auch im allgemeineren Fall
lagerfähiger Güter nichts ändern. Betrachten wir hierzu Abbildung 3 (S. 36,
Abb. 2.6):
42 Nur in dem von Dmitriev zuerst behandelten Sonderfall kostenloser Produktion fallen
monopolistische und polypolistische Angebotsentscheidung im Gesamtgewinnmaximum
zusammen, wie oben algebraisch bereits gezeigt (vgl. (52) und (53) auf S. 133). In der
Abbildung 2 wird sich die Kostengerade 0A dann mit der Abszisse decken und sowohl
ein Monopolist als auch n Konkurrenten die erlösmaximale Menge K absetzen wollen.
Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
145
Geld
A
C R
f2
f
N
R0
C0
f1
C1
D
L
0
ϑ
γ
α
M
Km K
K0
K2
K4
D, Q
Abbildung 3
Statt des vollständigen Verlustes können überschussproduzierte Waren nun in
die nächste Periode transferiert und eventuell verkauft werden. Dadurch
verändert sich die Form der „Gesamtkostenkurve“. Sie verläuft unterhalb der
zu einer bestimmten Produktion korrespondierenden horizontalen Gerade
nicht-lagerfähiger Güter. Dies ergibt sich daraus, dass die Lagerungsstückkosten l kleiner als die notwendigen Produktionskosten u sein müssen, weil
sich die Unternehmer ansonsten gegen die Lagerung und für den Verderb der
Ware entschieden, falls Absatz- und Produktionsentscheidung differieren (S.
56).43 Somit folgt u v = (Q − D)l D < (Q − D)u D für die „Realisationskosten“ pro verkaufter Einheit. Die Vermutung, dass sich jetzt unter sonst
gleichen Bedingungen eine höheres Produktions- sowie ein niedrigeres
Angebotsniveau als bei verderblichen Waren ergibt, wird in der Graphik
bestätigt.
Angenommen, die Produktion stellte sich auf dem bisher optimalen Niveau K2 ein. Dieser Herstellung entspricht die „Gesamtkostenkurve“ ff1. Sie
verläuft zum Teil unterhalb der Gesamterlösfunktion. Bei der Wahl einer
Angebotsmenge in diesem Bereich werden alle n Konkurrenten Gewinn
erzielen. Bei der Absatzmenge Km wird er maximal (C0C). Diese Situation
stellt kein Gleichgewicht dar, weil für jeden Unternehmer ein Anreiz besteht,
seine Produktion auszuweiten. Erst bei einer Gesamterzeugung K4 werden
Gesamterlös und Gesamtkosten übereinstimmen sowie der Anreiz zur
43 Zur Diskussion weiterer Kurveneigenschaften siehe S. 55 f.
146
Die Kritik Dmitrievs
individuellen Produktionsausdehnung verschwinden.44 Die zu dieser Ausbringung korrespondierende neue „Gesamtkostenkurve“45 Af2 tangiert die
Erlösfunktion 0D im Punkt C. Der aus dem Verkauf von Km Einheiten zum
Preis tanγ erzielbare Gewinn beträgt Null.46 Die Differenz (K4 – Km) wird mit
Kosten von C1C eingelagert (S. 57).
Das „potentielle Angebot“ Q der nächsten Periode setzt sich demzufolge
aus der aktuellen Produktion dieses Zeitraums (Qv) und dem Lagerbestand
(Qc) zusammen. Erneut haben die Unternehmer zu entscheiden, ob das
„tatsächliche Angebot“ D dem Potentialangebot entsprechen soll oder nicht:
(57')
Q = Qc + Qv = D + (Q − D)
Bei unveränderten Produktions-, Lagerungs- und Nachfragebedingungen
variiert die Lage der Kurven in Abbildung 3 nicht. Es wird sich deshalb
genau dasselbe Gleichgewicht einstellen. Die Differenz zwischen potentiellem und tatsächlichem Angebot verändert sich also nicht. Das bedeutet, die
aktuelle Produktion hat sich an den Absatz angepasst (Qv = D), der Lagerbestand bleibt gleich hoch (Qc = Q – D). Aufgrund der Unauflösbarkeit der
überschüssigen Bestände bezeichnet Dmitriev diese auch als „tote“, „unproduktive“ bzw. „objektiv überflüssige, spekulative“ Vorräte (S. 51, Fn. 10, S.
54 sowie S. 60, Fn. 17).
Das Gleichgewichtssystem (59) für den Fall von n Anbietern nimmt somit
folgendes Aussehen an (S. 59, Gleichungen ⟨97⟩ und ⟨98⟩):
(59')
  
ϕ (Qc )  

 d  D  f ( D) − u −
D  
  
=0

dD


 Df ( D ) − Du − Du = D  f ( D ) − u − ϕ (Qc )  = 0
v


D 

44 Wie die hier reproduzierte Zeichnung Dmitrievs verdeutlicht, hält er auch Produk-
tionsmengen für möglich, welche die Sättigungsmenge überschreiten.
45 Dmitriev hält den äquidistanten Verlauf aller „Gesamtkostenkurven“ für realitätsnah
(S. 57, Fn. 16), so dass sich auf der Stufe der Angebotsentscheidung unabhängig von der
Produktionsmenge die gleiche Absatzmenge ergibt. Bei Q > Km wird D = Km, für alle
Niveaus Q ≤ Km gilt D = Q.
46 Im Unterschied zu verderblichen Waren liegt diese Lösung links vom Gesamterlösmaximum, so dass der Preis bei einer Nachfrage fixiert wird, für die ε < −1 gilt.
Strikte Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung
147
Für einen Monopolisten ändert sich das Gewinnmaximierungskalkül durch
die Annahme lagerfähiger Güter nicht. Denn für ihn besteht weiterhin kein
Grund, mehr zu produzieren, als er absetzen kann. Das Gleichgewicht stellt
sich erneut bei einer Menge M ein, welche zum Preis tanα mit einem Profit
LN verkauft wird.
Unabhängig davon, um welche Art Waren es sich also handelt, die oben
beschriebenen Resultate bleiben erhalten. Vor allem wird der Wettbewerbsprozess im Dmitriev-Modell nicht zu einer Senkung des Preises auf die
„notwendigen“ Produktionskosten führen, sondern jener liegt in der Regel
darüber.47 Zwar ist im Konkurrenzgleichgewicht der Preis gleich den
Stückkosten, aber der Ausgleichsprozess geht auf andere Weise vonstatten
als insbesondere von Ricardo angenommen:
„Somit stellt sich heraus, dass das Ricardianische Gesetz bei den Güterkategorien, in deren Preis eine Rente in keiner Form enthalten ist, nicht angewendet werden kann. Die Gleichheit zwischen dem Marktpreis einer
Produkteinheit und den Kosten, welche die Unternehmer aus diesem Preis
decken müssen, kann in Wirklichkeit nicht nur auf dem Wege des Senkens
des Marktpreises auf die notwendigen Produktionskosten (wie dies von
Ricardo angenommen wurde), sondern auch mittels einer gleichzeitigen
Erhöhung der Kosten pro verkaufter Menge über das Niveau der notwendigen Produktionskosten dieser Menge hinaus erzielt werden, indem die Realisationskosten den notwendigen Kosten hinzugefügt werden. Inwiefern
jeder der erwähnten Einflussfaktoren am Ausgleich des Preises mit den
Gesamtkosten beteiligt ist und auf welchem Niveau sich gerade der Preis
einpegelt, wird in jedem gegebenen Fall von der Form der Kurve der gesamten Produktionskosten und der Nachfragekurve abhängen.“(S. 61, Hervorhebungen im Original)
Damit schließt sich der Kreis zum letzten Kapitel des ersten Essays:48 Sogar
unter den idealen Bedingungen Ricardos beliebig vermehrbarer Güter, die
verschiedene Unternehmen unter gleich günstigen Bedingungen (dadurch
entstehen keine Renteneinkommen) bei freier Konkurrenz produzieren, kann
ein Preis nicht durch die Produktionskosten allein bestimmt werden, sondern
variiert selbst bei konstanten notwendigen Produktionskosten je nach Lage
der „Nachfragekurve“ (der Gesamterlöskurve in den Abbildungen) (S. 61).
47 Ausnahmen können nur bei einem sehr niedrigen Stand der Technik auftreten,
welchem eine überaus steile notwendige Produktionskostengerade entspräche (S. 61).
48 Vgl. 2.2.1.1., S. 106.
148
Die Kritik Dmitrievs
Die weiteren Kapitel Dmitrievs dienen nun der Verallgemeinerung seiner
Resultate sowie der Untersuchung gesamtwirtschaftlicher Konsequenzen.
2.2.2.3 Der Wohlfahrtsvergleich von Monopol und Polypol
Ein wichtiges Ergebnis der bisherigen Analyse lautet, dass der Monopolpreis
zwar über dem Konkurrenzpreis liegt, ein Alleinanbieter aber systematisch
kostengünstiger produziert, weil bei ihm nie „Realisationskosten“ entstehen,
während sie bei Existenz mindestens zweier Unternehmen auf dem Markt
stets anfallen. Sowohl im Monopol als auch im Oligopol bzw. Polypol
übersteigen die Gleichgewichtspreise jedoch die „notwendigen“ Stückkosten.
Im vierten Kapitel des zweiten Essays argumentiert Dmitriev nun, dass
der einem Monopolisten zufließende Stückgewinn dem volkswirtschaftlichen
Kreislauf nicht entzogen wird, weil er diesen entweder konsumiert oder
investiert. Bei Konkurrenz dagegen wird die gesamte Differenz zwischen
Preis und „notwendigen“ Produktionskosten für „unproduktive“ Aufwendungen der Lagerung verausgabt, so dass keine für Investition oder Unternehmerkonsum verfügbaren Extragewinne entstehen. Die Existenz von mehreren
Anbietern führt zwingend zur Verschwendung von Ressourcen, welche nur
teilweise von den Vorteilen eines niedrigeren Preises für die Konsumenten
kompensiert wird. Im Monopol ist deshalb die gesamtwirtschaftliche
Wohlfahrt höher als bei freiem Wettbewerb. Die traditionelle Auffassung,
dass ein Polypol die „höchste Produktivität der Produktionsmittel“ garantiere,
müsse revidiert werden, weil diese These auf der inkorrekten Annahme
basiert, dass zunehmende Konkurrenz in der Lage sei, den Preis auf die
„notwendigen“ Kosten zu senken (S. 65 f.)
Versteht man unter „Wohlfahrt“ die Gesamtrente als Summe der volkswirtschaftlichen Konsumenten- sowie Produzentenrente und transformiert
das Modell Dmitrievs in ein herkömmliches Preis-Mengen-Diagramm, so
lassen sich seine Aussagen mit Abbildung 4 illustrieren.49
49 Da sich die qualitativen Ergebnisse des Dmitriev-Ansatzes nicht verändern, wurde in
der Graphik die bei ihm vorhandene Möglichkeit eines die Sättigungsmenge übersteigenden Produktionsniveaus nicht berücksichtigt.
Der Wohlfahrtsvergleich von Monopol und Polypol
p
u + uv = u +
ϕ (Q − D)
D
A
pM
pKK
149
B
F
B'
G
uC
D
F'
E
ϕ (Q − D) 

d  Du + D

D

dD
p = f (D)
DM DKK
d [Df ( D)]
dD
Q
D
Abbildung 4
Die Monopollösung (DM, pM) ergibt sich im Schnittpunkt der Grenzerlöskurve d [Df ( D )] dD und der Funktion der „notwendigen“ Grenzkosten u
(welche bei Dmitriev mit den „notwendigen“ (variablen) Stückkosten
übereinstimmen). Im Konkurrenzfall werden die zu einem bestimmten
„potentiellen“ Angebot Q korrespondierenden „Absatzgrenzkosten“50
d ( Du + Du v ) dD sowie die gesamten Kosten pro Absatzeinheit u + u v
relevant. Aus Abbildung 3 lassen sie sich graphisch für jeden Punkt als
Anstieg der „Gesamtkostenkurve“ bzw. des Ursprungsstrahls zu dieser Kurve
ableiten. Das Konkurrenzgleichgewicht (DKK, pKK) ergibt sich im Schnitt der
„Absatzgrenzkosten“ mit dem Grenzerlös. Bei dieser Preis-MengenKombination tangiert die Kurve der Gesamtstückkosten die Preis-AbsatzFunktion p = f (D) in F'.51
50 Dieser Terminus wurde zur Verkürzung eingeführt. Er beschreibt im Unterschied zu
„Produktions-“ oder „Lagerungsgrenzkosten“ die erste Ableitung der „Gesamtkostenfunktion“ nach der Absatzmenge. Auch Nuti nennt in Dmitriev, V. K., Economic Essays
..., a.a.O., S. 24, Fn. 1 diese Aufwendungen “marginal cost of sales”.
51 Wiederum ist diesem Ergebnis eine gewisse Ähnlichkeit mit der „Tangentenlösung“
im Modell monopolistischer Konkurrenz Chamberlins nicht abzusprechen, auch wenn
Letzterer Preis-, Dmitriev aber Mengenpolitik untersucht. Ausschlaggebend dürfte
hierfür die in beiden Ansätzen gemachte doppelte Symmetrieannahme (gleiche Kostenund Absatzsituation aller Anbieter) sein. Vgl. auch 2.2.2.8.2, S. 163 ff.
150
Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
Im Monopol wird die Konsumentenrente durch das Dreieck ABF, die
Produzentenrente (bei Dmitriev wegen fehlender Fixkosten gleich Gewinn)
mit dem Rechteck BCDF und die Gesamtrente durch das Trapez ACDF
beschrieben. Freie Konkurrenz ergibt eine Konsumentenrente AB'F', welche
zugleich der Gesamtrente entspricht, weil Produzentenrente nicht anfällt.
Diese Gesamtrente ist kleiner als beim Monopol, da der Zuwachs an Konsumentenrente BB'F'F den Verlust der Produzentenrente nicht kompensiert. Der
Wohlfahrtsverlust im Vergleich zum Monopol beträgt (B'CDG – FGF'). Die
traditionelle Polypollösung mit einer Gesamtrente in Höhe von ACE hätte
sich im Schnittpunkt E der „notwendigen“ Grenzkosten mit der Preis-AbsatzFunktion unter der Annahme ergeben, dass „potentielles“ und „tatsächliches“
Angebot übereinstimmen.
2.2.2.4 Die Begründung unproduktiver Ausgaben
Dmitriev stellt sich im vierten Kapitel auch die Frage, warum die Unternehmer bei freier Konkurrenz überhaupt solche auf den ersten Blick unnötigen
und volkswirtschaftlich nachteiligen Vorräte halten (S. 66 f.). Seine Antwort
ist eindeutig: Zweck dieser Ressourcenverschwendung ist die Ermöglichung
einer sofortigen Reaktion auf Aktionen der Konkurrenten sowie damit die
Vermeidung der typischen (Gefangenen-)Dilemmasituation, in der sich jeder
Wettbewerber ansonsten befände:
„Die Warenvorräte spielen im Kampf um Absatz dieselbe Rolle wie eine
verstärkte Bewaffnung der Mächte in einer Friedenszeit: Die Ausgaben für
eine solche Aufrüstung scheinen völlig zwecklos zu sein, weil sie zu keinem sichtbaren Resultat führen, ihre Bedeutung ist rein negativ und kann
nur verstanden werden, wenn wir annehmen, dass eine der Mächte beginne,
in dieser Zeit abzurüsten, während die Lage der anderen unverändert bliebe: Nicht nur wäre die Situation dieser Macht im Falle eines internationalen
Friedensbruches unvorteilhaft, sondern die Abrüstung selbst würde ein
Anlass zum Friedensbruch sein, weil die anderen Mächte, für welche ein
günstiger Ausgang des Kampfes ... mit dem betreffenden Staat ... früher
zweifelhaft gewesen wäre (aufgrund der Gleichheit der Kräfte), jetzt im
Falle eines Kampfbeginns sicherlich mit einem Sieg rechnen könnten. Genau dasselbe würde auch auf dem Markt passieren, wenn einer oder einige
der Konkurrenten ihre ‚toten’ Vorräte liquidieren würden.“ (S. 67, Hervorhebungen im Original)
Die Begründung unproduktiver Ausgaben
151
Die Modernität dieser Aussage Dmitrievs ist unübersehbar: Nicht nur erkennt
er die Analogie von militärischen und oligopolistischen Strategien,52 sondern
seine Argumentation entspricht auch den heutigen spieltheoretischen
Erklärungsmustern kooperativen Verhaltens, etwa der Verhinderung eines
Atomkrieges oder Preiskampfes.53
Bei Dmitriev verschwindet die Gefangenendilemmasituation durch die
Trennung von Produktions- und Angebotsentscheidung, womit sich das ansonsten simultane in ein sequentielles Spiel verwandelt. Auf der ersten Stufe
produzieren die Wettbewerber bewusst auf Lager. Die dadurch entstandenen
zusätzlichen Kosten sind auf der zweiten Stufe versunken. Damit binden sich
alle Unternehmer an eine bestimmte Handlung auf der Absatzstufe: Jeder von
ihnen erlitte Verluste, dehnte er allein sein Angebot aus. Gleichzeitig bliebe
ihm keine andere Wahl, als bei preissenkenden Absatzerweiterungen seiner
Konkurrenten augenblicklich ebenso zu reagieren, um die eigenen Verluste
zu minimieren. Da alle Anbieter wissen, dass sie sich durch abweichendes
Verhalten nur verschlechtern können, werden sie es unterlassen. Die Vorräte
und die dadurch verursachten „sunk costs“ fungieren somit als glaubwürdige
Drohung, welche eine Störung der impliziten Kollusion verhindert und damit
die Stabilität des Gleichgewichts garantiert.54
52 Noch 1947 bemängelte Rothschild die zu geringe Berücksichtigung dieses Aspektes
in der Preistheorie. Er plädierte für eine intensivere Beschäftigung mit Politik- sowie
Militärliteratur bezüglich Strategie und Taktik, um so zu einer realistischeren Behandlung des Oligopolproblems zu gelangen. Vgl. Rothschild, K. W., Price Theory and
Oligopoly (Economic Journal, LVII, 1947, S. 299-320); Deutsch: Preistheorie und
Oligopol, in: Ott, A. E. (Hrsg.), Preistheorie, a.a.O., S. 361 f.
53 Vgl. zu Auswegen aus dem Gefangenendilemma sowie ihrer politischen und wirtschaftlichen Anwendung exemplarisch Dixit, A. K. / Nalebuff, B. J., Spieltheorie für
Einsteiger, Stuttgart 1997, S. 89 ff.
54 Die Struktur des Dmitriev-Ansatzes ähnelt deshalb jenen Modellen der 1970er und
1980er Jahre (Spence, Dixit, Rotemberg, Saloner u.a.), welche das Oligopolproblem als
genau solch ein zweistufiges Spiel ansahen, indem sie betonten, dass auf der ersten Stufe
Lager bzw. Überkapazitäten (dazu siehe unten, S. 153) aus strategischen Gründen geschaffen werden. Die damit verbundenen irreversiblen Investitionen erhöhen die Kosten
der zweiten Stufe und verändern die Auszahlungsmatrix. Dadurch binden sich die Unternehmen an „sofortigen Kampf“, falls einer der Konkurrenten eine ihnen nachteilige
Aktion startete und machen diese Reaktion somit glaubwürdig. Darüber hinaus werden
Markteintritte verhindert. Wenn alle Wettbewerber dies wissen, besteht ein starker Kollusionsanreiz auf der zweiten Stufe. Vgl. Shapiro, C., Theories of Oligopoly Behavior,
152
Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
2.2.2.5 Zur Verallgemeinerung des Modells
Bisher wurde vorausgesetzt, dass alle Unternehmen unter gleich günstigen
Bedingungen der Produktion, der Lagerung sowie des Absatzes operieren.
Mittels einer komparativ-statischen Analyse versucht Dmitriev im fünften
Kapitel (S. 70 ff.) nun zu zeigen, dass sich an seinen grundlegenden Resultaten auch dann nichts ändert, wenn sich die Anbieter unterschiedlichen
Produktions- (in Form differierender „notwendiger“ Produktionskosten ui)
und Lagerungsbedingungen (durch individuell verschiedene Lagerungskosten
li) gegenübersehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Kosten individuell
konstant oder steigend unterstellt werden. Die entscheidende Annahme einer
gleichen Absatzsituation und damit der Proportionalität von individuellem
Angebot zur Einzelproduktion behält er aber bei: Di = ( D Q)qi .
Durch Variation der entsprechenden Kurven von Abbildung 3 sowie der
dazu korrespondierenden algebraischen Ausdrücke weist Dmitriev insbesondere darauf hin, dass die Produktionsmenge bei freier Konkurrenz das
Absatzvolumen solange übersteigen und demzufolge unvermeidlich „Realisationskosten“ entstehen werden, solange die „notwendigen“ Produktionskosten den gesamterlösmaximalen Preis unterschreiten (S. 73 f.).55 Im Fall
steigender Grenzkosten hat der sich ergebende Gleichgewichtspreis zusätzlich zu diesen beiden Kostenbestandteilen die Renteneinkommen der mit
Kostenvorteilen produzierenden Unternehmer zu decken. Die beibehaltene
Angebotsquotierung, welche die Profitverteilung determiniert, führt erneut
dazu, dass das individuelle Gewinnmaximierungskalkül dem eines „Kollektivmonopols“ entspricht. In der Regel kann der Marktpreis nicht unabhängig
von der Nachfrage bestimmt werden, und er wird umso höher sein, je
wichtiger das vom Produkt befriedigte Bedürfnis (womit die Zahlungsbereitin: Schmalensee, R. / Willig, R. D. (Eds.), Handbook of Industrial Organization, Vol. 1,
Amsterdam u.a. 1992, S. 390 sowie Tirole, J., Industrieökonomik, München / Wien
1995, S. 561 f., Anmerkung 1. Dass der Einfluss auf andere in dem Maße wächst, wie
man seine eigenen Handlungsspielräume einschränkt und dies zur Glaubwürdigkeit einer
Drohung beiträgt, darauf wies T. C. Schelling in seinem Buch „The Strategy of Conflict“ (Cambridge, Mass., 1960) hin („Schelling-Paradoxon“).
55 Genau genommen trifft diese Aussage Dmitrievs nur für verderbliche Waren zu. Bei
lagerfähigen Gütern wird der Marktpreis links des Erlösmaximums fixiert, so dass
„Realisationskosten“ auch dann entstehen können, wenn die „notwendigen“ Kosten den
gesamterlösmaximalen Preis überschreiten.
Zur Verallgemeinerung des Modells
153
schaft der Konsumenten steigt), je unvollkommener die Technik (bedeutet
hohe „notwendige“ Produktionskosten) und je geringer die Lagerungsstückkosten (was eine Erhöhung spekulativer Vorräte zur Folge hat).
Alle Schlussfolgerungen Dmitrievs, inklusive der gesamtwirtschaftlichen
Vorteilhaftigkeit eines Monopols gegenüber freier Konkurrenz, bleiben auch
dann gültig, wenn die bislang implizit gemachte Annahme aufgehoben wird,
dass die Unternehmen stets an der Kapazitätsgrenze produzieren. Darauf
weist Dmitriev in seinem sechsten Kapitel hin (S. 82 ff.). Der Unterschied
besteht lediglich darin, dass nun im Gleichgewicht das „tatsächliche“
Angebot (Absatz) der aktuellen Produktion entspricht, weil die Unternehmen
kein Interesse daran haben, ihre Kapazität („potentielles“ Angebot) auszulasten, so dass die vom Preis zu deckenden zusätzlichen Kosten nicht aus der
Lagerung, sondern der unvollständigen Auslastung der Kapazität stammen.
Diese Überkapazitäten ermöglichen jetzt eine sofortige Ausdehnung von
Produktion und Angebot, so dass keiner der Konkurrenten mit individuellen
Aktionen einen temporären Gewinnanstieg erzielen kann. Statt der Lager
übernehmen sie also die Funktion der abschreckenden Drohung. Auch bei
jeder Kombination von Lagerbeständen und Kapazitätsunterauslastung wird
sich weder graphisch noch algebraisch an der Analyse etwas verändern.
2.2.2.6 Der dynamische Aspekt: Technischer Fortschritt und Krisen
Technischer Fortschritt führt zur Senkung der „notwendigen“ Produktionskosten u. Dies hat ein neues Gleichgewicht zur Folge, welches durch ein
gestiegenes „potentielles“ Angebot, ein höheres „tatsächliches“ Angebot
(Absatz), größere Vorräte und/oder Überkapazitäten56, welche die „unproduktiven“ Ausgaben steigen lassen, sowie einen niedrigeren Marktpreis
gekennzeichnet ist. Darauf verweist Dmitriev graphisch am Anfang seines
siebten Kapitels (S. 91 ff., darin Abb. 2.10).
Angenommen, das ursprüngliche Gleichgewicht befindet sich im Punkt A
(Abbildung 5). Das potentielle Angebot umfasst Q1, das zum Preis tanα
verkaufte tatsächliche Angebot D1 sowie der mit den Kosten AA1 bewertete
56 Im Folgenden werden nur Vorräte betrachtet. Alle Aussagen treffen jedoch gleicher-
maßen auf Überkapazitäten zu.
154
Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
Vorrat (Q1 – D1). Die Einführung einer effizienteren Produktionstechnik führt
nun zur Drehung der notwendigen Produktionskostengerade 0a1 in Richtung
Abszisse zu 0b1. Das neue Gleichgewicht stellt sich im Punkt B ein, wo die
„Gesamtkostenkurve“ bb1 die Erlösfunktion 0D tangiert. Das potentielle
Angebot beträgt jetzt Q2 > Q1, das tatsächliche Angebot D2 > D1, der Vorrat
(Q2 – D2) > (Q1 – D1), die „Realisationskosten“ BB1 > AA1 und der Marktpreis tanβ < tanα.
a1
b
A
a
A1
b1
B
B1
D
0
α
β
D1
D2
Q1
Q2
D, Q
Abbildung 5
Dmitriev gibt sich mit dieser komparativ-statischen Analyse nicht zufrieden.
Vielmehr erregt am Ende des zweiten Essays die dynamische Entwicklung
der aktuellen Produktion Qv einer Branche sein Interesse (S. 95 ff.).
Zur Erreichung des neuen Gleichgewichts wird diese steigen, um den
zusätzlichen Absatz und die zusätzlichen Vorräte zu ermöglichen. Das
bedeutet, dass sie anfänglich über dem tatsächlichen Angebot D2 liegt.
Sobald jedoch die Lager entsprechend aufgefüllt sind, muss sie wieder etwas
sinken, denn ansonsten käme es zu keinem Gleichgewicht, weil die Vorräte
weiter stiegen. Nur wenn sich keine Größe mehr verändert, ist das neue
Gleichgewicht erreicht. Die aktuelle Produktion muss sich also letztlich an
den erhöhten Verbrauch anpassen.57
Betrachtet man nun sukzessive Veränderungen der notwendigen Kosten
aufgrund technischen Fortschritts und trägt die entsprechenden Höhen der
aktuellen Produktion im Zeitverlauf ab, ergibt sich die durchgezogene,
57 Das hatte sich bereits bei der Besprechung von Abbildung 3 ergeben.
Der dynamische Aspekt: Technischer Fortschritt und Krisen
155
wellenförmige Kurve in Abbildung 6, worin die ti die Zeitpunkte technischer
Innovationen symbolisieren (S. 96, Abb. 2.12).
Qvt
Qv3
Qv2
Qv1
Qv0
t0
t1
t2
t3
t
Abbildung 6
Technischer Fortschritt generiert im Dmitriev-Modell also zyklische Produktionsschwankungen, wobei die Ausbringung tendenziell wächst: Ausgangspunkt ist das aktuelle Produktionsvolumen Qv0. Daneben existieren in t0 Lagerbestände in Höhe von Qc0 (vgl. (57'), S. 146). Aufgrund dieser Lagerbestände kann dass tatsächliche Angebot sofort von D0 auf D1 angehoben werden. Die Produktion muss nun im Zeitraum t0-t1 zunächst über D1 hinaus steigen, um die verkauften Vorräte zu ersetzen sowie dem Lager neue hinzuzufügen. Schließlich wird sie allmählich zurückgehen, bis in t1 Qv1 = D1 gilt.
Dmitriev unterscheidet nun zwei Marktorganisationsformen, um die Abschwungphase näher zu charakterisieren: Zum einen den Direktverkauf, zum
anderen die Einschaltung von Zwischenhändlern. Seine überaus plastische
sowie dramatische Beschreibung lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Beziehen die Konsumenten das Erzeugnis direkt vom Produzenten, so kann
Letzterer die Endnachfrage unmittelbar beobachten und somit die Reduktion
der aktuellen Produktion rechtzeitig abpassen. Diese können sie dann zeitlich
so verteilen, dass die fallenden Kurvenstücke sich horizontalen Geraden
annähern. Resultat technischen Fortschritts ist neben der Preissenkung und
wegen der gestiegenen „spekulativen“ Vorräte eine chronische Überproduktion (S. 97 und 102).
Etwas anderes ergäbe sich bei Verkauf der Waren über den Zwischenhandel. Der Produzent unterliegt in diesem Fall der Unsicherheit bezüglich der
Nachfrage der Konsumenten, da er nur jene der Groß- und Einzelhändler
156
Der zweite Essay: Zur Konkurrenztheorie von Cournot
beobachten kann. Diese können jedoch auch Produkte auf Vorrat einkaufen
und ihre Nachfrage bei Realisation jenes Bestandes drastisch einschränken.
Der Hersteller sieht sich dann gezwungen, seine Produktion plötzlich
reduzieren zu müssen, so dass sich die punktierte Kurve in Abbildung 6
ergibt. Die ungeplante Produktionseinschränkung hätte für ihn nun unvermeidlich Verluste zur Folge, weil nicht mehr benötigte Kapitalgüter nicht
sofort verkaufbar wären. Falls er sich deshalb entscheidet, die Produktion
zunächst aufrecht zu erhalten sowie seine Erzeugnisse billiger an die
Zwischenhändler abzugeben, um seine Verluste zu minimieren, dann wird es
in der Branche zu einer periodischen Überproduktion kommen und ein
Preiskrieg ausgelöst. Der rasante Preisverfall zieht Vertrauensverluste, Kreditvergabeeinschränkungen sowie eine Vielzahl von Insolvenzen nach sich.
Die Krise wird erst bei einer sehr kleinen Zahl von übrig gebliebenen Unternehmen enden, welche ihre im Abschwung erlittenen Verluste nun dadurch
auszugleichen versuchen, dass sie neue Produktionstechniken einführen. Dies
bringt zunächst einen wirtschaftlichen Aufschwung, trägt jedoch ob der
gesunkenen notwendigen Kosten bereits den Keim einer neuerlichen
Rezession in sich. Der gesamte Prozess beginnt von vorn (S. 97 ff.).
2.2.2.7 Zur Würdigung des Wettbewerbsmodells Dmitrievs
2.2.2.7.1 Zusammenfassung seiner Untersuchung
Resümierend lässt sich die Konkurrenzanalyse Dmitrievs wie folgt beschreiben: Die im Wettbewerb stehenden Unternehmer müssen als intelligente, die
Marktlogik durchschauende Akteure angesehen werden. Gleichgültig wie
groß die Anbieterzahl ist, es kann nie von einem vernachlässigbaren Einfluss
der Angebotsentscheidung eines Unternehmens auf die der anderen ausgegangen werden. Stattdessen betont Dmitriev, dass allein die volle Berücksichtigung sämtlicher Wirkungen einer eigenen Aktion auf die Handlungen der
anderen sowie deren Rückwirkungen auf die eigene Entscheidung mit dem
„ökonomischen Prinzip“ vereinbar ist. Da er des Weiteren keine Unsicherheiten bezüglich dieser „wechselseitigen Interdependenz“ thematisiert, impliziert sein Ansatz „vollkommene Voraussicht“. Unter diesen Annahmen sieht
sich auch bei n → ∞ jeder Anbieter eines homogenen Produktes – und eine
Zusammenfassung seiner Untersuchung
157
andere Güterkategorie wird von Dmitriev nicht behandelt – einer geneigten
Preis-Absatz-Funktion gegenüber, monopolistisches bzw. oligopolistisches
Verhalten ist die Norm.
Darüber hinaus kann niemand durch individuelle Angebotsvariation mit
einem temporären Zusatzgewinn rechnen, weil die vorausschauenden
Konkurrenten Lager bzw. Überkapazitäten halten, um sofort reagieren zu
können, wobei Dmitriev annimmt, dass diese Reaktion gleichgerichtet und in
gleicher Höhe erfolgt. Der Wettbewerb wird sich deshalb von der Absatzstufe
auf die Produktionsebene mit dem Ziel von Vorrats- bzw. Kapazitätsvorteilen
verlagern. Volkswirtschaftlich stellen die dafür aufgewandten Mittel eine
Ressourcenverschwendung dar, so dass ein Monopol zu einer höheren
Wohlfahrt als freie Konkurrenz führt.58 Schließlich generiert technischer
Fortschritt in dieser Marktform Konjunkturzyklen und Überproduktionskrisen als unvermeidliche Folge von Konkurrenz, nicht etwa als Resultat von
Kalkulationsfehlern der Unternehmer.
Modellanalytisch ergeben sich die folgenden interessanten Resultate: Im
homogenen Oligopol und/oder Polypol ohne Kosten einigen sich alle
Anbieter implizit auf eine Preis-Mengen-Konstellation, bei welcher der
Gesamterlös maximiert wird. Dieses Gleichgewicht ist identisch mit der
Monopollösung und stellt sich somit unabhängig von der Anbieterzahl bei
einer Nachfrageelastizität von ε = −1 ein. Im homogenen Oligopol oder
Polypol mit Kosten führen das von Dmitriev unterstellte Verhalten sowie
mögliche Markteintritte zu einem Gleichgewicht, das zwischen der Monopollösung und der traditionellen Polypollösung liegt. Es ergibt sich im Tangentialpunkt von Gesamtkosten- und -erlösfunktion bzw. von Preis-AbsatzFunktion sowie Stückkostenkurve und liegt im elastischen Bereich der
Nachfragekurve, allerdings nicht im Stückkostenminimum. Dies ergibt sich
daraus, dass Konkurrenz im Dmitriev-Modell zwingend zu Kostenerhöhungen führt, welche durch einen höheren Preis gedeckt werden müssen. Der
Konkurrenzkampf führt demzufolge nicht zu einer Senkung des Preises,
58 Im Schlusskapitel seiner „Ökonomischen Essays“ erwähnt Dmitriev eine weitere
Quelle „unproduktiver Kosten“: Bei gegebener Gesamtnachfrage und angenommener
gleichzeitiger, gleichgerichteter und gleich hoher Werbungsausgaben wird das Ziel jedes
Unternehmers, damit Marktanteile zu gewinnen, verfehlt. Die einzige Wirkung von
Werbung ist in diesem Fall eine von den Konsumenten durch einen höheren Preis zu
bezahlende Kostensteigerung (S. 150).
158
Zur Würdigung des Wettbewerbsmodells Dmitrievs
sondern zu steigenden Kosten. Schließlich wird im Gleichgewicht der Preis
den Stückkosten entsprechen und der Gewinn beträgt Null.
Ein Punkt ist bisher noch nicht angesprochen worden, welcher sich jedoch
als von zentraler Bedeutung für Dmitrievs Resultate entpuppt: Er selbst weist
am Ende seiner Wettbewerbsanalyse darauf hin (S. 103, Fn. 5), dass seine
Ergebnisse – zumindest was die Vorratslagerung betrifft – nur dann Gültigkeit besitzen, wenn Terminhandel ausgeschlossen wird. Dann könnten
nämlich bereits heute noch nicht produzierte, aber im Rahmen der Unternehmenskapazität morgen produzierbare Waren verkauft werden. Vor diesem
Hintergrund lässt sich sein „unbeschränkter, aber nicht so perfekter Wettbewerb“ auch als „vollständige Konkurrenz auf Gegenwartsmärkten bei
Abwesenheit von Zukunftsmärkten“ charakterisieren.59 Dieser Hinweis ist
allerdings nur dann notwendig, wenn Warentermingeschäfte in der Realität
eine große Rolle spielen, was durchaus bezweifelt werden kann:
„The observable fact that forward markets for manufactured commodities
are conspicuously absent in all the economies of the world as we know it
makes his ⟨Dmitrievs⟩ analysis infinitely more relevant to the understanding of economic life than the wishful picture of conventional competitive
analysis.”60
2.2.2.7.2 Das internationale Echo
Das Urteil über Dmitrievs Wettbewerbsanalyse in der Literatur ist eindeutig:
Sie sei von „bewundernswerter Originalität“ und von „hoher, vom Leser
bemerkten Qualität“, zugleich „tiefsinnig“ sowie auf „besonders rigorose
Art“ durchgeführt.61 Dmitriev leiste einen „überaus erfrischenden, hoch
relevanten Beitrag zu einem Gebiet, auf dem die Forschung zum Stillstand
kam“ und welcher „den Zeittest wunderbar übersteht“.62 Als „erstaunlich
modern“63 stellt sich insbesondere seine „für 1904 sehr bedeutende Schluss59 Nuti, D. M. im Vorwort zu Dmitriev, V. K., Economic Essays ..., a.a.O., S. 7, 21, 27.
60 Ebenda, S. 26.
61 Denis, H. im Nachwort zu Dmitriev, V. K., Essais Économiques …, a.a.O., S. 262
sowie 267.
62 Nuti, D. M. in Dmitriev, V. K., Economic Essays ..., a.a.O., S. 7 und 22.
63 Skourtos, M., Der “Neoricardianismus“ ..., a.a.O., S. 182.
Das internationale Echo
159
folgerung“64 heraus, dass Wettbewerb immer als unvollständig zu betrachteten ist, womit er 30 Jahre vor Chamberlin und Robinson65 eine „Pionierleistung zur monopolistischen Konkurrenz“66 erbrachte. Darüber hinaus sei
schon allein seine Modifikation der Verhaltenshypothese originell und sein
wichtigstes Verdienst, welche eine Lockerung der Annahme „Produktion
gleich Angebot“ zur Folge hat sowie „neue, interessante Ergebnisse“67 zutage
fördert, die in der These kulminieren, dass die Tendenz zur Preissenkung mit
zunehmender Konkurrenz keineswegs so offensichtlich und unbestreitbar ist,
wie gemeinhin angenommen.68 Dass er schließlich einen Hang zur Kollusion
bei Überkapazitäten und Lagervorräten erkennt sowie mit seinem Hinweis
auf Ressourcenverschwendung bei Konkurrenz ein Argument bringt, „das
Chamberlin mögen würde“, sei genauso lobenswert wie seine „moderne und
eindrucksvolle“ Andeutung von Zyklenaspekten bei Oligopolen.69
Zu bemängeln seien lediglich Dmitrievs unkritische Haltung zu seinen
„voreiligen“ Botschaften aufgrund „empirisch zweifelhafter, nicht bewiesener“ Annahmen (vor allem der Proportionalität von Absatz und Produktion/Kapazität).70 Als weitere „ernste Unzulänglichkeit“ müsse seine Ignoranz
der Arbeiten Edgeworths und Marshalls sowie überhaupt der gesamten
zeitgenössischen anglo-amerikanischen Schule angesehen werden.71
Angesichts des überwiegend enthusiastischen Lobes verwundert es, dass
keiner der Rezensenten Dmitrievs die ihm zugedachte lehrgeschichtliche
Bedeutung näher beleuchtete. Dies sei nun nachgeholt. Dabei wird sich
zeigen, dass er nicht nur einen Großteil der Schlussfolgerungen der Protagonisten „imperfekten“ oder „monopolistischen“ Wettbewerbs antizipierte,
sondern auch seine Modellanalyse viele Ähnlichkeiten vor allem mit der
64 Denis, H. in Dmitriev, V. K., Essais Économiques …, a.a.O., S. 267.
65 Chamberlin, E. H., The Theory of Monopolistic Competition, Cambridge (Mass.)
1933; Robinson, J., The Economics of Imperfect Competition, London 1933.
66 Skourtos, M., Market Processes …, a.a.O., S. 231.
67 Nuti, D. M. in Dmitriev, V. K., Economic Essays ..., a.a.O., S. 22.
68 Vgl. Šapošnikov, N. N., Svobodnaja konkurrencija …, a.a.O., S. 85 und 89 f.
69 Samuelson, P. A., Review …, a.a.O., S. 494; Nuti, D. M. in Dmitriev, V. K.,
Economic Essays ..., a.a.O., S. 26.
70 Šapošnikov, N. N., Svobodnaja konkurrencija …, a.a.O., S. 87 und 89 f.
71 Vgl. Čuprov, A. A., Recenzija …, a.a.O., S. 4, welcher ansonsten aber die Wettbe-
werbsanalyse Dmitrievs als den originellsten der drei Aufsätze einstuft (ebenda, S. 3).
160
Zur Würdigung des Wettbewerbsmodells Dmitrievs
Arbeit Chamberlins aufweist. Dass er die bis in die 1920er Jahre im Westen
vorherrschenden Doktrinen Edgeworths oder Marshalls nicht kannte, ist
deshalb eher ein Glücksfall denn eine Unzulänglichkeit, weil Dmitriev so zu
Erkenntnissen gelangen konnte, denen westlichen Ökonomen lange Zeit der
Weg versperrt blieb. Insofern handelt es sich hier um ein Plädoyer für eine
Korrektur der Geschichte der „Revolution monopolistischer Konkurrenz“72
und die Anerkennung Dmitrievs als „Meilenstein“73 auf dem Weg zu dieser
Theorierichtung.
2.2.2.8 Dmitriev als Vorläufer der „Theorie
monopolistischer Konkurrenz“
2.2.2.8.1 Implizite Kollusion als Folge konjekturalen Verhaltens
Die Kritik an der Annahme autonomen Verhaltens der Wettbewerber – ob sie
nun Preis- oder Mengenpolitik betreiben – sowie damit verbundene Zweifel
an den abgeleiteten Resultaten waren auch zum Zeitpunkt des Erscheinens
der „Ökonomischen Essays“ nicht neu. Dmitriev selbst wählt als Motto
seines zweiten Essays einen Ausspruch Thorntons aus dem Jahr 1869:
„Dealers do not undersell each other merely for fun. Each is quite content
that all the rest should sell dearly, provided he himself can sell as dearly.”74
Und auch Fisher drückte 1898 anlässlich einer (Dmitriev wohl unbekannten)
Besprechung der 1897 erschienenen englischen Übersetzung Cournots sein
Missfallen gegenüber der bis dato vorherrschenden Verhaltenshypothese aus:
„As a matter of fact, no business man assumes either that his rival’s output
or price will remain constant any more than a chess player assumes that his
opponent will not interfere with his effort to capture a knight. On the con-
72 Samuelson, P. A., The Monopolistic Competition Revolution, in: Kuenne, R. E. (Ed.),
Monopolistic Competition Theory: Studies in Impact, New York u.a. 1967, S. 105.
73 Schneider, E., Milestones on the Way to the Theory of Monopolistic Competition, in:
Ebenda, S. 139.
74 Thornton, W. T., On Labour: its wrongful claims and rightful dues, its actual present
and possible future, London 1869, Book II, Ch. I, S. 61.
Implizite Kollusion als Folge konjekturalen Verhaltens
161
trary, his whole thought is to forecast what move the rival will make in
response to one of his own.”75
Anstatt diesen Gedanken jedoch weiterzuführen, schlägt er sich sofort auf die
Seite der von Edgeworth unterbreiteten Theorie dauerhafter Preisoszillationen, welche die Indeterminiertheit des Oligopolproblems propagiert.76 Ein
Vierteljahrhundert lang wurde dieses daraufhin als im negativen Sinne
erledigt angesehen. Die eindeutige Bestimmtheit der Lösung von Cournots
„mehrfachem Monopol“ galt als falsch. Die Mehrzahl der Ökonomen hatte
sich der Meinung Edgeworths angeschlossen.
Erst in den 1920er Jahren begann die Front aufzubrechen und sich die
Ansicht durchzusetzen, dass die bisher mit eigenständigen Theorien behandelten Probleme des Monopols sowie der vollkommenen Konkurrenz
praktische Grenzfälle darstellen, die Regel dagegen gerade die „beschränkte
Konkurrenz“ oder das „mehrfache Monopol“ ist.77 Zu der bis dahin „geringen Vitalität der ökonomischen Theorie“78 trug auch die große Popularität
Marshalls im englischsprachigen Raum bei, dessen 1890 erstmals veröffentlichte „Principles of Economics“ zum Standardlehrbuch zweier Generationen
wurden. Ihm wird vorgeworfen, keine klare Trennung zwischen verschiedenen Marktformen gezogen, seine Leser damit verwirrt und den Fortschritt auf
dem Gebiet der Wettbewerbstheorie verhindert zu haben:
„Unfortunately, because of his unwillingness to make sharp distinctions
between perfect and less-than-perfect competition, Marshall managed to set
back the clock both on competitive theory and on the theory of monopoly
… No one can understand the history of the subject if he does not realize
that much of the work from 1920 to 1933 was merely the negative task of
getting Marshall out of the way.”79
75 Fisher, I., Cournot and Mathematical Economics, in: Quarterly Journal of Economics,
12 (January 1898), S. 126.
76 Edgeworth, F. Y., La teoria pura del monopolio, in: Giornale degli Economisti, XV
(1897); Englisch: The pure theory of monopoly, in: Edgeworth, F. Y., Papers relating to
political economy, Vol. I, London 1925, S. 111-142.
77 Vgl. Schneider, E., Reine Theorie monopolistischer Wirtschaftsformen, Tübingen
1932, S. 158, 161 sowie 167.
78 Ebenda, S. 158.
79 Samuelson, P. A., The Monopolistic …, a.a.O., S. 110 f.
162
Dmitriev als Vorläufer der „Theorie monopolistischer Konkurrenz“
Damit gemeint ist vor allem die ab 1922 einsetzende intensive Diskussion –
die so genannte „Kostenkontroverse“ (Clapham, Pigou, Clark, Sraffa, Young,
Schumpeter u.v.a.m.) – welche wesentlich zum besseren Verständnis von
Wettbewerbsprozessen beitrug und den Weg für eine Theorie unvollständiger
Konkurrenz ebnete.80 Daneben erlebten die Cournot’schen Ideen sowie
Versuche ihrer Weiterentwicklung eine Renaissance (Wicksell, Amoroso,
Zeuthen, Schneider u.a.).81 Bezüglich der Einordnung Dmitrievs ist insbesondere die in jener Zeit wachsende Akzeptanz einer konjekturalen Verhaltensweise der Wettbewerber, verbunden mit der Idee einer kollusiven
Lösung, sowie deren Modellierung von Interesse.
Bereits 1923 argumentierte Clark ganz im Sinne Dmitrievs:
„If all the competitors followed suit instantly the moment any cut was made, each would gain his quota of the resulting increase in output, and no
one would gain any larger proportion of his previous business than a monopoly would gain by a similar cut in prices. Thus the competitive cutting
of prices would naturally stop exactly where it would if there were no competition.”82
Bowley formulierte nun 1924 im Rahmen seiner mathematischen Behandlung des Dyopols erstmals Reaktionskoeffizienten und wies darauf hin, dass
die Problemlösung davon abhänge, „wie jeder der beiden Produzenten die
Absichten seines Partners einschätzt“. Er sah jedoch nicht die Bestimmtheit
des daraus resultierenden Gleichgewichts, außer wenn die beiden Konkurrenten „sich zusammen tun und eine Abmachung treffen“.83 Dass in Abhängigkeit von der Verhaltenshypothese dies nicht die einzige Lösung ist sowie
80 Vgl. ebenda, S. 105. Wichtige Beiträge zu dieser Debatte wurden zusammengefasst
in: Stigler, G. J. / Boulding, K. E. (Eds.), Readings in Price Theory, vol. VI, Chicago
1952, II. Costs and Returns, S. 119-279. Als Ausgangspunkt der Theorie unvollständiger
Konkurrenz, d.h. einer Richtung, die jedes Unternehmen gleichzeitig als Monopolist und
Wettbewerber ansieht, gilt der bekannte Aufsatz von Sraffa, P., The Laws of Returns under Competitive Conditions, in: Economic Journal, 36 (1926), S. 535-550; Deutsch: Die
Ertragsgesetze unter Wettbewerbsbedingungen, in: Herdzina, K. (Hrsg.), Wettbewerbstheorie, Köln 1975, S. 62-75. Vgl. auch Robinson, J., The Economics …, a.a.O., S. v.
81 Vgl. Schneider, E., Reine Theorie ..., a.a.O., S. 161 ff.
82 Clark, J. M., Economics of Overhead Costs, Chicago 1923, S. 417; so zitiert in Chamberlin, E. H., The Theory …, a.a.O., S. 49, Fn. 1.
83 Bowley, A. L., The Mathematical Groundwork of Economics (1924), S. 38; Deutsch:
Grundzüge der mathematischen Ökonomik, Leipzig 1934, S. 68.
Implizite Kollusion als Folge konjekturalen Verhaltens
163
speziell die Möglichkeit einer impliziten Kollusion besteht, das stellte der
Lehrer Chamberlins und Bowleys Rezensent Young fest:
„This ⟨Bowleys⟩ conclusion seems to imply a particular premise with respect to the degree to which each producer takes the other’s probable policies into account. Another assumption, quite as reasonable, leads to the
conclusion that, if the cost curves of the two producers are alike, the price,
without combination, will be fixed at the point where it would be put by a
monopolist …”84
Dass es sich bei der “another reasonable assumption“ um die vollständige
Berücksichtigung der wechselseitigen Interdependenz handelt und dann die
Lösung eindeutig ist, stellt für das homogene Dyopol 1928 Schumpeter klar:
„Assuming both competitors to be in exactly the same position, we are,
first, faced by the fact that they cannot very fail to realise their situation.
But then it follows that they will hit upon, and adhere to, the price which
maximises monopoly revenue for both taken together … The case will not
differ from the case of conscious combination – in principle – and be just as
determinate.”85
Alle diese Aussagen deuten die Beziehung zwischen konjekturalem Verhalten und kollusivem Gleichgewicht jedoch eher „beiläufig“ an, eine systematische, modellanalytische Ausarbeitung des Zusammenhangs erfolgte nicht.
Genau darin liegt die Originalität Dmitrievs: Er war, frei vom Erbe Marshalls
sowie Edgeworths, der preistheoretischen Diskussion im Westen um fast drei
Jahrzehnte voraus, indem er sich genau dieser Aufgabe widmete und seinen
Lösungsvorschlag sowohl algebraisch als auch graphisch präsentierte.
2.2.2.8.2 Der Ansatz Chamberlins
Den ersten westlichen Versuch zur Modellierung gemeinsamer Gewinnmaximierung im homogenen Dyopol ohne Kosten unternahm Chamberlin: Er
untersuchte diese Fragestellung, inspiriert von seinem Mentor Young,
84 Young, A. A., Review of Bowley (1924), in: Journal of the American Statistical
Association, XX (1925), S. 134; kursiv im Original.
85 Schumpeter, J. A., The Instability of Capitalism, in: Economic Journal, XXXVIII
(1928), S. 369 f., Fn. 1. Im Übrigen hatte eine solche Lösung beim heterogenen Oligopol
1926 bereits Sraffa erwähnt. Vgl. Sraffa, P., Die Ertragsgesetze …, a.a.O., S. 73.
164
Dmitriev als Vorläufer der „Theorie monopolistischer Konkurrenz“
zunächst in seiner Dissertation von 1927.86 Zwei Jahre später veröffentlichte
er einen Artikel zu diesem Thema,87 welcher die Basis der Analyse des
homogenen Oligopols in seinem Hauptwerk von 1933 bildete.88 Fast alle von
ihm hier erhaltenen Resultate sind identisch mit denen Dmitrievs!
Nachdem Chamberlin zunächst die Ansichten Cournots, Bertrands, Marshalls, Paretos, Edgeworths sowie Pigous dargelegt hatte, weist er – wie
Dmitriev in Bezug allein auf Cournot – darauf hin, dass alle diese Oligopolmodelle dem ökonomischen Prinzip widersprechen, weil sie Individuen
unterstellen, welche die indirekten Konsequenzen ihres Tuns („the effect on
himself of his own policy, mediated by that of his competitor“89) vernachlässigen, stattdessen nur den direkten Einfluss ihrer Politik auf Menge und Preis
berücksichtigen. Der korrekte Ansatz kann nur jener sein, welcher die
wechselseitige Interdependenz richtig abbilde, indem er beide Effekte
integriere:
„None of the solutions yet given conforms perfectly to the hypothesis that
each seller acts so as to render his profit a maximum. In order to do this he
will take account of his total influence upon the price, indirect as well as
direct. When a move by one seller evidently forces the other to make a
counter-move, he is very stupidly refusing to look further than his nose if
he proceeds on the assumption that it will not … The only solution fully
consistent with the central hypothesis that each seller seeks his maximum
profit, is one in which he does take into account the effect of his policy
upon his rivals (and hence upon himself again).”90
Diese Verhaltensannahme („mutual dependence recognized“91) hat nun bei
einem standardisierten Produkt, vollständiger Markttransparenz, dem Fehlen
jeglicher Unsicherheiten bezüglich Intelligenz, Weitblick sowie sofortiger
Reaktionsmöglichkeit der Wettbewerber92 – kurz „vollkommener Voraus-
86 Vgl. Chamberlin, E. H., The Theory ..., a.a.O., Preface to the first edition, S. xi sowie
Appendix H, S. 292.
87 Chamberlin, E. H., Duopoly: Value where sellers are few, in: Quarterly Journal of
Economics, 44 (1929), S. 63-100.
88 Vgl. Chamberlin, E. H., The Theory ..., Ch. III sowie Appendices A und G.
89 Chamberlin, E. H., Duopoly ..., a.a.O., S. 65.
90 Ebenda, S. 83 und 66; kursiv im Original.
91 Chamberlin, E. H., The Theory ..., a.a.O., S. 46.
92 Vgl. Chamberlin, E. H., Duopoly ..., a.a.O., S. 63 ff. sowie 87 ff.
Der Ansatz Chamberlins
165
sicht“ – zur Folge, dass sie sich implizit auf eine Preis-Mengen-Kombination
einigen, die der Monopollösung, mithin dem Totalgewinnmaximum (hier
Gesamterlösmaximum) entspricht. Chamberlin verdeutlicht diese Lösung
anhand Abbildung 7:93
p
C
P
N
K
Q
p= f(D)
0
E
A
H
B
D
[Df(D)]'
Abbildung 7
Angenommen, Produzent 1 beabsichtigt bei kostenloser Herstellung die
Menge 0A anzubieten. Er weiß, dass für seinen Konkurrenten die beste
sofortige Antwort darauf das Angebot AH wäre. In diesem Fall stellte sich ein
Preis von HQ ein und sein Gewinn betrüge nicht wie erhofft 0APC, sondern
nur 0AKN. Durch eine Reduktion seiner Angebotsmenge könnte er ihn
erhöhen, wenn Produzent 2 nicht augenblicklich reagierte. Da Wettbewerber
1 damit aber sicher rechnet, und diese Kalkulation für jede seiner Angebotsmengen gilt, stellte er sich immer schlechter, solange er nicht 0E = AH
anböte. Das Gleiche überlegt sich Unternehmer 2. Aus dieser Einsicht in die
Marktlogik werden beide Anbieter von Anfang an für eine Menge 0E = EA
plädieren. Der Gesamtoutput beträgt 0A, der Marktpreis AP und der auf beide
gleichmäßig verteilte Gesamtgewinn 0APC. Individuelle und Gesamtgewinnmaximierung sind in diesem Fall miteinander kompatibel sowie das
Gleichgewicht stabil.94
93 Vgl. ebenda, S. 67, Fig. 1 sowie S. 84 für die Besprechung.
94 An diesem Ergebnis würde sich auch dann nichts ändern, wenn man positive Kosten
unterstellt, solange die Stückkostenkurven aller Anbieter identisch sind und horizontal
verlaufen. Bei jeder beliebigen Marktaufteilung – und unabhängig von Kompensationszahlungen oder „Ressourcenpooling“ – fallen individuelle und Gesamtgewinnmaximie-
166
Dmitriev als Vorläufer der „Theorie monopolistischer Konkurrenz“
Dasselbe Resultat stellte sich auch bei Preispolitik ein95 und gelte ebenso
für eine steigende Anbieterzahl, solange diese nicht eine Größe übertrifft,
welche den individuellen Einfluss auf den Preis vernachlässigbar macht:
„If the sellers are three or more, the results are the same, so long as each of
them looks to his ultimate interest. There is no gradual descent to a purely
competitive price with increase of numbers, as in Cournot’s solution …
Altho the sellers are entirely independent, the equilibrium result is the same
as tho there were a monopolistic agreement between them … The break
towards purely competitive levels comes when the number of sellers is so
large that each is led to neglect his influence upon price.”96
Neunundzwanzig Jahre später ergänzt Chamberlin, dass damit bis zum
„Break“ auch die weit verbreitete Behauptung widerlegt ist, dass mit
zunehmender Zahl der Anbieter die Elastizität der Nachfrage für jeden
Unternehmer steigt.97 Jeder Oligopolist bediene beim unterstellten konjekturalen Verhalten bei jeder Preishöhe einen konstanten Teil der Gesamtnachfrage. Falls diese wie in Abbildung 7 als linear angenommen wird und keine
Kosten anfallen, gilt im Gleichgewicht stets ε = −1 :
„No matter how large the number of sellers, as long as this recognition of
mutual dependence holds, the elasticity of demand for any one will evidently be unity.”98
Nun ist die Übereinstimmung nicht mehr zu übersehen und somit die
Chamberlin zugeschriebene Entwicklung einer neuen Theorie beschränkter
Konkurrenz durch die erstmalige modellanalytische Berücksichtigung
rung zusammen. Vgl. Fellner, W., Competition Among the Few, New York 1949
(Reprint 1960), S. 128 f. und 132 f. Bei Dmitriev ist dieser Spezialfall wegen des
systematischen Unterschiedes zwischen Produktions- und Angebotsentscheidung
allerdings irrelevant: Die Konkurrenten einigen sich bei jedweden positiven Kosten zwar
implizit auf eine Preis-Mengen-Kombination, die auch ein Kollektivmonopol unter
denselben Kostenbedingungen gewählt hätte, wobei der Gewinn Null beträgt. Aber
tatsächlich produziert ein Monopolist mit niedrigeren Kosten und kann einen positiven
Gewinn erzielen. Monopol- und Konkurrenzlösung fallen deshalb stets auseinander.
95 Vgl. Chamberlin, E. H., Duopoly ..., a.a.O., S. 85.
96 Ebenda, S. 84 f.
97 Chamberlin, E. H., Numbers and Elasticities, in: Festskrift til Frederik Zeuthen,
Copenhagen 1958; wieder abgedruckt in: Derselbe, The Theory ..., a.a.O., Appendix G.
98 Chamberlin, E. H., The Theory …, a.a.O., S. 286.
Der Ansatz Chamberlins
167
vorausschauenden Verhaltens der Wettbewerber99 vorzudatieren: Bis auf die
Aussage, dass bei einer großen Anbieterzahl die Wettbewerber ihren Einfluss
auf den Marktpreis als vernachlässigbar ansehen und ihre Nachfragefunktion
damit unendlich elastisch wird, so dass dann doch das übliche Konkurrenzgleichgewicht eintritt, unterscheiden sich sowohl die Argumentation als auch
die Ergebnisse Chamberlins durch nichts von denen Dmitrievs! Letzterer
ging lediglich davon aus, dass unter der Annahme „vollkommener Voraussicht“ sich auch bei n → ∞ jeder Anbieter einer fallenden Preis-AbsatzFunktion gegenüber sieht und sich das kollusive Gleichgewicht einstellt.
Indirekt wird er dafür Jahrzehnte später in Schutz genommen, währenddessen
Chamberlin theoretische Inkonsequenz vorgeworfen wird:
„Nun hat C h a m b e r l i n einleuchtend gezeigt, daß die Duopolisten ein
Gewinnmaximum dann erreichen, wenn sie beide zum Monopolpreis verkaufen, was einer s t i l l s c h w e i g e n d e n V e r a b r e d u n g entspricht ... Nehmen wir nun an, daß wir es nicht mit zwei, sondern der Reihe
nach mit 3, 4, 5 ... n Anbietenden zu tun haben ... so ist nicht einzusehen,
warum der meistens behauptete Prozeß einer mehr oder minder schnellen
Annäherung des Monopolpreises über verschiedene Zwischenstufen an den
Konkurrenzpreis lediglich wegen der Vermehrung der Anbietenden überhaupt eintreten sollte. Haben die Individuen vollkommene Voraussicht –
wie doch angeblich für die g a n z e Theorie die grundlegende Annahme
lauten soll –, so bleiben sie beim Monopolpreis, denn der Monopolgewinn,
dividiert durch die Zahl der Anbieter, muß jedem einzelnen immer noch
einen größeren Gewinn sichern als bei freier Konkurrenz ... Da die Wirtschafter einen noch so kleinen Gewinn gar keinem Gewinn vorziehen, ist
die Situation in diesem Punkte eindeutig. Werden daher in einer Konkurrenzwirtschaft die nicht vollkommen vorausschauenden Individuen durch
solche ersetzt, die volle Voraussicht haben, so müßten sich die Preise offenbar erhöhen und die Grundvoraussetzung der Gleichgewichtstheorie,
daß bei freier Konkurrenz der Kostenpreis gezahlt würde, ist automatisch
beseitigt. Zweifellos ein paradoxes Ergebnis.“100
Die Frage, ob die Annahme „vollkommener Voraussicht“ unrealistisch ist
und dann sowohl die Ergebnisse Dmitrievs als auch Chamberlins abzulehnen
99 Vgl. Nichol, A. J., Professor Chamberlin’s Theory of Limited Competition, in:
Quarterly Journal of Economics, 48 (1934), S. 318.
100 Morgenstern, O., Vollkommene Voraussicht und wirtschaftliches Gleichgewicht, in:
Zeitschrift für Nationalökonomie, VI (1935), S. 354; Sperrungen im Original, Kursivschreibungen hinzugefügt.
168
Dmitriev als Vorläufer der „Theorie monopolistischer Konkurrenz“
sind,101 soll hier nicht weiter interessieren. Konzentrieren wir uns stattdessen
weiter auf die Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede ihrer Modelle.
Bei relativ großer Anbieterzahl kann jeder Wettbewerber im ChamberlinAnsatz also mit einer Konstanz der Entscheidungsvariablen seiner Konkurrenten rechnen, weil sich seine eigenen Aktionen nur unmerklich auf jeden
anderen auswirken. Genau auf diesem Fall liegt nun das Hauptaugenmerk
Chamberlins: Um abgesehen von der Anbieterzahl ein monopolistisches
Element und somit eine fallende Nachfragefunktion zu begründen, führt er
differenzierte Produkte ein, die so enge Substitute sind, dass sie zu einem
Markt gehören. Obwohl jedes der vielen Unternehmen ein Monopol für sein
Gut besitzt, unterliegt es somit starkem Wettbewerb.102
Für die Analyse dieser „monopolistischen Konkurrenz“ (heterogenes
Polypol) unterstellt Chamberlin, dass die Absatz- sowie Kostensituationen für
alle Anbieter identisch sind (doppelte Symmetrieannahme),103 womit jeder
als repräsentativ betrachtet werden kann. Für die Ableitung von individuellem und Branchengleichgewicht („group equilibrium“) verwendet er darüber
hinaus zwei Typen von Preis-Absatz-Funktionen: Die DD'-Kurve beschreibt
jenen Teil der Gesamtnachfrage, welcher auf einen Anbieter unter der
Annahme entfällt, dass seine Konkurrenten stets die gleichen Preise setzen
(parallele Preispolitik). Die dd'-Kurve dagegen gibt die individuelle Nachfrage bei Konstanz der Konkurrenzpreise an. Sie symbolisiert also die Absatzmöglichkeiten eines Unternehmers bei verschiedenen Preisen unter der
Annahme, dass die anderen auf die eigenen Variationen nicht reagieren
(autonome Preispolitik).104 Weil er damit wegen der Unmerklichkeit seiner
Aktionen aufgrund der Vielzahl von Wettbewerbern rechnen kann, legt er
diese seinem Gewinnmaximierungskalkül zugrunde.
Das kurzfristige Gleichgewicht ist in Abbildung 8 links dargestellt:105 Es
ergibt sich bei jener Preis-Mengen-Kombination (pi*, Di*), für welche die
Grenzkosten K'(Di) und der Grenzerlös [Dif(Di)]' eines Anbieters übereinstimmen. Wegen der doppelten Symmetrieannahme gilt diese Lösung für alle
101 Morgenstern bejaht dies (ebenda, S. 355).
102 Vgl. Chamberlin, E. H., The Theory ..., a.a.O., S. 9 sowie 81.
103 Vgl. ebenda, S. 82.
104 Vgl. ebenda, S. 90 f.
105 Vgl. ebenda, S. 91, Fig. 14.
Der Ansatz Chamberlins
169
Unternehmen, so dass die DD'- im Gleichgewicht die dd'-Kurve schneidet.
Weil der Marktpreis die Stückkosten K/Di übersteigt, fällt für jeden Wettbewerber ein Gewinn in Höhe der schraffierten Fläche an.
pi
d
pi
D
D
d
K'(Di)
pi *
K/Di
D'
0
D i*
K'(Di)
K/Di
pi*
d'
Di
D'
0
[Dif(Di)]'
D i*
d'
Di
[Dif(Di)]'
Abbildung 8
Dieser zu erzielende Profit wird bei Unterstellung eines offenen Marktes
sowie variabler Betriebsgrößen neue Anbieter anlocken. Das hat zur Folge,
dass der Marktanteil jedes Konkurrenten sinkt, sich beide Nachfragekurven
deshalb nach links verschieben. Die Markteintritte werden erst dann aufhören, wenn der Profitanreiz verschwindet, so dass sich langfristig eine
Gleichgewichtssituation einstellt, wie in Abbildung 8 rechts beschrieben:106
Preis und Menge haben eine Höhe erreicht, bei welcher die dd'-Kurve die
Stückkostenfunktion tangiert, der Gewinn jedes Anbieters mithin Null
beträgt. Der Wettbewerbsprozess führt also wie bei vollständiger Konkurrenz
zu einer gewinnlosen Produktion. Allerdings wird eine geringere Menge zu
einem höheren Preis angeboten und es kommt zur Ressourcenvergeudung,
weil jeder Unternehmer seine Kapazitäten suboptimal nutzt. Er produziert
nicht die stückkostenminimale Menge und damit nicht im Betriebsoptimum.
Diese Überkapazitäten entstehen nicht aus Fehlkalkulationen der Produzenten
und stellen eine permanente Erscheinung monopolistischer Konkurrenz –
„wastes of competition“ – dar.107 Vorteilhaft gegenüber vollständiger
Konkurrenz ist jedoch, dass die Konsumenten eine größere Auswahl an
unterschiedlichen Produkten haben und somit ihre individuellen Bedürfnisse
besser befriedigen können.
106 Vgl. ebenda, S. 92 f., darin Fig. 15.
107 Vgl. ebenda, S. 109.
170
Dmitriev als Vorläufer der „Theorie monopolistischer Konkurrenz“
2.2.2.8.3 Der Bezug zu Dmitriev
Zunächst einmal fällt auf, dass nicht nur die grundsätzlichen Ergebnisse
beider Modelle, sondern auch das Gleichgewichtskonzept übereinstimmen.
Sowohl bei Dmitriev als auch bei Chamberlin – und übrigens ebenso bei
Robinson108 – ergibt sich die Lösung dort, wo die Nachfragefunktion die
Stückkostenkurve tangiert. Eine solche „Tangentenlösung“ galt Anfang der
1930er Jahre tatsächlich als innovativ sowie überaus elegant, weil sie in
bemerkenswerter Weise die Kombination von Monopol- und Wettbewerbselementen erlaubte: Sie zeigte, dass das Gleichgewicht einerseits monopolistisch ist, weil der Preis über dem vollständiger Konkurrenz liegt, andererseits
aber auch polypolistisch, da keine Gewinne über die in den Kosten enthaltenen „Normalprofite“ hinaus erzielbar sind.109
Diese formale Ähnlichkeit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass
es sich bei den Ansätzen Dmitrievs und Chamberlins um verschiedene
Modelle handelt: Nur weil beide mit einer negativ geneigten Nachfragefunktion sowie im relevanten Bereich fallenden Stückkosten argumentierten,
bedeutet dass nicht Äquivalenz. Aber der Unterschied ist geringer, als man
auf den ersten Blick meinen könnte: Er besteht lediglich darin, dass Chamberlin für die Ableitung einer fallenden Preis-Absatz-Funktion Produktdifferenzierung wegen der von ihm unterstellten Verhaltensasymmetrie zwischen
Oligopol und Polypol zwingend benötigt, während Dmitriev auch bei einer
großen Anbieterzahl davon ausgeht, dass jeder Unternehmer den totalen (also
den direkten plus den indirekten) Einfluss einer eigenen Entscheidung auf das
Marktergebnis berücksichtigt. Diese Annahme hätte die Bedeutungslosigkeit
der Chamberlin’schen dd'- sowie die DD'-Kurve als Grundlage der Gewinn108 Vgl. Robinson, J., The Economics …, a.a.O., S. 94 f. Robinson war wohl die Erste,
die in ihrem Artikel „Imperfect Competition and Falling Supply Price“ (Economic
Journal, XLII, December 1932) eine Tangentenlösung vorschlug (vgl. Chamberlin, E.
H., The Theory ..., a.a.O., S. 311). Chamberlin selbst schätzte das Konzept aber nicht als
besondere Errungenschaft: „‚Tangency’ is really simplicity itself, and hardly merits
being taken seriously as a discovery. Indeed it requires only economies of scale and a
sloping demand curve for the firm.” (Ebenda, S. 312, Fn. 54) Dies ändert allerdings
nichts an der Tatsache, dass eine solche Situation bis dahin nicht Gegenstand der
Wettbewerbstheorie war und damit ein weiteres Indiz für die Originalität Dmitrievs ist.
109 Vgl. Harrod, R. F., Increasing Returns, in: Kuenne, R. E. (Ed.), Monopolistic
Competition …, a.a.O., S. 66.
Der Bezug zu Dmitriev
171
maximierungsüberlegung zur Folge. An der weiteren Argumentation – inklusive der auch bei Dmitriev Platz findenden Wirkung potentieller Konkurrenz
sowie der „revolutionären Doktrin“,110 dass freier Wettbewerb zu Ressourcenverschwendung und Wohlfahrtsverlusten führe – änderte sich nichts.
Chamberlin selbst weist auf diese, von ihm als Sonderfall betrachtete Möglichkeit hin.111
Darüber hinaus existierte keine dd'-Kurve und das Gleichgewicht ergäbe
sich ohne offene bzw. stillschweigende Übereinkunft im Tangentialpunkt von
Stückkosten sowie DD'-Kurve, wenn eine aktive Preispolitik aus irgendeinem
Grunde nicht funktionierte, z.B. weil die Unternehmer sich wettbewerberfreundlich („to live and let live“) verhalten oder einen Preiskampf als
„unethisch“ betrachten.112 Im letzten Fall führte der Konkurrenzprozess nicht
zu einem Sinken des Preises, sondern zu einem Steigen der Kosten, weil
Wettbewerb über die Schaffung von Überkapazitäten ausgetragen wird.113
Auch dieses Argument haben wir bei Dmitriev schon kennen gelernt: Seine
Anbieter legen gerade Vorräte und/oder Überkapazitäten an, um eine
Mengen- bzw. Preispolitik auf der Absatzstufe zu verhindern sowie das
kollusive Gleichgewicht zu sichern.
Des Weiteren erwähnt er die Möglichkeit allein kostensteigernder Werbeausgaben, falls sie bei konstanter Gesamtnachfrage gleichzeitig von allen im
Kampf um Marktanteile getätigt werden. Eine solche „Realisationskostenkategorie“ lässt sich ebenfalls bei Chamberlin finden, welcher sich intensiv mit
Reklameaufwendungen als „selling costs“ auseinander setzte.114 Diese
werden mit dem Ziel der Nachfrageveränderung vorgenommen, so dass die
Form der Preis-Absatz-Funktion nicht gegeben, sondern Teil des Gleichgewichtsproblems ist. Gleichzeitig führen sie zu zusätzlichen, durch den Preis
zu deckenden Kosten und müssen deshalb zu den Produktionskosten addiert
werden, wodurch sich die Kostenkurven („combined cost curves“) nach oben
110 Kaldor, N., Marktunvollkommenheit und Überschußkapazität, in: Herdzina, K.
(Hrsg.), Wettbewerbstheorie, a.a.O., S. 90.
111 Vgl. Chamberlin, E. H., The Theory ..., a.a.O., S. 100 f. sowie 104 f.
112 Vgl. ebenda, S. 105 f.
113 Vgl. ebenda, S. 107.
114 Vgl. ebenda, Kapitel VI f.
172
Dmitriev als Vorläufer der „Theorie monopolistischer Konkurrenz“
verschieben.115 Falls nun wiederum eine aktive Preispolitik aus den oben
genannten Gründen versagt sowie alle Anbieter gleichermaßen werben, so
dass ihr Marktanteil unverändert bleibt, dann ergibt sich eine der
Dmitriev’schen Analyse analoge Lösung im Tangentialpunkt von DD'-Kurve
und Gesamtstückkostenfunktion.116
Alle diese Hinweise genügen, um die Beziehungen zwischen den Ansätzen Dmitrievs und Chamberlins nicht nur als oberflächlich betrachten zu
können. Ihre Untersuchungen sind nicht identisch, überlappen sich jedoch
und ergänzen einander. Sowohl in der Argumentation als auch in den
Resultaten ergeben sich erstaunliche Parallelen, welche die Behauptung
stützen, dass Dmitriev wesentliche Elemente der Theorie monopolistischer
Konkurrenz antizipierte. Diese Leistung ist historisch bedeutend, und deshalb
ist die Anerkennung Dmitrievs als „Pionier“ auf diesem Gebiet nicht nur
berechtigt, sondern auch geboten.
115 Vgl. ebenda, S. 129 und 137 f.
116 Vgl. ebenda, S. 164, Fn. 1 sowie S. 171 f.
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