Striepens: Die Choral

Werbung
Werkstatt
Die Ch
o
Ansgar Striepens
u
b
ng
Ü
l
ra
etrachten wir die Lehrwerke zum Thema Musik, so müssen wir feststellen,
dass der mittlerweile unüberschaubar
großen Menge an Harmonielehren eine
geradezu vernachlässigbare Anzahl von
Melodielehren gegenübersteht. Ist denn
die Melodie in ihrer Wertigkeit für die
Musik so viel geringer einzustufen als
die Harmonie? Oder lässt sie sich einfach
B
Ansgar Striepens war acht Jahre lang Professor für Jazzposaune an der
Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar sowie Lehrbeauftragter an der
Kölner Musikhochschule und der Folkwang Hochschule in Essen.
Er arbeitet heute als freier Musiker, Komponist, Arrangeur, Dirigent und
Pädagoge und ist Leiter des Jugendjazzorchesters Sachsen-Anhalt.
Üben & Musizieren 6/06
Melodisches Gespür
entwickeln durch
Improvisation
57
Werkstatt
nicht in entsprechende Regeln zwängen,
mit Worten erfassen und vermitteln wie
die Harmonie oder auch andere Bereiche
der Musik: Rhythmus, Kontrapunkt, Form
oder Instrumentierung zum Beispiel? Auf
der Suche nach dem Melodieverständnis
stoßen Worte und Regeln schnell an ihre
Grenzen, spielen eigene Erfahrung und
auch der eigene Geschmack eine größere Rolle. Aus diesem Grund halte ich die
eigenständige, praktische Erforschung
von Melodien durch unbefangenes und
unvoreingenommenes Experimentieren
für Menschen, die sich in irgendeiner
Form mit Musik beschäftigen, für äußerst
Gewinn bringend.
Ich möchte eine Übung vorstellen, die
diesen Selbsterfahrungsaspekt kanalisiert. Sie ist unabhängig von stilspezifischer Phrasierung und Artikulation, sodass sie für „Klassiker“ wie „Jazzer“ gleichermaßen anwendbar ist. Sie ist auch
unabhängig von den spieltechnischen
Fähigkeiten der InstrumentalistInnen und
kann innerhalb der eigenen technischen
Möglichkeiten eingesetzt werden. Dadurch bringt sie Erkenntnisse für Anfänger wie Fortgeschrittene. Man kann sie
auf jedem Melodieinstrument ausführen
und sie eignet sich sowohl für das Selbststudium als auch für eine Lehrer-SchülerSituation. Ich nenne sie die „ChoralÜbung“.
Üben & Musizieren 6/06
Die Melodie
58
Was ist also eine gute Melodie? Eine
scheinbar einfache Frage, auf die es aber
nur komplexe und in den wenigen Melodielehren auch größtenteils sehr unbefriedigende Antworten gibt. Darum seien
hier nur ein paar Aspekte erwähnt, die
für das Verständnis dieser Übung wichtig
sind.
Die Frage nach der Qualität einer Melodie hängt sehr stark von den eigenen
Hörgewohnheiten und damit vom eigenen kulturellen Umfeld und der zu diesem Umfeld gehörenden Musikgeschichte ab. Für unseren Kulturkreis gehört die
traditionelle Musik wie z. B. Volks-, Kinder- oder Kirchenlieder ebenso dazu wie
die musikalische Hochkultur mit ihren
Vertretern von Bach bis Ligeti etc. Durch
heutige Medien sind uns aber auch
ehedem fremdartige Musikkulturen viel
näher gekommen: Afro-amerikanische
(Jazz, Blues), latein-amerikanische (Sal-
sa, Bossa-Nova) oder indische Musik
klingt in unseren Ohren nicht mehr so
fremd und kann über Tonträger jederzeit
an fast jedem Ort reproduziert werden.
So ist es möglich, dass auch diese Einflüsse Bestandteile unserer Hörgewohnheiten werden.
Auch die Frage, was man mit einer Melodie erreichen möchte, verändert die Sicht
auf die Qualität ihres Resultats. Ein
Schlaflied verlangt sicherlich nach einer
anderen Melodie als ein Kriegstanz;
möchte ich innere Ruhe darstellen, benutze ich andere melodische Mittel, als
wenn ich innere Zerrissenheit hörbar machen möchte. Ich kann musikalisch in
großen Bögen sprechen oder aber kurze
Statements abgeben, archaisch oder abstrakt klingen, traurig, fröhlich, einsam,
selbstbewusst: All dies sucht seine Entsprechung in ganz unterschiedlichen Melodien.
Da zum Improvisieren das gleichzeitige
Erfinden und Interpretieren einer Melodie gehört, ist das Ergebnis in besonderer Weise nicht nur intellektuell, sondern
auch emotional untrennbar mit der improvisierenden Person verbunden. Sie
entscheidet nicht nur, wann welcher Ton
gespielt wird, sondern auch wie. Dieselben Töne von anderen InterpretInnen gespielt, würden völlig anders klingen. Die
qualitative Umsetzung einer Melodie
hängt also auch maßgeblich von der Persönlichkeit und den Ausdrucksmöglichkeiten der SpielerInnen ab, die wiederum
ein Spiegel ihrer Erfahrungen und ihrer
musikalischen Vorstellungskraft, ihrer Visionen sind.
Die Basis
Welche Emotionen eine Melodie in uns
auslöst, hängt also von vielen, teilweise
sehr schwer verbal und rational zu erfassenden Faktoren ab. Für die melodische
Improvisation in einem harmonischen
Kontext ist jedoch ein wichtiger Faktor
der Charakter des Melodietons im Verhältnis zum tiefsten Ton des Akkords und
zu den anderen Akkordtönen. Jeder einq

= ca. 50 - 60 (gleichmäßig fließend)
4
4
NB 1


zelne Ton hat als Melodieton seinen eigenen Charakter im Verhältnis zu dem jeweiligen Akkord und der dazugehörigen
Skala, aber auch die gesamte Auswahl
von Tönen einer Melodiephrase ergibt eine spezifische Atmosphäre.
Um ein Gehör für diesen Punkt zu entwickeln, reduzieren wir bei der Übung den
Parameter Rhythmus, indem wir nur
gleichmäßige Achtel benutzen, die in einer Fermate münden, und legen die Anzahl der Töne auf sieben fest. Diese festgelegte Abfolge spielen wir nicht in einem strikten Tempo, sondern über einen
freien, rubato-ähnlichen Puls. Auch den
Parameter Harmonie reduzieren wir: Es
gibt keine Harmoniewechsel, sondern
nur eine festgelegte Tonleiter (Modus)
und den dazugehörigen Basston. Im Unterricht würde die Lehrkraft am Klavier in
einer Art Tremolo den Basston erklingen
lassen, über den der Schüler oder die
Schülerin nach den aufgestellten Regeln
improvisiert.
Die Übung
Wir beginnen zunächst mit einer Durtonleiter. Versuchen Sie (oder Ihre SchülerInnen), Melodien zu erfinden, wobei Sie
einen Rhythmus wie in Notenbeispiel 1
zugrunde legen. Es soll jedoch nicht im
Tempo gespielt werden, sondern mit der
Art von Puls, wie er beim Singen von
Chorälen in der Kirche benutzt wird: die
etwas schwerfällige Art, mit der die Gemeinde versucht, der Orgel zu folgen.
Erfinden Sie Melodien, die einen Anfang
und ein Ende haben. Dabei sollten Sie
ruhig Ihrer inneren Stimme vertrauen, wo
die einmal angefangene Tonfolge hinmöchte. Haben Sie keine Hemmungen
davor, Melodien zu spielen, die wie ein
Choral, ein Volks- oder ein Kinderlied
klingen. Solche Melodien haben oft eine
sehr natürliche innere Logik und helfen
uns, eine Menge über den Charakter der
Töne und ihre Spannung zueinander zu
lernen.
Die Idee ist folgende: Bevor ich den ersten Ton spiele, treffe ich die erste Entscheidung. Mit welchem der
sieben Töne der Tonleiter
beginne ich? Habe ich mich

entschieden und den ersten



Ton gespielt, dann habe ich
von hier aus zunächst viele
Möglichkeiten: Ich kann auf-
Werkstatt
Die Aufgaben
Wenn Sie anfangen, einen Eindruck davon zu bekommen, wie die einzelnen Töne im Verhältnis zum Grundton und zur
restlichen Tonleiter klingen, was sie bei
Ihnen auslösen, wie sie Ihnen gefallen
usw., sollten Sie anfangen zu forschen
und zu experimentieren, indem Sie sich
selbst Aufgaben stellen, um noch mehr
über Melodien zu erfahren. Hier eine
kleine Auswahl möglicher Aufgaben:
1. Allgemein
■ Versuchen Sie, immer mit demselben
Ton zu beginnen, um herauszufinden,
wie Melodien klingen, bei denen ein bestimmter Ton am Anfang steht.
■ Versuchen Sie, immer mit demselben
Ton die Melodie zu beenden. Welche Töne
im Verhältnis zum Basston eignen sich
Ihrer Meinung nach besser oder schlechter dafür? Welchen Einfluss haben die ersten und letzten Töne der Melodie auf
ihren gesamten Charakter?
■ Versuchen Sie, möglichst viele Melodien innerhalb eines bestimmten Intervalls (Quinte, Oktave) zu finden.
= ca. 50 - 60 (gleichmäßig fließend)




4



4
   


 44       

 44       
 
 44      
q
 44      
 44      


4



  
4
NB 2
2. Verlaufskurve
■ Versuchen Sie, beim Spielen die Verlaufskurve der Melodie anhand ihrer Tonhöhen zu erkennen bzw. innerlich zu sehen.
■ Versuchen Sie, sich unterschiedliche
Verlaufskurven klarzumachen, z. B., wenn
die Melodie mit einem Intervall nach unten bzw. nach oben anfängt. Oder die
Melodie spannt einen weiten Bogen bzw.
ändert oft ihre Richtung etc.
■ Versuchen Sie, eine Zeitlang immer eine ähnliche Verlaufskurve zu spielen. Beobachten Sie, welchen Einfluss die unterschiedlichen Verlaufskurven auf den Charakter der Melodie haben.
3. Intervalle
■ Versuchen Sie, für Ihre Melodien nur
(kleine oder große) Sekunden und (kleine oder große) Terzen zu verwenden.
■ Versuchen Sie, möglichst viele (aber
nicht nur) Quarten unterzubringen.
■ Versuchen Sie, Sekunden und Quinten
zu kombinieren.
■ Versuchen Sie, nur Intervalle zu benutzen, die mindestens eine Quint oder größer sind. Welche unterschiedlichen Melodiecharaktere erzeugen verschiedene
Intervalle?







4. Tonrepetitionen
■ Versuchen Sie nun, an
bestimmten Stellen Töne zu
wiederholen. Wie oft und
an welchen Stellen kann ich
Töne wiederholen, ohne
dass der Melodiebogen verloren geht?
Alle diese Aufgaben dienen
dazu, dass Sie mehr über
Melodien erfahren und herausbekommen, welche Aspekte und Ergebnisse Ihnen
persönlich gefallen und
welche nicht. Dieser Punkt
ist sehr wichtig, um einen
persönlichen Stil zu entwickeln und die Fähigkeit zu
erlangen, kreative, eigenständige und klischeefreie
Melodien zu spielen.
Die hier vorgestellten Aufgaben sind nur Vorschläge.
etc.
Vielleicht fallen Ihnen noch
andere Aufgaben ein, die
Sie sich selbst mit dieser
Übung stellen können. Halten Sie Ihre persönlichen Aufgaben
schriftlich fest. Das könnte zum Beispiel
so aussehen: „Ich versuche, alle Melodien herauszufinden, die für mich gut
klingen, obwohl ich die Terz und Septime
der gewählten Tonleiter nicht spiele.“
Oder für Fortgeschrittene: „Ich versuche
so unauffällig wie möglich, einen nicht
zur Tonleiter gehörenden Ton in die Melodie zu integrieren.“
Der Ausblick
Unser wichtigstes Kapital als MusikerInnen ist neben der Qualität unseres Gehörs die Qualität unserer musikalischen
Vorstellungskraft. Jedesmal, wenn wir so
üben, dass wir einen dieser beiden Bereiche (oder beide) entwickeln, machen
wir einen Schritt nach vorne. Unsere musikalische Vorstellungskraft ist geprägt
von allem, was wir hören und wissen. Sie
ist einer ständigen Wandlung unterworfen, da wir immer neue Musiken entdecken, analysieren und mit ihnen neue
Erfahrungen machen. Auch unser Geschmack spielt dabei eine große und
wichtige Rolle auf dem Weg zu einer eigenständigen und starken Musikerpersönlichkeit.
Üben & Musizieren 6/06
wärts oder abwärts ein großes oder kleines Intervall spielen. Bei zwei Tönen ergibt sich also vor allen Dingen eine Richtung sowie ein Anfang von dem, was ich
vielleicht mit drei Tönen allmählich erreiche: ein Motiv. Der dritte Ton kann nun
die vorgegebene Richtung bestätigen
oder ihr entgegenwirken.
Mit dem dritten Ton bekommt meine Melodie schon eine deutlichere Aussage, eine gewisse innere Spannung und weckt
damit auch eine gewisse Erwartung für
die kommenden Töne. Mit jedem hinzukommenden Melodieton werden die Möglichkeiten und Freiheiten für den weiteren Verlauf der Melodie geringer: Ich höre innerlich förmlich schon, wie es weitergehen sollte. Diese innere Stimme zu
wecken und sie sich bewusst zu machen,
ist eines der Hauptziele dieser Übung.
Beispiele für solcherart erfundene Melodien zeigt Notenbeispiel 2.
Versuchen Sie, während Sie die Melodien
spielen, sich selbst zuzuhören und zu
fragen: War die Melodie logisch? Gab es
einen Spannungsbogen, einen Anfang, ein
Ende? Hatte die Melodie eher einen offenen oder geschlossenen Charakter? etc.
59
Werkstatt
IONISCH









 










 




DORISCH
PHRYGISCH
   
LYDISCH











 





   
 




 






 





MIXOLYDISCH
ÄOLISCH
LOKRISCH
MELODISCH MOLL
HARMONISCH MOLL
ALTERIERT
         
MIXOLYDISCH #11
        
HM 5


HALBTON-GANZTON
      
 

GANZTON-HALBTON
      



  
GANZTON
Üben & Musizieren 6/06

60

CHROMATISCH









              
BLUES
       
NB 3
Die „Choral-Übung“ soll helfen, die Kraft
von Melodien für sich selbst zu entdecken und zu erfühlen; insbesondere
deshalb, weil es im Bereich Melodie viele Dinge gibt, die mit Worten nicht zu
vermitteln sind. Die Erkenntnisse, die
durch die Übung gewonnen werden, nützen nicht nur JazzmusikerInnen beim Erfinden von eigenen Melodien, z. B. über
das Harmonieschema eines Jazzstandards. Sie helfen auch beim Gestalten
von vorgegebenen Melodien durch ein
besseres Verständnis für die kompositorischen Aspekte dieser Melodie und machen Sie möglicherweise zu ausdrucksstärkeren Interpreten.
Bei der „Choral-Übung“ ist es wichtig,
dass Sie wirklich lange bei einer Tonleiter, bezogen auf einen Grundton, bleiben, um eine Wirkung zu erzielen: mindestens zehn Minuten dieselbe Tonleiter
und das mindestens eine Woche lang.
Die Übung sieht für manchen vielleicht
sehr einfach aus, doch Vorsicht! Selbst
wer sie diszipliniert und konzentriert
ausführt, kommt bei einfachen Tonleitern
schnell an seine Grenzen!
Viele Erkenntnisse aus einer Tonleiter
lassen sich auch auf andere übertragen,
wodurch das Lernen mit fortschreitender
Zeit immer einfacher wird. Wenn einmal
gewonnene Erkenntnisse lange genug
am Instrument bestätigt werden, gehen
sie durch die Verinnerlichung nicht mehr
verloren.
Wer das Gefühl hat, die Zeit sei reif, sollte die Übung nicht nur mit der Durtonleiter (in jeder Tonart!) machen, sondern
mit jeder nur möglichen Skala (NB 3).
Fangen Sie mit den so genannten Kirchentonarten, also den verschiedenen
Modi einer Durtonleiter wie ionisch,
dorisch, phrygisch, lydisch, mixolydisch,
äolisch und lokrisch an. Weitere wichtige
Tonleitern im Jazz sind Melodisch Moll
und Harmonisch Moll, die sich davon
ableitenden Tonleitern alteriert, mixolydisch #11 und Harmonisch Moll beginnend auf dem fünften Ton (HM 5). Ebenso eine Auswahl von symmetrischen
(d. h. begrenzt transponierbaren) Tonleitern: Halbton-Ganzton, Ganzton-Halbton,
Ganzton- und chromatische Tonleiter. Als
letztes sei an dieser Stelle noch die Bluesskala genannt. Letztendlich ist diese
Übung auf jedes Ausgangsmaterial übertragbar.
Herunterladen