Justiz im Nationalsozialismus Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe 2 von Arnulf Heinemann und Wilfried Knauer Übersicht Marguerite Bervoets. Eine belgische Widerstandskämpferin Erna Wazinski. Eine 19jährige Frau aus Braunschweig Wilhelm Hirte. Ein Staatsanwalt am Sondergericht Braunschweig Marguerite Bervoets. Eine belgische Widerstandskämpferin (1) In der Einstiegsphase sollte - je nach Anspruchsniveau - eventuell nur das Bild von M. Bervoets, später erst die gesamte Gedenktafel für M. Bervoets an ihrer ehemaligen Schule präsentiert werden; gegebenenfalls sollte man die Inschrift von einem Schüler/einer Schülerin bereits zu Hause übersetzen lassen. Die SchülerInnen sollen ihren Eindruck beschreiben und Überlegungen zum Alter der jungen Frau formulieren. Anschließend sollen sie sich zu den Begriffen Heldin und Märtyrerin äußern, und nach Erarbeitung des historischen Kontextes (Belgien seit 1940 besetzt, ...) eine erste Bewertung angeben. Vermutungen über die Hintergründe der Hinrichtung sind zu erwarten. Bei der Bewertung ist denkbar, dass ein Vergleich mit dem christlichen Märtyrerbegriff angestellt wird. Ebenso können Parallelen zu bekannten Gedenktafeln, etwa aus der eigenen Schule oder dem eigenen Wohnort, herstellt werden. Die Überlegungen zum Aspekt Heldin können am Schluss wieder aufgegriffen werden. Anschließend soll die Kurzbiografie entweder durch den Lehrer/ die Lehrerin vorgestellt oder den Schülern als Zusatzmaterial zur Verfügung gestellt werden. Hier ist ein Hinweis des Lehrers/der Lehrerin zu den "N. und N."- Gefangenen notwendig. (2) In der Erarbeitungsphase wird der Auszug aus der Anklageschrift des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshof vom 4.10.1943 untersucht. Aufgaben: 1. Erarbeiten Sie die Anklagepunkte gegen M.B. und ihre Gruppe, insbesondere die Gefährlichkeit der Widerständler aus deutscher Sicht! 2. Erläutern Sie den historischen Hintergrund der vorliegenden Quelle; gehen Sie dabei besonders auf die Situation in Belgien bzw. an der Westfront ein! (3) Es ist sehr wahrscheinlich, dass die SchülerInnen sich in der Auswertungsphase zunächst zu der rechtsstaatlichen Form des Verfahrens äußern. Bei der weiteren Auswertung können zusätzlich Parallelen zum deutschen Widerstand hergestellt werden. Abschließend wird aus dem Brief von Marguerite Bervoets vom 13.11.1941 an eine Freundin vorgelesen, in dem sie u.a. schreibt: “Ich habe Sie (!) unter allen gewählt, meine letzten Wünsche entgegenzunehmen. ... Man wird Ihnen sagen, ich sei nutzlos gestorben, aus Dummheit,.... Das wird die Wahrheit sein, die historische. Aber es wird noch eine andere geben. Sagen Sie meiner Mutter, dass ich gefallen bin, damit jene, die nach mir kommen, frei leben können.“ Es ist sinnvoll, das genaue Datum nicht zu erwähnen; der frühe Abschiedsbrief mit der Todesahnung lässt sich aber vermutlich mit der Art der Widerstandstätigkeit erklären: August 1941: Flüsterpropaganda; ab Ende 1941 das viel gefährlichere Verfassen von illegalen Flugschriften (vgl. die Anklageschrift). (4) Hausaufgabe: Entwerft ein Streitgespräch, in dem die Freundin die Lehrerin Marguerite Bervoets von ihrer weiteren Beteiligung am Widerstand abzubringen versucht. Quellen: Bundesarchiv Berlin) Einfügen: Bervoets Gedenktafel Der Oberreichsanwalt Berlin, den 4. Oktober 1943 beim Volksgerichtshof GEHEIM Sp.-Sache! Ausländer Anklageschrift 1. Die Lehrerin Marguerite B e r v o e t s aus Tournai, geboren am 6. März 1914 in La Louviere, ledig, belgische Staatsangehörige nach ihren Angaben nicht bestraft, vorläufig festgenommen am 8. August 1942, zur Zeit in der Untersuchungshaftanstalt Essen in Untersuchungshaft, 2. die Krankenschwester Cecile D e t o u r n a y aus Gaurin, dort geboren am 5. Oktober 1911, ledig, belgische Staatsanghörige, nach ihren Angaben nicht bestraft, vorläufig festgenommen am 8. August 1942, zur Zeit in der Untersuchungshaftanstalt Essen in Untersuchungshaft, 3. den Maler Henri D e n e u b o u r g aus Tournai, dort geboren am 11. Oktober 1887, verheiratet, belgischen Staatsangehörigen, nach seinen Angaben nicht bestraft, vorläufig festgenommen am 8. August 1942 und zur Zeit im Strafgefangenenlager VII in Esterwegen in Untersuchungshaft, 4. den Handelsvertreter Henri D e m e t s aus Tournai, geboren am 11. Mai 1885 in Pottes, verheiratet, belgischen Staatsangehörigen, nach seinen Angaben nicht bestraft, vorläufig festgenommen am 10. August 1942 und zur Zeit im Strafgefangenenlager VII in Esterwegen in Untersuchungshaft, 5. den Aufseher Edouard S o u r d o a u aus Tournai, geboren am 9. Januar 1907 in Antoing, verheiratet, belgischen Staatsangehörigen , nach seinen Angaben nicht bestraft, vorläufig festgenommen am 10. August 1942 und zur Zeit im Strafgefangenenlager VII in Esterwegen in Untersuchungshaft, klage ich an, in der Zeit von August 1941 bis zu ihren Festnahmen in dem besetzten belgischen Gebiet, besonders in Tournai, fortgesetzt und teilweise gemeinschaftlich miteinander I. Bervoets, Detournay, Deneubourg und Demets, durch heimliche Einbeziehung und Weitergabe von Nachrichten Kriegsspionage getrieben zu haben. II. III. Sourdeau und ferner Bervoets, Deneubourg und Dements durch dieselbe Handlung wie zu I durch ihre Teilnahme und organisatorische Arbeit an einer gegen die Sicherheit der deutschen Besatzungsmacht gerichteten Geheimorganisation den Feind begünstigt zu haben, endlich Bervoets und Deneubourg gleichfalls durch dieselbe Handlung wie zu I als Freischärler Waffen und andere Kampfmittel in der Absicht in ihrem Besitz gehabt zu haben, sie zum Nachteil der deutschen Wehrmacht zu gebrauchen, Verbrechen gegen §§ 2,3 KSSVO., §§ 91b,47,73 StGB. Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen. In Belgien bestand seit dem Jahre 1940 eine Geheimorganisation, die „Legion Belge“. Ihr anfängliches Ziel, nach den Abzug der deutschen Truppen den Neuaufbau Belgiens durchzuführen, änderte sich bald. Sie entwickelte sich zu einer nationalen Widerstandsbewegung und war völlig nach militärischem Muster aufgezogen. Die Angehörigen der Legion setzten sich in der Hauptsache aus Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften der früheren belgischen Armee zusammen. Die Ziele der Legion gingen dahin, im Falle der erhofften Landung feindlicher Truppen an der Atlantikküste diese zu unterstützen und der deutschen Wehrmacht jeden nur möglichen Schaden zuzufügen. Um die Bevölkerung dafür zu gewinnen, sie auf den Kampf vorzubereiten und sie überhaupt gegen die deutsche Besatzungsmacht aufzuwiegeln, wurden Hetzschriften verbreitet. Zugleich begann ein weit verzweigter Spionagedienst zu arbeiten, der es unternahm, Nachrichten aller Art aus dem besetzten Gebiet einzuziehen und mittels Sender oder Kuriere nach England weiterzuleiten. An derartigen Umtrieben beteiligten sich auch die Angeschuldigten, die sämtlich belgische Staatsangehörige sind. I. Bervoets. Seit August 1941 betrieb die Angeschuldigte Bervoets mit dem Mitangeschuldigten Deneubourg, mit dem sie ein Verhältnis unterhielt, Flüsterpropaganda. Beide verbreiteten Nachrichten, die englischen Rundfunksendungen entnommen waren und sich gegen die deutsche Wehrmacht richteten. Um ihre Feindpropaganda wirksamer zu gestalten, stellten sie seit Ende 1941 im Vervielfältigungsverfahren eine illegale Flugschrift her, die den Titel „La Delivrance“ (die Befreiung) trug, und brachten sie in Umlauf, Anfang 1942 erhielt Deneubourg und durch ihn auch die Angeschuldigte Bervoets Verbindung zu der „Legion Belge“. Sie wurden mit den Zielen und Aufgaben der Legion vertraut gemacht und warben dann für sie bis April 1942 etwa 70 Mitglieder, die sie in der Sektion 803 zusammen faßten und organisierten. Die Angeschuldigte Bervoets führte im wesentlichen die Verwaltungsgeschäfte und war zugleich für die Herausgabe der Flugschrift verantwortlich. Insgesamt verfaßte sie den Inhalt für sieben Flugblätter, die in etwa monatlichen Abständen in einer Auflage von je 200 bis 300 Stücken hergestellt und durch die Organisation verbreitet wurden. Auszug aus der Anklageschrift des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshof, 4. Oktober 1943 Erna Wazinski: Eine 19jährige Frau aus Braunschweig (1) In der Einstiegsphase wird mit der Bekanntmachung über das vollstreckte Todesurteil (Folie) begonnen. Hinterfragt werden müssen u.a. die Begriffe „Volksschädling“ und „Terrorangriff“ sowie der „Sinn“ dieses Urteils kurz vor Kriegsende und die Absicht dieser öffentlichen Bekanntmachung. Eingegangen werden könnte auf die historische Situation allgemein, eventuell die regionalen Besonderheiten (erneuter, schwerer Bombenangriff auf Braunschweig). Das kann aber auch erst nach der Erarbeitung des Urteils, das einige Informationen dazu enthält, erfolgen. Die SchülerInnen werden aufgefordert, Hypothesen zum Hintergrund des Urteils zu bilden. Erwartet werden vor allem schwere Vergehen; andererseits ist im Braunschweiger Raum damit zu rechnen, dass einige SchülerInnen den Fall Erna Wazinski kennen. (2) In der folgenden Erarbeitungsphase wird das Urteil des Sondergerichts Braunschweig vom 21.10.1944 untersucht. Aufgaben: 1. Erarbeiten Sie den Aufbau und den Inhalt des Urteils 2. Setzen Sie sich kritisch mit dem Urteil auseinander und nehmen Sie Stellung dazu! Aufbau: Benennung der Verurteilten, Zusammensetzung des Sondergerichtes, Gründe: Biografie, Bombenangriff auf Braunschweig, Tatumstände/-hergang, Einlassungen der Angeklagten, Feststellung der Tat (Plündern) und Begründung des Urteils, Kostenübernahme durch die Angeklagte. Inhalt: wichtig u.a. Wert der Gegenstände; Argumentation des Sondergerichtes; Begrifflichkeiten und Rechtsgrundlagen (Volksschädling, ehrlose Gesinnung). (3) Bei der Auswertung ist es sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass es viele Alternativen zu diesem Urteil gegeben hat, da u.a. eine Verurteilung wegen Diebstahls möglich war. Darüber hinaus hat das Sondergericht die Aussage der Mutter, Erna habe sich die Kleidungsstücke nicht aneignen und daher zurückbringen wollen, akzeptiert. Das ist juristisch gesehen ein wichtiger Aspekt, da zum vollendeten Diebstahl nicht nur die Wegnahme fremden Eigentums gehört. Auch ist ziemlich sicher, dass Erna durch Schläge zu dem Geständnis gebracht worden ist. Der damalige Freund Ernas hat 1990 im Wiederaufnahmeverfahren bestätigt, dass Erna bei einer ersten Vernehmung in ihrer Mietwohnung geschlagen worden ist. Dem Freund wurde durch die Kriminalpolizei geraten, möglichst schnell an die Front zu gehen. Quellen: Staatsarchiv Wolfenbüttel Einfügen: Plakat zur Vollstreckung Im Namen des Deutschen Volkes In der Strafsache gegen Die ledige Rüstungsarbeiterin Erna W a z i n s k i aus Braunschweig, FriedrichWilhelmstraße 1, geboren am 7. September 1925 in Enlon, Bezirk Brandenburg, ev.luth., nicht vorbestraft, z.Z. in Polizeihaft in der Untersuchungshaftanstalt in Braunschweig, wegen Plünderns, hat das Sondergericht Braunschweig in der Sitzung vom 21. Oktober 1944 durch Landgerichtsdirektor Dr. Lerche, als Vorsitzender., Landgerichtsdirektor Ahrens, Landgerichtsrat Dr. von Griesbach, als beisitzende Richter, beauftr. Staatsanwalt Magnus, als Beamter der Staatsanwaltschaft, für R e c h t erkannt: Die Angeklagte hat nach einem Fliegerangriff geplündert und wird deshalb zum T o d e und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. G r ü n d e: Die Angeklagte ist die einzige Tochter des bereits vor 10 Jahren verstorbenen Invaliden Rudolph Wazinski und dessen Ehefrau Wilhelmine, geb. Chnielewski. Sie hat in Braunschweig die Axel-Schaffelt-Volksschule besucht und ist aus der 8. Klasse entlassen. Im Jahre 1939 erledigte sie ihr Pflichtjahr im Haushalt des Dr. Schiete-meyer, hier, Cyriaksring 24. Anschließend half sie im Haushalt ihrer kränklichen Mutter. Seit 1941 war sie 1 ½ Jahre Hausgehilfin im Wilhelmsbad Braunschweig. Im Juli 1944 wurde sie als Rüstungsarbeiterin für das Viga-Werk, hier Hamburger Straße, dienstverpflichtet. In der Nacht vom Sonnabend, den 14. zum 15. Oktober 1944, fand ein schwerer Terrorangriff auf die Stadt Braunschweig statt, der den größten Teil der Innenstadt in Schutt und Asche legte. Die Angeklagte hatte in dieser Nacht Nachtdienst im VigaWerk. Nach dem Angriff eilte sie mit Erlaubnis ihrer Firma nach der Langedammstraße, wo sie bis dahin im Grundstück Nr. 14 mit ihrer Mutter gewohnt hatte. Das Haus war bis auf den Grund abgebrannt. Ihre Mutter traf die Angeklagte nicht mehr an, sie fand sie später in einer Auffangsammelstelle; sie selbst fand ein Unterkommen bei ihrer Freundin, Frl. Körner, Friedrich-Wilhelmstraße 1. Von ihren eigenen Sachen hatte sie nur 1 Kostüm und 2 Sommerkleider gerettet. Am Montag, den 16. Oktober 1944, half die Angeklagte den Bewohnern ihres ebenfalls abgebrannten Nachbargrundstücks Langedammstraße 8 beim Bergen von Sachen, die aus dem Luftschutzkeller herausgeholt werden konnten und in einem unbeschädigten Nebengebäude abgestellt wurden. In einem unbewachten Augenblick entnahm sie aus fremden unverschlossenen Koffern folgende Gegenstände: 1 rotbraunes Wollkleid mit langen Ärmeln, 1 rotseidenes Kleid mit kurzen Ärmeln, 1 rotkarierte Bluse, 1 Bulgarenbluse, 2 weiße Damennachthemden, 2 Bettbezüge, 1 Friesierkragen, 1 Unterrock, 1 weißgrauen Leinenrucksack. Aus einer Handtasche nahm sie ein versilbertes Schmuckkästchen mit folgenden Schmucksachen: 1 silbernes Kettchen, 1 einfache Golddouble-Kette, 1 vergoldete Gliederhalskette, 1 Golddouble-Gliederarmband, 1 vergoldeter Armreif, 1 Brosche, 1 vergoldete Anstecknadel, 2 Damenringe. Sie wickelte diese Sachen in ihre Wolldecke, steckte sie in den vorgefundenen Rucksack und schaffte sie in die Körnersche Wohnung, Friedrich-Wilhelmstraße 1. Alle diese Sachen waren Eigentum der ledigen Küchengehilfin Marina Frünke, die als Untermieterin im Hause Langedammstr. 8 gewohnt hatte. Dieser Sachverhalt ist aufgrund des glaubwürdigen Geständnisses der Angeklagten festgestellt. Die Angeklagte behauptet zu ihrer Entschuldigung, dass sie über den Verlust ihrer Wohnung und ihres Hab und gutes verzweifelt gewesen sei. Als sie gesehen habe, dass ihre Nachbarn noch viele Sachen hätten bergen können und sie selbst fast nichts gerettet habe, habe sie sich an den fremden Gegenständen vergriffen, ohne zu wissen, wem diese gehörten. Nachdem sie später ihre Mutter wiedergefunden habe, habe sie ihr den Diebstahl alsbald eingestanden, da das Gewissen ihr keine Ruhe gelassen habe. Auf Anweisung ihrer Mutter habe sie die gestohlenen Sachen auch wieder zurückbringen wollen, doch habe sie den Mut dazu nicht aufgebracht. Hiernach steht fest, dass die Angeklagte in einem unter der Einwirkung eines Terrorangriffs freiwillig geräumten Gebäude geplündert hat. Sie war sich auch bewußt, dass ihre Handlungsweise über den Rahmen eines einfachen Diebstahls hinausging, denn sie hat die Folgen des Terrorangriffs, die die Räumung des Grundstücks Langedammstraße 8 notwendig machten, bewußt ausgenutzt, um sich Kleidungsstücke anzueignen, die für die Bestohlene das Letzte und damit das wertvollste Gut darstellten. Die Entwendung der Schmuckkassette, die die Angeklagte nach ihren eigenen Angaben als solche erkannt hat, zeigt außerdem, dass sie es nicht nur darauf abgesehen hatte, sich Ersatz für die ihr durch den Bombenangriff vernichteten eigenen Sachen zu verschaffen, sondern sich darüber hinaus auch an wertvollen Schmucksachen hat bereichern wollen. Wer derart eigennützig die schwerste Notlage seiner Volksgenossen ausnutzt, handelt so verwerflich und gemein, dass ihn die für Volksschädlinge dieser Art nach § 1 der Volksschädlingsverordnung vom 5.9.1939 ausschließlich vorgesehene Todesstrafe treffen muß. Daran kann auch die Jugend der Angeklagten nichts ändern. Die von der Angeklagten durch die Tat bewiesene ehrlose Gesinnung machte es erforderlich gemäß § 32 StGB auf den dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen. Die Verpflichtung zur Tragung der Kosten des Verfahrens ergibt sich für die Angeklagte aus § 465 StPO. Gez. Lerche Ahrens v. Griesbach. Erna Wazinski - Biografie 7. September 1923 Geboren in Ihlow, Kreis Oberbarnim 1939 Schulentlassung, Arbeit in einer Gastwirtschaft 1. Sept. 1939 Deutschland überfällt Polen, Beginn des 2. Weltkrieges 1942 bis 1943 Einweisung in das Erziehungsheim "Birkenhof" in Hannover auf Antrag des Jugendamtes Braunschweig 1944 Arbeit in einem Rüstungsbetrieb in Braunschweig 16. Oktober 1944 Nach einem Bombenangriff Bergung der persönlichen Habe aus den Trümmern des Wohnhauses in Braunschweig 20. Oktober 1944 Verhaftung und Mißhandlung durch die Kripo Braunschweig nach Denunziation wegen angeblichen "Plünderns" 21. Oktober 1944 Urteil des Sondergerichts Braunschweig gegen Erna Wazinski 23. November 1944 Hinrichtung im Strafgefängnis Wolfenbüttel 21. März 1991 Freispruch durch das Landgericht Braunschweig Der Fall Hirte (1) Als Einstieg bietet sich das Schreiben an den Niedersächsischen Ministerpräsidenten (Antrag auf Ausfertigung eines Glückwunschschreibens und Gewährung einer Jubiläumszuwendung für Hirte) an. Je nach Kenntnisstand - z.B. durch die Bearbeitung der Fälle Wazinski und Bervoets müssten verschiedene Vorüberlegungen zur Biografie und zur politischen Einstellung des ehemaligen Staatsanwaltes und späteren Richters Dr. Wilhelm Hirte möglich sein. An dieser Stelle ist es sinnvoll, zumindest Teile der Biografie Hirtes vorzustellen. Da die SchülerInnen sich wohl kaum mit der Laufbahn von Richtern und Staatsanwälten auskennen, müsste einerseits auf die schnelle Karriere nach 1933 und auf die abgebrochene Karriere Hirtes (bis 1968 nur Amtsgerichtsrat im Grundbuchamt) hingewiesen werden. (2) In der Erarbeitungsphase werden die Beurteilung Hirtes durch den Generalstaatsanwalt von 1937 und die Stellungnahme Hirtes zum Gnadengesuch Erna Wazinskis von 1944 gegenübergestellt. Erarbeiten Sie die Argumentation Hirtes, und vergleichen Sie diese mit der Einschätzung des Generalstaatsanwaltes! Nehmen Sie Stellung zu Hirtes Verhalten und zu der Frage, ob Hirte nach 1945 wieder eingestellt werden durfte! (3) Deutlich werden die Unterschiede zwischen der Beurteilung Hirtes („..gesundes Urteil über alle Lebenserscheinungen", „Besonnenheit, Zuverlässigkeit und Gründlichkeit“) und dem Tenor in der Stellungnahme, in der Hirte – zumindest aus heutiger Perspektive - zum Teil abenteuerlich argumentiert: So wird es Erna Wazinski auch zum Verhängnis, dass sie bei Frau Körner wohnt, die „bis vor kurzem eine mehrjährige Zuchthausstrafe wegen Abtreibung verbüßt (hat)“. Die Erklärung für dieses Urteil liegt scheinbar im letzten Satz der Beurteilung von 1937 („Politisch darf er als ein in der nationalsozialistischen Weltanschauung gefestigter Mann angesehen werden.“). Allerdings war dies ein Routinesatz, der für die erfolgreiche Bewerbung von Nöten war. Hirte war aber keinesfalls ein überzeugter Nazi. Er ist erst am 1.5.1933 in die NSDAP eingetreten und zählte damit zu den „Märzgefallenen“, die diesen Schritt aus Karrieregründen unternahmen. Die Erklärung des Urteiles liegt eher in der Biografie der auffälligen Erna Wazinski; vgl. dazu die entsprechende Unterrichtseinheit. In der Diskussion über das Problem der Wiedereinstellung Hirtes nach 1945 (mit Rückbezug zur „Dankurkunde“) sollte aber herausgestellt werden, dass Hirte als Staatsanwalt natürlich auch ganz andere Urteile beantragt hat. Allgemein gesehen gab es genügend Fälle, bei denen Gymnasiasten wegen kleinerer Delikte nur eine Ermahnung oder zumindest geringe Strafen erhielten, wenn es überhaupt zur Anklageerhebung gekommen ist. Falls die SchülerInnen nach dem Erfolg der Bewerbung Hirtes fragen: Er wurde nicht befördert. Es gab genügend Informationen über seine Rolle vor 1945, und niemand hatte ein Interesse an Hirtes Beförderung. Quellen: Staatsarchiv Wolfenbüttel Dr. Wilhelm Hirte – Biografie 18. Dezember 1905 Geboren in Braunschweig April 1935 Ernennung zum Amtsgerichtsrat, beauftragt mit den Geschäften eines Staatsanwalts beim Oberlandesgericht Braunschweig April 1936 Beförderung zum Ersten Staatsanwalt 1939 – 1944 Überwiegend als geschäftsführender Generalstaatsanwalt tätig und zugleich 1942 – 1945 Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht Braunschweig April 1941 Teilnahme an der Konferenz des Justizministeriums zur juristischen Absicherung des Anstaltsmordes Mai 1945 Entlassung durch die Alliierte Militärbehörde 1947 – 1952 Wissenschaftliche Hilfstätigkeit in einer Anwaltspraxis Mai 1956 Grundbuchrichter beim Amtsgericht Braunschweig Januar 1967 Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung gegen Hirte wegen Teilnahme an der Konferenz zu den Anstaltsmorden Dezember 1967 Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand auf eigenen Antrag 27. Mai 1970 Einstellung der Voruntersuchung auf Beschluss des Landgerichts Lüneburg Der Generalstaatsanwalt am 30.1.1937: Vorschlag von Dr. W. Hirte zur Beförderung zum Ersten Staatsanwalt - Begründung: Hirte ist ein den Durchschnitt überragender Jurist, der sich durch große Gewissenhaftigkeit, Klarheit im Denken und in der Auffassung auszeichnet. Sein gesundes Urteil über alle Lebenserscheinungen, das sich auf vernünftige Überlegungen und klare Erkenntnisse stützt, befähigt ihn zu den sehr guten Leistungen, die er in seiner Tätigkeit als Erster Staatsanwalt aufzuweisen hat. Seine Besonnenheit, Zuverlässigkeit und Gründlichkeit verdienen besonders hervorgehoben zu werden. Er arbeitet auch in Verwaltungssachen mit sehr großem Verständnis und viel Geschick. Von ihm verfasste Berichte in Rechts- und Verwaltungssachen zeichnen sich durch die Sorgfalt und Gründlichkeit, mit der sie ausgearbeitet sind, aus. Auch die umfangreichsten Arbeiten bewältigt er mit Ruhe und Beharrlichkeit. Charakterlich ist er als ein Mann mit durchweg anständiger Gesinnung und Lebensauffassung zu kennzeichnen. Bescheidenheit und Zurückhaltung sind hervorstechende Eigenschaften, wegen deren er sich großen Ansehens bei seinen Mitarbeitern und Berufskameraden erfreut. Politisch darf er als ein in der nationalsozialistischen Weltanschauung gefestigter Mann angesehen werden. Der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde bei dem Sondergericht Braunschweig, den 28.10.1944 – Stellungnahme im Gnadenverfahren Betr.: Strafsache gegen Erna Wazinski aus Braunschweig wegen Plünderns Bedenken gegen das Urteil und seine Vollstreckung bestehen nicht. Der Vorsitzende des Sondergerichts hat bei der Übersendung der Akten nach Urteilsfällung angeregt, mit Rücksicht auf die Jugend der Verurteilten noch über ihre Führung und Persönlichkeit Ermittlungen anzustellen. Die Verurteilte hatte nämlich in der Hauptverhandlung den Eindruck eines harmlosen, ordentlichen, jungen Mädchens hinterlassen. Die weiteren Ermittlungen haben ergeben: Die Verurteilte hat ihren Vater früh verloren. Die Verhältnisse der Mutter werden als wenig durchsichtig geschildert. Die Mutter hatte die Tochter offensichtlich verzogen. Als die Tochter als Hausangestellte in einer Speisewirtschaft auf die schiefe Bahn zu kommen drohte, ordnete das Amtsgericht Braunschweig am 28.6.1942 die Fürsorgeerziehung an. Bis zum November 1943 blieb sie im Prov. Jugendheim Wunstorf und im Birkenfeld bei Hannover. In einer Stelle im Haushalt, die sie dann antrat, wurde über Arbeitsunlust geklagt. Auch in einem Rüstungsbetriebe, in dem sie am 17.7.1944 Arbeit erhielt, musste sie wegen Bummelns verwarnt werden. Bezeichnet für die Wahrheitsliebe der Verurteilten ist es, daß sie in der Hauptverhandlung den Aufenthalt in der Erziehungsanstalt verschwiegen hat und später die Erziehungsanstalt als staatlich geprüfte Haushaltsschule bezeichnete. Die Verurteilte hat inzwischen auch zugegeben, entgegen ihren Angaben in der Hauptverhandlung ihre Mutter schon in der Angriffsnacht getroffen zu haben. Kennzeichnend für die Verurteilte ist schließlich, daß sie sich auf ihrer letzten Arbeitsstelle an die Arbeiterin Gerda Körner angeschlossen hat. Diese ist wegen Arbeitsbummelei und Abtreibung vorbestraft und aus anderer Sache wegen ihres Herumtreibens mit Soldaten bekannt. Die Mutter Körner, zu der die Verurteilte nach ihrer Ausbombung gezogen ist, hat bis vor kurzem eine mehrjährige Zuchthausstrafe wegen Abtreibung verbüßt. Die Verurteilte ist also trotz ihrer Jugend keine Persönlichkeit, die Gnade verdient. Dr. W. Hirte