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Justiz im Nationalsozialismus
Unterrichtseinheiten
für die Sekundarstufe 2
von Arnulf Heinemann und Wilfried Knauer
Übersicht

Marguerite Bervoets. Eine belgische Widerstandskämpferin

Erna Wazinski. Eine 19jährige Frau aus Braunschweig

Wilhelm Hirte. Ein Staatsanwalt am Sondergericht Braunschweig
Marguerite Bervoets. Eine belgische Widerstandskämpferin
(1) In der Einstiegsphase sollte - je nach Anspruchsniveau - eventuell nur das Bild
von M. Bervoets, später erst die gesamte Gedenktafel für M. Bervoets an ihrer
ehemaligen Schule präsentiert werden; gegebenenfalls sollte man die Inschrift
von einem Schüler/einer Schülerin bereits zu Hause übersetzen lassen.
Die SchülerInnen sollen ihren
Eindruck beschreiben und
Überlegungen zum Alter der
jungen Frau formulieren.
Anschließend sollen sie sich zu
den Begriffen Heldin und Märtyrerin äußern, und nach
Erarbeitung des historischen
Kontextes (Belgien seit 1940
besetzt, ...) eine erste Bewertung angeben.
Vermutungen über die Hintergründe der Hinrichtung sind zu erwarten. Bei der Bewertung
ist denkbar, dass ein Vergleich mit dem christlichen Märtyrerbegriff angestellt wird.
Ebenso können Parallelen zu bekannten Gedenktafeln, etwa aus der eigenen Schule
oder dem eigenen Wohnort, herstellt werden. Die Überlegungen zum Aspekt Heldin
können am Schluss wieder aufgegriffen werden.
Anschließend soll die Kurzbiografie entweder durch den Lehrer/ die Lehrerin vorgestellt
oder den Schülern als Zusatzmaterial zur Verfügung gestellt werden. Hier ist ein Hinweis des Lehrers/der Lehrerin zu den "N. und N."- Gefangenen notwendig.
(2) In der Erarbeitungsphase wird der Auszug aus der Anklageschrift des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshof vom 4.10.1943 untersucht.
Aufgaben:
1. Erarbeiten Sie die Anklagepunkte gegen M.B. und ihre Gruppe, insbesondere die
Gefährlichkeit der Widerständler aus deutscher Sicht!
2. Erläutern Sie den historischen Hintergrund der vorliegenden Quelle; gehen Sie
dabei besonders auf die Situation in Belgien bzw. an der Westfront ein!
(3) Es ist sehr wahrscheinlich, dass die SchülerInnen sich in der Auswertungsphase
zunächst zu der rechtsstaatlichen Form des Verfahrens äußern. Bei der weiteren Auswertung können zusätzlich Parallelen zum deutschen Widerstand hergestellt werden.
Abschließend wird aus dem Brief von Marguerite Bervoets vom 13.11.1941 an eine
Freundin vorgelesen, in dem sie u.a. schreibt:
“Ich habe Sie (!) unter allen gewählt, meine letzten Wünsche entgegenzunehmen. ... Man
wird Ihnen sagen, ich sei nutzlos gestorben, aus Dummheit,.... Das wird die Wahrheit
sein, die historische. Aber es wird noch eine andere geben. Sagen Sie meiner Mutter,
dass ich gefallen bin, damit jene, die nach mir kommen, frei leben können.“
Es ist sinnvoll, das genaue Datum nicht zu erwähnen; der frühe Abschiedsbrief mit der
Todesahnung lässt sich aber vermutlich mit der Art der Widerstandstätigkeit erklären:
August 1941: Flüsterpropaganda; ab Ende 1941 das viel gefährlichere Verfassen von
illegalen Flugschriften (vgl. die Anklageschrift).
(4) Hausaufgabe: Entwerft ein Streitgespräch, in dem die Freundin die Lehrerin
Marguerite Bervoets von ihrer weiteren Beteiligung am Widerstand abzubringen
versucht.
Quellen: Bundesarchiv Berlin)
Einfügen: Bervoets Gedenktafel
Der Oberreichsanwalt
Berlin, den 4. Oktober 1943
beim Volksgerichtshof
GEHEIM
Sp.-Sache! Ausländer
Anklageschrift
1. Die Lehrerin Marguerite B e r v o e t s aus Tournai, geboren am 6. März 1914 in La
Louviere, ledig, belgische Staatsangehörige nach ihren Angaben nicht bestraft,
vorläufig
festgenommen
am
8.
August
1942,
zur
Zeit
in
der
Untersuchungshaftanstalt Essen in Untersuchungshaft,
2. die Krankenschwester Cecile D e t o u r n a y aus Gaurin, dort geboren am 5.
Oktober 1911, ledig, belgische Staatsanghörige, nach ihren Angaben nicht bestraft,
vorläufig
festgenommen
am
8.
August
1942,
zur
Zeit
in
der
Untersuchungshaftanstalt Essen in Untersuchungshaft,
3. den Maler Henri D e n e u b o u r g aus Tournai, dort geboren am 11. Oktober
1887, verheiratet, belgischen Staatsangehörigen, nach seinen Angaben nicht
bestraft, vorläufig festgenommen am 8. August 1942 und zur Zeit im
Strafgefangenenlager VII in Esterwegen in Untersuchungshaft,
4. den Handelsvertreter Henri D e m e t s aus Tournai, geboren am 11. Mai 1885 in
Pottes, verheiratet, belgischen Staatsangehörigen, nach seinen Angaben nicht
bestraft, vorläufig festgenommen am 10. August 1942 und zur Zeit im
Strafgefangenenlager VII in Esterwegen in Untersuchungshaft,
5. den Aufseher Edouard S o u r d o a u aus Tournai, geboren am 9. Januar 1907 in
Antoing, verheiratet, belgischen Staatsangehörigen , nach seinen Angaben nicht
bestraft, vorläufig festgenommen am 10. August 1942 und zur Zeit im
Strafgefangenenlager VII in Esterwegen in Untersuchungshaft,
klage ich an,
in der Zeit von August 1941 bis zu ihren Festnahmen in dem besetzten belgischen
Gebiet, besonders in Tournai, fortgesetzt und teilweise gemeinschaftlich miteinander
I.
Bervoets, Detournay, Deneubourg und Demets, durch heimliche Einbeziehung
und Weitergabe von Nachrichten Kriegsspionage getrieben zu haben.
II.
III.
Sourdeau und ferner Bervoets, Deneubourg und Dements durch dieselbe
Handlung wie zu I durch ihre Teilnahme und organisatorische Arbeit an einer
gegen die Sicherheit der deutschen Besatzungsmacht gerichteten
Geheimorganisation den Feind begünstigt zu haben,
endlich Bervoets und Deneubourg gleichfalls durch dieselbe Handlung wie zu I
als Freischärler Waffen und andere Kampfmittel in der Absicht in ihrem Besitz
gehabt zu haben, sie zum Nachteil der deutschen Wehrmacht zu gebrauchen,
Verbrechen gegen §§ 2,3 KSSVO., §§ 91b,47,73 StGB.
Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen.
In Belgien bestand seit dem Jahre 1940 eine Geheimorganisation, die „Legion Belge“.
Ihr anfängliches Ziel, nach den Abzug der deutschen Truppen den Neuaufbau Belgiens
durchzuführen, änderte sich bald. Sie entwickelte sich zu einer nationalen
Widerstandsbewegung und war völlig nach militärischem Muster aufgezogen. Die
Angehörigen der Legion setzten sich in der Hauptsache aus Offizieren, Unteroffizieren
und Mannschaften der früheren belgischen Armee zusammen. Die Ziele der Legion
gingen dahin, im Falle der erhofften Landung feindlicher Truppen an der Atlantikküste
diese zu unterstützen und der deutschen Wehrmacht jeden nur möglichen Schaden
zuzufügen. Um die Bevölkerung dafür zu gewinnen, sie auf den Kampf vorzubereiten
und sie überhaupt gegen die deutsche Besatzungsmacht aufzuwiegeln, wurden
Hetzschriften verbreitet. Zugleich begann ein weit verzweigter Spionagedienst zu
arbeiten, der es unternahm, Nachrichten aller Art aus dem besetzten Gebiet
einzuziehen und mittels Sender oder Kuriere nach England weiterzuleiten.
An derartigen Umtrieben beteiligten sich auch die Angeschuldigten, die sämtlich
belgische Staatsangehörige sind.
I.
Bervoets.
Seit August 1941 betrieb die Angeschuldigte Bervoets mit dem Mitangeschuldigten
Deneubourg, mit dem sie ein Verhältnis unterhielt, Flüsterpropaganda. Beide
verbreiteten Nachrichten, die englischen Rundfunksendungen entnommen waren und
sich gegen die deutsche Wehrmacht richteten. Um ihre Feindpropaganda wirksamer zu
gestalten, stellten sie seit Ende 1941 im Vervielfältigungsverfahren eine illegale
Flugschrift her, die den Titel „La Delivrance“ (die Befreiung) trug, und brachten sie in
Umlauf,
Anfang 1942 erhielt Deneubourg und durch ihn auch die Angeschuldigte Bervoets
Verbindung zu der „Legion Belge“. Sie wurden mit den Zielen und Aufgaben der Legion
vertraut gemacht und warben dann für sie bis April 1942 etwa 70 Mitglieder, die sie in
der Sektion 803 zusammen faßten und organisierten. Die Angeschuldigte Bervoets
führte im wesentlichen die Verwaltungsgeschäfte und war zugleich für die Herausgabe
der Flugschrift verantwortlich. Insgesamt verfaßte sie den Inhalt für sieben Flugblätter,
die in etwa monatlichen Abständen in einer Auflage von je 200 bis 300 Stücken
hergestellt und durch die Organisation verbreitet wurden.
Auszug aus der Anklageschrift des Oberreichsanwaltes beim Volksgerichtshof,
4. Oktober 1943
Erna Wazinski: Eine 19jährige Frau aus Braunschweig
(1) In der Einstiegsphase wird mit der Bekanntmachung über das vollstreckte Todesurteil (Folie) begonnen. Hinterfragt werden müssen u.a. die Begriffe „Volksschädling“
und „Terrorangriff“ sowie der „Sinn“ dieses Urteils kurz vor Kriegsende und die Absicht
dieser öffentlichen Bekanntmachung. Eingegangen werden könnte auf die historische
Situation allgemein, eventuell die regionalen Besonderheiten (erneuter, schwerer Bombenangriff auf Braunschweig). Das kann aber auch erst nach der Erarbeitung des Urteils, das einige Informationen dazu enthält, erfolgen.
Die SchülerInnen werden aufgefordert, Hypothesen zum Hintergrund des Urteils zu bilden. Erwartet werden vor allem schwere Vergehen; andererseits ist im Braunschweiger
Raum damit zu rechnen, dass einige SchülerInnen den Fall Erna Wazinski kennen.
(2) In der folgenden Erarbeitungsphase wird das Urteil des Sondergerichts Braunschweig vom 21.10.1944 untersucht.
Aufgaben:
1. Erarbeiten Sie den Aufbau und den Inhalt des Urteils
2. Setzen Sie sich kritisch mit dem Urteil auseinander und nehmen Sie Stellung dazu!
Aufbau: Benennung der Verurteilten, Zusammensetzung des Sondergerichtes, Gründe:
Biografie, Bombenangriff auf Braunschweig, Tatumstände/-hergang, Einlassungen der
Angeklagten, Feststellung der Tat (Plündern) und Begründung des Urteils, Kostenübernahme durch die Angeklagte.
Inhalt: wichtig u.a. Wert der Gegenstände; Argumentation des Sondergerichtes;
Begrifflichkeiten und Rechtsgrundlagen (Volksschädling, ehrlose Gesinnung).
(3) Bei der Auswertung ist es sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass es viele Alternativen zu diesem Urteil gegeben hat, da u.a. eine Verurteilung wegen Diebstahls möglich
war. Darüber hinaus hat das Sondergericht die Aussage der Mutter, Erna habe sich die
Kleidungsstücke nicht aneignen und daher zurückbringen wollen, akzeptiert. Das ist juristisch gesehen ein wichtiger Aspekt, da zum vollendeten Diebstahl nicht nur die Wegnahme fremden Eigentums gehört.
Auch ist ziemlich sicher, dass Erna durch Schläge zu dem Geständnis gebracht worden
ist. Der damalige Freund Ernas hat 1990 im Wiederaufnahmeverfahren bestätigt, dass
Erna bei einer ersten Vernehmung in ihrer Mietwohnung geschlagen worden ist. Dem
Freund wurde durch die Kriminalpolizei geraten, möglichst schnell an die Front zu gehen.
Quellen: Staatsarchiv Wolfenbüttel
Einfügen: Plakat zur Vollstreckung
Im Namen des Deutschen Volkes
In der Strafsache
gegen
Die ledige Rüstungsarbeiterin Erna W a z i n s k i aus Braunschweig, FriedrichWilhelmstraße 1, geboren am 7. September 1925 in Enlon, Bezirk Brandenburg, ev.luth., nicht vorbestraft, z.Z. in Polizeihaft in der Untersuchungshaftanstalt in
Braunschweig,
wegen Plünderns,
hat das Sondergericht Braunschweig in der Sitzung vom 21. Oktober 1944 durch
Landgerichtsdirektor Dr. Lerche, als Vorsitzender.,
Landgerichtsdirektor Ahrens,
Landgerichtsrat Dr. von Griesbach,
als beisitzende Richter,
beauftr. Staatsanwalt Magnus,
als Beamter der Staatsanwaltschaft,
für R e c h t erkannt:
Die Angeklagte hat nach einem Fliegerangriff geplündert und wird deshalb zum T o d e
und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt.
G r ü n d e:
Die Angeklagte ist die einzige Tochter des bereits vor 10 Jahren verstorbenen Invaliden Rudolph Wazinski und dessen Ehefrau Wilhelmine, geb. Chnielewski. Sie hat in
Braunschweig die Axel-Schaffelt-Volksschule besucht und ist aus der 8. Klasse entlassen. Im Jahre 1939 erledigte sie ihr Pflichtjahr im Haushalt des Dr. Schiete-meyer,
hier, Cyriaksring 24. Anschließend half sie im Haushalt ihrer kränklichen Mutter. Seit
1941 war sie 1 ½ Jahre Hausgehilfin im Wilhelmsbad Braunschweig. Im Juli 1944
wurde sie als Rüstungsarbeiterin für das Viga-Werk, hier Hamburger Straße, dienstverpflichtet.
In der Nacht vom Sonnabend, den 14. zum 15. Oktober 1944, fand ein schwerer
Terrorangriff auf die Stadt Braunschweig statt, der den größten Teil der Innenstadt in
Schutt und Asche legte. Die Angeklagte hatte in dieser Nacht Nachtdienst im VigaWerk. Nach dem Angriff eilte sie mit Erlaubnis ihrer Firma nach der Langedammstraße, wo sie bis dahin im Grundstück Nr. 14 mit ihrer Mutter gewohnt hatte. Das
Haus war bis auf den Grund abgebrannt. Ihre Mutter traf die Angeklagte nicht mehr
an, sie fand sie später in einer Auffangsammelstelle; sie selbst fand ein Unterkommen bei ihrer Freundin, Frl. Körner, Friedrich-Wilhelmstraße 1. Von ihren eigenen
Sachen hatte sie nur 1 Kostüm und 2 Sommerkleider gerettet.
Am Montag, den 16. Oktober 1944, half die Angeklagte den Bewohnern ihres ebenfalls abgebrannten Nachbargrundstücks Langedammstraße 8 beim Bergen von Sachen, die aus dem Luftschutzkeller herausgeholt werden konnten und in einem unbeschädigten Nebengebäude abgestellt wurden. In einem unbewachten Augenblick
entnahm sie aus fremden unverschlossenen Koffern folgende Gegenstände: 1 rotbraunes Wollkleid mit langen Ärmeln, 1 rotseidenes Kleid mit kurzen Ärmeln, 1 rotkarierte Bluse, 1 Bulgarenbluse, 2 weiße Damennachthemden, 2 Bettbezüge, 1 Friesierkragen, 1 Unterrock, 1 weißgrauen Leinenrucksack.
Aus einer Handtasche nahm sie ein versilbertes Schmuckkästchen mit folgenden
Schmucksachen: 1 silbernes Kettchen, 1 einfache Golddouble-Kette, 1 vergoldete
Gliederhalskette, 1 Golddouble-Gliederarmband, 1 vergoldeter Armreif, 1 Brosche, 1
vergoldete Anstecknadel, 2 Damenringe.
Sie wickelte diese Sachen in ihre Wolldecke, steckte sie in den vorgefundenen
Rucksack und schaffte sie in die Körnersche Wohnung, Friedrich-Wilhelmstraße 1.
Alle diese Sachen waren Eigentum der ledigen Küchengehilfin Marina Frünke, die
als Untermieterin im Hause Langedammstr. 8 gewohnt hatte. Dieser Sachverhalt ist
aufgrund des glaubwürdigen Geständnisses der Angeklagten festgestellt.
Die Angeklagte behauptet zu ihrer Entschuldigung, dass sie über den Verlust ihrer
Wohnung und ihres Hab und gutes verzweifelt gewesen sei. Als sie gesehen habe,
dass ihre Nachbarn noch viele Sachen hätten bergen können und sie selbst fast
nichts gerettet habe, habe sie sich an den fremden Gegenständen vergriffen, ohne
zu wissen, wem diese gehörten. Nachdem sie später ihre Mutter wiedergefunden
habe, habe sie ihr den Diebstahl alsbald eingestanden, da das Gewissen ihr keine
Ruhe gelassen habe. Auf Anweisung ihrer Mutter habe sie die gestohlenen Sachen
auch wieder zurückbringen wollen, doch habe sie den Mut dazu nicht aufgebracht.
Hiernach steht fest, dass die Angeklagte in einem unter der Einwirkung eines Terrorangriffs freiwillig geräumten Gebäude geplündert hat. Sie war sich auch bewußt,
dass ihre Handlungsweise über den Rahmen eines einfachen Diebstahls hinausging,
denn sie hat die Folgen des Terrorangriffs, die die Räumung des Grundstücks
Langedammstraße 8 notwendig machten, bewußt ausgenutzt, um sich
Kleidungsstücke anzueignen, die für die Bestohlene das Letzte und damit das
wertvollste Gut darstellten. Die Entwendung der Schmuckkassette, die die
Angeklagte nach ihren eigenen Angaben als solche erkannt hat, zeigt außerdem,
dass sie es nicht nur darauf abgesehen hatte, sich Ersatz für die ihr durch den
Bombenangriff vernichteten eigenen Sachen zu verschaffen, sondern sich darüber
hinaus auch an wertvollen Schmucksachen hat bereichern wollen. Wer derart
eigennützig die schwerste Notlage seiner Volksgenossen ausnutzt, handelt so
verwerflich und gemein, dass ihn die für Volksschädlinge dieser Art nach § 1 der
Volksschädlingsverordnung vom 5.9.1939 ausschließlich vorgesehene Todesstrafe
treffen muß. Daran kann auch die Jugend der Angeklagten nichts ändern.
Die von der Angeklagten durch die Tat bewiesene ehrlose Gesinnung machte es erforderlich gemäß § 32 StGB auf den dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen.
Die Verpflichtung zur Tragung der Kosten des Verfahrens ergibt sich für die Angeklagte aus § 465 StPO.
Gez. Lerche
Ahrens
v. Griesbach.
Erna Wazinski - Biografie
7. September 1923 Geboren in Ihlow, Kreis Oberbarnim
1939
Schulentlassung, Arbeit in einer Gastwirtschaft
1. Sept. 1939
Deutschland überfällt Polen, Beginn des 2. Weltkrieges
1942 bis 1943
Einweisung in das Erziehungsheim "Birkenhof" in
Hannover auf Antrag des Jugendamtes Braunschweig
1944
Arbeit in einem Rüstungsbetrieb in Braunschweig
16. Oktober 1944
Nach einem Bombenangriff Bergung der persönlichen Habe
aus den Trümmern des Wohnhauses in Braunschweig
20. Oktober 1944
Verhaftung und Mißhandlung durch die Kripo Braunschweig
nach Denunziation wegen angeblichen "Plünderns"
21. Oktober 1944
Urteil des Sondergerichts Braunschweig gegen Erna
Wazinski
23. November 1944 Hinrichtung im Strafgefängnis Wolfenbüttel
21. März 1991
Freispruch durch das Landgericht Braunschweig
Der Fall Hirte
(1) Als Einstieg bietet sich das Schreiben an den Niedersächsischen Ministerpräsidenten (Antrag auf Ausfertigung eines Glückwunschschreibens und
Gewährung einer Jubiläumszuwendung für Hirte) an.
Je nach Kenntnisstand - z.B. durch die Bearbeitung der Fälle Wazinski und Bervoets müssten verschiedene Vorüberlegungen zur Biografie und zur politischen Einstellung
des ehemaligen Staatsanwaltes und späteren Richters Dr. Wilhelm Hirte möglich sein.
An dieser Stelle ist es sinnvoll, zumindest Teile der Biografie Hirtes vorzustellen. Da die
SchülerInnen sich wohl kaum mit der Laufbahn von Richtern und Staatsanwälten auskennen, müsste einerseits auf die schnelle Karriere nach 1933 und auf die abgebrochene Karriere Hirtes (bis 1968 nur Amtsgerichtsrat im Grundbuchamt) hingewiesen werden.
(2) In der Erarbeitungsphase werden die Beurteilung Hirtes durch den Generalstaatsanwalt von 1937 und die Stellungnahme Hirtes zum Gnadengesuch Erna Wazinskis von
1944 gegenübergestellt.
 Erarbeiten Sie die Argumentation Hirtes, und vergleichen Sie diese mit der
Einschätzung des Generalstaatsanwaltes!
 Nehmen Sie Stellung zu Hirtes Verhalten und zu der Frage, ob Hirte nach 1945
wieder eingestellt werden durfte!
(3) Deutlich werden die Unterschiede zwischen der Beurteilung Hirtes („..gesundes Urteil über alle Lebenserscheinungen", „Besonnenheit, Zuverlässigkeit und Gründlichkeit“)
und dem Tenor in der Stellungnahme, in der Hirte – zumindest aus heutiger Perspektive
- zum Teil abenteuerlich argumentiert: So wird es Erna Wazinski auch zum Verhängnis,
dass sie bei Frau Körner wohnt, die „bis vor kurzem eine mehrjährige Zuchthausstrafe
wegen Abtreibung verbüßt (hat)“.
Die Erklärung für dieses Urteil liegt scheinbar im letzten Satz der Beurteilung von 1937
(„Politisch darf er als ein in der nationalsozialistischen Weltanschauung gefestigter
Mann angesehen werden.“). Allerdings war dies ein Routinesatz, der für die erfolgreiche
Bewerbung von Nöten war. Hirte war aber keinesfalls ein überzeugter Nazi. Er ist erst
am 1.5.1933 in die NSDAP eingetreten und zählte damit zu den „Märzgefallenen“, die
diesen Schritt aus Karrieregründen unternahmen.
Die Erklärung des Urteiles liegt eher in der Biografie der auffälligen Erna Wazinski; vgl.
dazu die entsprechende Unterrichtseinheit.
In der Diskussion über das Problem der Wiedereinstellung Hirtes nach 1945 (mit Rückbezug zur „Dankurkunde“) sollte aber herausgestellt werden, dass Hirte als Staatsanwalt natürlich auch ganz andere Urteile beantragt hat. Allgemein gesehen gab es genügend Fälle, bei denen Gymnasiasten wegen kleinerer Delikte nur eine Ermahnung oder
zumindest geringe Strafen erhielten, wenn es überhaupt zur Anklageerhebung gekommen ist.
Falls die SchülerInnen nach dem Erfolg der Bewerbung Hirtes fragen: Er wurde nicht
befördert. Es gab genügend Informationen über seine Rolle vor 1945, und niemand
hatte ein Interesse an Hirtes Beförderung.
Quellen: Staatsarchiv Wolfenbüttel
Dr. Wilhelm Hirte – Biografie
18. Dezember 1905 Geboren in Braunschweig
April 1935
Ernennung zum Amtsgerichtsrat, beauftragt mit den Geschäften
eines Staatsanwalts beim Oberlandesgericht Braunschweig
April 1936
Beförderung zum Ersten Staatsanwalt
1939 – 1944
Überwiegend als geschäftsführender Generalstaatsanwalt tätig
und zugleich
1942 – 1945
Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht Braunschweig
April 1941
Teilnahme an der Konferenz des Justizministeriums zur juristischen Absicherung des Anstaltsmordes
Mai 1945
Entlassung durch die Alliierte Militärbehörde
1947 – 1952
Wissenschaftliche Hilfstätigkeit in einer Anwaltspraxis
Mai 1956
Grundbuchrichter beim Amtsgericht Braunschweig
Januar 1967
Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung gegen Hirte wegen
Teilnahme an der Konferenz zu den Anstaltsmorden
Dezember 1967
Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand auf eigenen Antrag
27. Mai 1970
Einstellung der Voruntersuchung auf Beschluss des Landgerichts
Lüneburg
Der Generalstaatsanwalt am 30.1.1937: Vorschlag von Dr. W. Hirte zur Beförderung zum Ersten
Staatsanwalt - Begründung:
Hirte ist ein den Durchschnitt überragender Jurist, der sich durch große Gewissenhaftigkeit, Klarheit im
Denken und in der Auffassung auszeichnet. Sein gesundes Urteil über alle Lebenserscheinungen, das
sich auf vernünftige Überlegungen und klare Erkenntnisse stützt, befähigt ihn zu den sehr guten Leistungen, die er in seiner Tätigkeit als Erster Staatsanwalt aufzuweisen hat. Seine Besonnenheit, Zuverlässigkeit und Gründlichkeit verdienen besonders hervorgehoben zu werden. Er arbeitet auch in Verwaltungssachen mit sehr großem Verständnis und viel Geschick. Von ihm verfasste Berichte in Rechts- und
Verwaltungssachen zeichnen sich durch die Sorgfalt und Gründlichkeit, mit der sie ausgearbeitet sind,
aus. Auch die umfangreichsten Arbeiten bewältigt er mit Ruhe und Beharrlichkeit.
Charakterlich ist er als ein Mann mit durchweg anständiger Gesinnung und Lebensauffassung zu kennzeichnen. Bescheidenheit und Zurückhaltung sind hervorstechende Eigenschaften, wegen deren er sich
großen Ansehens bei seinen Mitarbeitern und Berufskameraden erfreut.
Politisch darf er als ein in der nationalsozialistischen Weltanschauung gefestigter Mann angesehen
werden.
Der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde bei dem Sondergericht Braunschweig, den
28.10.1944 – Stellungnahme im Gnadenverfahren
Betr.: Strafsache gegen Erna Wazinski aus Braunschweig wegen Plünderns
Bedenken gegen das Urteil und seine Vollstreckung bestehen nicht.
Der Vorsitzende des Sondergerichts hat bei der Übersendung der Akten nach Urteilsfällung angeregt, mit
Rücksicht auf die Jugend der Verurteilten noch über ihre Führung und Persönlichkeit Ermittlungen anzustellen. Die Verurteilte hatte nämlich in der Hauptverhandlung den Eindruck eines harmlosen, ordentlichen,
jungen Mädchens hinterlassen. Die weiteren Ermittlungen haben ergeben:
Die Verurteilte hat ihren Vater früh verloren. Die Verhältnisse der Mutter werden als wenig durchsichtig
geschildert. Die Mutter hatte die Tochter offensichtlich verzogen. Als die Tochter als Hausangestellte in
einer Speisewirtschaft auf die schiefe Bahn zu kommen drohte, ordnete das Amtsgericht Braunschweig
am 28.6.1942 die Fürsorgeerziehung an. Bis zum November 1943 blieb sie im Prov. Jugendheim
Wunstorf und im Birkenfeld bei Hannover. In einer Stelle im Haushalt, die sie dann antrat, wurde über
Arbeitsunlust geklagt. Auch in einem Rüstungsbetriebe, in dem sie am 17.7.1944 Arbeit erhielt, musste sie
wegen Bummelns verwarnt werden. Bezeichnet für die Wahrheitsliebe der Verurteilten ist es, daß sie in
der Hauptverhandlung den Aufenthalt in der Erziehungsanstalt verschwiegen hat und später die
Erziehungsanstalt als staatlich geprüfte Haushaltsschule bezeichnete. Die Verurteilte hat inzwischen auch
zugegeben, entgegen ihren Angaben in der Hauptverhandlung ihre Mutter schon in der Angriffsnacht
getroffen zu haben. Kennzeichnend für die Verurteilte ist schließlich, daß sie sich auf ihrer letzten
Arbeitsstelle an die Arbeiterin Gerda Körner angeschlossen hat. Diese ist wegen Arbeitsbummelei und
Abtreibung vorbestraft und aus anderer Sache wegen ihres Herumtreibens mit Soldaten bekannt. Die
Mutter Körner, zu der die Verurteilte nach ihrer Ausbombung gezogen ist, hat bis vor kurzem eine
mehrjährige Zuchthausstrafe wegen Abtreibung verbüßt. Die Verurteilte ist also trotz ihrer Jugend keine
Persönlichkeit, die Gnade verdient.
Dr. W. Hirte
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