Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht

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Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht
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Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht ist die Bezeichnung für das vom Grazer
Politikwissenschaftler Klaus Poier vorgeschlagene Modell eines Mehrheitswahlsystems, das - im
Gegensatz zu herkömmlichen Mehrheitswahlsystemen - gleichzeitig die Repräsentation kleiner
Parteien (Minderheitsparteien) garantiert. Ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht vereint
damit Vorteile des Mehrheits- mit solchen des Verhältniswahlsystems, indem es klare politische
Verhältnisse schafft und gleichzeitig die Pluralität des politischen Systems fördert. Die Einführung
eines solchen Modells wurde in Österreich seit Ende der 1990er Jahren und insbesondere nach der
Nationalratswahl 2006, bei der es mangels Alternativen zu einer Großen Koalition aus SPÖ und
ÖVP kam, diskutiert.
Inhaltsverzeichnis
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1 Mehrheits- und Verhältniswahlrecht
„ 1.1 Verhältniswahlrecht
„ 1.2 Mehrheitswahlrecht
2 Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht
3 Alternativen zum Grundmodell
4 Vor- und Nachteile, Kritik
5 Ausblick
6 Literatur
Mehrheits- und Verhältniswahlrecht
Die klassische Einteilung von Wahlsystemen unterscheidet Verhältnis- von Mehrheitswahlsystemen.
In der Literatur werden die beiden Systeme einander oft unter Verwendung unterschiedlicher
Vergleichsparameter gegenübergestellt. So wird das Verhältniswahlsystem nach seinem
Repräsentationsprinzip - der proportionalen Aufteilung der Mandate -, das Mehrheitswahlsystem
aber nach seinen Gestaltungselementen, also etwa der Entscheidungsregel bestimmt. Definiert man,
wie der Politologe Dieter Nohlen, beide Systeme unter Betrachtung ihres Repräsentationsprinzips,
gelangt man zu folgenden Begriffserklärungen:
Verhältniswahlrecht
Unter diesem Begriff versteht man die proportionale Abbildung des Wählerverhaltens in der
Mandatsvergabe. Das Ziel liegt in einer gerechten Aufteilung aller Mandate, der Wählerwille soll
sozusagen im Vertretungskörper gespiegelt werden. Der größte Vorteil eines Verhältniswahlsystems
liegt in der genauen Wiedergabe des Wählerwillens, es ist "gerecht". Demgegenüber steht die Gefahr
einer Zersplitterung, jede Partei, die Stimmen erhalten hat, muss auch Mandate erhalten. Dem wird
meist mit der Festsetzung einer Stimmenhürde entgegengewirkt: Eine Partei muss also eine
bestimmte Prozentzahl der abgegebenen Stimmen erreichen um ein Mandat zu erhalten. Die
Regierungsbildung in Verhältniswahlsystemen gestaltet sich oft als schwierig, da es kaum stabile
Mehrheiten gibt.
Mehrheitswahlrecht
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22.07.2008
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Das Mehrheitswahlrecht räumt einer Partei im Parlament eine stabile Mehrheit ein, gleichzeitig muss
zumindest eine andere Partei die Oppositionsrolle übernehmen und in weiterer Folge einen
Machtwechsel herbeiführen können. Die bekannteste Ausformung dieses Wahlsystems findet man in
England und den USA mit dem Mehrheitswahlrecht in Einmandatswahlkreisen. Das Wahlgebiet
wird hierbei in so viele Wahlkreise eingeteilt, wie Abgeordnete zu wählen sind. Gewählt ist der
Kandidat, der die meisten Stimmen erhalten hat. Neben der schon erwähnten relativen
Mehrheitswahl in Einmandatswahlkreisen und der absoluten Mehrheitswahl in
Einmandatswahlkreisen (Beispiel Frankreich), gibt es aber auch noch andere, weitgehend
unbekannte Ausformungen des Mehrheitswahlrechts wie etwa Prämienwahlsysteme in Italien und in
Frankreich (lokale und regionale Ebene), bei denen die stärkste Partei eine Prämie an Mandaten
erhält, um dadurch eine absolute Mandatsmehrheit zu erreichen. Auf der Grundlage solcher
Prämienwahlsysteme entwickelte der Grazer Politologe Klaus Poier Idee und Modell des
minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts.
Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht
Die Funktionsweise des minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts ist denkbar einfach: Die
Partei, die die relative Mehrheit an Stimmen erzielt, erhält die Hälfte der Mandate plus eins. Die
restlichen Mandate werden proportional, also wie im Verhältniswahlrecht (nach D'HondtVerfahren), auf die übrigen Parteien verteilt. Um einer Zersplitterung der Parteienlandschaft - wie sie
im Verhältniswahlrecht oft zu beobachten ist - vorzubeugen, kann eine Stimmenhürde für
Kleinparteien vorgesehen werden. Die Parteien müssen also z.B. 4% (so derzeit in Österreich) oder
5% (so derzeit in Deutschland) der abgegebenen Stimmen erreichen, um ins Parlament einziehen zu
können.
Die siegreiche Partei erhält demnach eine knappe Mehrheit im Parlament, die übrigen Parteien sind
verhältnismäßig vertreten. Damit erhöht sich die Handlungsfähigkeit für die Siegerpartei, lange
Koalitionsverhandlungen werden unnötig. Gleichzeitig kann der Wahlsieger die knappe Mehrheit
auch zu einer stabileren ausbauen, indem er eine Koalition mit einer der anderen im Parlament
vertretenen Parteien eingeht. Die Möglichkeit eines Machtwechsels ist jederzeit vorhanden, das Volk
kann bei der nächsten Wahl der Regierungspartei erneut das Vertrauen aussprechen oder sich einer
anderen Partei zuwenden. Der Einfluss des Wählers wird in diesem Sinne - so die Befürworter verstärkt.
Alternativen zum Grundmodell
Zum Modell eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts wurden ausgehend vom
vorgestellten Grundgedanken auch Alternativvarianten vorgeschlagen. So wurde etwa von Poier
darauf hingewiesen, dass die Mehrheitsprämie auch höher angesetzt werden könnte (die Hälfte der
Mandate plus zwei, drei, vier etc.), wodurch die Stabilität einer Einparteienregierung erhöht,
andererseits jedoch die Repräsentation sowie die Chancen auf Regierungsbeteiligung kleiner
Parteien verringert würde.
Der österreichische Bundesratspräsident a.D. Herwig Hösele hat demgegenüber vorgeschlagen, der
stimmenstärksten Partei die Hälfte der Mandate minus 1 zuzusprechen, damit eine Koalition
notwendig bliebe (was für die kleinen Parteien günstig wäre), wobei die Siegerpartei jedoch dennoch
die Möglichkeit hätte, aus jeder der anderen im Parlament vertretenen Parteien auszuwählen.
Ein weiterer Vorschlag - nach einer Idee der steirischen Landesrätin Kristina Edlinger-Ploder - ist
die Kombination eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechtmodells mit einer
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"Nichtwählerprämie": Die Partei mit der relativen Stimmenmehrheit bekommt die fiktiven Stimmen
der Nichtwähler zugeschlagen. Die übrigen Mandate werden dann verhältnismäßig aufgeteilt. Die
Stimmen der Nichtwähler wären keine "verlorenen Stimmen", sondern würden automatisch der
siegreichen Partei zufallen. Damit stiege der Anreiz, wählen zu gehen, allerdings könnte dies - bei
hoher Stimmenthaltung - zu einer hohen Mehrheitsprämie führen.
Ein weiter verfeinerter Vorschlag ist jener von Richard Seyfried. Sein Minderheitenfreundlich
Mehrheitsbildendes Wahlrecht zielt wie das Modell von Herwig Hösele eher auf ein
Mandatsergebnis der stärksten Partei knapp unter der absoluten Mehrheit ab. Die Mandatszahl soll
aber für diese Partei reichen, um viele Koalitionsoptionen zu haben. Eine wesentliche Neuerung ist
bei Seyfried die Einbeziehung einer Alternativstimme (Zweitpräferenz). Dieses etwa in London
bereits verwendete "Alternative Vote" wirkt wie eine Stichwahl zwischen den stimmenstärksten
Parteien. Dadurch wird verhindert, dass eine Partei, die mehrheitlich abgelehnt wird, in den Genuss
des Bonus kommt. Die genaue Höhe des Bonus errechnet sich bei Seyfried nach der Zahl der Erstund Zweitpräferenzstimmen. Diese werden dem Ergebnis der im Stechen siegreichen Partei noch
einmal als halbe Wählerstimmen hinzugerechnet.
Mit Hilfe der Alternativstimme werden Verzerrungen durch taktisches Wählen weitgehend
ausgeschlossen, die möglichen Auswirkungen eines solchen Wahlrechts lassen sich daher anhand der
letzten Wahlergebnisse zumindest annäherungsweise errechnen, vgl. dazu die Berechnung in
Anlehnung an den österreichischen Nationalrat. Sinnvoll anwendbar ist das Modell auch auf das
politische System in Deutschland. Auch dort gibt es seit der Etablierung eines 5-Parteien-Systems
erhebliche Probleme bei der Mehrheitsbildung wie zuletzt in Hessen. Seyfrieds Modell würde nach
der aktuellen Berechnung anhand der Bundestagswahl 2005 auch dort zu einer deutlich
vereinfachten Mehrheitsbildung führen, ohne automatisch absolute Mehrheiten zu schaffen.
Vor- und Nachteile, Kritik
Im traditionellen Mehrheitswahlrecht, wie etwa in den USA oder in England, haben Kleinparteien
und neue Gruppierungen kaum die Möglichkeit, Mandate zu erringen. Minderheiten sind im
Parlament größtenteils nicht vertreten und die Stimmen für Kleinparteien werden oft zu so genannten
„Papierkorbstimmen“. Die Mandate werden hauptsächlich von den beiden Großparteien besetzt.
Der Vorteil des minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts liegt darin, dass die stimmenstärkste
Partei eine Mehrheit im Parlament besitzt und somit allein handlungsfähig ist. Wie im traditionellen
Mehrheitswahlrecht werden klare politische Verhältnisse geschaffen. Gleichzeitig gehen die für die
Kleinparteien abgegebenen Stimmen nicht verloren, da die Minderheiten bzw. Kleinparteien durch
die proportionale Aufteilung der restlichen Mandate ebenfalls im Parlament vertreten sind. Im
Vergleich zum Verhältniswahlrecht würden die Kleinparteien auch im minderheitenfreundlichen
Mehrheitswahlrecht einige Mandate verlieren (siehe Tabelle unten). Eine starke Opposition wie auch
die Pluralität des politischen Systems sind dennoch gewährleistet. Auch kann die stimmenstärkste
Partei aus strategischen Überlegungen heraus eine kleine Partei in die Regierung holen, um die
knappe Mehrheit zu einer stabileren Parlamentsmehrheit auszubauen. Koalitionen werden durch die
niedrige Mehrheitsprämie - die Hälfte plus ein Mandat - sehr wahrscheinlich. Bei den Vorbildern des
Modells in Frankreich und Italien ist dies hingegen nicht so, da dort die Mehrheitsprämie in der
Regel wesentlich höher ist, z.B. zwei Drittel der Mandate für die stärkste Partei.
Der größte Nachteil des Grundmodells ist, dass eine einzelne Partei, die weniger als 50 % der
Wähler auf sich vereint, also nur eine Minderheit der Gesamtbevölkerung repräsentiert, über mehr
als 50 % der Mandate verfügt und damit alleine regieren kann. Ein System, bei dem eine Minderheit
über eine Mehrheit herrscht, kann aber nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden. Außerdem
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stellt sich die Frage, ob Kleinparteien im minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrecht überhaupt
noch gewählt werden, da sie für eine Mehrheitsbildung nicht mehr zwingend nötig sind: Die Wähler
könnten wie im klassischen Mehrheitswahlrecht dazu tendieren, ihre Stimme nicht an die Kleinsondern nur noch an die Großparteien zu vergeben. Dem ist wiederum entgegenzuhalten, dass die
Mehrheitsprämie nicht sehr hoch ist, ja nur die Hälfte der Mandate plus eins umfasst: Dadurch ergibt
sich keine extreme Überrepräsentation der stimmenstärksten Partei. Schließlich muss sich der
Wähler auch im Verhältniswahlsystem entscheiden, ob er seine Stimme einer Großpartei, oder einer
kleineren Gruppierung mit weniger Chancen auf eine Regierungsbeteiligung gibt. Das
grundsätzliche Problem der von vielen so empfundenen "Ungerechtigkeit" der Mehrheitswahl bleibt
allerdings bestehen. Das ist auch einer der zentralen Gründe, warum es bereits eine Reihe von
überarbeiteten Alternativmodellen gibt. Das Modell von Hösele, noch stärker aber der
Wahlrechtsentwurf von Seyfried tragen dieser "Ungerechtigkeit" gegenüber Kleinparteien bereits
Rechnung und eröffnen den kleineren Parteien eine vollwertige und zum Teil gegenüber heute sogar
gestärkte Möglichkeit zur Teilnahme an der Mehrheitsbildung.
Auch dürften sich die Regierungsverhältnisse mit einem solchen Modell nur sehr selten verändern,
da sich in den meisten Ländern zwar die konkreten Prozentzahlen der einzelnen Parteien ändern,
nicht aber deren Reihenfolge - so war beispielsweise die SPD bei der deutschen Bundestagswahl nur
zweimal die stärkste Kraft, stellte aber sechs mal den späteren Regierungschef. Des weiteren
verstärkt ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht auf jeden Fall die Bedeutungslosigkeit
kleinerer Parteien. Für diese wäre vielmehr eine gegenteilige Lösung erforderlich, die die
Mandatszahl von vergleichsweise kleinen Parteien sogar überproportional erhöht.
Ausblick
In Österreich kehrt in regelmäßigen Abständen die Diskussion um ein neues Wahlrecht wieder. War
bis in die 90er Jahre ein Zwei-Parteiensystem vorherrschend, findet nun eine zunehmende
Zersplitterung statt. Die Ergebnisse der Nationalratswahlen 2006 ergaben nur eine einzig mögliche
Koalitionsvariante zweier Parteien, die einer große Koalition aus SPÖ und ÖVP. Die Alternativen
bestanden in einer wackeligen Dreierkoalition aus Parteien verschiedenster Weltanschauungen und
in einer Minderheitsregierung, die in Österreich jedoch üblicherweise nur als Übergangslösung in
Frage kommt. Der Vorschlag eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts ist eine
Reformmöglichkeit mit dem Ziel das politische Geschehen aus seiner Erstarrung zu lösen, ohne
gleichzeitig den Pluralismus der politischen Landschaft zu zerstören.
Eine Wahlrechtsreform im Sinne eines minderheitenfreundlichen Mehrheitswahlrechts würde in
jedem Falle eine Verfassungsänderung bedingen, da die Österreichische Bundesverfassung in den
Art. 23a, 26, 95 und 117 für die Wahlen zum Europäischen Parlament, zum Nationalrat sowie zu den
Landtagen und Gemeinderäten den Grundsatz der Verhältniswahl vorschreibt. Ob das demokratische
Prinzip als ein Grundprinzip der Verfassung berührt wird und daher eine obligatorische
Volksabstimmung notwendig wäre, ist umstritten.
Die Diskussion über ein minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht erfuhr seit dem Sommer 2007
seinen bisherigen Höhepunkt. Für ein solches Modell sprachen sich neben einer Reihe von
Journalisten etwa auch Franz Vranitzky, Erhard Busek, Gerd Bacher, Norbert Leser, der bekannte
österreichische Politikwissenschaftler Wolfgang Mantl und zuletzt auch Vertreter der ÖVPPerspektivengruppe aus.
Literatur
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Klaus Poier: Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht. Rechts- und
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Minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht – Wikipedia
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politikwissenschaftliche Überlegungen zu Fragen des Wahlrechts und der Wahlsystematik.
Böhlau Verlag, Wien 2001, ISBN 3205993381.
Alfred Payrleitner (Hrsg.): Aufbruch aus der Erstarrung. Neue Wege in die österreichische
Politik. Molden Verlag, Wien 1999, ISBN 3854850239
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Kategorien: Wahlrecht | Wahl in Österreich
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Diese Seite wurde zuletzt am 17. Juli 2008 um 14:21 Uhr geändert.
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