Musizieren im Unterricht ein historischer Abriss

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Schulpraktische Seminare Musik
Musizieren im Unterricht — ein historischer Abriss
Musizieren ist ein relativ neuer Inhalt in der Geschichte des Schulfaches Musik. Noch
weit bis in das 20. Jahrhundert hinein zeigte schon die Unterrichtsbezeichnung "Singen"
oder "Gesang", dass das Lied den wesentlichen Inhalt des Musikunterrichts darstellte.
Dies änderte sich erst in den Zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts. Zwei
unterschiedliche Stränge führten zu einer stärkeren Berücksichtigung des Musizierens
im Unterricht:
Seit ca. 1910, verstärkt aber nach dem 1. Weltkrieg rückte die Jugendmusikbewegung
das instrumentale Musizieren ins Bewusstsein. Zwar dominierte in ihrem musikalischen
Weltbild immer noch die Vokalmusik, insbesondere die mehrstimmige Musik der
Renaissance und des Frühbarock sowie der Kanon, aber in einer "Wiederbelebung" der
vermeintlich volkstümlichen Musizierpraxis früherer Jahrhunderte kamen insbesondere
die Blockflöte, die Gitarre, die Fiedel und der Schellenring/das Tambourin zu neuen
Ehren.
In den Zwanziger Jahren entsteht als eine der Strömungen der Reformpädagogik die
Arbeitsschulbewegung, die eine radikale Abkehr von den bloß reproduktiven hin zu
induktiven und selbsttätigen Verfahren im Schulunterricht propagiert.
Instrumente im Unterricht erscheinen nun zunächst vermehrt als Einbeziehung der von
den Kindern und Jugendlichen außerhalb der Schule erworbenen instrumentalen
Fähigkeiten, es beginnen aber auch schon Versuche, mit einer ganzen Klasse zu
musizieren (Blockflötenunterricht, teilweise auch Experimente mit Violine im
Klassenverband). Schwierig gestaltete sich hierbei die geringe Wochenstundenzahl des
Faches Musik, die eine gründliche Unterweisung in instrumentalen Fähigkeiten nicht
zuließ, sowie die außerordentlich großen Klassenfrequenzen.
Als Reaktion auf diesen unbefriedigenden Zustand entwickelt Carl Orff in den Zwanziger
Jahren sein Schulwerk. Voraussetzung hierfür war die Konstruktion neuer, so genannter
elementarer Musikinstrumente (Stabspiele), die es zusammen mit einer Vielzahl
anderer Schlaginstrumente fast jedermann/frau schnell ermöglichten, beim
Gruppenmusizieren mitzuwirken. Zum Durchbruch in der Schule kam diese Konzeption
aber erst nach dem 2. Weltkrieg in der veränderten und zusammen mit Gunhild
Keetmann herausgegebenen Fassung "Musik für Kinder".
Schwer zu überschätzen ist der Einfluss, den Theodor W. Adorno durch seine 1955 in
Darmstadt geäußerten "Thesen gegen die musikpädagogische Musik" (1956 neu gefasst
in der "Kritik des Musikanten") ausgeübt hat. Zunächst von den Vertretern der
Schulmusikzunft brüsk zurückgewiesen, stellte das von ihm ausgesprochene Verdikt
("Dass einer fiedelt, soll wichtiger sein, als was er geigt!") die Musizierpraxis im
Unterricht nachhaltig in Frage.
Der Schwerpunkt der Inhalte des Musikunterrichts verlagerte sich in der Folge sehr
stark auf das Hören und auf die Hörerziehung. Die Didaktiken von Michael Alt (Das
musikalische Kunstwerk) und Dankmar Venus (Unterweisung im Musikhören) bilden
wichtige Kristallisationspunkte dieser Entwicklung.
Im Überblick erleben wir also - sehr grob zusammengefasst - diese Abfolge der
Schwerpunkte des Musikunterrichts:
●
Singen im Mittelpunkt des Unterrichts
●
Singen und Musizieren im Mittelpunkt des Unterrichts
●
Hören und Betrachten/Verstehen im Mittelpunkt des Unterrichts
Wiederum zwei unterschiedliche Stränge führen zu einer Relativierung dieser
Neudefinition des Musikunterrichts:
Schon ab 1965, die Didaktiken von Alt und Venus werden gerade von einer breiteren
Öffentlichkeit rezipiert und verändern auch nachhaltig die Ausbildung der Musiklehrer/
innen, wird die Notwendigkeit des Musizierens wieder stärker betont, nun aber nicht
mehr "jugendmusikbewegt" als Selbstzweck, sondern als Mittel zur besseren
Hörerziehung. Mit pädagogischen Fachbegriffen ausgedrückt: Musizieren wird vom Ziel
zur Methode zur Erreichung anderer Ziele. Die Didaktiker Hermann Rauhe und Heinz
Antholz (Unterricht in Musik) formulieren diesen Umschwung.
Die neue musikdidaktische Konzeption der "Auditiven Wahrnehmungserziehung", die
das musikpädagogische Korrelat zu einem durch die musikalische Avantgarde radikal
veränderten Musik- und Werkbegriff bilden sollte, stand zwar noch ganz unter dem
Primat des Hörens (die Bezeichnung "Auditive Wahrnehmungserziehung" ist
Programm), brachte aber auch neue Musizierpraktiken wie Gruppenimprovisation, Spiel
nach graphischen Partituren, "Kommunikation in Tönen" in den Unterricht ein.
1975 erscheint das Buch "Hören und Verstehen", mit dem Hermann Rauhe, Hans-Peter
Reinecke und Wilfried Ribke dem Musikunterricht die seitdem vielbeschworene "Einheit
von Herz, Kopf und Hand" (wieder?) zurückgeben wollen. "Nicht ‚Werkbetrachtung‘,
sondern ‚Werknachvollzug‘, nicht ‚Werkanalyse‘, sondern ‚Werkerfahrung‘, so könnte
verkürzt die Devise handlungsorientierten Musikunterrichts lauten", schreiben sie.
Insbesondere durch den "Leidensdruck" der an Haupt- und Gesamtschulen
unterrichtenden Musiklehrer/innen, die in ihrem Unterricht die Erfahrung machen
mussten, "wenn überhaupt noch etwas geht, dann das Musizieren", entstand mit der
Zeit eine grundlegende Irritation über das Selbstverständnis des Faches und den
Stellenwert des Musizierens im Unterricht. "Lernen an Musik" (nicht "Lernen für Musik"
oder "Lernen durch Musik/Musizieren"), so der Didaktiker Helmut Segler, ist das
Stichwort dieser noch längst nicht abgeschlossenen Neuorientierung.
Im Zusammenhang damit steht auch eine Neubewertung der Popularmusik,
insbesondere der anglo-amerikanischen, im Lauf der 80er Jahre im Unterricht. Eigene,
ganz auf das Musizieren im Unterricht ausgerichtete Zeitschriften erscheinen
("Spielwerkstatt", "Die grünen Hefte"). Kein neueres Schulbuch, keine Ausgabe auch
der traditionellen musikpädagogischen Zeitschriften verzichtet auf Anregungen und
Materialien zum Musizieren im Unterricht. Von einem Konsens hinsichtlich der
Bewertung solcher Entwicklungen ist die Musikdidaktik noch weit entfernt. Dies kommt
in den folgenden beiden Standpunkten überspitzt zum Ausdruck:
"Wir sind wieder beim ‚musischen Musikunterricht‘ angelangt, den wir doch mühsam
(und nicht ohne Gründe) hinter uns gelassen haben. Überall wird im Unterricht Musik
gemacht, oder, schlimmer, überall wird im Unterricht nur noch Musik gemacht.
Musikunterricht ist zum Stadium der Bewusstlosigkeit zurückgekehrt."
"Eine Musikstunde ohne Musizieren kann keine gute Musikstunde sein. Ohne das
praktische Musizieren in jeder Stunde können die Schüler nichts hören, nichts
verstehen und nichts beurteilen."
Die Kontroverse entspinnt sich um den Begriff der Handlungsorientierung, der
inzwischen droht, zu einem entleerten Schlagwort zu werden. Um hier
weiterzukommen, ist eine Auseinandersetzung mit den lerntheoretischen Implikationen
des handlungsorientierten Unterrichts notwendig.
(Stand 09/2001; inhaltliche Verantwortung: Uwe Kany)
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