Leseprobe - Ferdinand Schöningh

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Konrad Canis
Die bedrängte Großmacht
Konrad Canis
Die bedrängte Großmacht
Österreich-Ungarn und das europäische
Mächtesystem 1866/67–1914
FERDINAND SCHÖNINGH
Umschlagbild:
Der Schwarzenbergplatz in Wien (1905). Fotografie von Emil Mayer (1871-1938)
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Umschlaggestaltung: Nora Krull, Bielefeld
Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 978-3-506-78564-0
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Einleitung
Die Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Kapitel I
Am Rande der deutschen Reichsgründung (1866/67-1871) . . . . . . . . . . . . .
31
Kapitel II
Fragiles Dreikaiserverhältnis (1871-1875) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Kapitel III
Orientkrise (1875-1878) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
Kapitel IV
Zweibund mit Deutschland (1878-1880) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Kapitel V
Brüchige Bündnisse (1880-1885) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Kapitel VI
Die internationale Krise (1885-1888) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Kapitel VII
Entspannung (1888-1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Kapitel VIII
Kálnokys größerer Spielraum (1890-1894/95) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Kapitel IX
Kompromiß mit Rußland statt mit England (1895-1897) . . . . . . . . . . . . . . 249
Kapitel X
Badenikrise, Bündnisstörungen und Balkanentente (1897-1901) . . . . . . . . 277
Kapitel XI
Halbheiten: Dreibundverlängerung, Mürzstegentente und
Neutralitätsvertrag mit Rußland (1902-1906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Kapitel XII
Aehrenthals Offensive. Die Bosnische Annexionskrise (1906-1909) . . . . . 335
6
Inhalt
Kapitel XIII
Prekärer Status quo (1909-1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Kapitel XIV
Geschwächt ins Abseits. Die Balkankriege (1912-1913) . . . . . . . . . . . . . . . 393
Kapitel XV
Machtverfall bei Hochspannung (1913-1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
Ausblick und Rückblick
Die Julikrise und der Kriegsbeginn 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495
Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537
Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563
Vorwort
Österreichische Kollegen haben mir Mitte der achtziger Jahre vorgeschlagen, eine
Geschichte der Außenpolitik Österreich-Ungarns zu schreiben. Ich habe den
Gedanken damals nicht aufgegriffen, weil ich mir vorgenommen hatte, die Außenpolitik des deutschen Kaiserreiches zu untersuchen. Diese Arbeit hat mich
über 20 Jahre beschäftigt, und das Ergebnis ist in drei Bänden inzwischen erschienen. In dieser Darstellung nimmt die Außenpolitik Österreich-Ungarns, des
Bündnispartners des Deutschen Reiches, einen breiten Raum ein. Deshalb lag es
nahe, sich anschließend doch in einer eigenen Untersuchung der internationalen
Stellung der Habsburgermonarchie und ihrer Politik zuzuwenden. Ich sah mich
der interessanten Aufgabe gegenüber, die Politik derjenigen Großmacht, die ich
vordem als einen der Partner einer anderen zu sehen hatte, die im Zentrum der
Darstellung stand, nun in umgekehrter Folge zu betrachten. Dabei fiel als erstes
ins Auge, daß Österreich-Ungarn als zweitrangige Großmacht viel weniger als
ein initiierender Akteur als eine auf Vorstöße von Rivalen eingehende Instanz in
das internationale Geschehen eingriff, weniger agierte als reagierte, überhaupt
mehr auf Abwehr als auf Angriff eingestellt blieb. Das galt schon für den Einstieg
1866/67, wo ein gravierender Unterschied zur Vorgeschichte des deutschen Kaiserreiches besteht: Während die deutsche Reichsgründung sich als ein Prozeß der
offensiven Vorstöße abspielte, war die Begründung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn ein Vorgang der Defensive. Die Geschichte dieses Reiches begann
und endete mit verlorenen Kriegen, vor 150 Jahren mit dem österreichisch-preußischen und vor 100 Jahren mit dem Ersten Weltkrieg.
Österreich-Ungarns erheblich begrenzter außenpolitischer Bewegungsspielraum ergab sich aus seiner im besonderen Maße einzigartigen staatlichen Substanz
und seiner Stellung als Großmacht. Es war ein historisch gewachsenes, in vielem
überlebtes Vielvölkerreich in einer Zeit, als in Europa der bürgerliche Nationalstaat dominierte. Es bestand aus zwei im Innern eigenständigen, in Widersprüchen
untereinander verwickelten Staaten, denen unterschiedliche Völker und Nationalitäten angehörten, die mehr politische und nationale Geltung und Rechte einforderten, die ihnen die in den beiden Staaten jeweils dominierenden Völker, die
Magyaren und die Deutschösterreicher, weitgehend verweigerten. Die politischen
Systeme blieben folglich instabil, ebenso die außenpolitische Aktionskraft des
gemeinsamen Reiches, weil sich auf diesen Feldern vielfältige Widersprüche ergaben. Sie erzeugten für die Außenpolitik erhebliche Belastungen. Das galt besonders in bezug auf die aufsteigenden Balkanstaaten, von denen zwei, Serbien und
Rumänien, Mutterländer südslawischer und rumänischer Minderheiten in Österreich-Ungarn waren. Ähnlich gelagerte Gegensätze bestanden zu Italien angesichts einer italienischen Minderheit. Wegen dieser Besonderheit, aber auch weil
der Balkanraum für die geschwächte Großmacht überhaupt als einziges äußeres
Bewegungsfeld in Frage kam, blieb Österreich-Ungarn dort auf die Vormacht
fixiert, um die Balkanstaaten möglichst unter Kontrolle zu halten und den Einfluß
Rußlands, das ihm die Vormacht streitig machte, zurückzudrängen. Es suchte
deshalb die Verbindung mit Deutschland, schon dank der historischen Gemein-
8
Vorwort
samkeit, und mit England. Deutschland verlangte als Preis für den Zweibund die
Dominanz, England suchte nur den Festlandsdegen gegen Rußland. Nach einer
kurzzeitigen Periode instabilen Kompromisses mit Rußland geriet ÖsterreichUngarn am Ende in den Sog der kontinentalen und weltpolitischen Gegensätze
zwischen Deutschland und den Mächten der Tripleentente Großbritannien, Rußland und Frankreich, die die Habsburgermonarchie als die Achillesferse des Zweibundes militärstrategisch und politisch ins Visier nahmen, deren Gegensätze zu
den Balkanstaaten forcierten, wodurch die Existenzkrise des Reiches auf die Spitze getrieben wurde. Österreich-Ungarn unterlag folglich in einem besonderen
Maße inneren und äußeren Zwängen, es blieb eine zweitrangige, vielfältig bedrängte Großmacht.
Diese Umstände erforderten eine Darstellung, die der Analyse der Politik dieser Staaten, der Großmächte wie der Balkanstaaten, breiten Raum gibt und Österreich-Ungarns Außenpolitik umfassend in den Aktionsrahmen des europäischen
Mächtesystems einordnet, weil von dort neben ausschlaggebenden Zwangsläufigkeiten und Bedrohungen auch Sicherheitsgewähr und Chancen herrührten.
Gleichzeitig war es geboten, die innergesellschaftlichen – die nationalen, innenpolitischen, wirtschaftlichen, militärischen und ideologischen Hintergründe und
Triebkräfte in besonderem Maße einzubeziehen, weil sie eine so gravierende Rolle spielten.
Die Untersuchung ist politikgeschichtlich, analytisch erzählend angelegt, sie
stellt die Vorgänge und Ereignisse selbst in den Mittelpunkt. Grundlagen der
Untersuchung sind die wichtige Forschungsliteratur, im besonderen Maße aber
die Quellen, die gedruckten und vor allem die ungedruckten – dienstliche und
private. Wegen der besonderen Intensität der Beziehungen zwischen ÖsterreichUngarn und dem Deutschen Reich sind die ungedruckten Quellen, staatliche
Akten und Nachlaßpapiere, sowohl aus den Beständen der österreichischen als
auch aus denen der deutschen Archive in großem Umfang herangezogen. Besonders den Archivaren des Haus-, Hof- und Staatsarchivs sowie des Kriegsarchivs
in Wien und des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes in Berlin gilt deshalb
mein Dank. Sie betreuen mich seit nahezu fünf Jahrzehnten vorbildlich. Zu danken ist schließlich Dr. Helmut Hinze, der ebenfalls seit Jahrzehnten meine Manuskripte gelesen und mir auch diesmal wichtige Anregungen gegeben hat, Eike
Dusen, der das Manuskript sorgfältig lektorierte und das Personenregister erstellte, dem Verlag Ferdinand Schöningh für die Aufnahme des Buches in sein Programm sowie seinem leitenden Lektor Dr. Diethard Sawicki für die gute Kooperation und – nicht zuletzt – meinem Sohn Christian, der mir unverdrossen
technische Hilfe leistet.
Neuenhagen bei Berlin, im Januar 2016
Konrad Canis
Einleitung
Die Grundlagen
Der Anfang und das Ende der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, die nur ein
halbes Jahrhundert bestanden hat, sind mit verlorenen Kriegen verknüpft: dem
Krieg gegen Preußen 1866 und dem Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918. In dem
heiklen Anfang, mit einem halben Kompromiß die tradionellen Vormachten gegen
die unbefriedigten Minderheiten im Innern retten zu wollen und die bedrohte
Großmachtstellung nur noch mit kraftlosen, defensiven Mitteln wahren zu können, lag einer der Gründe dafür, daß das Reich von Anbeginn an instabil war und
es bis zu seinem Ende blieb. Fast ohne Unterbrechung wechselten innere und
äußere Belastungen und Krisen einander ab. Das Stigma der Gefährdung haftete
ihm permanent an.
Österreichs Niederlage von 1866 war weit mehr als ein verlorener Krieg. Es
schied aus dem sich konstituierenden deutschen Nationalstaatsverband aus. Preußens Sieg bei Königgrätz bedeutete eine wichtige Vorentscheidung für die kleindeutsche Lösung. Mehr noch: Mit der Niederlage sah sich Österreich wichtiger
historischer Grundlagen seiner inneren und äußeren Existenz auf einen Schlag
beraubt. Es verlor nicht allein seine Führungsrolle im Deutschen Bund, die ohnehin nur noch der Restbestand der einstigen Stellung war. Österreich und seine
Hauptstadt Wien stellten über Jahrhunderte das Zentrum des Heiligen Römischen
Reiches Deutscher Nation, eines Weltreiches, dar. Von ihm waren lange Zeit
wichtige Impulse des internationalen Geschehens ausgegangen. Die führenden
Staatsmänner Europas hatten auf Wien geblickt, wenn sie Vorstöße nach außen
planten oder auf solche Vorgänge zu reagieren trachteten.
Die Deutschen in Österreich büßten ihre bundespolitische Verbindung mit den
Deutschen im Norden und Westen und damit ein tragendes Element ihrer Dominanz im eigenen Staat ein. Denn dort allein bildeten sie niemals die Mehrheit.
Welche Alternativen gab es? Für ein deutsch geprägtes zentralistisches Großösterreich verminderten sich die Aussichten. Eine mit der Habsburgermonarchie
verknüpfte deutsch-nationale Perspektive, ebenso ein von jener dominiertes föderalistisches Großdeutschland waren abgetan. Konnte es wenigstens für ein föderalistisches Österreich eine Perspektive geben? Neben der starken deutschen
Minderheit lebten Ungarn, Tschechen, Polen, Ruthenen, Italiener sowie mehrere
Südslawenvölker und Slowaken. Die anderen größeren Völker der Monarchie, die
Ungarn, die Tschechen und Polen, bislang von den Deutschen dominiert, sahen
sich ermutigt und nutzten die Verlagerung der Kräfte, um Mitbestimmung in Staat
und Politik zu verlangen.1 Konnten sie sich, unter welchen Auspizien und trotz
des Aufkommens des Nationalismus in Europa mit den Deutschen zusammen auf
eine stabile föderative Struktur verständigen, ohne daß eine Nation den Ton angab? Dafür gab es kaum Aussichten. So zeichnete sich bereits 1866 das Dilemma
Österreichs ab. Allein halbe und instabile Kompromisse schienen möglich. Deshalb ist die Auffassung ziemlich verbreitet, daß dem danach neukonstruierten
System die Gefahr des Verfalls von Anfang an eigen war.
10
Einleitung
Die beiden Kontrahenten im Krieg und bislang um die Zukunft in Deutschland,
Preußen und Österreich, standen sich in ihrer historischen Qualität konträr gegenüber. Preußen befand sich entschieden im Vorteil: als Repräsentant des wirtschaftlichen und politischen Fortschritts, der nationalen Zukunft, Österreich
hingegen als die Verkörperung der Beharrung, des Stillstands, der Reaktion, des
multinationalen Staates, aber auch der historischen Rechte. Für zwei in ihrer Sicht
auf die Geschichte sehr verschiedenartig geprägte Historiker wie Ernst Rudolf
Huber und Ernst Engelberg kennzeichnete Preußen nicht allein der Erfolg, sondern das höhere, historisch den Fortschritt verkörpernde, revolutionäre und somit
gegenüber Österreich als legitim betrachtete Prinzip: Huber reklamiert das Recht
der Nation auf den Nationalstaat, Engelberg, der marxistischen Fortschrittslehre
verpflichtet, den unvermeidlichen, gesetzmäßigen Aufstieg der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft.2
Nicht nur auf den ersten Blick leuchtet manches ein. Preußen war ein deutscher
Staat, das Zentrum einer aufstrebenden kapitalistischen Industriegesellschaft in
einem nationalen Markt, die liberalbürgerliche Bewegung hatte dort einen ihrer
Schwerpunkte, die meisten norddeutschen Kleinstaaten hingen von dem starken
Nachbarn ab. Eine nationale Perspektive hatte sich unter den Liberalen um Preußen zu gruppieren begonnen, der Staat hatte sie schon 1849 in Dienst zu stellen
gesucht. Österreich dagegen befand sich industriewirtschaftlich ebenso noch in
den Anfängen wie in der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaft. Staatspolitisch befand es sich in einem widersprüchlichen Übergang zwischen Altem und
Neuem. Nationale Vielfalt dominierte. Franz Schnabel vertrat die Ansicht, daß
Bismarck mit dem Sieg über Österreich eine föderative mitteleuropäische Lösung
verbaut, vor allem aber mit diesem Krieg das Recht in der Geschichte mißachtet,
die Nation, die Macht über das Recht gestellt hat.3 Im Grunde gehen Huber und
Schnabel von zwei konträren Rechtsprinzipien aus: dem revolutionären Recht der
Nation und dem konservativen, traditionellen Recht des Staates, und jeweils stellen sie das eine über das andere. In Wirklichkeit stehen sich beide Prinzipien nicht
starr gegenüber. Für den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck war
das Recht der Nation primär ein Mittel, um dem Recht seines Staates einen Durchbruch zu verschaffen. Stellt man das Recht der Nation in den Vordergrund, erhält
der preußische Staat einen zusätzlichen legitimen, einen deutschen Machtanspruch, der es vor Österreich heraushob. Darauf kam es Bismarck an. Die Wortführer beider Mächte führten das von ihnen vertretene Rechtsprinzip als das
höhere ins Feld, um ihre unterschiedliche Sicht auf den Machtanspruch zu begründen.
Die Machtverluste Österreichs betrafen 1866 nicht allein das deutsche Problem.
Mit seiner widersprüchlichen Struktur befand es sich auf dem Nachtrab nicht
allein gegenüber der deutschen nationalen Bewegung, sondern auch gegenüber
der italienischen, und im Ansatz hatte es sich bereits mit einigen slawischen auseinanderzusetzen. So wie von Preußen ging von einem zweiten sich konstituierenden Nationalstaat, Italien, wachsende Anziehungskraft aus. Benachbarte
Großmächte, Frankreich in Italien und Rußland für die slawischen Völker, motivierten in zentrifugaler Richtung die nationalen Bewegungen in Österreich ebenfalls. Die führenden Großmächte, England, Rußland und Frankreich, standen bis
Die Grundlagen
11
1866 in doppelter Frontstellung gegen Österreich, nicht nur, weil sie, zwar unterschiedlich stark, mit den nationalen Emanzipationen sympathisierten, sondern
weil sie zudem den aus der Zeit des Staatskanzlers Clemens Fürst Metternich
stammenden Rest der einstigen universalen machtpolitischen Dominanz Österreichs in Europa hinwegzufegen entschlossen waren. Mit dem Krieg war die
Staatenordnung des Wiener Kongresses zerstört.4
Diese Ordnung der Großmächte hatte sich auf ein Gleichgewicht der großen
Mächte gerichtet, und Österreich war zwar nicht die stärkste Macht, aber diejenige, die von ihrer Verortung und von ihren Beziehungen zu den Rivalen dieses
Gleichgewicht bewahren und ausbalancieren sollte, weil es in seiner zentraleuropäischen Lage für die Funktion eines Mittlers zwischen den Rivalen geeignet war.
Es konnte sich in dieser Funktion, die gleichzeitig seinen Mangel an wirtschaftlichem, politischem, militärischem und finanziellem Potential überspielen sollte,
unter einer so überragenden Führungsfigur wie Metternich ersatzweise ideologisch
zum Wortführer übergreifender Kooperation aufwerfen, indem es die konservativen Prinzipien des Machterhalts, der Legitimität und des Status quo, aber auch des
Friedens gegen die sich in der Gesellschaft entfaltenden Kräfte der Bewegung,
Veränderung und des Umsturzes ins Feld führte. Dieses großösterreichische, nur
in abgeleiteter Form großdeutsche Prinzip schloß die Vormacht in Deutschland
und Italien ein, in Kontrastellung zu den sich emanzipierenden nationalen Bewegungen. Damit hatte sich Österreich selbst den Stempel der Reaktion und des
Stillstandes aufgedrückt, den es nun nicht mehr los wurde. Alle modernen Kräfte
mußten in ihm das Haupthindernis für ihre Entfaltung erblicken.
Diese Konstellation erwies sich schlagartig wirksam in der Revolution von
1848/50. Als die Frankfurter Nationalversammlung über die zukünftige Struktur
eines deutschen Nationalstaats debattierte, stand die staatliche Zukunft Österreichs im Mittelpunkt. Obgleich es unter den Demokraten und Liberalen keine
einheitliche Position gab, eine Aufnahme Österreichs in seiner derzeitigen Struktur konnten sich die meisten nicht vorstellen. Weitgehend einig war man sich allein, daß das deutsche Österreich einem deutschen Reich anzugehören habe. Ungewiß blieb, was mit den anderen Teilen geschehen sollte: So war die Rede von
einer eigenen nationalstaatlichen Perspektive der Ungarn, Polen und Italiener, bei
den Linken von einer großdeutsch-demokratischen Lösung und der Auflösung
der Habsburgermonarchie, bei Teilen der Liberalen von einem Großdeutschland,
dem die Fremdvölker angeschlossen werden sollten.5 Im Frühjahr 1849 verstand
sich eine knappe Mehrheit der Nationalversammlung auf einen Kompromiß, auf
die kleindeutsch-preußische Lösung, auf die sich die meisten Liberalen schon
unter Druck der Widersacher verständigten, und, nachdem sie scheiterte, notgedrungen am Ende auf die begrenzte Version der preußischen Regierung der Gegenrevolution: der Idee eines engeren Bundes ebenfalls ohne Österreich, das mit
diesem in einen lockeren weiteren Bund eintreten sollte. Sie alle blieben erfolglos,
auch wegen des scharfen Gegenwindes, den die Großmächte entfachten.6
Für Österreich in seinem Bestand und seiner Struktur stellten alle diese Alternativen Herausforderungen dar, am radikalsten die großdeutsch-demokratische.
Von Österreich ging deshalb für keine der Alternativen eine Initiative aus, sondern
allein Abwehr, was die Schwäche seines Zukunftspotentials unterstrich. Selbst für
12
Einleitung
ein großdeutsches Reich in multinationaler Vielfalt, in der Österreich den Ton
angeben konnte, hätte dieses kaum die nötige Kraft zu entfalten und die politischen und gesellschaftlichen Gegenkräfte auszuschalten vermocht. Österreich als
Staat war durch die Revolution historisch-gesellschaftlich höchst gefährdet, anders als jede andere Großmacht in Europa.
Erstaunlicherweise vermochte sich Österreich dennoch aus der revolutionären
Krise, so hart es sie getroffen hatte, wieder herauszuwinden. Es gelang seiner
Führung, die innere Revolution zu ersticken und die nationale in Ungarn, Italien
und Böhmen ebenfalls. Eine überragende Persönlichkeit an der Spitze, der Ministerpräsident Felix Fürst Schwarzenberg, ein Mann vom Format Metternichs,
überwand die Niederlagen mit einer kraftvollen Offensive der Exekutive und
setzte die historische Autorität des Staates gegen den modernen Anspruch der
Nationen. Den gegen die Revolution wie gegen die Frankfurter Nationalversammlung gerichteten kleindeutschen Vorstoß der preußischen Regierung beantwortete er mit einem großösterreichischen. Der Gesamtstaat sollte in den Deutschen Bund eintreten und ein 70-Millionen-Reich entstehen, in dem Österreich
die Dominanz zufiel. Wie ernst war es Schwarzenberg mit diesem Plan? Er mußte wissen, daß es diesem an ausreichendem inneren und äußeren Rückhalt fehlte,
bei den nichtdeutschen eigenen Völkern, auch unter einem beträchtlichen Teil
besonders der bürgerlichen Deutschen außerhalb Österreichs, denen ein Kleindeutschland realistischer oder sogar ein reformierter Bund reizvoller erschien, und
bei den Großmächten, denen ein mächtiger Staat in Mitteleuropa nicht genehm
war. Einzig unter den Deutschen in Österreich konnte durchweg mit Zustimmung
gerechnet werden, weil sie ihre nationale Zuordnung erhalten und eine gewisse
Bevorzugung erwarten könnten. Oder lag es dem Ministerpräsidenten überhaupt
nur daran, mit der eigenen Offensive den preußischen Vorstoß zu durchkreuzen,
ohne in Wirklichkeit ein positives Gegenprojekt zu verfolgen und strategisch
allein die Restauration des Deutschen Bundes im Sinne zu haben? Dieses negative Ziel erreichte er. Und nichts anderes hat er wohl auch anvisiert. Die unrealistische, nur taktisch motivierte Basis seines Plans ließ sich klar erkennen, als auch
die Absicht, Österreich in den Zollverein zu lancieren, mißlang. Ein Eintritt
hätte die Entwicklung des nationalen Marktes in Deutschland gestört und in
Österreich die Keime industrieller Wirtschaft der norddeutschen Konkurrenz
ausgeliefert und womöglich erstickt und war deshalb bereits im Land selbst nicht
auf Beifall gestoßen.
Nachdem Schwarzenberg überraschend gestorben war, kamen in den fünfziger
Jahren die strategische Sterilität der Habsburgermonarchie, ihre außenpolitische
Handlungsunfähigkeit angesichts der andrängenden modernen, immer mehr Widerhall findenden Perspektiven der liberalen und nationalen Bewegungen in Europa auf dramatische Weise zum Tragen. Als der Krimkrieg zwischen Rußland
und dem Osmanischen Reich ausgebrochen war und sich die Westmächte auf die
türkische Seite stellten, vollzog Wien, auf dessen Dankbarkeit Petersburg nach
seiner Waffenhilfe bei der Niederschlagung der ungarischen Revolution 1849
gerechnet hatte, einen abrupten Frontwechsel. Es näherte sich den Westmächten.
Es sorgte sich bei einer nationalen Bewegung der von der Türkei unterdrückten
und vom Zarenreich geförderten abhängigen Balkanvölker um seinen Einfluß auf
Die Grundlagen
13
der Halbinsel und beabsichtigte ferner, vielleicht in erster Linie, aus der lähmenden Passivität herauszutreten, in die es geraten war.7 Seine Schwäche verlieh seinem Rußland enttäuschenden Vorgehen eine besonders provokante Note. Es
beteiligte sich zwar nicht am Krieg, zwang jedoch Petersburg, die soeben besetzten Donaufürstentümer zu räumen und ließ dort eigene Truppen einrücken.
Am Ende verbuchte Österreich allein Einbußen: England und Frankreich honorierten die Kooperation nicht, Rußland war zum Feind geworden und verband
sich mit Preußen. In der politischen Öffentlichkeit in Deutschland verstärkte sich
durch den Krieg der Eindruck, mit dem Deutschen Bund politisch nicht handlungsfähig zu sein und zum Spielball der großen Mächte herabzusinken. Diese
Besorgnis nahm auf dramatische Weise zu, als Frankreichs Kaiser Napoleon III.
1859 gemeinsam mit der italienischen Nationalbewegung Krieg gegen Österreich
führte, um dessen oberitalienische Provinzen einem zukünftigen italienischen
Nationalstaat anzugliedern. Die deutsche Nationalbewegung solidarisierte sich
nicht mit der italienischen, im Gegenteil: Die äußere Sicherheit sah sie durch
Frankreich gestört, den über die Jahrhunderte als permanente Bedrohung empfundenen Gegner, womöglich sogar noch durch Rußland in einer Zweifrontenkriegskonstellation. Großdeutsche Vorstellungen lebten auf. Die Bewegung reichte von äußersten Linken bis zu Konservativen. Das österreichische Oberitalien
galt überraschend als Garant deutscher Sicherheit. Österreich erhielt plötzlich
eine Art nationale Mission, der es gar nicht gewachsen war. Sie blieb ein Traumgebilde. Preußen, der Rivale, verweigerte sich der unbedingten Hilfe. Österreich
schloß nach verlorenen Schlachten überstürzt Frieden, um Konzessionen an den
Rivalen zu umgehen.8
Dennoch blieb es ein erstaunlicher Vorgang. Viel scheint dafür zu sprechen, ihn
nicht allein in seiner politischen Aktualität, sondern auch ideologisch-kulturell
geprägt zu erfassen, denkt man etwa an die Sänger- und Turnfeste sowie die Schillerfeiern, und ihn in seiner Spezifik sowohl von den kurzfristigen des Krieges als
auch von den konstanten Antriebsmomenten her zu sehen: Die althergebrachte
Sorge vor der französischen Bedrohung war leicht zu beleben, der Blick zurück
in vergangene Größe, Tradition und Kultur des alten Reiches harmonierte mit ihr
und motivierte Visionen eines großen mitteleuropäischen Machtkomplexes, der
die Nachbarn in Schach hielt und im Innern möglichst freie Entfaltung der nationalen Kräfte gestattete. Wurde Österreich zum einen in seiner Reichstradition
verklärt, kam es durch den Augenblick geprägt im Zusammenhang mit den Sorgen
über den italienischen Krieg rasch zu Enttäuschungen über die österreichische
Politik. Denn mit den hehren Visionen hatte das praktische Vorgehen des Wiener
Staates wenig zu tun, das von politisch-militärischer Malaise, wirtschaftlicher
Schwäche, finanzieller Not und rigider Innenpolitik eines überlebten halbabsolutistischen Systems beherrscht war. Insofern konnte diese Stimmung der Enttäuschung sogar zu einer Gefahr für die politischen Systeme in Österreich, aber auch
in Preußen werden.
Durch die italienischen Ereignisse und ihre Wirkung auf Mitteleuropa erhielten
der Anspruch der deutschen Nation und damit des Wandels einen neuen Impuls
und geriet die Ideologie der Legitimität der bestehenden Verträge, die bisherige
Konstante der Politik der Staaten, angesichts der Handlungsschwäche Österreichs
14
Einleitung
weiter in den Hintergrund. Verschwommen, kulturell dominiert, verliefen die
großdeutschen, politisch-praktisch, allerdings noch keineswegs durchgängig, traten die preußisch-kleindeutschen Perspektiven nach vorn. Das liberale Bürgertum, auf Wirtschaft, politische Teilhabe und Bildung fixiert, hatte sich seit längerem angeschickt, diesen Weg fester zu markieren. Realpolitik war das bürgerliche
Schlagwort.
Österreichs Dilemma zeigte sich, als es 1863 einen Bundesreformvorschlag
einbrachte. Dem Bundestag sollten ein fünfköpfiges Direktorium der Einzelstaaten mit Österreich, Preußen und Bayern als festen Mitgliedern sowie eine Delegiertenversammlung aus Abgeordneten ihrer Parlamente zugeordnet werden. Die
letztere durfte nur alle drei Jahre tagen und Beschlüsse in der Bundesgesetzgebung
fassen, die der Genehmigung durch eine Fürstenversammlung bedurften. Die
Einzelstaaten reagierten freundlich. Sogar in der nationalen Bewegung gab es einige positive Signale. Manche Historiker gaben dem Plan eine weiterführende
Perspektive, sogar in einer föderativen Richtung. Viel spricht nicht dafür. Bestimmend ist der Standpunkt geblieben, den Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt zu sehen.9 Geradezu als kontraproduktiv für Wien mußte es sich allerdings
erweisen, als Österreich im selben Jahr, geleitet von kurzfristigen machttaktischen
Erwägungen, Preußen nicht den Vortritt zu lassen, im Krieg um Schleswig-Holstein gegen Dänemark seine Bundesgenossen in den deutschen Mittelstaaten vor
den Kopf stieß und mit Preußen gemeinsame Sache machte, sich in seinem
Schlepptau befand. Dieses Vorgehen kann als Beweis dienen, wie wenig ernst es
Österreich mit einer Bundesreform war. Alles sollte beim alten bleiben. Jede nur
einigermaßen realistische Alternative versprach Nachteile für Österreich, das war
es, was die Verantwortlichen in Wien spürten und was sie lähmte. Nicht um ein
größeres Deutschland, so Helmut Rumpler, sondern um ein anderes Deutschland
ginge es der Habsburgermonarchie. Doch es ging ihr gar nicht um eine Veränderung in Deutschland, sondern nur um Österreich in seiner starren Stellung. Wirtschaftlich gerieten der kleindeutsche und der österreichische Markt überdies immer weiter auseinander.
Dennoch: unreformierbar war der Bund nicht. So enthielten die Reformpläne
des sächsischen Ministerpräsidenten Friedrich Ferdinand von Beust mehr Aussichten als die österreichischen und waren zudem ernster gemeint. Beust riet,
neben Österreich und Preußen einen dritten, den mittelstaatlichen Komplex zu
stellen. Er griff damit die Vorbehalte auf, die es in der süd- und mitteldeutschen,
teils stark katholisch, teils freisinnig geprägten Bevölkerung in einer an die Reichstradition erinnernden lockeren großdeutschen, föderalen Richtung gegenüber
einer preußischen Vormacht gab. In Zeiten, in denen akute außenpolitische Bedrohungen nicht bestanden, war außerhalb Preußens die Vorstellung, einen Nationalstaat, ein festes zentrales Dach, als notwendig zu erachten, keineswegs
durchweg dominant. Beust suchte die Lösung offenbar in einem staatenbundlichen Kompromiß verknüpft mit bundesstaatlichen Akzenten, nach außen defensiv ausgerichtet.10 Der Plan blieb gleichwohl vage, von Preußen bekämpft und
auch von Österreich nicht unterstützt.
Im Frühjahr 1866 setzte der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck
das Signal für eine wirkliche, zeitgemäße Wende, als er mit einem preußischen
Die Grundlagen
15
Bundesreformantrag allgemeine Wahlen für ein deutsches Parlament in Aussicht
stellte. Er war ernst gemeint und traf Österreich ins Mark. Für den folgenden
Krieg verfügte Bismarck über eine stringente politische Strategie in der deutschen
Frage. Er überwand den politischen Stillstand der Reaktionsperiode in Preußen,
indem er im machtpolitischen Wettstreit mit den Liberalen ihr nationales Programm übernahm und es auf seine Weise begrenzt mit Mitteln umsetzte, über die
die Liberalen nicht verfügten, und sie überspielen konnte. Er war überzeugt:
Werde „den nationalen Bedürfnissen, welche auch von dem achtbaren Teile der
Nation gefühlt werden, Befriedigung verschafft, so werden der Revolution die
Vorwände genommen, aus welchen sie ihre Kraft zieht“. Er griff das Konzept auf,
das die preußische Regierung bereits 1849, geschwächt mit defensiver Attitüde,
ins Feld geführt hatte.
Wie zu erwarten konnte sich Österreich bei aller Entrüstung zu einer konstruktiven Reaktion nicht durchringen.11 Nur auf den Krieg verstand es zu setzen, den
Bismarck ebenfalls unvermeidlich fand. Österreich ging es allein darum, Preußens
Macht zu beschneiden und im übrigen den Status quo zu bewahren. Überraschend
endete der Krieg bereits nach wenigen Wochen und mit einem preußischen Sieg.
Der Deutsche Bund erlosch. Preußen erweiterte sein Territorium und rundete es
geostrategisch ab, beschränkte formell seine Vormacht auf Norddeutschland, gab
ihr jedoch eine bundesstaatliche Struktur mit konstitutionellen Ingredienzien. Die
süddeutschen Staaten blieben unabhängig, jedoch im Bündnis mit Preußen. Von
territorialen Einbußen fanden sie sich ebenso verschont wie Österreich. Die
Habsburgermonarchie hatte ihre Stellung in Deutschland und mit ihr das noch
verbliebene Hauptelement ihrer europäischen Großmachtstellung verloren.
Österreichs Niederlage im Wettstreit mit Preußen lag nicht nur in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangslagen und Konzepten in der deutschen
Politik begründet, sondern auch in den Unterschieden im politischen System. In
der Revolution 1848 hatten noch beide Mächte eine Niederlage erlitten. Sie vermochten sich schließlich von ihr zu erholen, jedoch in einer verschiedenartigen
Weise. Preußen reagierte überwiegend mit flexiblen politischen Mitteln. Seine
Regierung ließ eine Verfassung oktroyieren, die ein konservativ-konstitutionelles
System installierte, setzte Militär gegen Erhebungen in Preußen nur punktuell,
gegen Aufstände im Bundesgebiet 1849 im größeren Stil ein und suchte mit einer
deutschen Initiative eine Kooperation mit den rechten Liberalen. Österreichs
Verfassung blieb dagegen auf dem Papier. In blutigen Schlachten wurde die Revolution in Wien, Prag, Italien und Ungarn erstickt, dort mit russischen Truppen
als Nothelfern. In der Reaktionsperiode stellte die Armee gleichsam die letzte
Bastion für den Ernstfall dar, die täglich allgegenwärtigen Mittel bildeten die
Bürokratie und die Kirche. Verknüpft mit der 70-Millionen-Vision setzte Schwarzenberg in Österreich auf einen halbabsolutistischen Zentralismus. Bürokratie
sollte die nationalen und liberalen Bewegungen ersticken. Zu einer schlichten
Restauration des Absolutismus in einer vormärzlichen Ausprägung kam es jedoch
auch in Österreich nicht. Von einer „Modernisierungsdiktatur“ ist inzwischen die
Rede.12 Es gab Übereinstimmungen mit dem Reformkonservatismus in Preußen,
der jedoch in der Reaktionsperiode zum Stocken kam. Wirtschaftlich und politisch sind die Reformen in beiden Staaten fixiert auf die bürgerlich-kapitalistischen
16
Einleitung
und agrarischen Spitzen als eine Art Herrschaftselite. Abgelöst wurde die bäuerliche Untertänigkeit.
In der Praxis entwickelten sich beide Systeme jedoch weiter auseinander.
Schwarzenbergs Tod eröffnete in Österreich Kaiser Franz Joseph für eine extrem
konservative Richtung freiere Bahn. Liberale Freiheits- und Bürgerrechte wurden
zurückgenommen. Eine zentralistische Verwaltungsreform ließ zwar eine funktionierende Verwaltung entstehen, die aber ihre Effektivität weiterhin im rigorosen Vorgehen gegen Andersdenkende nachwies. Finanzielle Malaise herrschte. Die
Armee blieb schwach. Alles in allem konnte dieses Österreich weiter wenig Anziehungskraft auf die liberale, demokratische und nationale Bewegung im Westen
und Norden des ehemaligen Bundesgebiets entwickeln.13
In der wirtschaftlichen Entwicklung kam Österreich allerdings voran,14 wenngleich längst nicht in dem Umfang und in der Dimension vergleichbar mit Preußen. Erst einmal waren die Ausgangsverhältnisse schlechter, weil das ursprünglich
hochstehende Manufakturwesen seinen Vorsprung in der Metternich-Ära dank
feudaler Hemmnisse eingebüßt hatte, für eine Industrie die Lagerstätten von
Kohle und Eisenerz weit auseinanderlagen, der Eisenbahnbau, das Transportwesen erst in den Anfängen steckten und Kapital und Unternehmerinitiative fehlten.
Die zögernd entstehende Industrie sah sich auf Schutzzölle angewiesen, so daß
sich ein gemeinsamer Wirtschaftsraum nicht nur nicht mit Preußen, sondern auch
nicht mit den deutschen Mittelstaaten entfalten konnte. Unter Schwarzenberg
waren einige notwendige Wirtschaftsreformen erfolgt. Ein einheitliches Wirtschaftsgebiet der Monarchie begann verknüpft mit dem Zentralismus durch die
Beseitigung der Binnenzölle und den forcierten Eisenbahnbau ansatzweise zu
entstehen. Ausländische Banken legten Kapital an. 1855 setzte ein kurze Phase
der Hochkonjunktur ein, schon zwei Jahre später kam es zu einer Depression, die
bald darauf zusammenfiel mit der politischen und finanziellen Krise, die der Niederlage im Krieg gegen Frankreich folgte.
Der Neoabsolutismus hatte ausgedient, nachdem sich das Bürgertum und maßgebliche Teile des Adels von ihm abgewandt hatten. Franz Joseph suchte das Heil
in der Geschichte, um der unerfreulichen Gegenwart Herr zu werden. Inspiriert
von ungarischen Aristokraten und einer Adelsfraktion aus den böhmischen Ländern setzte er gegen den abgewirtschafteten Zentralismus wie gegen einen Föderalismus der Nationalitäten und, um der Alternative eines modernen Konstitutionalismus auszuweichen, auf die „historisch-politischen Individualitäten“, einen
konservativen Föderalismus der historischen Länder der Monarchie. Sie wurden
mit Landtagen ausgestattet, die Abgeordnete für den Reichsrat bestimmten. Beide Gremien wirkten bei der Gesetzgebung mit, aber nur in beratender Funktion.
Zufriedengestellt fand sich niemand: Die Deutschen bemängelten das fehlende
Budgetrecht, die slawischen Völker sahen ihre nationale Qualität negiert, und die
Ungarn sahen sich mißachtet, weil sie gleichgestellt wurden mit den vielen, teils
kleinen Ländern.15
Auf die eine halbe Lösung folgte mit dem Februarpatent 1861 hektisch die nächste, ein neuer Anlauf des Zentralismus josephinischer Tradition mit einem modernen
Zug, wie immer getragen von einer bürokratischen Elite, die zuletzt den Neoabsolutismus gestützt hatte, diesmal allerdings auch von den deutsch-österreichischen
Die Grundlagen
17
Liberalen. Anton von Schmerling schuf eine gemäßigt konstitutionelle Verfassung.
Der bestehende Reichsrat wurde ergänzt durch einen engeren Reichsrat ohne Ungarn und erhielt das Budgetrecht. Das Wahlrecht beruhte auf einem hohen Zensus,
der es auf einen kleinen exklusiven Kreis von Besitzenden beschränkte. Düpiert
sahen sich wiederum zuerst die Ungarn, die sich mit dem neuen Repräsentativorgan
einer weiteren zentralen Instanz ausgesetzt fanden. Sie blieben dem weiteren Reichsrat fern, ebenso wie nach und nach die Tschechen und andere föderalistisch fixierte
nationale Gruppen den engeren Reichsrat boykottierten.
Wiederum antwortete der Kaiser mit einer partiellen Wende: Er sistierte 1865 den
Reichsrat, ersetzte den Liberalen Anton von Schmerling durch den mährischen
Aristokraten Richard Graf Belcredi und versuchte es mit einer neuen konservativföderalistischen Initiative. Vor allem sollten diesmal möglichst die Ungarn zufriedengestellt werden, erstmals seit 1848. Es war nicht zuletzt die ungelöste finanzpolitische Notlage, die immer neue Versuche der inneren Konsolidierung erzwang.
Wirkliche Stabilität konnte niemals gewonnen werden. Es gab keine wirtschaftliche,
soziale und völkische Homogenität, so daß weder die national und historisch stark
zergliederte Aristokratie noch der nur in einzelnen Ländern maßgebliche bürgerliche Liberalismus für die gesamte Monarchie tonangebend werden konnten. Immer
nur in Teilen des Reiches dominierten bestimmte Fraktionen. Eine einzige Kompromißalternative begann sich aus all den gescheiterten Versuchen schließlich deutlicher abzuzeichnen: eine Einigung, die auf die beiden noch kompaktesten gesellschaftlichen Kräfte setzte, auf das liberale deutsch-österreichische Bürgertum und
auf die magyarische Aristokratie.
Anders als Österreich war Preußen eine historisch-strukturell kompakte, politisch relativ stabile, national weitgehend homogene, sich wirtschaftlich rasant
entwickelnde konstitutionelle Monarchie. Freilich gab es ungelöste Probleme. Die
bürgerliche Gesellschaft befand sich im Aufwind, die Liberalen verlangten mehr
machtpolitisches Mitspracherecht. Der Heeres- und Verfassungskonflikt drückte
diesen Anspruch aus. Dennoch blieb das System funktionsfähig und nicht gezwungen, ständig politisch das Ruder herumzureißen. Da in Österreich die nationalen und politischen Gegensätze das System anhaltend lähmten, blickten die
Liberalen in Deutschland nicht auf Österreich, sondern trotz erheblicher innenpolitischer Vorbehalte auf Preußen, wenn es um innere und äußere Sicherheit und
um wirtschaftliches Wachstum in einem Nationalstaat ging.
Damit ist das unterschiedliche Umfeld umrissen, in dem sich der preußischösterreichische Dualismus endgültig entschieden hatte. Man ginge fehl, würde
man in erster Linie das politische Genie Otto von Bismarcks für die Entscheidung
für Preußen verantwortlich machen. Es waren vor allem die unterschiedlichen
Bedingungen. Auf Preußen gründete der kapitalistische Aufschwung, dem Bismarck mit den freihändlerischen Handelsverträgen entsprach, ebenso setzte darauf nationalpolitisch der überwiegende Teil des deutschen Liberalismus. Preußens
Staatsstruktur, seine nationale, seine politisch-konstitutionelle ebenso wie seine
geostrategische Lage in Norddeutschland erlaubten eine kleindeutsche Lösung
nicht nur, Preußen konnte mit ihr nur gewinnen, wenn es sein zerrissenes Territorium zusammenband und die Vormacht in Deutschland errichtete. Dagegen
vermochte Österreich seine überlieferte Machtstellung in Mitteleuropa nur als
18
Einleitung
eine konservative Macht, sich berufend auf die Unantastbarkeit der Verträge, zu
behaupten. Um die Macht ging es Preußen und Bismarck ebenso. Auch er blieb,
wie Lothar Gall begründet, „geleitet allein von dem Ziel der Selbstbehauptung
der Macht der eigenen Person und des eigenen Staates“.16 Nur verfügte er, anders
als die Verantwortlichen in Wien, über ganz andere, vor allem moderne nationale
und sogar revolutionäre Mittel und Möglichkeiten, zum Zuge zu kommen und
darüber hinaus über die Fähigkeit, sie zu erkennen, zu definieren, auszugestalten
und erfolgreich einzusetzen.
Aus dem Deutschen Bund auszuscheiden bedeutete für die Deutschen in Österreich einen tiefen Schlag. Sie sahen sich auf einmal als eine Minderheit auf sich
selbst gestellt und hatten ihre Sicherheit, die ihnen bislang die Verbindung mit den
übrigen Deutschen gegeben hatte, verloren. Die Slawen in der Monarchie mußten
sich ermutigt fühlen, zum Zuge kommen zu können und forderten auf dem Slawenkongreß 1866 eine föderalistische Umgestaltung des Reiches.17 Ohnehin geschwächt mußte dieser Anspruch die beunruhigten Deutschösterreicher veranlassen, jeder föderalistischen Alternative auszuweichen. Sie fürchteten, den Rest
ihrer Sonderstellung einzubüßen.
Geschwächt war Österreich noch in einer zweiten Hinsicht. Seine Stellung als
eine der Großmächte in Europa war gefährdet. Eine mit den im Ostteil der Monarchie dominierenden Magyaren geteilte Herrschaft konnte dem Restreich noch
am ehesten die Großmachtstellung sichern. Sowohl einen solchen Dualismus
herzustellen und zu gewährleisten als auch nach außen Macht zu behaupten schien
den Deutschösterreichern allein mit einer festen Dominanz im Westteil des Reiches gesichert. Eine Föderation mit den Slawen hätte kaum die politische Schlagkraft für jene Stellung aufgebracht, zumal sich die außenpolitischen Interessen
und Vorstellungen der Deutschen und der Slawen kreuzten.
Alle diese Aspekte verwiesen die Deutschösterreicher in der Habsburgermonarchie auf Ungarn. Diesem kam dieses Interesse höchst gelegen. Die Magyaren
waren in erster Linie daran interessiert, in ihrem Territorium nach der 1849 erfolgten Sistierung der Verfassung ihre traditionelle Herrschaft ungeschmälert
wiederherzustellen. Auch für die Magyaren kam in dem von ihnen dominierten
Land eine Föderation mit den slawischen und rumänischen Minderheiten nicht
in Frage. Eine Großmachtstellung zu behaupten, waren sie allein genauso wenig
in der Lage wie Österreich. Auch sie sahen diese aber als lebenswichtig an. Vereinzelt mußten sie sich eingekeilt zwischen dem sich konstituierenden PreußenDeutschland, dem Zarenreich und Restösterreich ausgeliefert vorkommen. Ihre
aristokratischen Eliten ließen sich deshalb davon leiten, geostrategisch nicht für
sich allein bestehen zu können, sondern des Bündnisses mit einem anderen Staat
zu bedürfen. Dieser Staat konnte nur Österreich sein. Von ihm hatte Ungarn nicht
zu fürchten, dominiert zu werden. Und für die Deutschen in Österreich konnte
die ungarische Hegemonie gegen die nationalen Minderheiten ein zusätzliches
innerstaatliches Stabilisierungselement bilden.
Wie sollte diese Bindung beschaffen sein? Beide Staaten setzten zuerst auf die
historisch gewachsene Monarchie. Es gab in Ungarn Stimmen für die Personalunion, doch bevorzugte letztlich auch Österreich eine Verbindung zwischen zwei
völlig selbständigen Staatskörpern, die ihre innere Unabhängigkeit bewahrten,
Die Grundlagen
19
aber eine Einheit nach außen bildeten. Jószef Eötvös, einer der ungarischen Wortführer des Ausgleichs, ließ sich überdies bereits 1866 von einer bedrohlichen
anderen Alternative motivieren: Nach einem absehbaren Anschluß Süddeutschlands an den Norden könnten sich auf Dauer die deutschen Provinzen Österreichs
allein dem Einheitssog nicht entziehen und die slawischen Landesteile desselben
würden dann zwar womöglich Ungarn zufallen, aber es noch gefährlicher zwischen Rußland und Deutschland pressen. Auch diese Perspektive verwies die
Magyaren auf die Verbindung mit Österreich.18
Bereits vor dem Krieg 1866, nach all den gescheiterten zentralistischen und
föderalistischen Versuchen, war eine dualistische Richtung erstmals erwogen worden, als Kaiser Franz Joseph mit der ausgleichsfreundlichen magyarischen aristokratisch-liberalen Adelsfraktion Franz von Deáks Sondierungen aufnahm, um die
Monarchie auf das absehbare Ringen mit Preußen um die Vormacht in Deutschland vorzubereiten. 1865 setzte der Kaiser die ungarische Verfassung von 1848
wieder in Kraft. Nach dem Krieg nahmen beide Seiten, gestützt auf die DeákFraktion und die deutsch-österreichischen Liberalen, die Verhandlungen für den
Ausgleich in Richtung auf ein Bündnis zwischen beiden Staaten auf, auf österreichischer Seite geleitet von Friedrich Ferdinand Graf Beust, den der Kaiser als
Ministerpräsidenten und Außenminister eingesetzt hatte. Diese Personalentscheidung ließ darauf rechnen, daß die Großmachtstellung behauptet werden, folglich
die Außenpolitik eine zentrale Rolle spielen sollte. Das Reich im Innern zu stabilisieren, eine starke Staatsmacht zu schaffen stellte sich nach der Niederlage erst
einmal als eine unabdingbare Voraussetzung für jede aktive Außenpolitik dar. Weil
sie unaufschiebbar waren, stellte Beust die inneren Entscheidungen über das Reich
zunächst in den Vordergrund.
Realitätsbezogen verstand er Großmachtpolitik als die Bedingung für das Gedeihen der Monarchie. Die Reichsstruktur neu zu konstituieren galt ihm als die
Voraussetzung. Lothar Gall sieht ihn als nüchternen Realisten und als reinen
Opportunisten,19 ein schnörkelloser Machtpolitiker war er zweifellos. Nach 1848
war es ihm darum gegangen, den Deutschen Bund zu erhalten, mit dem er als
sächsischer Ministerpräsident die Eigenständigkeit seines Staates am ehesten zu
behaupten erwartete. Er neigte zu Österreich, das ihm diese Strategie zu gewährleisten schien. Sein entschiedener Gegensatz zu Bismarck war vorbestimmt. Dies
hat Franz Joseph geleitet, als er ihn berief. Ihn einzusetzen ließ die Perspektive
der Revanche schon vermuten, die unter der aristokratisch-militärischen Hofpartei mit Kaiser Franz Joseph ihre Anhänger besaß. Auch Beust mag einen solchen
Wunsch insgeheim gehegt haben, aber er war Realist genug, um zu wissen, ein
solches Ziel in dieser Lage nicht ernsthaft ins Auge fassen zu können. Ihm lag
daran, die Entscheidungen von 1866 nicht ausufern, vorerst wenigstens die süddeutschen Staaten nicht preußischer Vormacht anheimfallen zu lassen. Ohne sichere Bundesgenossen war an ein Revisionsziel nicht zu denken.20 Beust ließ es
für das geschwächte Österreich sogar erst einmal geraten erscheinen, Preußen
Verständigung zu signalisieren. Frieden zu Versöhnung zu suchen, bot er an. Zeit
zu gewinnen stand obenan.
Beust zu berufen bewies den Willen des Kaisers, statt der föderalistischen endgültig auf die dualistische Richtung zu setzen. Sie setzte wie in Ungarn ohnehin
20
Einleitung
auch in Österreich auf Zentralismus. Wenn er die Verhandlungen für den Ausgleich zu beschleunigen suchte, geschah das zu dem Zwecke, nach der inneren
Stabilisierung rasch die außenpolitische Handlungsfähigkeit wiederherzustellen.
Die Motivation für den Ausgleich stellte sich bei Beust und den vorherrschenden
Stimmen der Deutschösterreicher und Ungarn indes entgegengesetzt dar: Während der Kaiser wie Beust eine Revanche langfristig nicht ganz ausschlossen, visierten die Deutschliberalen und Magyaren sie gerade nicht an, sondern suchten
ihre Stellung der neuen Lage anzupassen und sie wieder zu festigen. Ein Richtungsstreit kündigte sich an, der die außenpolitische Aktionskraft lähmen konnte.
Formell war der 1867 abgeschlossene Ausgleich ein Vertrag zwischen der ungarischen Regierung und Kaiser Franz Joseph als König von Ungarn.21 Er stellte
die Verbindung zweier souveräner Staaten innerhalb derselben Monarchie dar. In
den inneren Angelegenheiten besaßen beide die volle Souveränität mit eigenen
Verfassungen, Regierungen und Repräsentativorganen, über denen der Kaiser und
der König als konstitutioneller Monarch thronte. Als gemeinsame Reichsangelegenheiten galten der Hofstaat, die äußere Politik, die Reichsverteidigung mit dem
gemeinsamen Militär als dem Instrument sowie die Finanzen, die für diese Bereiche aufzubringen waren. Daneben gab es die dualistischen Angelegenheiten: Handel, Währung, Zoll und Steuern, die zwar für beide Staaten als souverän zählten,
aber der Abstimmung bedurften. Zur Deckung der gemeinsamen Ausgaben wurde für zunächst zehn Jahre eine Quote von 70 Prozent für Österreich und 30 für
Ungarn festgelegt. Die Ausgaben für die gemeinsamen Bereiche wurden von zwei
Ausschüssen der beiden Parlamente, der beiden Häuser des ungarischen Reichstages und des engeren Reichsrates des österreichischen Teils, den Delegationen,
bewilligt, die faktisch an die Stelle des bisherigen weiteren Reichsrates traten.
Die gemeinsamen Angelegenheiten oblagen dem Monarchen, der sich dabei von
dem Gemeinsamen Ministerrat beraten ließ, einem Gremium, das aus den Gemeinsamen Ministern für Äußeres, Krieg und Finanzen und den Ministerpräsidenten beider Reichshälften bestand und bei dem der Außenminister den Vorsitz
führte, wenn ihn nicht der Monarch selber wahrnahm. Alle äußeren Fragen des
Reiches bis hin zu Krieg und Frieden lagen allein in der Zuständigkeit des Monarchen, waren also auf eine absolutistische Weise geregelt. Der Gemeinsame Außenminister leitete die Außenpolitik allein im Auftrag des Kaisers, agierte also
faktisch weitgehend in der Tagespolitik eigenständig und unabhängig. Er war den
Delegationen nicht verantwortlich. Franz Joseph regierte in der inneren Politik
als ein konstitutioneller, in der äußeren als ein absoluter Herrscher. Der Herrscher
war es zugleich, der die Spitze der beiden Reichshälften und damit deren Verbindung personifizierte, als Kaiser von Österreich und König von Ungarn. Der
Monarch blieb der Dreh- und Angelpunkt der reichspolitischen Struktur. Er war
die höchste Autorität und das historisch-ideologische Integrationsinstrument, das
die ganze Konstruktion am ehesten zusammenhielt. Zugleich präsentierten sich
mit dem Monarchen an der Spitze Armee und Marine als sichtbare Repräsentanz
des Reichsgedankens in der Doppelmonarchie. Die Armee stellte das feste Bindemittel und eine politische Garantie für das System nach außen und innen dar.
Sie war es, die das feste Band des Zusammmenhaltes der Völker der Monarchie
auch in der Öffentlichkeit bildete.
Die Grundlagen
21
Großmachtpolitik bedeutete Kaiser Franz Joseph die essentielle Gewähr für
den Bestand und die Autorität des Reiches wie für seine eigene. Schon deshalb
erblickte er in der Außenpolitik seine persönliche Domäne. Überragende großmachtpolitisch aktive Staatsmänner wie Metternich und Schwarzenberg hatten
ihn geprägt. Er selbst war in einer Phase höchster Gefährdung des Reiches 1848
an die Spitze gelangt. Nach Schwarzenbergs Tod glaubte er die Funktion der
Staatsmacht in eigener Regie wahren zu können. Mißerfolg nach Mißerfolg mußte er verbuchen, außen- wie innenpolitisch. Mit der Entscheidung für den Dualismus und seine Ausrichtung setzte er mit Beust wieder auf eine starke außenpolitisch versierte Figur an seiner Seite. Neben der Großmachtwahrung kam es dem
Kaiser darauf an, die Autorität der Staatsmacht nach innen durch Rechtssicherheit
zu gewährleisten, indem er Verläßlichkeit, Konstanz und Kontinuität verkörperte, als Kontrast zur innen- und außenpolitischen Instabilität. Er achtete strikt das
dualistische System wie die Verfassungen beider Staaten, hielt penibel seinen
Handlungsspielraum ein – pflicht- und verantwortungsbewußt, geradlinig, abgewogen, kühl, auf fast bürokratische Weise. Diese Jahrzehnte währende zuverlässige Beständigkeit gewann auf Dauer staatserhaltende Dimension. Außenpolitische Grundsatzentscheidungen ließ er sich nicht abnehmen, suchte aber immer
Übereinstimmung mit dem Außenminister, schon um das System nicht zu belasten. In permanenter Sorge um die Autorität der Macht, seit 1848 vorgeprägt,
durch ständige Gefährdungen erneuert, setzte er auf die aktive, flexible Defensive,
mit einem durchaus pessimistischen Grundton.
In der Praxis vermochte mit der Zeit der Gemeinsame Ministerrat ebenfalls
einen spezifischen Zusammenhalt der beiden Hälften zu erzeugen. Er hatte den
Vorschlag des Etats für die gemeinsamen Ausgaben zu erarbeiten und führte im
Zusammenhang mit der Beratung des Etats Grundsatzdebatten über die äußere
Politik, über Handelsverträge mit anderen Staaten und über militärische Grundsatzfragen. Da die Delegationen diesen Etat zu bewilligen hatten, kam es auch bei
ihnen zu Debatten über den außenpolitischen Kurs, den der Außenminister darzulegen hatte. Diese Konstellation ließ den Stellenwert des Ministerrates und vor
allem die Machtposition des Außenministers erheblich wachsen, weil ihre Kompetenzen faktisch immer mehr in eine quasikonstitutionelle Richtung führten. Die
Macht des Ministers übertrug sich zusehends auch auf Grundsatzfragen der
Reichspolitik. Der Drang zur Großmachtstellung hatte den Ausgleich schon getragen. Dessen Institutionen erfüllten und bestätigten nun die zentrale Position
der Außenpolitik und nach der des Kaisers die ihres leitenden Ministers.
Eine vollständige Übereinstimmung über das Resultat des Ausgleiches gab es
zwischen den Auguren in Budapest und Wien nicht. In Österreich herrschte die
Auffassung vor, es mit zwei souveränen Teilen eines Reiches, in Ungarn die Vorstellung, mit zwei getrennten Staaten zu tun zu haben. Ein einheitliches Volk gab
es nicht. Zwar setzten die Eliten beider Reichsteile auf Großmachtpolitik, dennoch konnte unter ihnen in der außenpolitischen Ausrichtung nur eine begrenzte Einheitlichkeit und Schlagkraft erreicht werden, weil es bei ihnen wie überhaupt
unter den Völkern des Reiches unterschiedliche Interessen gab.
Auf wirtschaftlichem Gebiet profitierten von dem Ausgleich beide Teile kurzfristig am meisten, weil sie sich vorteilhaft ergänzten. Bereitwillig und in einem
22
Einleitung
wachsenden Maße nahmen Ungarn österreichische Industriewaren und Österreicher ungarische Agrarprodukte auf. Ein einheitlicher Wirtschaftsraum entstand
jedoch nicht, weil die strukturellen Unterschiede erheblich blieben und die jeweiligen Prioritäten von den zuständigen Eliten eifersüchtig bewahrt wurden. Die
Pro-Kopf-Produktion beider Volkswirtschaften blieb unterschiedlich; die österreichische produzierte den doppelten Wert an Gütern. Eine neue Weltkonjunktur
förderte das Wachstum zusätzlich. Sie erhielt in Österreich und Ungarn einen
spezifischen Antrieb, weil sie dort mit zwei Rekordernten einherging, während
im übrigen Europa Mißernten zu verzeichnen waren. Diese gestatteten der österreichischen, vor allem der ungarischen Landwirtschaft, ihre Produkte in großen
Mengen zu hohen Preisen abzusetzen. Es kam zu Kapitalzuwachs und dadurch
zu einer erhöhten Investitionsbereitschaft, die sich vor allem für den Eisenbahnbau auszahlte und die Entwicklung der Schwerindustrie förderte. So stand in der
Monarchie die Gründerzeit in einem besonderen Maße im Zeichen des raschen
Wachstums. Die neue Struktur gewann wirtschaftlich rasch Autorität und damit
auch das System als Ganzes.22
Auf innenpolitischem Gebiet ergab sich in beiden Teilen ein unterschiedliches
Bild. Beide Staaten profitierten von dem Ausgleich in völlig unterschiedlichem
Maße. Da die Vormacht der Magyaren als der dominierenden Nation in Ungarn
uneingeschränkt gewährleistet war, bedeutete der Effekt des Ausgleiches eine von
außen abgesicherte neue Garantie der magyarisch-aristokratischen Oberherrschaft in einem zentralistischen System über die nationalen Minderheiten. Ungarn
war zwar formell eine parlamentarische Monarchie, aber keine demokratische,
sondern eine aristokratische. Der Adel beherrschte beide Häuser des Reichstages,
weil das Abgeordnetenhaus mit einem auf 800.000 Wahlberechtigte begrenzten
Wahlrecht gewählt und die Mitglieder des Herrenhauses vom König ernannt
wurden. Er dominierte folglich Legislative und Exekutive. Die magyarischen
Eliten aus dem großen Grundbesitz, den Magnaten, aus dem oberen Mittelstand
und nicht zuletzt aus der hohen Bürokratie hatten die Schlüsselpositionen des
wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens inne.
Durch die volle innere Unabhängigkeit des Staates und die Restauration des Verfassungssystems sicherten sie ihre Machtstellung und dehnten sie aus, sowohl in
der sozialen als auch in der nationalen Politik, gegenüber den Kroaten, Serben,
Slowaken und Rumänen. Zudem konnten es die Magyaren nutzen, daß die südslawischen, rumänischen und slowakischen Minderheiten sich zahlenmäßig einzeln weit in der Minderheit befanden, obwohl sie zusammengenommen quantitativ den Magyaren ebenbürtig waren. 1890 standen den 7,4 Mill. Magyaren 2 Mill.
Slowaken, 1,6 Mill. Kroaten, 1,1 Mill. Serben und 2,6 Mill. Rumänen gegenüber.
Außerdem lebten 2 Mill. Deutsche in Ungarn.
Diese Konstellation trieb die Magyaren an, die Vorherrschaft noch fester abzusichern. Dem Staat kam die neue Bewegungsfreiheit zugute, um eine rigorose
Magyarisierung auf rabiate Weise auf allen Gebieten durchzusetzen. Das neue
Reichsbürgerrecht kannte nur eine unteilbare politische Nation, die ungarische,
als das tragende Element des Staates. Von einem Dogma der kulturellen Überlegenheit ausgehend war die Schul- und Amtssprache ungarisch. Das kulturelle
Entwicklungsniveau in den serbischen, slowakischen und rumänischen Gebieten
Die Grundlagen
23
stand allerdings noch auf einem niedrigen Niveau, auch weil die Armut groß war.
Andererseits konnten der serbische und der rumänische Staat in der Nachbarschaft, noch mitten im Prozeß der Konstituierung, vorläufig ihren Minderheiten
in Ungarn wenig Anreiz aussenden, schon weil der Lebensstandard ihrer Bevölkerung noch niedriger war als der dieser Minderheiten. Vielmehr stieg dort der
Aufstiegsreiz für die Gebildeten und Wohlhabenden aus den Fremdnationen an,
so daß der Assimilationstrend zunahm. Allein mit den zivilisatorisch und kulturell
am weitesten entwickelten Kroaten kam verfassungsrechtlich ein Sonderstatus
zustande, der jedoch praktisch-politisch nur begrenzte Wirkung entfaltete.
Das politische System in Ungarn gewann durch den Ausgleich folglich durchgreifend rasch Stabilität. Die Liberale Partei, geführt von den Vorkämpfern der
Eigenständigkeits- und Freiheitsrechte in der Revolutionszeit und in den beiden
vergangenen Jahrzehnten wie Franz von Deák und Julius Graf Andrássy, deren
Autorität durch ihre tragende Rolle bei der Neugewinnung der staatlichen Souveränität im Innern und dem Ausgleich noch gewachsen war, stellte mit der unangefochtenen absoluten Mehrheit im Parlament permanent die Regierung, die im Grunde völlig unbedrängt agieren konnte. Die gesetzliche und praktische Ausgestaltung
und Absicherung des zentralistischen Systems, zumal gegen jeden föderalistischen
Ansatz, stand für die nächste Zeit im Vordergrund der Regierungspolitik. Die Einflußnahme auf die Außenpolitik des Reiches hielt sich vorerst in Grenzen, aber es
gab keinen Zweifel, in der Großmachtsicherung und der außenpolitischen Strategie
den eigenen Standpunkt ungeschminkt zur Geltung bringen zu wollen. Die Durchsetzungskraft war von vornherein dank des einheitlichen, kompakten Staatskörpers
hoch zu veranschlagen.23 In der latenten Konkurrenz beider Reichsteile besaß dadurch Ungarn machtpolitische Vorteile, die es rigoros nutzte.
Denn anders als Ungarn vermochte der österreichische Staat zu stabilen politischen Verhältnissen nicht zu finden, wie sich schon äußerlich in der formellen,
erst einmal hilflos anmutenden Bezeichnung „die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“, in der nur ein wenig populäreren bürokratischen Kennzeichnung „Cisleithanien“ und erst 1915 in dem vernünftigen Begriff „Österreich“ ausdrückte. Die Deutschen dominierten dort demographisch und politisch
nicht so deutlich wie die Magyaren in Ungarn. Auf sie entfielen 1880 8 Mill., auf
die Tschechen 5,2, die Polen 3,2, die Ruthenen 2,8, die Slowenen 1,1 und die Italiener 0,7 Mill. Einwohner. Die Deutschen hatten ihre bisherige Vorrangstellung
vor allem der Verbindung mit den Deutschen im übrigen Bundesgebiet zu verdanken, die verloren war. Geschlagen, abgetrennt und ausgeschlossen fühlten sie
sich und mußten sich in dieser als bedrohlich empfundenen Stellung in einem
faktisch neuen System politisch erst einmal zurechtfinden. Auch ihre territoriale
Struktur stand ihr im Bestreben, ein homogenes politisch-nationales Vorgehen zu
ermöglichen, entgegen. Sie war regional auf die deutschsprachigen Länder sowie
teils zersplittert auf Böhmen, Mähren und Schlesien konzentriert. Die slawischen
Völker, besonders die Tschechen und Polen, fühlten sich gegenüber den Deutschen, seit diese selbst eine Minderheit bildeten, um so mehr national ausgegrenzt
und gedachten sich nicht damit abzufinden.
Die bürgerlich-liberale deutsche Verfassungspartei, Repräsentanz des Wirtschaftsbürgertums, der hohen Bürokratie und der Bildungsschichten, war zwar
24
Einleitung
fest entschlossen, politisch in Cisleithanien eine deutsche Vorherrschaft zu behaupten und deshalb, vom Ausgleich gefördert, am Zentralismus festzuhalten.
Doch eine verfassungsmäßig garantierte kompakte Machtbasis im politischen
System besaß sie nicht. Überdies mangelte es ihr an ideologisch-politischer Geschlossenheit, sie zerfiel in großösterreichische, unionistische und autonomistische Richtungen. Teile von ihr widersprachen dem Zentralismus und votierten für
eine Föderation. Der ländliche und höfische deutsche Adel war konservativ, inzwischen in einem steigenden Maße großösterreichisch statt deutschnational,
auch landespatriotisch, teils föderalistisch und kompromißbereit gegenüber den
nichtdeutschen Standesgenossen. Den traditionellen Einfluß des Hochadels auf
Bauern und Kleinbürger motivierte neben der wirtschaftlichen und sozialen Dominanz der Katholizismus.24
Die liberale Verfassung vom Dezember 1867 ergänzte in Cisleithanien den
Ausgleich auf der innenpolitischen Ebene. Das zentralistische Februarpatent von
1861 mit den beiden Kammern, die den Reichsrat bildeten, wurde faktisch auf
Cisleithanien übertragen und erweitert. Zugeständnisse konnten die Deutschliberalen nicht zuletzt deshalb durchsetzen, weil der Kaiser auf ihre Stimmen für
den Ausgleich angewiesen war, denn die deutschen, tschechischen und polnischen
Föderalisten, Konservativen und Klerikalen wiesen diesen durchweg ab. Die
Grundrechte aus der Paulskirchenverfassung von 1849 einzuführen läßt erkennen,
welche Bedeutung dem Motiv zukam, die Attraktivität Österreichs für Liberale
und Demokraten in Süddeutschland unter Beweis zu stellen, überhaupt hat der
Blick auf Deutschland die Richtung mitbestimmt. Besonders bei Beust, dem Ministerpräsidenten und Reichskanzler, war die Blickrichtung auf Mitteleuropa
nicht zu verkennen. Der preußische Geschäftsträger in Wien, Adalbert von Ladenberg, ging von Besorgnis geleitet so weit zu vermuten, Revanchestreben habe
die Richtung mitbestimmt. Ein aktuelles Ziel konnte das nicht sein.
Die Verfassung gestand dem Reichsrat mit seinen beiden Kammern die legislative Kompetenz sowie eine Kontrolle der Regierung zu, die parlamentarische
Ministerverantwortlichkeit mit Mißtrauensvotum und Amtsenthebungsrecht jedoch nicht. Das Budgetrecht wurde erweitert. Der Kaiser sicherte sich allerdings
für den Ernstfall als Gegengewicht das Vetorecht, ferner ein Notverordnungsrecht,
mit dem das Parlament faktisch ausgeschaltet werden konnte. Er durfte die Regierung berufen und das Abgeordnetenhaus auflösen. Er berief das Herrenhaus, meist
Mitglieder aus dem hohen deutschen, böhmischen und polnischen Hochadel. Wie
in Ungarn blieb das Wahlrecht für das Abgeordnetenhaus durch einen hohen
Zensus und die indirekte Kurienwahl sehr begrenzt: Die Mehrheit der Bevölkerung, von Deutschen wie von Slawen, war ausgeschlossen. Das Haus der Abgeordneten stand von Anfang an im Zeichen von Zersplitterung, Funktionsunfähigkeit und Boykott, den einzelne Fraktionen häufig praktizierten. Die Vormacht, die
die liberale Verfassungspartei für die nächsten Jahre im Parlament wahrnahm, blieb
äußerst labil. Überhaupt fehlte es dem konstitutionellen Repräsentativsystem an
Stabilität. Den Anforderungen eines Vielvölkerstaates zeigte es sich nicht gewachsen. Weder ein liberaler Staatszentralismus noch eine föderalistische Richtung setzten sich auf Dauer durch, Stückwerk blieb an der Tagesordnung. Das Recht auf
Wahrung der Nationalität wurde nur anerkannt, nicht gewährleistet.25 Helmut
Die Grundlagen
25
Rumpler definiert das politische System der Dezemberverfassung als Rechtsstaat,
nicht als Verfassungsstaat, meint jedoch, daß ein mit starken parlamentarischen
Rechten ausgestattetes österreichisches Reichsparlament zu einem demokratischen
Instrument einer deutschen Herrschaft hätte aufsteigen können.26 In den nationalen Fragen einer Lösung näherzukommen wäre jedoch eher erschwert worden.
Eine Konsolidierung erfolgte in den nächsten Jahren nicht. Der Boykott des
Reichsrates durch die slawischen Abgeordneten und die Beschlußunfähigkeit
gewannen Dauerstatus. Die Ausnahmerechte des Kaisers wurden fast zum Regelfall. Der Widerspruch der Klerikalen gegen die Verfassung und das Ministerium
wurde schroffer, und die Föderalisten verbanden sich immer öfter mit den Parteien der Rechten. Unter den Liberalen kam es zu ersten Auflösungserscheinungen.
Die Zerfahrenheit unter ihnen wuchs. Ihre übergroße Majorität lehnte wie die
Regierung das allgemeine Wahlrecht weiterhin ab, in der Öffentlichkeit gab es
manche Zustimmung. Die Ultraliberalen forderten statt der indirekten die direkten Wahlen, um die dominierende Stellung der Verfassungstreuen im Reichsrat zu
stärken und den Widerstand der Föderalisten gegen die Verfassung unschädlich
zu machen. Dagegen verlangten die Rechtsliberalen mehr Autonomie für die
Länder. Alle Seiten beschworen den bevorstehenden Zerfall Österreichs: die Liberalen, wenn die Verfassung beseitigt, die Föderalisten, wenn die Verfassung
nicht geändert und alle Nationalitäten gleichermaßen befriedigt würden. Die Widersprüche kreuzten sich. Beust, der außenpolitisch und gewöhnlich auch innenpolitisch den Liberalen zur Seite stand, geriet bei ihnen unter Feuer, als er Ausgleiche mit den Polen und Tschechen ins Auge faßte. Panikartig sahen sie den
Krieg mit Rußland bevorstehen, wenn eine Einigung mit den Polen erfolgte. Im
April 1870 stürzte die liberale Regierung, und mit dem polnischen Grafen Alfred
Potocki stellten die Föderalisten den Ministerpräsidenten. Beust blieb Kanzler
und Außenminister.27
Der Wechsel deutete an, inwieweit die innenpolitische Konstellation in Cisleithanien von Anfang an in starkem Maße von den nationalen Gegensätzen geprägt
war. Neben den relativ kleinen slawischen Minderheiten der Slowenen und Serben
gab es mit den Tschechen und Polen zwei größere slawische Völker, die sich wie
auch die italienische Minderheit historisch, kulturell und wirtschaftlich auf einem
höheren Niveau befanden und über einen höheren Lebensstandard verfügten als
etwa die größere Minderheit der Ruthenen, die sich gleichzeitig unter polnischer
Vormacht und folglich in einer besonderen Rückständigkeit befand.28 Dieses unterschiedliche Niveau der nationalen Bewegungen konnte Lösungen nicht erleichtern. Der Erwartungshorizont der slawischen Völker in Cisleithanien gegenüber
den Deutschen war höher als der in Ungarn gegenüber den Magyaren. Die Deutschen waren derzeit ein geschwächter Verlierer, die Magyaren der überlegene
Sieger. Fest entschlossen, die nationale Dominanz in ihrem Reichsteil ungeschmälert zu behaupten, blieben indes beide.
Tschechen und Polen, die sich durch den Ausgleich einerseits in ihrem Anspruch bestätigt, andererseits regelrecht provoziert vorkamen, verlangten ebenfalls eine Lösung im Rahmen des Habsburgerreiches, dem sie historisch engverbunden waren. Franz Palacký hatte noch 1866 die österreichische Staatsidee als
Gegengewicht gegen die deutschnationale und ungarische Sonderstellung ins Feld
26
Einleitung
geführt. Ohnehin konnten die Tschechen ebensowenig wie die Polen auf einen
Anschluß an einen bereits bestehenden identischen Nationalstaat reflektieren. Die
Tschechen in Böhmen, Mähren und Schlesien lebten territorial vermischt mit den
Deutschen, öfter in ökonomischer Konkurrenzsituation, allerdings nicht selten
in wirtschaftlicher Kooperation auf moderner industrieller Grundlage. Eine Autonomieregelung hätte größte Schwierigkeiten bereitet. Auf dem Slawenkongreß
hatten sich die Tschechen für eine böhmische Lösung ausgesprochen, die bei den
Deutschböhmen wegen ihrer quantitativ minderen Stellung auf keinerlei Gegenliebe stoßen konnte.
Miteinander rivalisierende Nationalitäten gab es nicht allein in den böhmischen
Ländern und in Galizien, sondern noch in weiteren Ländern Cisleithaniens. Deshalb standen generell Autonomieregelungen auf Basis der historischen Länder
immer wieder zur Debatte, weil sie den Gegebenheiten eher zu entsprechen schienen. Vor allem Teile des Adels machten sich für Alternativen auf dieser Ebene
stark. Doch ließen sie eher eine Verlegenheitslösung erwarten, die nur ein wenig
die Tatsache verdecken würde, daß die Chance auf einen föderalistischen Umbau
des Reiches „verschwindend gering“ war.29
Als 1867 die Regierung in Wien Verhandlungen mit der tschechischen Seite
aufnahm, zeigte sich umgehend, welche Motivation von den Ausgleichsverhandlungen mit Ungarn für die Tschechen ausgegangen war. Vorwurfsvoll hielt Palacký
im Blick auf 1848 Wien vor, daß die Ungarn für ihren Aufstand belohnt, die
Tschechen für ihre Loyalität bestraft würden. Diese beriefen sich in ihren Verhandlungen mit Wien wie erwartet auf das böhmische Staatsrecht, um eine unteilbare tschechisch-deutsche Staatlichkeit im Rahmen einer Personalunion mit
Österreich zu begründen, eine Perspektive, der sich die Deutschen in Böhmen
entschieden widersetzten. Die Tschechen verlangten eine Krönung des Kaisers
zum König von Böhmen in Prag, die Erneuerung des Staatsrechts der böhmischen
Krone, einen konstituierenden Landtag, um eine Verfassung auszuarbeiten, nach
der dem Landtag die Legislative, ausgenommen Reichsangelegenheiten, zustehen
sollte sowie eine verantwortliche böhmische Regierung in Prag – alles Forderungen, die mit dem konstitutionellen System in Cisleithanien kollidieren mußten.
Ein Erfolg war angesichts der weitgehenden Forderungen der Tschechen kaum
zu erwarten. Als die Verhandlungen 1870 festfuhren, antworteten die Tschechen
mit Massenversammlungen und neuem Reichsratsboykott.30 Die Regierung verhängte darauf den Ausnahmezustand.
Für Galizien dagegen war eine Phase kleinerer Reformschritte angelaufen, die
mit den Polen zu begrenzten Ergebnissen führten. Eine Lösung schien mit den
Polen leichter erreichbar als mit den Tschechen. Die Polen bildeten in Galizien
die dominante Nation, der polnische Adel war auf Wien fixiert, seine Vormacht
über die armen Ruthenen trug diese Bindung. Bei den Polen wie bei der Regierung
gab es starke Motive für eine Einigung: Der polnische Adel nutzte die enge Verbindung zum Hof und zu dem deutschen Hochadel, schon um die Privilegien
gegenüber den polnischen und ruthenischen Bauern abzusichern. Der Staat suchte die Polen an sich zu binden und ihre Differenzen mit Rußland und Preußen zu
vertiefen. Mehr als Rechte für den Gebrauch der polnischen Sprache in Universitäten und Schulen kam nicht zustande. Dem Adel war es allerdings wichtiger,
Die Grundlagen
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seine Reputation in Wien zu erweitern, indem er Gewährsleute in zentrale Instanzen lancierte, und das konnte er erreichen. Er konnte es verschmerzen, als Regelungen für eine Autonomie Galiziens ausblieben. Forderungen nach einer solchen
verstummten indes nicht.
So prägten Gegensätze auf allen Ebenen in Cisleithanien die Doppelmonarchie
von Anfang an. Die Besorgnis des preußischen Gesandten Hans Lothar von
Schweinitz über den inneren politischen Zustand drückte diese Lage aus. Er fand
das politische Leben des Reiches „sehr verworren“, es könnte durch jeden Stoß
von außen wie von innen, etwa, ganz unrealistisch, durch eine Koalition der
Tschechen und Kroaten, „ein sehr gefährdetes werden“. Seine weit übertriebene
Sorge galt generell Vorstößen der Föderalisten, die, wie er meinte, den Kampf
gegen das System nicht aufgeben würden, bis „alle Nationalitäten gleichermaßen
befriedigt würden“. Die Gefahr erblickte er nicht allein in den zentrifugalen
Kräften, wenn sie zur Verbindung von Klerikalen, Feudalen und Föderalisten
fanden, sondern mehr noch in der Schwäche der Regierung. „Nur durch eine
vorübergehende Beschränkung der verfassungsmäßigen Freiheiten“ meinte er, sei
die Reichseinheit „zu retten“. „Der Absolutismus könne für einige Zeit notwendig werden“, ließ er in Berlin wissen. Es war ein abenteuerlicher Gedanke, der mit
der Arroganz des preußisch-deutschen Siegers die fraglose Labilität des politischen Systems noch maßlos überhöhte.31
So war ab 1867 eine politische Struktur entstanden, die dem neuen dualistischen
Reich die Großmachtstellung gewährleisten sollte, dessen innere Komponenten
eine solche Stellung jedoch immer wieder untergruben. Das politische System des
Reiches war in sich widersprüchlich und ließ es an Stabilität und an der notwendigen Homogenität mangeln, die für eine klare und erfolgversprechende außenpolitische Aktion Voraussetzung waren. An dieser Stabilität fehlte es zum einen,
weil das Reich in zwei große Hälften geteilt war, deren herrschende Eliten zwar
auf Kooperation setzten und auf sie angewiesen waren, aber auch unterschiedliche
Interessen verfolgten, in Rivalität miteinander standen und von unterschiedlich
ausgeprägter politischer Machtstellung auszugehen hatten. Das ungarische System besaß relative Konstanz, das deutsch-österreichische nicht. Dieses litt an den
tiefgreifenden nationalen Widersprüchen ebenso wie an inneren Gegensätzen
zwischen den beiden relativ gleichstarken politischen Bewegungen und innerhalb
dieser: zwischen den in sich oft uneinigen deutschzentralistischen Liberalen und
den in sich noch tiefer zerklüfteten häufiger adligkonservativen als bürgerlichen
Föderalisten. Österreich-Ungarn war ein Reich mit teils modernen, teils vormodernen Zügen. Rumpler definiert die Monarchie weniger als einen Staat, sondern
mehr als „eine Gemeinschaft, außenpolitisch die Schicksalsgemeinschaft der zwischen den Großmächten stehenden kleinen Völker“.32 Unter ihnen gab es jedoch
zwei größere Völker, die eifersüchtig auf ihrer Vorrangstellung beharrten, sowie
unterschiedlich entwickelte und strukturierte mittlere und kleine, die den Drang
besaßen, ihrer Unterordnung zu entkommen, so daß die Gemeinschaft permanent
gefährdet blieb. Das Reich litt an der mit dem Deutschen Bund verlorenen Machtstellung, an der Trennung von den Deutschen im sich konstituierenden Nationalstaat, an dem rabiaten Egoismus der Magyaren wie an dem Aufwachen der durch
den Ausgleich gleichzeitig angereizten und provozierten nationalen Bewegungen
28
Einleitung
der einzelnen slawischen Völker sowie der rumänischen und der italienischen
Minderheit. Lebte wie in diesen Fällen die Mehrheit des jeweiligen Volkes jenseits
der Reichsgrenzen in eigenen nationalen Staaten im benachbarten Ausland, ließen
sich besondere Konfliktstoffe erwarten, wenn in Zukunft diese Staaten wirtschaftlich und politisch an Macht gewannen.
Die einzelnen Nationalitäten verfolgten unterschiedliche außenpolitische Interessen, die jede außenpolitische Grundrichtung der Monarchie gefährden konnten. Die Deutschen standen positiv zu den Deutschen im übrigen Deutschland,
viele sowohl verunsichert als auch sehnsuchtsvoll gegenüber der sich abzeichnenden Reichsgründung, kritisch-reserviert zum Zarenreich, die Ungarn freundlich
zu Deutschland und den Westmächten, feindlich zu Rußland, die Slawenvölker
mit Ausnahme der Polen positiv zu diesem, kritisch dagegen alle zu Deutschland
und kooperativ zu den Westmächten.
Welche Probleme sich einer außenpolitischen Richtungsbestimmung entgegenstellten, zeigt die Balkanpolitik. Es lag für das Reich nahe, den Schwerpunkt seiner
Interessen dorthin zu verlegen, um die nationale Bewegung der Balkanvölker zu
kontrollieren und russischen Vormachtbestrebungen einen Riegel vorzuschieben.
Dabei konnten sich jedoch gravierende Probleme stellen. Es schien zum einen
geboten, das krisengeschüttelte Osmanische Reich dabei zu unterstützen, dessen
südslawische Provinzen abhängig zu halten oder dort eigene Vorposten zu schaffen
und zum anderen die sich konstituierenden Staaten wie Serbien und Rumänien
entweder schwach zu halten oder sie sich unterzuordnen. Sie alle sollten sich sowohl nicht als Anreiz für die eigenen Minderheiten entwickeln als auch dem Zarenreich nicht unter panslawistischem Vorzeichen Gelegenheit geben, russische
Satrapen gegen die Habsburgermonarchie aufzubauen. Starke nationale Staaten
mußten leicht in Gegensatz zu dem traditionellen Vielvölkerstaat geraten. Gleichzeitig war Ungarn daran gelegen, weitere südslawische Völkerteile außerhalb des
Reiches zu halten, um seine rigide Nationalitätenpolitik nicht zu gefährden.
Ohne Zweifel hat der Ausschluß Österreichs aus Deutschland in der Habsburgermonarchie eine anhaltend instabile Lage hinterlassen, die mit dem Ausgleich
nur ein wenig gemindert worden war. Die durch ihn geförderte wirtschaftliche
Leistungskraft brachte den Kapitalismus voran, durch die allerdings ungleiche
wirtschaftliche Durchdringung des Reiches bildete sich eine bürgerliche Gesellschaft mit noch vielen adligkonservativen Relikten und neben dem alten neuer
sozialer wie nationaler Konfliktstoff. Durch den modernen Zug wurde die Reichsstruktur eher zusätzlich gefährdet als gefestigt. Alle Faktoren zusammengenommen lassen erkennen, wie begrenzt die Zukunftsaussichten des Systems des Ausgleichs waren. Nach Königgrätz schien lediglich Zeit gewonnen, um mit dem
Ausgleich vorläufig eine gewisse innere Sicherheit und Voraussetzungen für eine
Großmachtpolitik zu gewinnen, deren Grenzen sich jedoch rasch zeigen sollten.
Eine Gewähr, gar eine sichere Entscheidung für die Zukunft bedeutete er nicht.
Das Urteil, den Anfang a priori auf ein absehbares unvermeidliches Ende der
Doppelmonarchie zulaufen zu sehen, nach dem Zusammenbruch von 1918 häufig
kolportiert, geht hingegen zu weit, wenngleich durch den Verlauf bis zum Ende
dieser Weg vorgezeichnet scheint. Aber diese Sicht ignoriert die Ansätze wie die
Möglichkeiten für Alternativen, die nicht alle von vornherein zum Scheitern ver-
Die Grundlagen
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urteilt sein mußten. Die Perspektiven für die Zukunft waren erst einmal offen.
Die Erscheinungen der Krise konnten sich verstetigen oder sogar verschärfen.
Doch sie konnten sich auch abschwächen. Es konnten neue Entwicklungen eintreten, die Chancen boten, nach innen wie nach außen. In jedem Falle würde es
schwer werden, sich zu behaupten. Das war sicher.
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