188 Vertiefung Ein deutscher Nationalstaat entsteht Ein deutscher Nationalstaat entsteht Die deutsche Frage nach 1850 Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 hatte sich in Mitteleuropa die Herrschaft der Fürsten gegen die nationalen und liberalen Bestrebungen des deutschen Bürgertums durchgesetzt. Der 1815 gegründete Deutsche Bund wurde wieder errichtet. Diese Lösung der „deutschen Frage“ stieß in der Öffentlichkeit aber immer mehr auf Kritik. Die Konkurrenz der beiden Großmächte Preußen und Österreich um die Vorherrschaft im Deutschen Bund machte die Situation noch komplizierter. Zwar besaß Österreich noch eine Vormachtstellung, aber immer deutlicher zeichneten sich die Schwächen des Habsburgerstaates ab. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Nationalitäten im Vielvölkerstaat Österreich nahmen zu. Auf der anderen Seite gewann Preußen an wirtschaftlichem und politischem Einfluss und wollte sich nicht mehr mit der bisherigen untergeordneten Rolle begnügen. Die vielen mittleren und kleinen deutschen Fürstentümer wollten nach Möglichkeit ihre Unabhängigkeit gegenüber den beiden großen Mächten erhalten, entschieden also je nach Lage, ob sie eher Preußen oder Österreich zuneigten. Bayern orientierte sich dabei eher an Österreich. Krieg gegen Dänemark Eine erste Möglichkeit, sich als nationaler Politiker zu profilieren, erhielt Bismarck im Jahr 1864, als es zu einem Konflikt um Schleswig-Holstein kam. Als Dänemark entgegen einem internationalen Abkommen Schleswig von Holstein trennen und sich einverleiben wollte, rief das in der deutschen Nationalbewegung Empörung hervor. Bismarck ergriff die günstige Gelegenheit. Im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 besiegte Preußen mit Unterstützung Österreichs Dänemark­. Schleswig und Holstein wurden gemeinsam von Preußen und Österreich regiert. Der Konflikt spitzt sich zu M 1 Otto von Bismarck (1815–1898) Fotografie aus dem Jahr 1862, ­ kurz vor Bismarcks Berufung zum Ministerpräsidenten Die nächsten Jahre waren vom Streit zwischen Preußen und Österreich darüber geprägt, was mit den beiden norddeutschen Herzogtümern geschehen sollte. 1866 führte der immer aggressiver ausgetragene Konflikt schließlich zum Krieg zwischen Preußen und Österreich. Obwohl die meisten mittleren und kleinen Staaten auf die Seite Österreichs traten, gelang Preußen der entscheidende Sieg in der Schlacht von Königgrätz im Norden Böhmens. Österreich verlor im Friedensschluss zwar keine Gebiete, musste jedoch der Auflösung des Deutschen Bundes und seinem Ausscheiden aus Deutschland zustimmen. Einige deutsche Staaten wie Hannover und Kurhessen wurden Teil des Königreichs Preußen. Die restlichen Länder nördlich des Mains mussten dem neuen Norddeutschen Bund unter Preußens Vorherrschaft beitreten. Die im Süden Deutschlands gelegenen Staaten blieben unabhängig, um den Sicherheitsinteressen Österreichs und Frankreichs Rechnung zu tragen. Allerdings waren sie gezwungen, sogenannte Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen zu schließen. Mit diesem militärischen und politischen Erfolg gewann Bismarck die Zustimmung großer Teile der liberalen Nationalbewegung. Konflikt mit Frankreich Nach dem Sieg über Österreich im Jahr 1866 wuchs in Frankreich das Misstrauen gegenüber dem immer mächtiger werdenden Preußen: Napoleon III., der franzö- 1780 1790 1800 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1880 189 sische Herrscher, strebte nämlich selbst eine machtvolle Stellung in Europa an. Die sich verstärkenden Spannungen zwischen beiden Staaten führten schließlich 1870 zum Krieg. Auslöser war ein Konflikt um die spanische Thronfolge. Der als König vorgesehene Prinz aus einer Nebenlinie des preußischen Königshauses der Hohenzollern stieß in Frankreich auf heftige Ablehnung. Obwohl die Hohenzollern ihren Kandidaten zurückzogen, wollte Frankreich einen „ewigen“ Verzicht erreichen­. Die „Emser Depesche“ Als der preußische König Wilhelm in Bad Ems auf Kur war, traf er den französischen Botschafter, welcher auf der französischen Forderung beharrte. Der preußische König wies dies zurück und teilte den Vorfall Bismarck in einem Telegramm mit. Dieser veröffentlichte die „Emser Depesche“ in einer geschickt gekürzten Fassung. Damit löste er in der deutschen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung über das Verhalten Frankreichs aus, während die Bevölkerung Frankreichs das preußische Vorgehen als Beleidigung der französischen Nation empfand. Napoleon­III. erklärte daraufhin Preußen den Krieg. Die Kriegserklärung Frankreichs führte in ganz Deutschland – also auch in den süddeutschen Staaten – zu einer Welle nationaler Begeisterung. Aufgrund militärischer Überlegenheit konnten die deutschen Truppen rasch nach Frankreich vordringen; sie erreichten schließlich Paris und eroberten die französische Hauptstadt im Herbst 1870; Napoleon­III. geriet in Gefangenschaft. Der Sieg aller verbündeten deutschen Staaten ermöglichte die Errichtung eines deutschen Nationalstaats. Im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles wurde am 18. Januar 1871 der preußische König Wilhelm zum deutschen Kaiser ausgerufen. Damit war das deutsche Kaiserreich gegründet. Es bestand bis 1918 und ging erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs unter. M 2 Die Proklamierung des deutschen Kaiserreiches Holzstich von Anton von Werner, um 1880