Lesestück für den 27. Januar INTS77 LAC: Frühling 2006 Seite 1 Wichtige Vokabeln zum Thema: die Annahme = acceptance annektieren = to annex beitreten = to join, to enter die Bewegung = movement der Bund = alliance die Demütigung = humiliation eingliedern = to integrate, incorporate die Einigung = unification die Erweiterung = expansion, enlargement die Fahne = flag der Fürst = prince, ruler genehmigen = to approve die Gründung = formation, foundation das Herzogtum = duchy, dukedom hissen = to wave (a flag) die Kaiserwürde = emperorship nachkommen = to comply der Nationalismus = nationalism der Patriotismus = patriotism die Pflicht = duty die Schmach = dishonor die Verfassung = constitution die Verhandlung = negotiation der Vertrag = treaty, agreement die Vorherrschaft = dominance die Vormachtstellung = supremacy Die Gründung des Deutschen Reiches 1871 (Adaptiert vom LeMO, Lebendiges virtuelles Museum Online: http://www.dhm.de/lemo/) Nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 erstarrte der Einigungsprozess in Deutschland zunächst für einige Jahre. Erst Ende der 1850er Jahre gewann die deutsche Nationalbewegung wieder an Schwungkraft, und die Gründung des Königreichs Italien 1861 galt vielen Deutschen als Vorbild. Sie strebten einen deutschen Nationalstaat unter Einschluss Österreichs an, doch der Preußisch-Österreichische Krieg von 1866 um die Vorherrschaft im Deutschen Bund ließ die Beteiligung Österreichs am deutschen Einigungsprozess in weite Ferne rücken. Der preußische Ministerpräsidenten Otto von Bismarck erkannte während des für Preußen siegreichen Kriegs die Schubkraft des nationalen Gedankens und suchte sie zu nutzen. Über die Machterweiterung Preußens und die Errichtung von dessen Hegemonie in Deutschland auf Kosten Österreichs trieb er die Einigung voran. Preußens Sieg über Österreich in der Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 zwang die Donaumonarchie aus dem Deutschen Bund und legte den Grundstein eines deutschen Nationalstaats unter preußischer Vorherrschaft. Preußen annektierte die im so genannten Deutschen Krieg mit Österreich verbündeten Staaten Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main sowie die Herzogtümer Schleswig und Holstein und entthronte die jeweiligen Herrscher. Mit dieser Gebietserweiterung war die von Preußen lange ersehnte Landverbindung zwischen den Altprovinzen und dem wirtschaftlich bedeutenden Rheinland hergestellt. An Stelle des aufgelösten Deutschen Bunds setzte Bismarck den Norddeutschen Bund, in den alle deutschen Staaten nördlich der Mainlinie eingegliedert wurden. Der Norddeutsche Bund war kein lockerer Staatenbund mehr, sondern ein Bundesstaat mit dem Bundeskanzler - in Doppelfunktion vom preußischen Ministerpräsidenten Bismarck ausgeübt -- als oberstes Regierungsorgan, mit einheitlicher Außen- und Militärpolitik sowie mit Verfassung und Militär. Preußens zunehmende Hegemonie in Deutschland betrachtete vor allem Frankreich mit großer Sorge, das um seine Vormachtstellung in Mitteleuropa fürchtete. Bismarck gelangte zu der Überzeugung, dass eine militärische Auseinandersetzung mit Frankreich nur eine Frage der Zeit sei und sah in einem Krieg das geeignete Mittel, den Einigungsprozess Deutschlands “durch Blut und Eisen” zu vollenden. Da sich die süddeutschen Staaten zur Waffenbrüderschaft mit Preußen verpflichtet Lesestück für den 27. Januar INTS77 LAC: Frühling 2006 Seite 2 hatten, sollten sie in einem gemeinsam gegen Frankreich geführten Krieg auch politisch in das neue Reich eingebunden werden. Anlass zu einem Krieg bot der Konflikt um die Thronfolge in Spanien, in deren Folge und nach gegenseitigen Provokationen Frankreich dem Königreich Preußen am 19. Juli 1870 den Krieg erklärte. Die patriotische Begeisterung in Deutschland schlug 1870 ähnlich hohe Wellen wie in den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 gegen Napoleon I. (1769-1821). Die süddeutschen Staaten zögerten nicht, ihren Bündnis-verpflichtungen nachzukommen und sich an die Seite Preußens zu stellen. Am 2. September 1870 gelang den verbündeten deutschen Truppen der entscheidende Sieg bei Sedan. Dabei geriet auch Kaiser Napoleon III. (1808-1873) in deutsche Gefangenschaft und wurde von Bismarck zu König Wilhelm I. (1797-1888) von Preußen geleitet. Während die deutschen Truppen nach Paris vorstießen und den Belagerungsring um die Hauptstadt schlossen, betrieb Bismarck ab September 1870 diplomatische Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten, um noch während des Deutsch-Französischen Kriegs die Reichseinigung als “Revolution von oben” zu vollenden. Unter dem Eindruck des Kriegs traten die süddeutschen Staaten dem Norddeutschen Bund bei und machten damit den Weg für die Reichseinigung frei. Die langwierigen Verhandlungen fanden ihren Abschluss in den “Novemberverträgen”: Sie umfassten den Vertrag mit Baden und Hessen über die Gründung des Deutschen Bunds -- so die ursprünglich vorgesehene Bezeichnung des Deutschen Reichs -vom 15. November, die norddeutsche Militärkonvention vom 25. November sowie die Verträge mit den Königreichen Bayern und Württemberg über den Beitritt zur Deutschen Bundesverfassung vom 23. und 25. November 1870. Die Verfassung des Deutschen Reichs, die mit Wirkung zum 1. Januar 1871 in Kraft treten sollte, musste zunächst durch den Bundesrat, den Reichstag des Norddeutschen Bunds und die süddeutschen Kammern genehmigt werden. Eine Deputation des Reichstags reiste anschließend ins Hauptquartier nach Versailles, um Wilhelm I. um die Annahme der Kaiserwürde zu bitten und so das Werk der Einigung zu vollenden. Der preußische König kam diesem Ansinnen am 18. Dezember 1870 nach, genau einen Monat später -- auf Wunsch Wilhelms I. am 170. Jahrestag der Erhebung des Kurfürsten von Brandenburg zum König in Preußen vom 18. Januar 1701 -- Lesestück für den 27. Januar INTS77 LAC: Frühling 2006 Seite 3 riefen die versammelten deutschen Fürsten und hohe Militärs im Spiegelsaal von Versailles Wilhelm I. zum “Deutschen Kaiser” aus. Der Maler Anton von Werner war Augenzeuge der Kaiserproklamation, die er später in mehreren Kunstwerken darstellte. Auf einer vierstufigen Estrade des Spiegelsaals steht Wilhelm, umgeben von den deutschen Fürsten. Bismarck, nur leicht aus der Mitte des Bildes gerückt und frontal zum Betrachter stehend, hat gerade die Proklamationsurkunde verlesen. Wilhelm I. hatte in einer von Bismarck verfassten kleinen Ansprache die Annahme der “Kaiserwürde für Mich und Meine Nachfolger in der Krone Preußens” bestätigt und seinen Entschluss in der von ihm erlassenen und von Bismarck verlesenen Proklamation dem deutschen Volke kund getan. Nach der Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 hissten am folgenden Tag die deutschen Belagerer auf der Festung Vanves südwestlich von Paris die deutsche Fahne in Schwarz-WeißRot, die Farben des Norddeutschen Bunds, die das neu gegründete Kaiserreich übernahm. In Deutschland waren die meisten Menschen im nationalen Überschwang und in nahezu einmütiger Geschlossenheit begeistert über die Reichseinigung, auch wenn vor allem in den süddeutschen Staaten Skepsis aufgrund von Animositäten gegenüber Preußen zu vernehmen war. Für die Franzosen bedeutete die Kaiserproklamation in dem nationalen Identifikationsort von Versailles sowie vor allem die Abtretung Elsaß-Lothringens an Deutschland Schmach und Demütigung. Die Kaiserproklamation “An das Deutsche Volk” Die von Bismarck verlesene Proklamation an das deutsche Volk über die Annahme der deutschen Kaiserwürde durch den König von Preußen: “Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen, nachdem die deutschen Fürsten und freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reichs die seit mehr denn sechzig Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen Bundes die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, dass Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem Ruf der verbündeten deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß werden Wir und Unsere Nachfolger an der Krone Preußens fortan den kaiserlichen Titel in allen Unseren Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reiches führen, und Lesestück für den 27. Januar INTS77 LAC: Frühling 2006 Seite 4 hoffen zu Gott, dass es der deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewusstsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reiches und seiner Glieder zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volke vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, welche dem Vaterlande die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an siegreichen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung. Gegeben Hauptquartier Versailles, den 17. Januar. Wilhelm”