Huss-et al-Deckblatt_STA

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Nadine Huss
Lena Korndoerfer
Ina Berchtold
Soziale Arbeit
6.Semester
Studienarbeit: Soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Soziale Probleme und Macht
Thema: " Inhaftierte Gewalttäter/innen"
TGWN
Studienarbeit im Fach TGWN
Prof. Dr. phil. Juliane Sagebiel
Fachhochschule München
Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Am Stadtpark 20
81243 München
Abgabedatum: 09. Oktober 2007
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis ……………………………………………….......................... 4
1. Einleitung/ Themenwahl …………………………………………………….……… 5
2. Vorgehensweise in der Studienarbeit (Silvia Staub-Bernasconi) ................ 6
2.1 Allgemeine Erklärung der Theorie des prozessualsystemischen Paradigmas ………………………………………………... 6
2.1.1 Ausstattungsprobleme .............................................................. 8
2.1.2 Austauschprobleme .................................................................. 8
2.1.3 Machtprobleme ……………………………………………………. 9
2.1.4 Kriterienprobleme …………………………………………………. 9
2.2 Professionelle Handlungstheorie ("W-Fragen") ……………….……. 10
2.2.1 Gegenstandswissen ……………………………………….…….. 10
2.2.2 Erklärungswissen …………………………………………….…... 11
2.2.3 Wert- oder Kriterienwissen …………………………….…….….. 11
2.2.4 Verfahrenswissen …………………………………………….….. 11
2.2.5 Evaluationswissen ………………………………………….….… 11
3. Gegenstandswissen …………………………………………………………….…. 12
3.1 Herkunft und Gebrauch des Begriffs „Gewalt“ ……………...…….... 12
3.2 Negativer Gebrauch …………………………………………………..……13
3.3 Definition "Gewalttat" bzw. "Gewaltverbrechen" ……………….…... 13
3.4 Aktuelle Statistik regionaler Gewaltverbrechen …………………..… 14
4. Erklärungswissen (Werner Obrecht) ……………………………………..……. 16
4.1 Metatheorien ……………………………………………….………….….. 17
4.1.1 Ontologie …………………………………………………..……… 17
4.1.2 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ……………..……….…. 18
4.1.3 Werttheorie …………………………………………………..…… 19
4.2 Objekttheorien ………………………………………………………..…… 20
5. Wert- und Kriterienwissen ……………………………………………................. 24
2
5.1 Macht (Heinrich Popitz) ……………………………………………….… 24
5.1.1 Aktionsmacht ……………………………………………………... 25
5.1.2 Instrumentelle Macht …………………………………………….. 27
5.2 Menschenrechte ……………………………………………..................... 29
5.2.1 Recht aller auf Leben (Art. 2 EMRK) ……………..................... 30
5.2.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) …………...... 30
5.2.3 Gebot der Achtung der privaten Sphäre (Art. 8 EMRK) …….. 31
5.2.4 Verletzungen nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland ……………………………………………….……… 32
5.3 Gerechtigkeitstheorie (Avishai Margalit) …………………….…….…. 33
5.3.1 Demütigung ……………………………………………………..… 34
5.3.2 Achtung …………………………………………………….……... 38
5.3.3 Strafe in der anständigen Gesellschaft ………………….…….. 39
6. Verfahrenswissen ………………………………………………….….…………… 44
6.1 Gewaltprävention …………………………………………………………. 44
6.1.1 Handlungsmöglichkeiten der primären Gewaltprävention …... 46
6.1.2 Handlungsmöglichkeiten der sekundären Gewaltprävention .. 48
6.1.3 Handlungsmöglichkeiten der tertiären Gewaltprävention ….....49
6.2 Handlungsmöglichkeiten innerhalb der JVA ……………………...… 51
6.3 Alternative Handlungsmöglichkeiten …………………..…………….. 52
7. Schlussgedanken ………………………………………………….……………… 54
Literaturverzeichnis ………………………………………………………………
Erklärung gem. RaPO § 31, Abs. 7
3
Abkürzungsverzeichnis
AAT
=
Anti-Aggressivitäts-Training
Abs.
=
Absatz
Art.
=
Artikel
bzw.
=
beziehungsweise
d. h.
=
das heißt
Dipl.-Soz.Päd. =
Diplom-Sozialpädagoge
Dr.
=
Doktor
ebd.
=
ebenda
EMRK
=
Europäische Menschenrechtskonvention
etc.
=
et cetera (≈ und so weiter)
evt.
=
eventuell
f
=
folgende
ff
=
fortfolgende
gem.
=
gemäß
GG
=
Grundgesetz
inkl.
=
inklusive
JGG
=
Jugendgerichtsgesetz
JVA
=
Justizvollzugsanstalt
o. J.
=
ohne Jahr
RaPO
=
Rahmenprüfungsordnung für die Fachhochschulen
S.
=
Seite
SGB
=
Sozialgesetzbuch
[sic]
=
lateinisch: (wirklich) so
STB
=
(Silvia) Staub-Bernasconi
StGB
=
Strafgesetzbuch
StVollzG
=
Strafvollzugsgesetz
TOA
=
Täter-Opfer-Ausgleich
usw.
=
und so weiter
Vgl.
=
vergleiche
z. B.
=
zum Beispiel
§
=
Paragraph
%
=
Prozent
4
1. Einleitung / Themenwahl
In der gesamten Arbeit übernehmen wir die männliche Schreibweise der Täter/innen, wobei es
unter den Tätern sowohl männliche als auch weibliche Personen gibt.
In dieser Studienarbeit möchten wir uns kritisch mit dem Thema "inhaftierte
Gewalttäter" auseinandersetzen.
Momentan ist es ein öffentlich diskutiertes Thema, wie mit Gewalttätern zu
verfahren ist. Es werden verschiedene Aspekte hinterfragt, wie z. B. die Dauer
der Inhaftierung und der Umgang mit Wiederholungstätern. Es werden
Forderungen laut, in Extremfällen die
so genannte Sicherungsverwahrung
häufiger zu verhängen. Fraglich ist dabei, ob diese auch nachträglich gefordert
werden darf und
ob es konstruktiv ist, sie bei jugendlichen Straftätern
anzuwenden etc. Es ist somit offensichtlich, dass die deutsche Gesellschaft
beabsichtigt, mit diesen Tätern härter einherzugehen. Dies wirft bei uns einige
Unklarheiten auf, deren Klärung Inhalt dieser Arbeit sein soll. Natürlich müssen
die Bürger vor diesen Tätern geschützt werden, aber inwieweit werden hierbei
beispielsweise die Menschenrechte des Täters gewahrt? Wie stehen diese im
Verhältnis zu den Menschenrechtsverletzungen des Opfers durch den Täter?
Oder inwiefern kann man hier von einer anständigen Gesellschaft sprechen, in
der Menschen existieren, die anderen Individuen Leid zufügen und als
Konsequenz für ihr Handeln von der Gesellschaft ausgeschlossen werden?
Handelt es sich hierbei um ein Machtproblem und wenn ja, in welchem
Ausmaß? Es stellt sich an diesem Punkt weiter die Frage wer Macht über wen
ausübt? Warum ist die derzeitige Situation bezüglich des Umgangs mit
Gewalttätern überhaupt ein soziales Problem?
Es sollen hier zwei Perspektiven aufgezeigt werden, zum einen die Perspektive
der verletzenden bzw. nach dem israelischen Philosophen Avishai Margalit
„demütigenden“ Handlungen des Gewalttäters in Bezug auf das Opfer und zum
anderen die gesetzlich legitimierte "Demütigung" des Täters durch die Justiz.
Die grundsätzliche Frage ist, darf man Gleiches mit Gleichem vergelten? Wir
5
werden uns auf zwei Ebenen der Sozialen Arbeit bewegen, im ersten Fall auf
der Mikroebene und im zweiten auf der Mesoebene. Die Mikroebene meint hier
das Individuum, also das Opfer und den Täter, die Mesoebene bezeichnet
Institutionen, also den Staat bzw. die Justiz.
Ziel dieser Arbeit soll sein, die Vorgehensweisen der staatlichen Institutionen
unter dem Blickwinkel der "anständigen Gesellschaft" im Sinne Margalits, sowie
der Wahrung der Menschenrechte des Täters aber auch der (potentiellen) Opfer
zu hinterfragen und auf ihre soziale Gerechtigkeit hin zu überprüfen. Außerdem
möchten wir beleuchten, inwieweit die Soziale Arbeit hier vermittelnd bzw.
aufklärend tätig werden kann.
2. Vorgehensweise in der Studienarbeit (Silvia Staub-Bernasconi)
Um uns in dieser Arbeit wissenschaftlich fundiert mit der Thematik auseinander
zu setzen, haben wir uns für die Anwendung
des prozessual-systemischen
Paradigmas nach Silvia Staub-Bernasconi (STB) in Anlehnung an Werner
Obrecht entschieden. STB bietet in Form der fünf Wissensdimensionen ("WFragen") ein professionelles Handlungsmodell an. Dieses wird uns im weiteren
Verlauf der Studienarbeit als Grundgerüst dienen. Zur Beantwortung der "WFragen" werden wir andere Theoretiker und Philosophen hinzuziehen. Vorab
werden wir zum Verständnis das prozessual-systemische Paradigma anhand
der Theorie von STB erklären.
2.1 Allgemeine Erklärung der Theorie des prozessual- systemischen
Paradigmas
Diese Theorie geht davon aus, dass alles Existierende in Bewegung,
vergänglich und nicht statisch, also Prozessen unterworfen und veränderbar ist
6
(Zeitkomponente). Des Weiteren ist alles Existierende in Systeme eingegliedert
und miteinander in Beziehung stehend (Raumkomponente). Laut STB sind
Menschen von Geburt an in solche (sozialen) Systeme eingebunden. Des
weiteren gehen STB und Obrecht davon aus, dass Menschen "selbstwissensfähige Biosysteme" sind, die biologische, psychische, soziale und
kulturelle Bedürfnisse haben, wobei Triebe, Emotionen, Gefühle und moralische
Empfindungen ein Defizit anzeigen und zu bedürfnisbefriedigendem Verhalten
anregen. Die Befriedigung der Bedürfnisse ist abhängig von der Quantität und
der Verfügbarkeit der bedürfnisbefriedigenden Güter und Situationen. Die
Fähigkeit des Individuums, die verfügbaren Mittel zu nutzen, spielt hier auch
eine große Rolle. Soziale Arbeit ist für STB die Antwort auf soziale Probleme in
der Gesellschaft. Mit dem Begriff "Problem" meint sie den Zustand, mit dem ein
nach Bedürfnisbefriedigung suchendes Individuum unzufrieden ist, da es dafür
keine
Problemlösung
kennt
bzw.
keinen
Zugang
zu
problemlösungs-
angemessenen Ressourcen hat. Soziale Probleme ergeben sich nach STB im
allgemeinen dadurch, dass
- Menschen sich gegenseitig zum Überleben und zur Bedürfnisbefriedigung
brauchen
- es in sozialen Systemen eine Knappheit in Bezug auf Bedürfniserfüllung gibt,
aber gleichzeitig die individuellen Wünsche grenzenlos sein können
- die Bedürfnisbefriedigung nicht immer realisierbar ist
- mit Befriedigung von Bedürfnissen Machtstrukturen aufgebaut werden können
- wir anderen psychische und physische Verletzungen zufügen oder ihnen
helfen, dass wir andere ausschließen, sie bekämpfen oder mit ihnen
zusammenarbeiten können
- wir als lernfähige, bewusste Individuen Probleme wahrnehmen können,
zwischen wahr, gut und böse unterscheiden können und die Wahl haben uns
richtig oder falsch zu verhalten.
(Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 368-371).
7
Für das Überleben, ihre Existenzsicherung und ihr Wohlbefinden sind die
Menschen nicht ausschließlich von einer natur- und menschengerechten
ökologischen Umwelt, sondern auch von einer humanen Gesellschaft abhängig.
Dies ist die Grundlage für eine Vielzahl von menschlichen Problemen. Dazu
gehören Ausstattungs-, Austausch-, Macht- und Kriterienprobleme. Diese
erklären wir im Folgenden. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 371).
2.1.1 Ausstattungsprobleme
Der Begriff Ausstattungsprobleme bezeichnet Schwierigkeiten, die mit der
verschiedenen
Teilhabe
an
medizinischen,
psychischen,
sozialen
und
kulturellen Ressourcen in der Gesellschaft zusammenhängen. Es gibt einerseits
einen Mangel an Ausstattung, anderseits einen Überschuss. Ein Mangel an
Ausstattung wäre beispielsweise, wenn der Grundbedarf an Nahrung, Kleidung
und Wohnung usw. aber auch psychischen wie sozialen Bedürfnissen nicht
abgedeckt werden kann. Im Gegensatz dazu bedeutet ein Überschuss, dass
das Vorhandene weit über dem Bedarf liegt (Luxus). Problematisch wird es,
wenn es hohe Defizite aber auch wenn es hohe Überschüsse in der Ausstattung
gibt. Besonders schwierig wird es, wenn diese beiden Extreme sich
gegenüberstehen. (Vgl. ebd., S. 371).
2.1.2 Austauschprobleme
Um ihre Existenz sichern zu können, sind die Menschen auf den Austausch mit
anderen und ihrer Umwelt angewiesen. Ausgetauscht werden beispielsweise
Wissen, Kompetenzen oder Güter. STB unterscheidet zwischen symmetrischem
Austausch, d.h. am Ende der Tauschbeziehung sind die Partner gleichgestellt,
und asymmetrischen Tauschbeziehungen, bei denen am Ende einer über mehr
verfügt und der andere dadurch benachteiligt ist. Soziale Probleme entstehen
8
ausschließlich in asymmetrischen Konstellationen. (Vgl. Staub-Bernasconi in
Engelke 2002, S. 372).
2.1.3 Machtprobleme
Um Zugang zu bestimmten Ressourcen und Teilsystemen der Gesellschaft
(Bildung, Wissenschaft, Politik, Kultur usw.) zu erlangen, sind die Menschen
abhängig von ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie von der Verfügbarkeit
bestimmter Machtquellen. Nach STB wird Macht oftmals zum Auf- und Abbau
von Einfluss und Machtstrukturen eingesetzt, was zu einer Differenzierung der
Gesellschaft führt. Wichtige Machtquellen sind gesellschaftliche und soziale
Stellung, ökonomisches Kapital, Bildungskapital, physische Stärke etc. Soziale
Probleme entstehen dadurch, dass durch die Macht des einen möglicherweise
ein anderer begrenzt oder behindert wird. Diese Begrenzung kann sich jedoch
auch positiv äußern, indem durch sie soziale Gerechtigkeit hergestellt wird. (Vgl.
ebd., S. 373).
2.1.4 Kriterienprobleme
Nach STB sind Werte und Kriterien bedeutende Elemente einer bestimmten
Kultur, deren Vorstellungen von den meisten Mitgliedern dieser Gesellschaft
geteilt oder zumindest akzeptiert werden. Sie fungieren als Regelwerke mit
ausgebautem sozialen Kontrollapparat, um die Verwirklichung zu ermöglichen
und zu überwachen (z.B. Menschenrechte). Soziale Probleme entstehen dann,
wenn für Sachverhalte keine Werte und Kriterien vorhanden sind oder
vorhandene Werte oder Kriterien nicht oder nur beliebig eingesetzt werden. (Vgl.
ebd., S. 373).
9
Alle diese Probleme können jeweils einzeln oder miteinander verbunden und
aufeinander
bezogen
vorkommen.
Die
dadurch
entstehenden
sozialen
Probleme bezeichnet STB als Unterschiede zwischen Menschen, deren
Existenz nicht zwingend notwendig ist und prinzipiell zu vermeiden wäre.
Soziale Probleme können als Ergebnis von Strukturen und Praktiken gesehen
werden, welche eine adäquate Bedürfnisbefriedigung verhindern. Nach STB ist
das Ziel der sozialen Arbeit die Werte und Kriterien der einzelnen
Problemkategorien
zu
(Ausstattungsproblem),
sichern,
z.B.
Reziprozität
körperliche
(Austauschproblem),
Unversehrtheit
Gewaltlosigkeit
(Machtproblem) und Freiheit (Kriterienproblem). Um dies zu verwirklichen hat
STB
gemäß
ihres
prozessual-systemischen
Theorieverständnisses
eine
professionelle Handlungstheorie entwickelt. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke
2002, S. 373f).
2.2 professionelle Handlungstheorie ("W-Fragen")
Die Struktur dieser Handlungstheorie wird im Folgenden erklärt, wobei die
Konstruktionselemente jeweils einen Reflexions- und/oder Handlungsschritt auf
das vorliegende Soziale Problem eröffnen.
2.2.1 Gegenstandswissen
Das Gegenstandswissen antwortet auf die Frage "Was ist los?". Es beschreibt
ein Problem in raum-zeitlicher Hinsicht und klärt entsprechend nach seiner
Beschaffenheit, der Ereignisgeschichte sowie seiner geografischen und
kulturellen Variationsbreite die Fragen. (Vgl. ebd., S. 367).
10
2.2.2 Erklärungswissen
Es antwortet auf die Frage "Warum ist das so?". Es erklärt die Entstehung eines
problembehafteten Sachverhalts und die Bedingungen seines Fortbestehens
und seines Wandels. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 367).
2.2.3 Wert- oder Kriterienwissen
Es beantwortet die Frage "Woraufhin soll verändert werden?". Dieses
philosophisch-ethische Wissen, welches das Idealbild eines Sachverhalts
darstellt, gibt die Möglichkeit der Be- und Verurteilung problembelasteter
Sachverhalte und Strategien, sowie des Entwurfes der Vorstellung vom
Wunschbild und einer damit verbundenen Zielformulierung. (Vgl. ebd., S. 367).
2.2.4 Verfahrenswissen
Es gibt Antwort auf die Frage "Wie kann was verändert werden?". Durch dieses
Wissen werden mögliche Mittel und Verfahren aufgezeigt, mit denen
problematische Sachverhalte in gewünschte umgewandelt und in jeder
Prozessphase
unter
Beachtung
von
Diagnosen
und
Erklärungen
die
Vorgehensweisen abgeklärt werden. (Vgl. ebd., S. 367).
2.2.5 Evaluationswissen
Es ermöglicht die Beantwortung der Frage "Was ist geschehen?". Es ist das
Ergebnis einer systematischen empirischen Auswertung, einerseits der Hauptund Nebeneffekte des/der Klient/innen und deren benachbarten Teilsysteme,
11
welche durch bestimmte Arbeitsweisen erzielt worden sind, und anderseits die
Rückwirkungen auf umfassendere Systeme. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke
2002, S. 367).
Für uns jedoch ist das Evaluationswissen in dieser Arbeit nicht relevant, da wir
uns auf einer theoretischen Ebene bewegen und nicht in der Praxis agieren.
Somit besteht auch nicht die Möglichkeit der Reflexion. Der Vollständigkeit
halber wollten wir es dennoch anführen.
Gewalt ist ein breiter Begriff und daher werden wir im Folgenden die Formen
und Definitionen klären.
3. Gegenstandswissen
3.1 Herkunft und Gebrauch des Begriffs „Gewalt“
Vorerst möchten wir die Herkunft des Wortes "Gewalt" und seine ursprüngliche
Bedeutung anführen. Der Begriff "Gewalt" lässt sich aus dem althochdeutschen
Verb verwalten, bzw. waltan (stark sein, beherrschen) herleiten. Von seiner
etymologischen Wurzel her bedeutet er das "Verfügen-können über das
innerweltliche Sein", ursprünglich bezeichnet dieser Begriff ausschließlich das
Vermögen zur Durchführung einer Handlung und beinhaltet somit kein Urteil
über deren Rechtmäßigkeit. Diese der Herkunft nach neutrale bis positive
Begriffsbestimmung ist im heutigen Sprachgebrauch noch in Begriffen wie
"gewaltige Anstrengung oder gewaltige Dimensionen" erkennbar. Damit wird
eine über das übliche Maß hinausgehende Leistung anerkennend beschrieben.
Größtenteils wird das Wort "Gewalt" im heutigen Sprachgebrauch jedoch mit
einer negativen Wertung verwendet, zumeist dann wenn eine Handlung, die mit
Zwang durchgesetzt wurde, beschrieben werden soll. Beispiele hierfür sind:
Gewalttat, Gewaltverbrechen und Vergewaltigung.
12
(Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalt ).
3.2 Negativer Gebrauch
In dieser Arbeit werden wir ausschließlich auf die negative Benutzung der
Begrifflichkeit eingehen.
"Gewalt im negativen Sinne wird häufig als schädigende Einwirkung auf Andere
verstanden. Als Gewaltformen werden psychische oder physische, personale
oder strukturelle (oder auch kulturelle), [...] unterschieden. Ein engerer "Gewalt"Begriff, auch als "materialistische Gewalt" bezeichnet, beschränkt sich auf die
zielgerichtete, direkte physische Schädigung einer Person, der weiter gefasste
Gewaltbegriff bezeichnet zusätzlich die psychische Gewalt ( etwa in Form von
Deprivation, emotionaler Vernachlässigung, "weißer Folter", verbaler Gewalt)
und in seinem weitesten Sinn die "strukturelle Gewalt". [...]"
(http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalt )
Physische Schädigung beinhaltet jegliche Gewalt, die absichtlich gegen den
Körper einer Person gerichtet wird, dazu gehört auch die sexualisierte Gewalt.
3.3 Definition "Gewalttat" bzw. "Gewaltverbrechen"
Die angeführte Definition des Begriffs "Gewalt" führt uns zu dem Begriff
"Gewalttat", welcher nachfolgend erklärt wird.
Eine Gewalttat ist eine Handlung, die unter Anwendung von Gewalt
durchgeführt wird. Sie kann sich auf Handlungen beziehen, welche gegen die
körperliche oder die psychische Unversehrtheit eines Anderen gerichtet ist.
Gewalttaten werden häufig rechtlich sanktioniert, meist als Straftaten. Der
Begriff der "Gewalttat" oder des "Gewaltverbrechens" ist kein juristischer Begriff,
sondern eine umgangssprachliche Bezeichnung. (Vgl. ebd).
13
Als "Gewaltverbrechen" versteht man nach allgemeinem Sprachgebrauch einen
gesetzwidrigen Anschlag auf die körperliche Unversehrtheit einer Person durch
einen Täter. Gewaltverbrechen sind Straftaten.
Beispielhaft für Gewaltverbrechen stehen im deutschen Strafrecht
• Körperverletzungsdelikte (inkl. Folter, §§ 223ff StGB)
• Mord sowie alle weiteren Tötungsdelikte (§§ 211ff StGB)
• Nötigung (§ 240 StGB)
• Raub und andere Delikte, bei denen räuberische Mittel angewendet werden
(§ 249 StGB)
• Vergewaltigung und andere gewaltsam durchgesetzte Delikte gegen die
sexuelle Selbstbestimmung (§§ 176, 177, 182 StGB).
( http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalttat )
3.4 Aktuelle Statistik regionaler Gewaltverbrechen
Nachdem wir nun den Begriff "Gewalt" geklärt haben, möchten wir anschließend
die Aktualität von Gewaltverbrechen anhand von Statistiken aufzeigen.
Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik für den Freistaat Bayern wurden im Jahr
2006 21957 Fälle von Gewaltkriminalität angezeigt. Davon wurden 18419 Fälle
von der Polizei aufgeklärt.
Diese 21957 Fälle wurden von 23808 Tätern
begangen, was darauf schließen lässt, dass einige Delikte gemeinschaftlich
ausgeübt wurden. In der Gegenüberstellung zum Vorjahr sind diese Zahlen
zwar gesunken, jedoch im langfristigen Vergleich von zehn Jahren beträgt die
Zunahme 3693 Fälle oder 20,2%. In diesen Zahlen sind lediglich gefährliche und
schwere Körperverletzung und Raub inbegriffen. Die gefährliche und schwere
Körperverletzung
beträgt
einen
Anteil
von
79,6%.
Die
restlichen
Gewaltverbrechen bestehen aus Raub. Vergewaltigungen wurden im Jahr 2006
1009 Fälle zur Anzeige gebracht, bei Tötungsdelikten handelt es sich um 354
14
Fälle, die erfasst wurden. Diese Zahlen beinhalten jeweils auch die versuchte
Vergewaltigung bzw. die versuchte Tötung. (Vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik für
den Freistaat Bayern 2006, S. 41; 45ff).
Nachdem wir uns auf die inhaftierten Gewalttäter fokussieren, möchten wir nun
einen Überblick über die Straftäter geben, die wegen ihrer Gewalttaten zu einer
Haftstrafe verurteilt wurden. Die Justizministerin Dr. Beate Merk äußerte sich in
einer Pressemitteilung im Jahre 2006 wie folgt zu dieser Thematik. Sie gibt an,
dass in den Bayerischen Justizvollzugsanstalten (JVAs) immer mehr Täter
wegen Körperverletzungs- und Betäubungsmitteldelikten inhaftiert sind.
Bei
ihrer Aussage stützt sie sich auf die Zahlen der Strafvollzugsstatistik 2006 die zu
entsprechendem Zeitpunkt bekannt gegeben wurde. Laut genannter Statistik
verbüßten zum 31.März 2006 in Bayerns Gefängnissen 1114 Strafgefangene
eine Freiheitsstrafe wegen Körperverletzungsdelikten. Dies bedeutet in den
letzten fünf Jahren einen Anstieg um 31,2%. Im Vergleich dazu betraf es im Jahr
2005 849 Gefangene. Auch ihr relativer Anteil unter der Gesamtzahl der
Strafgefangenen stieg in diesem Zeitraum von 10,2 auf 11,9% an. Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung lagen bei 7,5%, Straftaten gegen das
Leben waren bei 6,7% der Inhaftierten der Verurteilungsgrund. Die Anzahl der
Täter, die wegen Raub und Erpressung inhaftiert waren, betrug 8,5%. Dies
beträgt im gesamten eine Zahl von 34,6% was bedeutet, dass mehr als jeder
dritte Gefangene in Bayern eine Straftat unter Anwendung von Gewalt ausübte.
Die
Justizministerin
kommentierte
die
Statistik
folgendermaßen:
„Die
Entwicklung zeigt den Stellenwert dieser Straftaten innerhalb der Kriminalität.
Zugleich demonstriert sie die Reaktion der Justiz: Körperliche Gewalt und
Drogenhandel werden in Bayern mit allem Nachdruck geahndet.“
(Vgl. http://www.justiz.bayern.de/ministerium/presse/archiv/2006/detail/65.php).
Um den Blick auf die Opfer nicht zu vernachlässigen, werden wir nun die zu den
Prozentsätzen gehörenden Zahlen nennen. Demnach saßen am Stichtag 31.
März 2006 in bayerischen Justizvollzugsanstalten 640 Gefangene eine
Haftstrafe wegen „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“
15
(§§ 174-184e StGB) ab. Davon kamen 12 Opfer nach §§ 176b, 178 StGB
„sexueller Missbrauch mit Todesfolge“ ums Leben. 563 Inhaftierte verbüßten
eine Freiheitsstrafe nach §§ 211-222 StGB „Straftaten gegen das Leben“,
wobei in 199 Fällen das Opfer durch „Totschlag“ (§§ 212, 213 StGB) und in
283 Fällen durch „vollendeten Mord“ (§ 211 StGB) getötet wurden. Der Anteil
der aufgrund von „Körperverletzung“ (§§ 223-231 StGB) Verurteilten betrug
920. Davon kamen 27 Opfer zu Tode (§ 227 StGB „Körperverletzung mit
Todesfolge“). Wegen „Raub und Erpressung“ (§§ 249-255 StGB) waren 593
Personen inhaftiert. 14 Opfer starben durch „Raub mit Todesfolge“ (§ 251
StGB). Diese Zahlen beziehen sich auf Erwachsene und jugendliche Straftäter.
Zusätzlich beinhalten sie auch die nach § 61 StGB Verurteilten, d.h.
Strafgefangene, die sich aufgrund ihrer Allgemeingefährlichkeit, Höhe der
ausgesprochenen
Strafe
in
Kombination
mit
Vorstrafen
in
Sicherungsverwahrung befinden. (Vgl. Strafvollzugsstatistik in Bayern 2006, S.
3, 16-20).
Mit diesen alarmierend hohen Zahlen, vor allem in Hinblick auf die Anzahl der
Geschädigten und im Extremfall zu Tode gekommenen Opfer, möchten wir auf
die Dringlichkeit und Aktualität des Themas "Gewalt" aufmerksam machen und
verdeutlichen, weshalb wir uns für diese Thematik entschieden haben. Es
scheint, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Gewaltbereitschaft
einzelner Menschen so hoch ist, dass sie selbst den Tod eines anderen billigend
in Kauf nehmen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, scheint es sich hierbei um
ein erhebliches Problem der Postmoderne zu handeln und nachfolgend werden
wir überprüfen, ob es sich dabei ebenfalls um ein soziales Problem nach dem
Theoretiker Werner Obrecht handelt.
4. Erklärungswissen (Werner Obrecht)
STB geht bei dieser Frage auf die Entstehung eines Problems ein, wir jedoch
16
möchten hier nach dem Theoretiker Werner Obrecht klären, warum es sich um
ein angenommenes soziales Problem handelt. Er geht auf verschiedene
Theorien ein, die wir im Folgenden zum Verständnis erklären. Anschließend
werden wir versuchen, einen Bezug zu unserer Thematik herzustellen.
4.1 Metatheorien
4.1.1 Ontologie
Wie zu Anfang schon anhand der Theorie von STB erklärt, sind alle Menschen
Mitglieder von Systemen. Die meisten Systeme sind nach Obrecht natürlich,
einige jedoch sind künstlich geschaffen, also „Artefakte“. Da der Mensch zwar
an sich von Geburt an ein natürliches System ist, aber anhand von Familie,
Bildungseinrichtungen, Gesellschaft und durch Werte und Normen der
jeweiligen Kultur geprägt wird, sind seine personalen oder psychischen
(Sub)Systeme im weiten Sinne auch Artefakte. (Vgl. Obrecht o. J., S. 3). Alles
was ein Mensch ist, war oder in Zukunft sein wird, ist Prozessen unterworfen
und somit auch veränderbar. Dies würde bedeuten, dass wenn der Mensch in
andere Prozesse involviert wird, könnte er sich ändern, wobei diese Änderung
vorerst wertfrei ist. Damit ist gemeint, dass sich der Mensch in einem
lebenslangen Entwicklungsprozess befindet. Beziehen wir dieses Wissen auf
unser Thema „Inhaftierte Gewalttäter“ müssen wir davon ausgehen, dass diese
nicht als gewaltbereite Menschen auf die Welt kamen, sondern durch Prozesse
in ihrer Umwelt, wie z.B. die Erziehung ihrer Eltern, Lehrer oder sonstigen
Bezugspersonen sowie durch die Sozialisation durch ihre Freunde und
Mitschüler zu solchen wurden. Weiter gehen wir davon aus, dass alles
Prozessen unterworfen und somit veränderbar ist und der Mensch ein
selbstwissens- und selbstentscheidungsfähiges Wesen ist. Dadurch stellt sich
uns die auch in der Allgemeinheit diskutierte Frage, wer „Schuld“ an der
Entwicklung von Gewalttätern ist, bzw. ob der Anteil ausschließlich an den
17
äußeren Prozessen liegt oder ob der Täter nicht ab einem gewissen Alter selbst
in der Lage ist (sein kann), den Prozess zu steuern und zu entscheiden ob das
was er tut „richtig oder falsch“ ist. Obwohl dies für uns nicht eindeutig zu
beantworten ist, gehen wir davon aus, dass nach Obrecht der Mensch
veränderbar ist, wenn er anderen Prozessen unterworfen wird. Die deutsche
Justiz teilt in diesem Punkt unsere durch Obrechts Theorie entwickelte
Annahme. „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden,
künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen
(Vollzugsziel)“. (§ 2 StVollzG). Jedoch bleibt es für uns kritisch zu betrachten, ob
die erwünschte Verhaltensänderung tatsächlich durch Freiheitsentzug erreicht
werden kann.
4.1.2 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie
Obrecht unterscheidet von konkreten Systemen begriffliche und symbolische. Er
geht aber in dem Text nur auf „alltägliche und wissenschaftlich begriffliche
Systeme“ ein. Er erklärt, dass das Alltagsdenken Dinge wahrnimmt und sie im
Zuge dessen mit der Wirklichkeit identifiziert. Davon ausgehend wird eine Welt
voller guter und böser Dinge und Kräfte entwickelt, die nach unserem
Verständnis dann für unser Tun verantwortlich gemacht werden. (Vgl. Obrecht
o. J., S. 3). Im übertragenen Sinne würde dies bedeuten, dass der Täter, so wie
er sich seine Welt aufgrund seiner Wahrnehmung konstruiert hat, zumindest für
sich selber eine Rechtfertigung für seine Taten hat. Möglicherweise betrachtet
er sich als Opfer der Umstände und ist sich seines Fehlverhaltens nicht bewusst, da er es für sich legitimiert hat. Im Gegensatz dazu untersuchen die
Wissenschaften die Dinge an sich, wie sie sind und vor allem die Mechanismen
bzw. die Bedingungen die dieses Verhalten auslösen. Zudem hinterfragen sie
auch die vorangegangenen Lernprozesse, die den Ursprung darstellen, aus
dem sich das Verhalten entwickelt hat. Ziel der Wissenschaft ist es, das Verhalten nicht nur zu verstehen, sondern auch zu erklären und somit präventiv
18
entgegenwirken zu können. In Bezug auf den Gewalttäter würde dies bedeuten,
dass wenn sich nachvollziehen lässt, welche Faktoren notwendig sind, um in
ihm gewaltbereites Handeln auszulösen, man in der Lage sein könnte im Vorfeld
vorbeugend zu agieren. Die Wissenschaft setzt sich nach Obrecht mit der
Sozialisation des Täters auseinander um evtl. familiäre Entstehungsmuster von
Gewalt zu beleuchten und somit die Ursachen für das Handeln des Täters
verstehen und erklären zu können.
4.1.3 Werttheorie
Obrecht geht von intrinsischen und funktionalen Werten aus. Alle Lebewesen
streben einen bestimmten Zustand an. Zu unterscheiden ist, dass die Klasse der
bevorzugten Zustände aller Lebewesen intrinsische oder Biowerte sind. Davon
zu differenzieren sind noch die funktionalen Werte von sprach- und
selbstwissensfähigen Lebewesen, also von Menschen. Diese funktionalen
Werte werden kognitiv repräsentiert, das bedeutet sie werden vom Verstand her
gesteuert. Von diesen nimmt das Individuum an, dass sie ihm zur Erreichung
seiner intrinsischen Werte behilflich sind. Obrecht spricht von praktischen und
kognitiven Problemen. Dies sind Konstellationen, in denen ein Individuum
bemerkt, dass es seine intrinsischen oder funktionalen Werte nicht verwirklichen
kann oder diese gefährdet sind. Praktische Probleme bezeichnet er als
Zustände bestimmter Systeme außerhalb des eigenen Wissens und Denkens,
kognitive Probleme bezieht er auf Prozesse innerhalb dieser Sphäre. Das
kognitive Problem eines Individuums kann zum praktischen Problem eines
anderen
werden.
chemische,
Im
Allgemeinen
biologische,
werden
psychische,
Probleme
soziale
und
in
physikalische,
kulturelle
Systeme
unterschieden. Bezogen auf intrinsische Werte bezeichnet Obrecht praktische
und kognitive Probleme als Bedürfnisspannungen, von denen es drei Arten gibt:
biologische, (bio)psychische und (biopsycho)soziale. (Vgl. Obrecht o. J., S. 3f).
19
Nach unserem Verständnis würde dies bezugnehmend auf den inhaftierten
Gewalttäter bedeuten, dass er einen bestimmten intrinsischen oder funktionalen
Wert nicht verwirklichen kann. Daraus ergeben sich Bedürfnisspannungen,
woraus Aggressionen entstehen können, die er in der jeweiligen Situation nicht
steuern kann. Die kognitiven Probleme eines Täters (z. B. (bio)psychische oder
(biopsycho)soziale) werden die praktischen (biologischen) Probleme seines
Opfers.
4.2 Objekttheorien
Nach Obrecht sind soziale Systeme interindividuell, intersozial oder intersozietal. In diesen Systemen existieren zwei Gruppen von Eigenschaften, die
Kultur und die Sozialstruktur. Zu der Kultur zählen die Sprache, die aggregierten
Bilder, Codes und die funktionalen Werte der Mitglieder. In der Sozialstruktur
wird zwischen Interaktions- und Positionsstruktur unterschieden, welche
miteinander in dynamischer Beziehung stehen. Innerhalb der Positionsstruktur
werden zusätzlich vertikale (z. B. Schichtung), funktionale (Biologie, Ökonomie,
Politik, Kultur), lebenszeitliche (altersbezogene Organisationen), geschlechtliche
und weitere Differenzierungen getroffen. Ihre emergenten Eigenschaften
betreffend unterscheiden sie sich von anderen Arten von Systemen; gleich sind
ihnen ihre Einbettung in die Welt der anderen Systeme und der Austausch mit
diesen, sowie ihre Entwicklungsphasen (Entstehung, Konsolidierung, Wandel
und Zerfall). (Vgl. Obrecht o. J., S. 4f).
Hinsichtlich der Thematik „Inhaftierte Gewaltverbrecher“ würden wir daraus
schließen, dass bezüglich der Positionsstruktur innerhalb der Sozialstruktur
Gewalttäter häufig aus sozialen Unterschichten stammen, jedoch nicht
ausschließlich.
Nach
der
bereits
beschriebenen
Theorie
der
Ausstattungsprobleme von STB kann dies auch in sozialen Oberschichen
vorkommen, da hier ein Überschuss an Ausstattung (Luxus, Materialismus)
20
gegeben ist. Da die Kultur nach Obrecht die Sprache, die aggregierten Bilder,
Codes und funktionalen Werte der Systeme der Mitglieder bzw. in diesem Fall
der Gewalttäter sind, gehen wir davon aus, hiermit sei die Erziehung, die
Lebenswelt, die Erfahrung etc. der Person gemeint. Wenn ein Kind folglich in
einem Umfeld aufwächst, in dem Gewalt alltäglich ist, so wird es im weiteren
Verlauf
seines
Lebens
Problemlösungsstrategien
diese
Verhaltensweisen
übernehmen.
Dies
ist
als
selbstverständliche
vergleichbar
mit
der
Lerntheorie des „Modelllernens“, in der Psychologie auch als sozial-kognitive
Theorie
nach
Albert
Bandura
bekannt.
Demnach
erlernen
Menschen
Einstellungen durch die Beobachtung anderer Personen aus ihrem direkten
Umfeld (natürliche Modelle) und aus Filmen, Fernsehen, Büchern, Comics
(symbolische Modelle), was bei Übernahme der Verhaltensweisen durch das
Kind
zu
einer
Verhaltensänderung,
in
unserem
Fall
zur
Übernahme
gewaltgeprägter Muster, führt. (Vgl. Hobmair 1997, S. 392 ).
Psychische Systeme sind die Steuerungs(sub)systeme von Individuen.
Menschen sind aufgrund ihrer Nervensysteme eine spezielle Art solcher
Systeme, nicht zuletzt wegen ihrer Sprach- und somit Selbstwissensfähigkeit.
Diese
Nervensysteme
weisen
drei
umfassende
und
wechselwirkende
Funktionsbereiche auf. Sie kennzeichnen die Leistungen der Nervensysteme
durch Motivation (biologische, psychische und soziale Bedürfnisse), Kognition
und Handeln (Routinen und Geplantes). Individuen sind Komponenten sozialer
Systeme, in deren Interaktions- und Positionsstruktur sie hineinwachsen und
integriert sind. (Vgl. Obrecht o.J., S. 5). Obrechts Theorie nach ist der
Eingliederungsprozess und die Bindung zwischen Eltern und Kind ein
ausschlaggebender Faktor für das spätere Verhalten eines Individuums:
„Der Integrationsprozess von Menschen in soziale Gebilde ist ein durch
Bedürfnisse motivierter und durch emotio-kognitive Prozesse gesteuerter
Vorgang auf der Grundlage einer biologischen Ausstattung der Neugeborenen
wie auch der Erwachsenen, die im Normalfall jene affektive Bindung zwischen
dem Baby und seinen biologischen oder sozialen Eltern sicherstellt, die sich
später auf die Verwandtschaft, andere soziale Primärgruppen und die lokalen
21
[sic] Gemeinschaft ausdehnt und gegebenenfalls sogar auf weitere, funktional
differenzierte und höherleveliger [sic] Systeme.“ (ebd., S. 5).
Menschen versuchen stetig, durch ihre inneren Bilder und ihre Bedürfnisse
motiviert, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden und durch Handlungen zu ihrem
Ziel zu gelangen. Allerdings sind sie sich über die Mechanismen ihrer inneren
Bilder
und
Codes,
sowie
über
die
Gestaltannahme
ihrer
Ziele
und
Handlungspläne nicht bewusst. Menschen handeln zur Befriedigung ihrer
Bedürfnisse im biologischen, psychischen und sozialen Bereich und streben die
Lösung der physikalischen, biologischen, psychischen, sozialen und kulturellen
Probleme an. Soziale Probleme stehen im Zusammenhang mit der Befriedigung
sozialer Bedürfnisse. Entsprechend dieser Bedürfnisse entstehen soziale
Probleme, wenn die Einbindung in die freiwillig gewählten oder mit unfreiwilliger
Mitgliedschaft entstandenen Systeme in der Interaktions- und Positionsstruktur
nicht adäquat gelingen. Probleme auf einer Ebene (z.B. auf der psychischen)
können weitere Probleme auf einer anderen Ebene (z.B. auf der sozialen) zur
Folge haben. (Vgl. Obrecht o. J., S. 5).
Nachdem Obrecht beschreibt, dass Menschen Komponenten sozialer Systeme
sind und in diese hineinwachsen, würde dies bedeuten, dass auch ein
Gewalttäter in sein familiäres Umfeld (System) hinein geboren wird und die
affektive Bindung, die er zu seinen Eltern hatte, welche er später auf sein
Umfeld überträgt, war in diesem Fall vermutlich gewaltgeprägt. Ein Gewalttäter
versucht, wie jeder andere Mensch auch, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden
und durch Handlungen seine Ziele zu erreichen, wobei er nichts über die
Struktur, Dynamik und Mechanismen seiner inneren Codes und Bilder (welche
er sich in seiner Entwicklung und durch Erfahrungen „angeeignet“ hat) weiß. So
fehlt ihm beispielsweise die Einsicht einer fehlenden Frustrationstoleranz,
geschweige denn das Wissen über die Ursache dieses Defizits. Da der Täter
seine auf die Interaktionsstruktur bezogenen Bedürfnisse, wie z.B. zwischenmenschliche Beziehungen, Liebe, Geborgenheit und/oder seine auf die
Positionsstruktur
bezogenen
Bedürfnisse
22
wie
beispielsweise
Statusvollständigkeit oder sozialer Aufstieg in Gruppen nicht befriedigen kann,
entsteht ein soziales Problem, welches er nicht lösen kann. Durch die Tatsache,
dass er dieses soziale Problem nicht selbstständig lösen kann und aufgrund
seiner
durch
den
Mangel
an
befriedigten
Bedürfnissen
entwickelten
Aggressionen, übt er körperliche Gewalt aus. In diesem Fall wird sein
unbefriedigtes Bedürfnis zu einem Problem des Opfers, vermutlich auf der
psychischen Ebene, da es möglicherweise ein Trauma erlitten hat, in jedem Fall
aber ein biologisches durch die körperlichen Verletzungen. Durch diese
Einschränkungen kann es wiederum seine Bedürfnisse, wie z.B. die
uneingeschränkte
Teilhabe
am
sozialen/kulturellen
Leben
nicht
mehr
ausreichend befriedigen. Um die Kettenreaktion eines von einer einzelnen
Person unbefriedigten Bedürfnisses zu verdeutlichen, führen wir das Beispiel
weiter. So würde es sich im Falle des Todes des Opfers nicht mehr
ausschließlich um ein soziales Problem des Opfers handeln, sondern auch um
eines seiner Angehörigen. Durch den Verlust des ihnen nahe stehenden
Menschen erfahren sie ein Unrecht, welches ihnen nicht begreiflich ist. Dies
kann gegebenenfalls zu einer Isolation durch mögliche Depressionen führen und
somit einen sozialen Abstieg in der Gesellschaft zur Folge haben. Bei
Betrachtung des Täters kann rückblickend davon ausgegangen werden, dass
die Mitglieder des sozialen Systems, in welches er hineingeboren wurde, bereits
ein Problem auf einer der genannten Ebenen hatten und einen Mangel an
Bedürfnisbefriedigung erlebten.
Falls die Gewalttat des Täters zu einer Inhaftierung führt, begibt sich dieser in
die unfreiwillige Mitgliedschaft des Systems der Justizvollzugsanstalt, in der er
wiederum nicht in der Lage ist, seine Bedürfnisse ausreichend und selbstständig
zu befriedigen. Vermutlich könnte diese Spirale in die Vergangenheit oder
Zukunft endlos weitergeführt werden, jedoch wird aufgrund der Gewalttat die
Existenz
des
Problems
offensichtlich
und
verlangt
somit
angemessenen Reaktion der Kontrollorgane der Gesellschaft.
.
23
nach
einer
Durch die vorherigen Ausführungen haben wir nun belegt, dass inhaftierte
Gewalttäter ein Problem für sich selbst, für ihre Opfer und auch für die
Allgemeinheit darstellen und zwar in der Vergangenheit, der Gegenwart und
möglicherweise auch in der Zukunft. Dieser negative Zukunftsausblick ergibt
sich für uns daraus, dass durch die Inhaftierung des Täters der „Teufelskreis“
aus unbefriedigten Bedürfnissen, welche zu einem sozialen Problem führen,
nicht unterbrochen sondern eher noch verstärkt werden. Im Folgenden werden
wir uns damit beschäftigen, warum es sich hierbei um ein Machtproblem
handeln könnte.
5. Wert- oder Kriterienwissen
STB möchte mit diesem Schritt durch das philosophisch-ethische Wissen eine
Be- und Verurteilung von problematischen Sachverhalten und Handlungen
ermöglichen.
5.1 Macht (Heinrich Popitz)
Der Philosoph Heinrich Popitz unterscheidet vier anthropologische Grundformen
von Macht. Er benennt die Aktionsmacht, die instrumentelle Macht, die
autoritative Macht und die datensetzende Macht. Für diese Arbeit erachten wir
jedoch lediglich die Aktionsmacht und die instrumentelle Macht als relevant und
werden daher ausschließlich auf diese beiden eingehen.
Popitz
stellt
einige
nahezu
allgemein
akzeptierte
Prämissen
zu
Machtphänomenen auf, welche wir im Folgenden kurz zum Verständnis
erläutern werden:
Die erste Prämisse ist der Glaube an die Machbarkeit von Macht. Macht ist ein
24
Menschenwerk
und
nicht
Gottgegeben.
Macht
ist
konstruierbar
und
veränderbar. Die zweite Prämisse geht davon aus, dass Macht omnipräsent ist.
Macht ist überall und existiert in allen Bereichen des Lebens, unter anderem in
zwischen-menschlichen Beziehungen. Andere zu nennende Bereiche von Macht
wären Geld, die Staatsmacht (Gesetze), Beruf und Wissen. (Vgl. Popitz 1992, S.
12-17). Die dritte Prämisse handelt von der Konfrontation von Macht und
Freiheit: „Alle Machtanwendung ist Freiheitsbegrenzung. Jede Macht ist daher
rechtfertigungsbedürftig.“ (ebd., S. 17). Macht ist nicht ausschließlich ein
negativer Eingriff in die Selbstbestimmung. Gewisse Machtformen sind
unvermeidbar, wie die beschützende und erzieherische Macht über Kinder,
Macht als organisatorisches Mittel um Zusammenschlüsse von Menschen zu
ordnen und um den Schutz von Recht und Frieden zu gewährleisten. (Vgl.
Popitz 1992, S. 19f).
Macht als Definition im
anthropologischen Sinn beschreibt etwas, das der
Mensch vermag: „Das Vermögen sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen“.
(ebd., S.22).
5.1.1
Aktionsmacht
Popitz definiert die (verletzende) Aktionsmacht als Verletzungskraft. Seiner
Annahme nach besitzt diese jeder Mensch gegenüber allen anderen
Organismen und somit auch gegenüber anderen Menschen. Damit meint er,
dass wie bei Jäger und Tier auch Menschen die Fähigkeit besitzen, andere
Menschen zu fangen und zu töten. Diese Macht ist in der Regel aufgrund
angeborener
Begabungen,
Intelligenz,
Schnelligkeit,
Gewandtheit
und
Muskelkraft ungleich verteilt. Die Ungleichheit bezieht sich ebenfalls auf die
Möglichkeit von Übungsgewinn sowie der heterogenen Verfügung über
künstliche Mittel
zur
Steigerung
der Verletzungseffizienz
(Waffen und
Kampforganisationen). Die potentielle Gefährlichkeit des Menschen im Hinblick
25
auf einen anderen Menschen ist unendlich, da es für diese künstliche
Effizienzsteigerung keine Grenzen gibt. Parallel dazu ist der Mensch ein
vielfältig empfindliches und verletzliches Wesen. Dies begründet sich darin,
dass allen lebenden Wesen das Leben wieder genommen werden kann. Der
Mensch ist ein besonders anfälliges Individuum, da er keine angeborenen
Schutzmechanismen
wie
Fell
oder
Panzer
besitzt
und
somit
seine
lebenswichtigen Organe ungesichert gegenüber Angriffen von außen sind. Zu
der körperlichen Verletzbarkeit kommt die ökonomische Verletzbarkeit des
Menschen. Durch die Ausübung von Macht ergeben sich zahlreiche
Möglichkeiten, Menschen ihre Subsistenzmittel zu entziehen, zu rauben und zu
zerstören, und ihnen den Zugang zu lebens-notwendigen Ressourcen zu
beschränken bzw. zu verwehren. Ein bedeutender Aspekt von Macht ist zudem
die Verletzbarkeit des Menschen durch den Entzug der Möglichkeit an sozialer
Teilhabe. Durch den damit einhergehenden Verlust von Zugehörigkeiten und die
unendlichen Möglichkeiten von Ausgrenzungen und Herabsetzungen wird die
individuelle Existenz bedroht. (Vgl. Popitz 1992, S. 24f). Dies ist laut Popitz die
Grundlage jeglicher Formen von Macht: „Menschen können über andere Macht
ausüben, weil sie sie verletzen können.“ (ebd., S. 25).
Der Gewalttäter übt somit (Aktions)Macht gegen sein Opfer aus, indem er ihm
durch seine Gewalt körperlichen und ökonomischen Schaden zufügt und es
somit verletzt. Das Opfer ist dadurch, dass es ein verletzliches Individuum und
weniger mit Schnelligkeit, Muskelkraft oder Gewandtheit ausgestattet ist, dem
Täter schutzlos ausgeliefert. Auch zu beachten ist der Fall, indem das Opfer
dem Täter zwar körperlich gegenüber gleichwertig, jedoch nicht bewaffnet ist.
Somit ist es den Macht- bzw. Gewaltausübungen des Täters ebenfalls wehrlos
ausgesetzt. Hiermit handelt es sich folglich eindeutig um ein Machtproblem, dies
möchten wir anhand eines weiteren Zitats von Popitz belegen:
„Wer Aktionsmacht ausübt, kann etwas tun, wogegen andere nicht gefeit sind;
er hat die Macht, andere etwas erdulden zu lassen. Er kann […] den anderen
einsperren oder vertreiben, ihn verstümmeln, vergewaltigen, töten.
Aktionsmacht
ist
Verletzungsmacht,
der
Aktionsmächtige
der
Verletzungsmächtige.“ (ebd., S. 43).
26
Nachdem wir bereits den Täter in der Rolle des machtausübenden „Täters“
betrachtet haben, werden wir uns nun mit dem Täter in der machtertragenden
Rolle als „Opfer“ der Macht der Justiz befassen. Als Folge seiner Aktionsmacht
gegen das Opfer, in der er es zwang seine Gewalt zu erdulden, ist er nun durch
seine Inhaftierung ebenfalls in der Situation Aktionsmacht durch Ausschluss von
der Gesellschaft und somit den Entzug der Sozialen Teilhabe zu ertragen. Er
muss ohnmächtig aushalten, dass er eingesperrt wird und nicht mehr die
Möglichkeit besitzt, uneingeschränkt seine zwischenmenschlichen Kontakte zu
pflegen. Durch die Ausgrenzung wird seine Existenz bedroht.
Sowohl Täter als auch Opfer sind mit Aktionsmacht bzw. einem Machtproblem
konfrontiert, wenn auch durch verschiedene machtausübende Individuen bzw.
Instanzen und aus unterschiedlichen Gründen. Im Vergleich zu dem Täter, der
selbst verantwortlich für seine Gewalttat und damit auch für seine Lage ist,
wurde das Opfer hingegen schuldlos in diese Situation gebracht. STB würde
sagen, der Täter begrenzt durch seine Machtquelle „physische und körperliche
Stärke“ das Opfer indem er ihm möglicherweise den grundsätzlich offenen
Zugang zu vereinzelten Lebensbereichen beschränkt. Diese Begrenzung
bezeichnet sie als ein Machtproblem des Opfers. Bei dem Täter handelt es sich
nach STBs Theorie aufgrund seiner Inhaftierung um Behinderung, da er von der
Teilhabe
an
Ausstattung,
Austausch,
Macht
und/oder
Wertfindung
ausgeschlossen wird. Nach STB handelt es sich bei der Behinderung um ein
Machtproblem des Täters. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 373). Der
Täter jedoch wird aufgrund seiner Straftat nicht nur Aktionsmacht, sondern auch
instrumenteller Macht unterworfen.
5.1.2 Instrumentelle Macht
27
Laut Popitz bezeichnet das Geben- und Nehmen- Können und die Verfügung
über Belohnungen und Strafen die Basis der instrumentellen Macht. Weiter sagt
er, das Eintreffen der genannten Maßnahmen muss glaubhaft sein. Der Aufbau
und das Bewahren dieser Glaubhaftigkeit bestimmt die Strategie der
instrumentellen Machtausübung. Die Methode dieser Machtausübung ist das
Vorhandensein
eines
„Entweder-oder-Prinzips“.
Somit
wird
von
dem
Alternativensteller das Verhalten der Betroffenen in zwei Klassen, in Fügsamkeit
und Ungehorsamkeit, geteilt. Jegliches Verhalten des Betroffenen wird in Jaund Nein- Handlungen gegliedert, d.h. seine Handlungen werden automatisch
und zwangsläufig zu einer Antwort auf eine Frage, die er sich selbst nicht
gestellt hat - und zwar die Frage nach Belohnung oder Bestrafung. Diese
Alternative hat im Fall der Androhung einer Strafe den Charakter von
Erpressung, im Fall des Versprechens von Belohnung den Charakter einer
Bestechung. Die Motive, welche das zukünftige Handeln erzeugen, sind folglich
Angst und Hoffnung.
Da sich unser soziales Handeln am zukünftig erwarteten Handeln anderer
orientiert,
können
vorauszusehen
solche
glauben
Alternativen
oder
funktionieren.
unbewusst
Dinge,
antizipieren,
die
wir
wirken
verhaltenssteuernd. (Vgl. Popitz 1992, S. 26). Im Fall der verhaltenssteuerndinstrumentellen Macht werden Menschen somit dauerhaft zum Werkzeug
fremden Willens. Zu beachten ist, dass soziale Macht – im Unterschied zur
Macht über Tiere – über sprechende, denkende Subjekte ausgeübt wird, die
prinzipiell im gleichen Sinne handlungsfähig sind, wie die Machtausübenden.
„Die instrumentelle Macht des Drohens und Versprechens ist die typische
Alltagsmacht, die konventionelle Form der Durchsetzung gegen fremde Kräfte.
Zugleich ist sie ein notwendiges Element aller dauerhaften Machtausübung.
Jedes langfristige Machtverhältnis beruht auch auf instrumenteller Macht.“ (ebd.,
S. 27).
Bezugnehmend auf unser Thema ist der Staat die instrumentelle Macht
ausübende Instanz. Dies geschieht über das Instrument Justiz, wobei der
28
ausführende Arm die JVA ist, in welcher der Täter inhaftiert ist. Die Methode der
instrumentellen Macht, das Prinzip „Belohnung – Bestrafung“, ist in unserer
Gesellschaft omnipräsent. Der Täter hat sich bei Begehung der Straftat für die
Antwort „nein“ entschieden indem er sich durch seine Gewaltausübung nicht
gesetzeskonform verhielt. Die Konsequenz auf sein Verhalten ist die
„Bestrafung“ in Form der Freiheitsstrafe. In der JVA wird dieses Prinzip nun
fortgeführt und der Täter hat erneut die Möglichkeit, sein Verhalten
dementsprechend
auszurichten.
Der
Grundgedanke
der
instrumentellen
machtausübenden Instanz Staat ist hierbei, dass er sich aufgrund der Motive
„Hoffnung“ (z. B. auf frühzeitige Entlassung) und „Angst“ (z.B. vor weiteren
internen Bestrafungen) zukünftig innerhalb und außerhalb der JVA regelkonform
und gesetzestreu verhalten wird. Auch in diesem Fall greift STBs Theorie, dass
es sich aufgrund der den Täter behindernden Macht um ein Machtproblem
handelt, da er an der Teilhabe am sozialen Leben behindert wird. (Vgl. StaubBernasconi in Engelke 2002, S. 371).
Zusammenfassend lässt sich nach diesen Ausführungen die eindeutige Existenz
von Machtproblemen im Sinne von STB im Kreislauf „Täter – Gewalt – Opfer –
Justiz“ belegen. Dies spielt sich sowohl auf Täter- als auch auf Opfer-Ebene ab.
Des Weiteren möchten wir die Situation „Inhaftierte Gewalttäter“ und die damit
verbundenen Machtprobleme auf die Verletzung von Menschenrechten hin
überprüfen.
5.2 Menschenrechte
Am 10. Dezember 1948 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK) als internationales System zum Schutz der Menschenrechte in
Westeuropa gegründet. Diese Erklärung hat den Zweck, die universelle und
wirksame Anerkennung und Einhaltung der darin erklärten Rechte zu
gewährleisten. Das Ziel des Europarates ist die Erreichung einer größeren
29
Einigkeit unter seinen Mitgliedern. Eines der Mittel zur Erlangung dieses Ziels ist
die Wahrung und die Entwicklung dieser Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Mit der Konvention wollten sie ihren tiefen Glauben an die Grundfreiheiten,
welche die Friedens- und Gerechtigkeitsgrundlagen in der Welt darstellen,
bekräftigen. Um diese aufrecht zu erhalten, bedarf es eines wahrhaft
demokratischen politischen Regimes sowie der gemeinsamen Auffassung und
Achtung
der
Menschen-rechte.
(Vgl.
Beck-Texte
1985,
S.
211).
Die
teilnehmenden Regierungen europäischer Staaten verpflichten sich, allen ihrer
Herrschaftsgewalt
unterstehenden
Personen,
die
in
dieser
Konvention
niedergeschriebenen Rechte und Freiheiten zuzugestehen. (Vgl. Art. 1, EMRK).
Im Folgenden möchten wir die für unser Thema relevanten Menschenrechte und
Grundfreiheiten nennen, wobei die Bedeutsamkeit der übrigen dadurch nicht in
den Hintergrund gedrängt werden soll. Wir werden nach der Nennung des
jeweiligen Menschenrechtes unmittelbar Bezug zu unserer Thematik herstellen
und ihre mögliche Verletzung durch die Gewalttat erläutern.
5.2.1 Das Recht aller auf Leben (Art. 2 EMRK)
Artikel 2 der EMRK besagt, dass das Recht jedes Menschen auf Leben
gesetzlich geschützt wird. Eine Ausnahme bildet die Vollstreckung eines
Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines mit Todesstrafe bedrohten
Verbrechens ausgesprochen wurde. (Vgl. Art. 2, Abs. 1, EMRK). Die Tötung
wird außerdem nicht als Verletzung des Artikels betrachtet, wenn die
Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war. Dies wäre der Fall bei Notwehr,
bei Festnahmen oder Festhaltungen einer Person durch die Polizei und um
einen Aufstand zu unterdrücken. (Vgl. Art. 2, Abs. 2, EMRK).
Im Falle der extremsten Gewaltformen, den (versuchten) Tötungsdelikten,
verletzt der Täter das elementarste aller Menschenrechte, indem er dem Opfer
30
sein Leben nimmt oder es zumindest versucht. Er hat hierzu keine Berechtigung
und handelt deshalb wider dem auf den Menschenrechten basierenden
Strafgesetzbuch.
5.2.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK)
Artikel 5 der EMRK sichert jedem Menschen das Recht auf Freiheit und
Sicherheit zu. Es gibt jedoch Situationen in denen es gesetzmäßig erlaubt ist,
die Freiheit eines Menschen zu entziehen. Dazu gehören beispielsweise die
nach einer Verurteilung rechtmäßige Inhaftierung eines Straftäters oder der
Freiheitsentzug eines Menschen zum Schutz der Gesellschaft vor der
Ausbreitung
ansteckender
Krankheiten.
Des
Weiteren,
wenn
dieser
alkoholkrank, psychisch krank, rauschgiftsüchtig oder ein Landstreicher ist.
Etliche weitere Ausnahmen führen wir an dieser Stelle nicht auf, da sie für unser
Thema nicht relevant sind. (Vgl. Art. 5, Abs. 1, EMRK).
Dem Opfer einer Gewalttat wird durch den Angriff des Täters auf seine
biologische, physische und psychische Gesundheit das Recht auf Sicherheit
verwehrt. Es ist selbst nicht in der Lage, sich und seine Sicherheit ausreichend
zu schützen. Somit widerfährt ihm eine Menschenrechtsverletzung. Diese wird
stellvertretend für das Opfer von der Justiz geahndet und wird unter bestimmten
Bedingungen mit einem Freiheitsentzug bestraft. Somit wird durch eine
Inhaftierung des Täters nicht gegen sein Recht auf Freiheit und Sicherheit
verstoßen,
da
eine
gesetzlich
fundierte
Rechtfertigung
für
diesen
Freiheitsentzug besteht. Sollte die Inhaftierung wider Erwarten widerrechtlich
sein, so hat der Täter das Recht auf Schadenersatz.
5.2.3 Gebot der Achtung der privaten Sphäre (Art. 8 EMRK)
31
Artikel 8 der EMRK sagt aus, dass jeder Mensch einen Anspruch auf Achtung
seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs
hat. (Vgl. Art. 8, Abs. 1, EMRK) Davon ausgenommen ist der gesetzlich
vorgesehene Eingriff einer öffentlichen Behörde, welcher eine Maßnahme zum
Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ruhe und Ordnung, des
wirtschaftlichen Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung, der
Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und
Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer darstellt. (Vgl. Art. 8,
Abs. 2, EMRK).
Nach unserem Verständnis verletzt der Täter das Recht des Opfers auf
Privatsphäre, da er durch die Ausübung von Gewalt unerlaubt in diese eindringt
und somit das Privatleben des Opfers nicht unerheblich stört. Da sich das
Privatleben nicht zwingend in privaten Räumen abspielen muss, ist jeglicher
Angriff - unabhängig des Tatortes - ein Eingriff in die private Sphäre. Im Gegenzug dazu muss der Täter infolge seiner möglichen Inhaftierung nun erdulden,
dass in sein Privatleben eingegriffen und dieses kontrolliert wird. Es handelt sich
hierbei nicht um eine Menschenrechtsverletzung, da es zu den in Absatz 2
genannten Ausnahmefällen gehört und somit gesetzlich legitimiert ist.
5.2.4 Verletzungen nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland
Neben den Menschenrechtsverletzungen bestehen bei dem Opfer einer
Gewalttat folgende Grundrechtsverletzungen nach dem Grundgesetz (GG) der
Bundesrepublik Deutschland. Diese möchten wir der Vollständigkeit halber kurz
erwähnen:
•
Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG) bei jeder Gewalttat
•
Persönliche Freiheitsrechte (Art. 2 GG) bei jeder Gewalttat
•
Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) bei Gewalttaten innerhalb
32
des Wohnraums des Opfers
•
Eigentum, Erbrecht und Enteignung (Art. 14 GG) bei Raub und anderen
Gewalttaten, bei denen räuberische Mittel angewandt werden.
Nachdem wir uns nun eingehend mit den Menschenrechten beschäftigt haben,
ist deutlich geworden, dass etliche Rechte des Opfers durch die Aktionsmacht
des Täters verletzt werden. Um diesen Tatbestand zu ahnden, greift der Staat
anhand Aktionsmacht und instrumenteller Macht schützend ein. Im ersten
Moment könnte man vermuten, dass durch eine Inhaftierung die Menschenrechte des Täters verletzt werden, jedoch ist diese vermeintliche Verletzung
seiner Rechte durch Gesetze fundiert und somit legal. So bleibt es weiterhin
eine moralische Frage, nicht aber eine gesetzliche. „Der Vollzug der
Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“
(§ 2 StVollzG).
Auf Artikel 1 des Grundgesetzes „Schutz der Menschenwürde“ möchten wir nun
anhand des Philosophen Avishai Margalit, dessen Theorie durch die
Gerechtigkeitstheorie von John Rawls inspiriert wurde, gezielter eingehen.
5.3 Gerechtigkeitstheorie (Avishai Margalit)
Bei der Gerechtigkeitstheorie des Philosophen Avishai Margalit handelt es sich
um das Konzept der „anständigen Gesellschaft“. Deren Kernaussage ist, dass
die Würde eines Menschen (Mitglied der Gesellschaft) an erster Stelle, vor allem
anderen steht. Menschenwürde und Achtung stehen als Gegenbegriffe zu
Demütigung. Für Margalit existieren drei Formen der Demütigung: Menschen
unmenschlich behandeln, Ausschluss einer Person aus der menschlichen
Gesellschaft und Einschränkung der Kontrollfähigkeit bzw. Verlust der
Selbstkontrolle. Eine Gesellschaft ist nach Margalit nur dann anständig, wenn
33
nicht nur die Mitglieder untereinander sondern auch die Institutionen der
Gesellschaft ihre Mitglieder nicht demütigen. Sie bekämpft Verhältnisse durch
die sich ihre Mitglieder gedemütigt fühlen könnten und setzt sich mit der
institutionellen Ebene der Gesellschaft auseinander. Dies bedeutet, dass die
Rechte, Würde, Selbstachtung und Integrität der Menschen von der
Gesellschaft und von ihren Institutionen geschützt werden müssen. Margalit
plädiert für die Verwirklichung der „anständigen Gesellschaft“, da seiner
Meinung nach die „gezügelte Gesellschaft“ (die nicht grausam ist) nicht
ausreicht und die „gerechte Gesellschaft“ (die nicht kränkt) schwieriger zu
realisieren ist.
Außerdem betrachtet er es als bedeutender, dass in einer
Gesellschaft niemand ausgeschlossen wird, als alle ihrer Leistung gemäß
anzuerkennen, wie es bei einer gerechten Gesellschaft gefordert werden würde.
Im Folgenden werden wir uns mit einzelnen, für unser Thema wichtigen
Aspekten seiner Theorie auseinander setzen und diese in Bezug zu den
„Inhaftierten Gewalttätern“ stellen.
5.3.1 Demütigung
Nach Margalit lassen sich alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer
Person einen rationalen Grund geben sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu
sehen, als Demütigung bezeichnen. Das Entscheidende daran ist, dass nur das
Verhalten eines anderen Menschen uns gegenüber Auslöser für das Gefühl der
Demütigung sein kann. Es können auch Lebensverhältnisse ein Gefühl der
Demütigung auslösen, dies hat nach Margalit aber nur Berechtigung wenn dem
menschliche Handlungen oder Unterlassungen zugrunde liegen, jedoch nicht,
wenn sie natürlich sind. (Vgl. Margalit 1997, S. 23). „Nur Menschen können
demütigen, auch wenn die zugefügte Demütigung nicht unbedingt in ihrer
Absicht liegen muss.“ (Margalit 1997, S. 24). Margalit geht davon aus, dass das
Gefühl der Demütigung auch auf andere Menschen übertragbar ist. Dies
geschieht durch Identifikation mit dem Opfer, wenn eine Person dieselben
34
Merkmale oder Eigenschaften aufweist, deretwegen der eigentlich Geschädigte
erniedrigt wurde. (Vgl. Margalit 1997, S. 49).
Folglich liegt in dem Moment, in dem der Täter seinem Opfer Gewalt zufügt
(Menschliches
Verhalten
ist
alleiniger
Auslöser
für
Demütigung
eines
Menschen), bei diesem ein berechtigter Grund für das Gefühl der Demütigung
vor. Die Demütigung muss sich nicht nur auf die Tat beziehen, sondern kann
auch durch die darauf folgenden negativen Umstände für das Opfer aufrecht
erhalten werden, da sie nicht auf natürlichem Wege entstanden ist. Weiter ist zu
beachten, dass sich nicht nur die direkten Opfer von Gewalttaten gedemütigt
fühlen können, sondern sich z.B. bei Sexualdelikten gegen Frauen auch andere
Frauen aufgrund der gemeinsamen Eigenschaft der Geschlechtszugehörigkeit
„Frau“ gedemütigt fühlen können.
Wie Anfangs bereits erklärt, geht Margalit davon aus, dass Menschen durch die
Tatsache unmenschlicher Behandlung durch Institutionen einen berechtigten
Grund haben können, sich gedemütigt zu fühlen. Es gibt unterschiedliche Arten
einen Menschen unmenschlich zu behandeln. Dazu zählt, ihn als Objekt,
Maschine, Tier oder Untermensch zu betrachten. Durch den Ausschluss
einzelner Personen aus der menschlichen Gemeinschaft werden diese nach
Margalit ebenso unmenschlich behandelt, da es das Recht eines jeden ist, an
einer menschlichen Gesellschaft teilzuhaben. Auch durch die „Dämonisierung“
einzelner Personen/Gruppen wie in der Vergangenheit der „Hexen“ oder Juden,
welchen Bösartigkeit und Zerstörungswut unterstellt wurden, können Menschen
bzw. Gruppen inhuman behandelt werden. (Vgl. Margalit 1997, S.114f).
Bei den Gewalttätern, vor allem den Sexualstraftätern, lässt sich in der
Gegenwart eine ähnliche Entwicklung bezüglich einer Dämonisierung der Täter
beobachten. Da nach Margalit die Institutionen einer anständigen Gesellschaft
ihre Mitglieder nicht dämonisieren dürfen, ist z.B. die teils hetzerische
Berichterstattung in den Medien (als Institution der Gesellschaft) kritisch zu
35
hinterfragen und auf ihre „Anständigkeit“ hin zu überprüfen. Außerdem ist hier
unverkennbar eine Darstellung der Täter als Untermenschen („Bestien“)
ersichtlich.
Margalit versteht unter Demütigung auch den Ausschluss einzelner Personen
aus identitätsstiftenden Gruppen. Diese Gruppen zeichnen sich dadurch aus,
dass
sie
eine
gemeinsame
Kultur
besitzen,
die
die
wesentlichen
Lebensbereiche umfasst. Diese besitzen nur dann moralische Legitimation
wenn sie weder ihre Mitglieder, noch ihre Nicht- Mitglieder in jedweder Form
demütigen. Erst wenn die Gruppen diese Vorraussetzungen der NichtDemütigung erfüllen, ist der Ausschluss dieser Gruppen aus der Gesellschaft
eine Demütigung. (Vgl. Margalit 1997, S. 166ff).
Das bedeutet, demzufolge ist eine Gesellschaft, die der Gruppe der Gewalttäter
den Zugang zu der Gesellschaft verwehrt, dennoch eine Anständige, da diese
Gruppe keine moralische Legitimation besitzt. Dies ergibt sich aus der Tatsache,
dass sie ihre Nicht-Mitglieder durch die Ausübung von Gewalt ihrer Menschenrechte berauben und damit demütigen. Hinzufügen könnte man, dass sich die
Mitglieder dieser Gruppe vermutlich auch gegenseitig Gewalt antun, also sich
untereinander demütigen. Somit wird ihnen auch aus diesem Grund die
moralische Legitimation
verwehrt.
Daraus
schließen
wir,
mit
unserem
derzeitigen Wissensstand über Margalits Gerechtigkeitstheorie, dass sich der
inhaftierte Gewalttäter durch seine Freiheitsstrafe (Ausschluss aus der
Gesellschaft)
zwar
gedemütigt
fühlen
kann,
jedoch
aufgrund
der
vorangegangenen Erklärungen nach Margalit kein berechtigter Grund für dieses
Gefühl vorliegt.
Als weiteren Aspekt von Demütigung und im engen Zusammenhang mit
Ausschluss aus der Gesellschaft führt Margalit die Verminderung der
Kontrollfähigkeit bzw. den Verlust der Selbstkontrolle an. Seiner Meinung nach
ist die Selbstkontrolle eine wichtige Komponente für das Selbstgefühl eines
36
Menschen, da diese anderen Menschen in hohem Maße Respekt einflößt. (Vgl.
Margalit 1997, S. 143). „Gesten der Selbstkontrolle spielen sowohl für die
Bezeigung sozialer Ehre als auch für die Wahrung persönlicher Würde eine
zentrale Rolle“ (Margalit 1997, S. 143). Der Verlust an Selbstkontrolle führt im
Umkehrschluss zu einem Verlust der Selbstachtung. Margalit ist der Auffassung,
dass jeder Mensch aufgrund seines Menschseins die Fähigkeit inne hat, sich zu
jedem Zeitpunkt seines Lebens positiv zu verändern. Durch den Verlust der
Kontrollfähigkeit würde man ihm sein Menschsein aberkennen und ihn in seiner
Fähigkeit sich zum positiven zu verändern beschränken, (Vgl. Margalit 1997, S.
144ff). „ Wenn man die Freiheit eines anderen beschneidet und ihm mit
entsprechenden Gesten deutlich macht, dass er die Kontrolle über sich
weitgehend verloren hat, kann dies bedeuten seine Menschlichkeit zu leugnen.
Eben darin besteht der Zusammenhang zwischen Demütigung als Exklusion
und Demütigung als Verlust der Kontrollfähigkeit“. (Margalit 1997, S. 147).
Bezüglich der Vorstellung von Demütigung in Form von Freiheitsentzug,
welchen wir in unserem Fall als Gefängnisstrafe auslegen, geht Margalit davon
aus, dass der Mensch in diesem Kontext zwar eingeschränkt, jedoch innerhalb
dieses Rahmens dennoch frei ist, Entscheidungen zu treffen wann immer er
möchte.
Nach unserem Verständnis erfährt der Täter keinen tatsächlichen
Kontrollverlust und erleidet somit auch keine Demütigung durch seine
Inhaftierung. Folglich kann der Täter also auch im Gefängnis, trotz
Verminderung der Kontrollfähigkeit die Entscheidung treffen in Zukunft ein
besserer Mensch zu werden. Das Opfer hingegen verliert durch die Tat seine
Selbstkontrolle, da es dieser weder zustimmen noch widersprechen kann. Im
Grunde hat es fast keine Kontrolle über den Verlauf der Handlungen, welche
ihm zugefügt werden. Laut Margalit führt dies wiederum zum Verlust der
Selbstachtung. Somit sind also die Taten von Gewalttätern demütigend und
nicht konform mit den Normen und Werten einer anständigen Gesellschaft im
Sinne von Margalit.
37
5.3.2 Achtung
Wie sich im vorherigen Punkt „Demütigung“ heraus kristallisiert hat, misst
Margalit dem Begriff der Achtung eine große Bedeutung bei. Laut Margalit
existieren drei Rechtfertigungsstrategien weshalb der Mensch Achtung verdient.
Als erstes möchten wir die „positive Begründung“ anführen. Diese geht von der
gemeinsamen Eigenschaft aller Menschen aus, die Möglichkeit zu besitzen sich
zu jedem Zeitpunkt seines Lebens zu einem moralischen Individuum zu
verändern. Der „skeptischen Begründung“ nach ist die Achtungsbezeigung
selbst die Rechtfertigung, das bedeutet ein Mensch verdient Respekt aufgrund
seines Menschseins, auch wenn er nichts leistet. Man könnte auch sagen, mit
eigenen Worten, der Mensch ist Achtung. Die negative Begründung löst sich
von den vorherigen Rechtfertigungsstrategien und stellt umgekehrt die Frage
warum es falsch ist, einen Menschen zu demütigen. (Vgl. Margalit 1997, S.
77ff).
Nach Überprüfung der „positiven Rechtfertigungsstrategie“ bezüglich unserer
Thematik, kommen wir zu folgenden Schluss: Die Gesellschaft achtet die
Gewalttäter in Margalits Sinne ausreichend, da sie dessen Annahme über die
Möglichkeit einer positiven Veränderung augenscheinlich teilt. Dies sehen wir
durch die zeitliche Begrenzung der Haftstrafe belegt. Unserer Auffassung nach
bestehen drei Gründe weshalb die Justiz eine freiheitsentziehende Maßnahme
über den Gewalttäter verhängt. Zum Ersten den Schutz der Öffentlichkeit vor
weiteren möglichen Taten, außerdem muss negatives Verhalten sanktioniert
werden und zuletzt der Gedanke der Resozialisierung, in der Hoffnung, dass der
Täter dieses negative Verhalten nicht wiederholt. Der Hintergedanke bei der
Resozialisierung ist, dass sich der Täter durch die Haft zu einem besseren
Menschen wandelt und sich in Zukunft in Anlehnung an Popitz für „Ja“
entscheidet. Im Hinblick auf den Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten
von Gewalttätern und der Resozialisierung von Gewalttätern sehen wir einen
stark moralisch und rechtlich geprägten Spannungszustand. Die Forderung der
38
Allgemeinheit bei Wiederholungstätern, sie für immer zu verwahren auf der
einen Seite und der Gedanke der Resozialisierung auf der anderen Seite stehen
in Opposition zueinander. Durch die Inhaftierung auf Lebenszeit würde den
Straftätern
Veränderung
jene
nach
verwehrt
Margalit
werden.
achtungsbezeugende
Aktuell
ist
es
auf
Möglichkeit
zur
politischer
und
gesellschaftlicher Ebene ein stark diskutiertes Thema, wie mit der so genannten
Sicherungsverwahrung (§ 61 StGB) zu verfahren ist. Unter Anbetracht des
Aspekts der Achtung des Täters ist es keine Entscheidung, die leichtfertig zu
treffen ist. Der Täter verwehrte dem Opfer seine ihm nach Margalit zustehende
Achtung indem er es durch seine Gewalttat demütigte.
5.3.3 Strafe in der anständigen Gesellschaft
Margalit beschäftigt sich neben den existentiellen Aspekten einer anständigen
Gesellschaft wie Würde, Achtung und Demütigung auch mit dem Umgang von
Bestrafung unter Berücksichtigung dieser Punkte. Er ist der Auffassung, dass
sich anhand der Bestrafungspraxis einer Gesellschaft ablesen lässt ob sie sich
zu einer anständigen zählen darf oder nicht. Er geht davon aus, dass eine
Gesellschaft Straftätern (in unserem Fall Gewalttätern) zwar keine soziale Ehre
zuerkennen muss, ihnen aber dennoch die grundlegende Achtung, welche ihnen
allein für ihr Menschsein zusteht, entgegen bringen muss. Dies bedeutet: eine
Gesellschaft ist dann als „anständig“ zu betrachten, wenn sie Schwerverbrecher
bestraft ohne diese zu entwürdigen. (Vgl. Margalit 1997, S. 301). „Da
Demütigung gleichbedeutend mit der Verletzung der Menschenwürde ist, hat
auch ein Krimineller das Recht, nicht gedemütigt zu werden.“ (ebd., S. 301). Die
in der Vergangenheit in Deutschland gewaltsam ausgeübte Strafpraxis nach
dem Grundsatz „Gleiches mit Gleichem vergelten“ war eine demütigende. Da
diese körperliche Grausamkeiten, wie z. B. Folter beinhaltete, kann man im Fall
der vormodernen Gesellschaft nicht von einer anständigen Gesellschaft
sprechen. Folglich darf die anständige Gesellschaft für sich nicht nur den
39
Anspruch erheben frei von institutioneller Demütigung zu sein, sondern muss
auch eine Strafpraxis ohne körperliche Grausamkeit vorweisen können.
Außerdem sollte der zentrale Wert einer anständigen Gesellschaft die Wahrung
der Menschenwürde seiner Mitglieder und Nicht-Mitglieder sein, auch derer,
welche sich nicht konform verhalten. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung,
dass sich die Strafpraxis einer Gesellschaft ebenfalls an die Bedingung der
Wahrung der
Menschenwürde halten muss, wenn sie den Anspruch erhebt
anständig zu sein. Wenn eine Gesellschaft in allen anderen Bereichen die
Würde und Achtung ihrer Mitglieder und Nicht-Mitglieder wahrt, ihre Justiz
jedoch Straftäter demütigt, ist sie im Sinne von Margalit keine anständige
Gesellschaft. (Vgl. ebd., S. 302ff). Um dies nochmals zu überprüfen gehen wir
nun explizit auf den Aspekt der Demütigung in Zusammenhang mit Bestrafung
ein. Margalit vertritt die Annahme, dass zwischen Strafe und Schmerz (impliziert
auch psychische Leiden) ein Zusammenhang besteht, wobei nicht jede
systematische Schmerzzufügung zwangsläufig demütigend ist. So ist zwar die
Inhaftierung von Gewalttätern bewusst darauf angelegt sie zu entehren (ihrer
sozialen Ehre zu berauben) und Schande über sie zu bringen, wobei ihre
Entehrung aber nur in Ausnahmefällen zu einem Extrem getrieben wird, in dem
sie die Menschenwürde verletzt und somit zur Demütigung wird. An diesem
Punkt stellt sich Margalit die Frage, wie eine Haftstrafe ohne Demütigung
vonstatten gehen kann. (Vgl. Margalit 1997, S. 305f).
„Einerseits ließe sich darauf antworten, dass jede Strafpraxis, die Schmerz und
Entehrung einschließt, demütigend sein muss. Allenfalls könne die mit der
Strafe verbundene Erniedrigung abgeschwächt werden, aber sofern die
Haftstrafe überhaupt einen Zweck hat, lässt sich dieser nur durch das Leiden
und die Entwürdigung erreichen, die mit dem Ausschluß [sic] des Häftlings aus
der menschlichen Gesellschaft verbunden sind.“ (ebd., S. 306)
Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet könnte man jedoch auch behaupten,
dass der Täter durch seine Haftstrafe und die dazugehörigen negativen
Konsequenzen (Leiden) als moralisches Subjekt anerkannt wird und er dadurch
geachtet wird. Deutlicher gesagt, würde man einem geistig gesunden Menschen
die Straffähigkeit absprechen, indem man ihn für sein Handeln nicht
40
verantwortlich macht, würde er nach Margalit zwar nicht entehrt, aber auch nicht
geachtet werden. Überspitzt formuliert wird einem Täter die Ehre erteilt, ein
bestrafbares moralisches Subjekt zu sein, da ihm dadurch die ihm gebührende
Achtung erwiesen wird. Daraus lässt sich erkennen, dass durch die Inhaftierung
an sich noch keine Demütigung vorliegt. Inhaftierte Gewalttäter befinden sich
laut Margalit in einer äußerst unangenehmen Situation und
in der
gesellschaftlichen Hierarchie an unterster Stelle. Diese unangenehme Situation
definiert sich unter anderem durch den Verlust der Autonomie, welcher an sich
bereits denkbar entwürdigend ist. Jedoch sollte es nicht im Interesse einer
Gesellschaft sein ihre Häftlinge
zusätzlich zu erniedrigen. Es liegt in der
Verantwortung einer anständigen Gesellschaft für ein gewaltfreies Miteinander
der ihr unterstellten Inhaftierten zu sorgen. Sollten sie sich in der Institution
gegenseitig demütigen, so muss auch von einer institutionellen Demütigung
gesprochen werden. Zusammenfassend verdeutlicht Margalit, dass Strafe als
ein Signal für die Gesellschaft sowie für die Bestraften fungiert, welche die
Verknüpfung von Verbrechen mit Schande und Entehrung darlegt. Er plädiert
dafür, diese Schande rein als den Verlust der sozialen Ehre zu betrachten sowie
persönliche Demütigung zu vermeiden. Dies bedeutet, sie nicht aus der
Gesellschaft auszuschließen. (Vgl. Margalit 1997, S. 306-309). „Einer
anständigen Gesellschaft muß [sic] die Würde ihrer Gefangenen am Herzen
liegen.“ (Margalit, 1997, S. 309).
Nach eingehender Betrachtung und Überlegung sind wir zu dem Schluss
gekommen, dass man Deutschland in Hinblick auf die Inhaftierung von
Gewalttätern im Großen und Ganzen als eine anständige Gesellschaft
bezeichnen könnte, welche ihre Sträflinge in der Regel nicht persönlich
demütigt. Auch werden die Menschenrechte durch und während der Inhaftierung
aufgrund entsprechender Ausschlussklauseln nicht verletzt. Der Richtigkeit
halber muss an dieser Stelle jedoch angemerkt werden, dass es auch in
deutschen JVAs schon zu persönlicher Demütigung durch das Fehlverhalten
der diensthabenden Beamten gekommen ist. Diese werden aber, sofern
41
öffentlich geworden geahndet und bestraft, da eine Demütigung von Seiten der
ausführenden Justiz nicht im Sinne der deutschen Rechtsprechung ist. Jedoch
mit Blick auf die Gewalttätigkeit und Demütigungen der Häftlinge untereinander,
welche beinahe als alltäglich betrachtet werden können, lässt sich sagen, dass
diese nicht akzeptabel sind. Kürzlich wurde in einer Jugendhaftanstalt in
Siegburg ein Jugendlicher von drei Mithäftlingen auf brutale Art und Weise
gequält und schließlich erhängt. Der Häftling hatte seine Autonomie durch die
Freiheitsstrafe verloren und war somit schutzbedürftig. Er befand sich in einer
Abhängigkeit gegenüber der Institution JVA. Hier wirft sich die Frage auf, wie
diese Tat von den Justizvollzugsbeamten unentdeckt vonstatten gehen konnte,
da wir davon ausgehen, dass dieser Vorfall ein prozesshaftes Geschehen war
und dieser Prozess vermutlich nicht unbemerkt blieb. Die Institution bzw. die
Beamten hatten nicht ihrer Verantwortung gemäß schützend eingegriffen. Dies
wäre ihre oberste Pflicht gewesen um eine institutionelle Demütigung im Sinne
Margalits zu vermeiden.
Ein großes Problem, das in engem Zusammenhang mit der Verletzung von
Menschenrechten, aber auch mit dem vermehrten Auftreten von Gewalt in den
Gefängnissen selbst steht, ist die massive Überbelegung der Vollzugsanstalten.
Jeder Inhaftierte hat nach § 18 Abs.1 StVollzG einen rechtlichen Anspruch auf
Einzelunterbringung
während
der
Ruhezeit,
nach
welchem
eine
gemeinschaftliche Unterbringung in einem Haftraum nur vorübergehend und aus
zwingenden Gründen (z. B. Hilfebedürftigkeit eines Insassen) zuzulassen ist.
Einzige Ausnahme bildet hier der offene Vollzug, in welchem Gefangene bei
allseitigem
Einverständnis
und
ohne
Befürchtung
einer
schädlichen
Beeinflussung auch gemeinsam in einer Zelle untergebracht werden können.
(Vgl. http://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/index.html). In der Realität sieht
dies jedoch deutlich anders aus. Die Kapazitäten der JVAs sind sowohl räumlich
als auch personell der steigenden Anzahl von Inhaftierten bei weitem nicht
gewachsen,
so
dass
auch
im
geschlossenen
Vollzug
Haftzellen
mit
Mehrfachbelegung die Regel sind. Dies ist auf der einen Seite ein Verstoß
42
gegen die Menschenwürde und die Wahrung des Rechts auf Privatsphäre und
somit der Menschenrechte der betroffenen Gefangenen. Auf der anderen Seite
bietet diese Situation einen Nährboden für weitere Gewalthandlungen innerhalb
der Anstalt, was wiederum institutionelle Demütigung im Sinne Margalits zulässt.
Aufgrund der Einschränkung ihrer Privatsphäre kann es zu Frustration und
Aggression bei den Inhaftierten kommen, wobei das Ausleben dieser Gefühle,
welche bekanntlich eng mit Gewalt verknüpft sind, wiederum durch die
Überbelegung begünstigt wird. Je mehr Personen in einer Zelle untergebracht
sind, desto größer ist die Gefahr, dass es Konflikte gibt. Hinzukommend ist bei
einer Mehrfachbelegung des Haftraumes die Möglichkeit der Beobachtung und
Kontrolle durch die Vollzugsbeamten erschwert. Dies soll im oben genannten
Fall
in
Siegburg
jedoch
nicht
das
offensichtliche
Fehlverhalten
der
diensthabenden Beamten entschuldigen.
Nachdem wir nun die Gerechtigkeitstheorie der anständigen Gesellschaft nach
Margalit mit dem Ist-Zustand in Deutschland verglichen haben, gelangen wir zu
folgenden Ergebnis: Vorausgesetzt, das Ziel Deutschlands wäre die anständige
Gesellschaft, hat es sich zwar grundlegend den richtigen Maximen wie Achtung,
Würde und Nicht-Demütigung verschrieben, ist deren Umsetzung hingegen
defizitär und durchaus noch verbesserungswürdig.
Nach
Abschluss
der
wertmäßigen
Begründung
nach
STB
unter
Berücksichtigung der Menschenrechte, des Machtproblems anhand der Theorie
von Popitz und der Gerechtigkeitstheorie von Margalit, möchten wir uns im
nächsten Punkt damit befassen, wie das soziale Problem zum Positiven
verändert werden könnte. Dabei möchten wir uns an der Begründung und deren
Defiziten orientieren.
43
6. Verfahrenswissen
Gemäß der Frage „Wie kann was verändert werden?“ nach STB möchten wir
nun Interventions- sprich Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit und
anderen Institutionen aufzeigen, welche im Zusammenhang mit dem Thema
„Inhaftierte
Gewalttäter“
auf
verschiedenen
Ebenen
im
Bereich
der
Gewaltprävention, vorbeugend, aber auch innerhalb des Sozialraumes der Täter
und im Kontext der JVA geleistet werden können. Neben der Klärung von
Begrifflichkeiten möchten wir unter diesem Punkt mögliche Methoden und
Programme der Sozialen Arbeit, wie z. B. der Kinder- und Jugendhilfe, im
Umgang mit (potentiellen) Gewalttätern vorstellen. Auch der Begriff „Achtung“,
der, wie bereits beschrieben, einen hohen Stellenwert in Margalits Theorie der
anständigen Gesellschaft einnimmt, soll im Kontext der Gewaltprävention noch
einmal aufgegriffen werden.
6.1 Gewaltprävention
Der Begriff „Gewaltprävention“ wird in der Fachliteratur kaum diskutiert. Da es
hier keine allgemein gültige Definition gibt, kommt es in der Literatur oft zu
Vermischungen von Prävention und Intervention bei Gewalt. Grob kann man
sagen:
„Gewaltprävention bezeichnet […] alle institutionellen und personellen Maßnahmen, die der Entstehung von Gewalt vorbeugen bzw. diese reduzieren. Die
jeweiligen Maßnahmen zielen ab auf die Person selbst, auf die Lebenswelt
dieser Adressaten wie auch auf den Kontext der sie tangierenden sozialen
Systeme“. (Schatz in SGB VIII – Online-Handbuch o. J., S.1).
In der Gewaltprävention können die drei Ebenen der primären, sekundären und
tertiären Prävention unterschieden werden. Das Ziel der primären Prävention ist
das Verhindern von Gewalt bereits im Vorfeld, indem gewaltfördernde
Bedingungen aufgedeckt und verändert bzw. Adressaten zum adäquaten,
44
kompetenten Umgang damit befähigt werden. Die sekundäre Prävention strebt
vorbeugende Maßnahmen bei bereits identifizierten, sprich auffällig gewordenen
Personengruppen an und betreibt sowohl Schadensminderung, als auch
Kompetenzförderung
durch
gezielte
person-,
sozialraum-
und
institutionsbezogene Programme. Tertiäre Prävention beabsichtigt durch
spezifische rehabilitative oder resozialisierende Maßnahmen eine Vermeidung
des Rückfalls. (Vgl. ebd., S. 1).
Ziel der Aktivitäten zur Gewaltprävention ist es, abhängig von theoretischer
Orientierung und Schwerpunktbildung, bei Individuen Veränderungen im
personalen, kommunikativen und interaktiven Bereich zu bewirken. Diese
Veränderungen zeigen sich in der Stärkung des Selbstwertgefühls, der
Reflexion des eigenen Selbst, der Stärkung der Persönlichkeit, der Ausbildung
bzw. Verbesserung der sozialen Wahrnehmung, der Konfliktfähigkeit, im
kontrollierten Handeln und allgemein im Erwerb oder Ausbau sozialer
Kompetenzen. Auf lange Sicht hin werden eine Vermeidung von Straffälligkeit
und soziale Akzeptanz durch sozial integriertes Verhalten der Adressaten
angestrebt, dies nicht zu letzt auch zum Schutze der Allgemeinheit vor
potentiellen Straftätern. (Vgl. ebd., S. 1).
Die Gewaltprävention ist zum Teil gesetzlich verankert und zeigt sich in der
vielfältigen Struktur ihrer Angebote. Es kann grob unterteilt werden in Angebote
der
öffentlichen
und
freien
Jugendhilfe
und
in
Angebote
aus
dem
Bildungsbereich der Schulen. Auch dieser Bereich betrifft die Soziale Arbeit, da
es aufgrund des Anstiegs von Kriminalität und Gewalt an Schulen inzwischen
eine vermehrte Präsenz von Schulsozialarbeit gibt. Nach gängiger Praxis fallen
die Angebote unter § 14 SGB VIII (Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz),
das JGG in Verbindung mit dem § 27 SGB VIII (Hilfen zur Erziehung) oder als
ambulante Hilfe und Angebot des sozialen Lernens im Bereich des sozialen
Lernens nach § 29 SGB VIII (Soziale Gruppenarbeit). Diese geht oft einher mit
45
Bestandteilen von sozialen Trainingskursen. (Vgl. Schatz in SGB VIII – OnlineHandbuch o. J., S. 1).
6.1.1 Handlungsmöglichkeiten der primären Gewaltprävention
Dieser gewaltunspezifische Ansatz nimmt an, dass durch allgemeine förderliche
Angebote, die sowohl die Persönlichkeit als auch das Umfeld potentieller oder
tatsächlicher Täter ansprechen, indirekt positive Verhaltensänderungen im
Sinne eines Absehens von Gewalt ergeben. Hierzu zählt beispielsweise die
aufsuchende akzeptierende Jugendarbeit, die z. B. zu einem großen Teil in der
Gemeinwesenarbeit zu finden ist. Da die Primärprävention einen Fokus auf die
Veränderung gewaltfördernder Bedingungen legt, hat sie eine gute Chance,
wenn sie direkt vor Ort in der Lebenswelt bzw. im Sozialraum der Adressaten
agiert.
Offene,
möglicherweise
geschlechterspezifische
und
vor
allem
niedrigschwellige Angebote bieten den Kindern und Jugendlichen einen Raum,
ihre Freizeit konstruktiv zu gestalten. Dies wird möglich durch aktive,
pädagogische Angebote, welche die individuelle Entwicklung der Kinder fördern
und ihnen ermöglichen, gewalttätige Energien (z. B. Aggressivität) in erlaubte (z.
B. Austoben) umzuwandeln. Ein weiterer wichtiger Punkt ist eine klare Struktur
der Angebote und die Aufstellung klarer Regeln, um den Kindern eine
Orientierung und damit Sicherheit zu ermöglichen. Um die Adressaten ihre
eigene Selbstwirksamkeit spüren zu lassen und somit ihr Selbstvertrauen zu
stärken, können sie durch Partizipation unmittelbar an der Regelentwicklung
teilhaben und so ihre Lebenswelt aktiv mitgestalten. (Vgl. Dialog Bad Essen
2001, S. 6). So werden Sanktionen, die aus Regelverstößen resultieren, im
Vorfeld von ihnen selbst aufgestellt und nicht von „Stärkeren bzw. Mächtigeren“
übergestülpt, was ihnen ein destruktives Gefühl der „Machtlosigkeit“ und somit
„Schwäche“ geben würde. Das Ergebnis daraus könnte eine versuchte
Demonstration ihrer „Macht“ über Schwächere in den ihnen zugänglichen
Bereichen sein, was wohl meist mit zerstörerischen und/oder gewalttätigen
46
Handlungen und der Demütigung anderer im Sinne Margalits einhergeht.
Gemeinwesenarbeit hilft in der Arbeit mit Familien, durch die Förderung einer
ressourcen- und lösungsorientierten Sichtweise, wertschätzende und stabile
Beziehungsmuster
zu
entwickeln.
Dies
dient
dem
Prozess
der
Beziehungsklärung innerhalb familiärer Strukturen und der evtl. Vorbeugung von
Erziehungsdefiziten. (Vgl. ebd., S. 17). Welch hohe Bedeutung eine positive
Familienstruktur für die Entwicklung eines Kindes und somit für die Ausprägung
seines Gewaltpotenzials hat, wurde bereits von Obrechts Objekttheorie unter
Punkt 4.2 dieser Arbeit in Anlehnung an die Lerntheorie des Modellernens nach
Albert Bandura beschrieben.
Der Begriff „Achtung“, der in Margalits Theorie der anständigen Gesellschaft
einen hohen Stellenwert hat, steht unserer Auffassung nach ebenso in engem
Zusammenhang mit (primärer) Prävention. Einem Individuum soll Achtung
entgegengebracht werden, ohne dass es dafür etwas besonderes Leisten muss.
Wir verstehen den Begriff „achten“ hier sinnbildlich für „beachten“ und sehen
einen Zusammenhang zwischen dem Motiv der Gewalttat des Täters und der
Beachtung, die ihm anschließend von unterschiedlichen Seiten (Familie, Polizei,
Justiz,…) entgegengebracht wird. Auch wenn diese Beachtung negativ ausfällt,
ist sie für den Täter ein Zeichen für Interesse an seiner Person. Grundsätzlich
muss nach Margalits Gerechtigkeitstheorie einem Individuum aufgrund seines
Menschseins von vorn herein (positive) Achtung entgegengebracht werden, dies
bedeutet, dass man es auch beachten muss, wenn es weder negativ noch
positiv auffällt. Denn wenn es in diesem Sinne für seine Tat durch die
Aufmerksamkeit im Besonderen „belohnt“ wird, so wird es dieses Verhalten evtl.
öfter zeigen. Dies ist eine weitere in der Psychologie fundierte Lerntheorie,
welche
unter
dem
Begriff
„operante
Konditionierung“
oder
auch
Verstärkungslernen bekannt ist.
„Eine Verhaltensweise wird häufiger auftreten und erlernt, wenn durch sie
mehrmals ein angenehmer Zustand herbeigeführt und aufrechterhalten oder ein
47
unangenehmer Zustand beseitigt, vermieden bzw. verringert werden kann.“
(Hobmair 1997, S. 211).
Wichtige präventive sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten sind folglich
ein aufmerksames Wahrnehmen bzw. genaues Hinsehen, das Kind und seine
evtl. auffälligen gewaltgeprägten Handlungen (wenn es beispielsweise Tiere
quält oder aggressive Verhaltensweisen anderen Kindern gegenüber zeigt)
ernst zu nehmen und frühzeitig entsprechend zu reagieren. Ein wichtiger Punkt
ist
hier
auch
die
Vernetzung
und
kooperative
Zusammenarbeit
der
verschiedenen Beteiligten (ASD, Jugendamt, Schule, Eltern, usw.), um eine
effektive und effiziente Intervention zu gewährleisten.
6.1.2 Handlungsmöglichkeiten der sekundären Gewaltprävention
Dieser Ansatz widmet sich den Kindern und Jugendlichen, die bereits durch
Formen der Gewaltanwendung aufgefallen sind und ist daher in seinen
Methoden
und
Handlungsweisen
an
gewaltspezifischen
Programmen
ausgerichtet. Ziel ist hier die Schadensminderung und Förderung der sozialen
Kompetenzen, um weiteren Gewalthandlungen vorzubeugen. Die meisten
Programme
favorisieren
Unterstützung der
ein
personenbezogenes
Arbeiten,
das
mit
Gruppe und durch gruppenpädagogische Aktivitäten
Veränderungsprozesse des Einzelnen anstreben. Sie setzen an bei den
Erfahrungen und Problemlagen der Jugendlichen (Lebensweltorientierung),
stellen Selbstentfaltungsmöglichkeiten bereit (Ressourcenorientierung) und
vereinbaren und fixieren Veränderungsabsichten (Lösungsorientierung). Unter
diese Maßnahmen fallen beispielsweise Trainingsprogramme für aggressive
Kinder, Programme zum Umgang mit Konflikten, so genannte Streit-SchlichterProgramme und das „Coolness-Training“. Besonders Letzteres scheint Erfolg zu
versprechen, da es umfassend gewalterzeugende und aufrechterhaltende
Faktoren anspricht. Der Fokus liegt hier auf der Gruppe und den Strukturen, in
denen sich die Jugendlichen bewegen. Gruppendynamische Prozesse spielen
48
in Gewaltsituationen oft eine große Rolle. Im Coolness-Training werden die
ablehnende Haltung und Feindseligkeit gegenüber anderen reduziert. Rituale
und Strukturen von Begegnungen im öffentlichen Raum haben dabei einen
hohen Stellenwert und werden, z. B. durch Rollenspiele, analysiert. (Vgl. Schatz
in SGB VIII – Online-Handbuch o. J., S. 3-5).
6.1.3 Handlungsmöglichkeiten der tertiären Gewaltprävention
Bei diesen gewaltspezifischen Präventionsprogrammen finden sich vor allem
gewalttherapeutische Methoden (Sozialer Trainingskurs, Soziale Gruppenarbeit,
am Anti-Aggressivitätstraining orientierte Arbeit), das Anti-AggressivitätsTraining (AAT) und der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA).
Soziale Gruppenarbeit und der Soziale Trainingskurs sind erzieherische
Maßnahmen, die dem Jugendlichen Hilfestellung geben sollen, in der
Gruppenarbeit seine Probleme zu erkennen, zu bearbeiten und zu lösen.
Soziale Gruppenarbeit zählt zu den ambulanten Hilfen zur Erziehung für ältere
Kinder, Jugendliche und junge Volljährige. Über das soziale Lernen sollen
günstige Erfahrungen, Erlebnisse und Einsichten vermittelt werden, die letztlich
zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit führen.
Im § 29 SGB VIII läuft der Soziale Trainingskurs unter dem Sammelbegriff
Soziale Gruppenarbeit. In der Sozialen Gruppenarbeit wie im Sozialen
Trainingskurs finden sich dabei weitgehend ähnliche methodische Elemente wie
lebensweltorientierte Maßnahmen, Erlebnispädagogik oder auch konfrontative
Pädagogik. (Vgl. Schatz in SGB VIII – Online-Handbuch o. J., S. 5).
Der Soziale Trainingskurs zielt auf eine problem- und handlungsorientierte
Aufarbeitung der Schwierigkeiten, die zur Straftat geführt haben. Aus juristischer
Sicht handelt es sich bei den Teilnehmern um jugendliche und heranwachsende
Straftäter,
bei denen eine eingriffsschwächere Reaktion (Ermahnung,
49
Verwarnung) erzieherisch nicht ausreicht, wegen der Schwere der Schuld eine
Jugendstrafe aber nicht erforderlich ist. Es geht hier nicht um die Ahndung der
Straftat, sondern ist viel mehr eine Maßnahme zur Beseitigung von
Erziehungsdefiziten, auf denen die Tat beruht. Die Zielsetzung richtet sich im
Sozialen Trainingskurs auf die Förderung und Stärkung der Kommunikationsund Konfliktfähigkeit, die Verbesserung des Selbstkonzeptes, das Erlernen von
Toleranz, die Entwicklung von Problembewusstsein, Planungsfähigkeit und
Zukunftsgestaltung wie sozial verantwortliches Handeln. Die Jugendlichen
sollen also befähigt werden, ihren oft sehr krisenanfälligen Alltag eigenverantwortlich zu gestalten und die Möglichkeit haben, ein straffreies Leben zu
führen. (Vgl. ebd., S. 5).
Das Anti-Aggressivitäts-Training (AAT) wendet sich in der Regel an gewalttätige
jugendliche und heranwachsende Wiederholungstäter und stellt eine sehr
intensive gewaltpräventive Maßnahme dar. Oft findet man dieses Training im
stationären Bereich (z. B. JVA) vor. Ihm liegen die bereits erwähnten sozialen
Lerntheorien zugrunde, vor allem das Lernen am Modell. Das AAT sucht die
Auseinandersetzung des Täters mit seinem aggressiven Potential und seinen
Taten mit dem Ziel, den Täter nicht nur zu resozialisieren, sondern primär
künftige Gewalttaten und somit Opfer zu vermeiden. Beim AAT handelt es sich
um eine deliktspezifische Behandlungsmaßnahme, die als Spezialisierung des
sozialen Trainings zu verstehen ist. Es findet eine Orientierung an den
Prinzipien des sozialen Lernens statt. Ausschlaggebend sind hier die Inhalte in
Anlehnung auf das aktuelle Problemverhalten, der problemnahe Ort und der
Trainer, der intensiven und sitzungsübergreifenden Kontakt zum Täter haben
sollte. Erst wenn
bei
diesem
eine Einstellungsänderung
vorliegt,
die
Körperverletzung als inhumanes, unwürdiges Verhalten erkennt und nicht als
präventive Konfliktlösungsstrategie, führt dies auch längerfristig zu einem Erfolg.
50
6.2 Handlungsmöglichkeiten innerhalb der JVA
Um wieder auf das Thema der „inhaftierten Gewalttäter“ zu lenken, möchten wir
an dieser Stelle aufzeigen, welche Möglichkeiten der Veränderung es bezüglich
des gewalttätigen Verhaltens der Inhaftierten gibt. Innerhalb der JVAs gibt es
zwar pädagogische und tertiärpräventive Angebote, welche allerdings aufgrund
des bereits beschriebenen Problems der Überbelegung der Anstalten bei
Weitem nicht ausreichen. Die Soziale Arbeit hat in diesem Bereich also nur
einen begrenzten Einfluss auf das Repertoire und die Intensität des Angebots
und der Maßnahmen. Sie könnte effektiver und effizienter tätig werden, wenn
das Problem der Überbelegung gelöst, bzw. ein Mehr an Stellen für
pädagogische Fachkräfte, wie Sozialpädagogen, zur Verfügung stehen würde.
Hierfür müssten jedoch wirtschaftliche Entscheidungen auf höherer politischer
Ebene getroffen werden, auf welche die Soziale Arbeit in dem Sinne keinen
direkten Einfluss hat.
„Ebenso müssen Initiativen zur Verbesserung seiner Rahmenbedingungen und
seines Image aus dem Vollzug selbst kommen und die Leistungen der
gewährten Grundversorgung deutlich herausstellen, um öffentliche Akzeptanz
zu erhöhen und zur Verbesserung materieller und personeller Bedingungen
beitragen.“ (Gefährdetenhilfe Scheideweg e.V. o. J., S.1)
Sozialpädagogische Maßnahmen, die im Rahmen einer Inhaftierung der
Gewaltbereitschaft der Gefangenen entgegenwirken sollen, sind – wenn auch
nicht ausreichend – in Form von AAT und Sozialem Kompetenztraining
vorhanden. Der oft ausbleibenden effektiven Wirkung dieser Angebote im
Rahmen der Haftanstalt liegt zugrunde, dass aufgrund des oben genannten
Dilemmas eine Regelmäßigkeit und Intensität der Maßnahme, welches aber
wichtige Bedingungen für den Erfolg sind, nicht gewährleistet werden kann.
51
6.3 Alternative Handlungsmöglichkeiten
Aufgrund der hohen Rückfallquote bei den aus der Haftanstalt entlassenen
Gewalttätern wirft sich uns die Frage auf, ob es nicht alternativ zum Strafvollzug
Möglichkeiten der Rückfallvermeidung für (Wiederholungs-)Täter gibt. Wie
bereits unter Punkt 5.3.3 dieser Arbeit beschrieben, ist in den JVAs die
Problematik der Gewalt unter den Häftlingen selbst äußerst präsent und
verstärkt sogar oft noch das gewalttätige Verhalten einzelner Gefangener. So
steigt das Gewaltpotenzial vieler Täter im Vergleich zum Beginn der Haft eher
noch an, als sich zu verringern. Um diesem beinahe unlösbar erscheinenden
Dilemma zu entfliehen, sollten nach unserem Ermessen alternative Programme
zur so genannten (U-)Haftvermeidung nach §§ 71f JGG vermehrt zum Einsatz
kommen.
Für die Ausführung dieser Maßnahmen ist die Jugendhilfe in Zusammenarbeit
mit Sozialen Diensten und der Jugendgerichtshilfe zuständig. Zielgruppe der
Haftvermeidung sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 25
Jahren, die einen sozialpädagogischen Unterstützungs- und Betreuungsbedarf
haben. Diese Form der ambulanten Betreuung soll einer Verfestigung strafbaren
Verhaltens entgegenwirken und den betroffenen Jugendlichen individuelle
Lösungen anbieten. Straffällige Jugendliche, die unmittelbar von U-Haft bedroht
sind, werden im Kontext einer Krisenintervention in das jeweilige Projekt
aufgenommen. Bei der Erarbeitung von angepassten, mit den Jugendlichen
abgestimmten individuellen Lösungen geht es meist um Unterstützung in
verschiedenen Lebensbereichen, wie z. B. Schule, Umgang mit Ämtern, etc.,
um Beratung bei persönlichen Problemen, Betreuung in Verbindung mit dem
Strafverfahren, Hilfestellung bezüglich sozialer Kontakte und Reflexion des
eigenen Lebenslaufs, um Ursachen für eigene Verhaltensweisen zu erkennen.
Die Methoden orientieren sich an Einzelgesprächen zur Situationsanalyse,
Festlegung zur Vorgehensweise, Gesprächen mit der Familie des Täters,
Beratung, Therapievermittlung, usw., können aber je nach Maßnahme und
52
individuellem Bedarf variieren.
(Vgl. http://www.mdj.brandenburg.de/sixcms/detail.php/lbm1.c.281746.de).
Ein Beispiel für ein Projekt zur Haftvermeidung sind spezielle Trainings-Camps
für straffällig gewordene Jugendliche. Eines der bekanntesten solcher Camps ist
die Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen im Leben“® - Trainingscamp Lothar
Kannenberg, welches von selbigem ins Leben gerufen wurde. Er selbst war
früher krimineller, gewaltbereiter Straftäter. Es handelt sich bei dieser Form um
eine vollstationäre Betreuung mit gruppenpädagogischem Ansatz mit an der
Erlebnispädagogik und an Sport orientierten Schwerpunkten. (Vgl. Konzept
Jugendhilfeeinrichtung Trainingscamp Lothar Kannenberg o. J., S. 4).
Spezielles Ziel dieser Einrichtung ist es, Jugendlichen den Sport als ein Ventil
für aufgestaute Emotionen als Handlungsalternative anzubieten. Im geschützten
Rahmen des Trainingscamps werden sie einerseits gefordert und erhalten
andererseits die Gelegenheit, ihre „Maske“ abzusetzen, sich zu öffnen und
kooperative, soziale Verhaltensformen zu üben. Gleiches gilt für Jugendliche,
die in einer Opferrolle lebten und ihre Umgebung durch ihr Verhalten indirekt
dominierten. Sie können Selbstbewusstsein aufbauen und lernen aktiv für ihre
Interessen einzutreten. (ebd., S. 4).
Die Mitarbeiter der Maßnahme setzen sich zusammen aus einer Pädagogischen
Leitung
(Dipl.-Soz.
Päd.)
weiteren
Diplom-Sozialpädagogen,
RespekttrainerInnen,
Erlebnispädagogen,
Mountainbike-Guides,
Fitnesstrainern,
lizenzierten
Übungsleitern,
Erziehern,
Boxtrainern,
ausgebildeten
Handwerker, die jedoch ebenfalls mit pädagogischer Arbeit vertraut sind. (Vgl.
ebd., S. 3).
Als Fazit sehen wir die Haftvermeidung allgemein und im Speziellen diese
Möglichkeit als sehr positiv zu bewertende Alternative zur Haftverbüßung in
53
einer der überbelegten gewaltgeprägten Justizvollzugsanstalten. Während in
den JVAs Gewalt unter den Häftlingen immer noch an der Tagesordnung steht
und das gewalttätige Verhalten der Täter durch mangelnde sozialpädagogische
und
therapeutische
Angebote
eher
noch
verstärkt
wird,
bietet
die
Haftvermeidung einen geschützten Rahmen, in dem individuell auf die
Einzelfälle und Bedürfnisse der Täter eingegangen werden kann. Ihnen wird
durch die sozialpädagogische Begleitung und in Gruppenarbeit eine bessere
Möglichkeit gegeben, sich mit ihrem „gewalttätigen“ Selbst und der/den
begangenen Gewalttat/en auseinander zu setzen und durch angeleitete
Selbstreflexion ihr Verhalten zum Positiven hin zu verändern. Dadurch kann
ihnen die durch Margalit geforderte (Be-)Achtung in einem wesentlich höheren
Maße als innerhalb einer JVA entgegengebracht werden. Diese (Be-)Achtung
steht ihnen einerseits aufgrund ihres Menschseins zu und andererseits
benötigen sie diese, um nicht mehr negativ durch etwaige gewalttätige
Straftaten auffallen zu müssen.
7. Schlussgedanken
Nachdem wir uns nun ausführlich mit den Handlungsmöglichkeiten der Sozialen
Arbeit befasst haben, möchten wir abschließend noch einmal unsere
Erkenntnisse zusammen fassen und einen hypothetischen Ausblick wagen.
Wir klärten in dieser Arbeit hinsichtlich der Verletzung von Menschenrechten bei
„Inhaftierten Gewalttätern“ und deren Taten, dass rein rechtlich keine
Menschenrechtsverletzungen bezüglich des Täters im Rahmen der Inhaftierung
vorliegen, da es im Gesetz oft Sonderklauseln, bzw. Ausweichungen gibt.
Trotzdem bleibt es für uns eine moralische Frage, ob es durch diese gesetzliche
„Legitimierung“ wirklich vertretbar ist, dass in die Menschenrechte des Täters
eingegriffen wird. Dies ist jedoch eindeutig der Fall, beispielsweise beim Schutz
der Privatsphäre oder dem Briefgeheimnis, da dieses in der JVA nicht gewahrt
54
wird. Solange aber nicht geeignete Alternativen zum Strafvollzug zum Tragen
kommen, wird es diese für uns moralisch unbefriedigende Lösung geben.
Natürlich darf man hier auch nicht den Blick auf die Opfer außer Acht lassen, die
im Endeffekt Hauptleidtragende der Tat waren. Sie hatten schließlich auch nicht
die Macht, den Menschenrechtsverletzungen gegen ihre Person durch den
Täter zu entgehen. Außerdem hat der Gewalttäter sich de facto mit einer
Handlung strafbar gemacht und muss daher Einschränkungen in Kauf nehmen.
Diese dienen letztendlich auch dem Schutz der (potentiellen) Opfer.
Von den Opfern und der Gesellschaft wird Gerechtigkeit gefordert. Aber was ist
gerecht? Gleiches
mit Gleichem zu vergelten? Gerechtigkeit ist hier
Ermessenssache und nicht so einfach umzusetzen. Dies erfordert eine
eingehende Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechtsverletzung in
JVAs, welche wohl eher eine Aufgabe für die Justiz darstellen. Der Sozialen
Arbeit werden innerhalb der Vollzugsanstalt andere Prioritäten zuteil. Sie legt
ihren Fokus eher auf spezielle Aufgabengebiete und den Ausgleich der
individuellen
Defizite
der
Inhaftierten
(z.
B.
Suchtberatung,
soziales
Kompetenztraining usw.). Die Verbesserung der Haftbedingungen sollte
Gegenstand einer politischen Diskussion sein, welche durch die Soziale Arbeit
lediglich angeregt werden kann. Sie kann sich dafür einsetzen, dass der
Inhaftierte nicht nur als „Täter“, sondern primär als „Mensch“ gesehen wird,
dessen Interessen und Bedürfnisse ebenso wie bei allen anderen Menschen
bestmöglich gewahrt werden müssen.
Abschließen möchten wir mit der provokanten These, dass die Gesellschaft
akzeptieren müsste, dass es sich bei noch so „unmenschlich“ erscheinenden
Taten trotzdem um etwas „menschliches“ handelt, da diese nun mal von
Menschen ausgeführt werden. Wir gehen davon aus, dass je besser die
Gewalttäter behandelt werden und je mehr sich für sie eingesetzt wird, sie also
im positiven Sinne „beachtet“ werden, desto höher ist die Chance, dass sie in
Zukunft keine weiteren Straftaten mehr begehen. „Behandlung“ umfasst nicht
55
nur den wertschätzenden Umgang mit ihnen, sondern auch die therapeutische
Auseinandersetzung mit ihren Defiziten, welche im Zusammenhang mit der
begangenen Straftat stehen. Es müsste somit auch im Sinne der Gesellschaft
sein, den Gewalttätern einen möglichst effizienten Rahmen zu bieten, da sie so
selbst als potentielle Opfer von entlassenen Gewalttätern besser geschützt sind.
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