Nadine Huss Lena Korndoerfer Ina Berchtold Soziale Arbeit 6.Semester Studienarbeit: Soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Soziale Probleme und Macht Thema: " Inhaftierte Gewalttäter/innen" TGWN Studienarbeit im Fach TGWN Prof. Dr. phil. Juliane Sagebiel Fachhochschule München Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften Am Stadtpark 20 81243 München Abgabedatum: 09. Oktober 2007 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis ……………………………………………….......................... 4 1. Einleitung/ Themenwahl …………………………………………………….……… 5 2. Vorgehensweise in der Studienarbeit (Silvia Staub-Bernasconi) ................ 6 2.1 Allgemeine Erklärung der Theorie des prozessualsystemischen Paradigmas ………………………………………………... 6 2.1.1 Ausstattungsprobleme .............................................................. 8 2.1.2 Austauschprobleme .................................................................. 8 2.1.3 Machtprobleme ……………………………………………………. 9 2.1.4 Kriterienprobleme …………………………………………………. 9 2.2 Professionelle Handlungstheorie ("W-Fragen") ……………….……. 10 2.2.1 Gegenstandswissen ……………………………………….…….. 10 2.2.2 Erklärungswissen …………………………………………….…... 11 2.2.3 Wert- oder Kriterienwissen …………………………….…….….. 11 2.2.4 Verfahrenswissen …………………………………………….….. 11 2.2.5 Evaluationswissen ………………………………………….….… 11 3. Gegenstandswissen …………………………………………………………….…. 12 3.1 Herkunft und Gebrauch des Begriffs „Gewalt“ ……………...…….... 12 3.2 Negativer Gebrauch …………………………………………………..……13 3.3 Definition "Gewalttat" bzw. "Gewaltverbrechen" ……………….…... 13 3.4 Aktuelle Statistik regionaler Gewaltverbrechen …………………..… 14 4. Erklärungswissen (Werner Obrecht) ……………………………………..……. 16 4.1 Metatheorien ……………………………………………….………….….. 17 4.1.1 Ontologie …………………………………………………..……… 17 4.1.2 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ……………..……….…. 18 4.1.3 Werttheorie …………………………………………………..…… 19 4.2 Objekttheorien ………………………………………………………..…… 20 5. Wert- und Kriterienwissen ……………………………………………................. 24 2 5.1 Macht (Heinrich Popitz) ……………………………………………….… 24 5.1.1 Aktionsmacht ……………………………………………………... 25 5.1.2 Instrumentelle Macht …………………………………………….. 27 5.2 Menschenrechte ……………………………………………..................... 29 5.2.1 Recht aller auf Leben (Art. 2 EMRK) ……………..................... 30 5.2.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) …………...... 30 5.2.3 Gebot der Achtung der privaten Sphäre (Art. 8 EMRK) …….. 31 5.2.4 Verletzungen nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ……………………………………………….……… 32 5.3 Gerechtigkeitstheorie (Avishai Margalit) …………………….…….…. 33 5.3.1 Demütigung ……………………………………………………..… 34 5.3.2 Achtung …………………………………………………….……... 38 5.3.3 Strafe in der anständigen Gesellschaft ………………….…….. 39 6. Verfahrenswissen ………………………………………………….….…………… 44 6.1 Gewaltprävention …………………………………………………………. 44 6.1.1 Handlungsmöglichkeiten der primären Gewaltprävention …... 46 6.1.2 Handlungsmöglichkeiten der sekundären Gewaltprävention .. 48 6.1.3 Handlungsmöglichkeiten der tertiären Gewaltprävention ….....49 6.2 Handlungsmöglichkeiten innerhalb der JVA ……………………...… 51 6.3 Alternative Handlungsmöglichkeiten …………………..…………….. 52 7. Schlussgedanken ………………………………………………….……………… 54 Literaturverzeichnis ……………………………………………………………… Erklärung gem. RaPO § 31, Abs. 7 3 Abkürzungsverzeichnis AAT = Anti-Aggressivitäts-Training Abs. = Absatz Art. = Artikel bzw. = beziehungsweise d. h. = das heißt Dipl.-Soz.Päd. = Diplom-Sozialpädagoge Dr. = Doktor ebd. = ebenda EMRK = Europäische Menschenrechtskonvention etc. = et cetera (≈ und so weiter) evt. = eventuell f = folgende ff = fortfolgende gem. = gemäß GG = Grundgesetz inkl. = inklusive JGG = Jugendgerichtsgesetz JVA = Justizvollzugsanstalt o. J. = ohne Jahr RaPO = Rahmenprüfungsordnung für die Fachhochschulen S. = Seite SGB = Sozialgesetzbuch [sic] = lateinisch: (wirklich) so STB = (Silvia) Staub-Bernasconi StGB = Strafgesetzbuch StVollzG = Strafvollzugsgesetz TOA = Täter-Opfer-Ausgleich usw. = und so weiter Vgl. = vergleiche z. B. = zum Beispiel § = Paragraph % = Prozent 4 1. Einleitung / Themenwahl In der gesamten Arbeit übernehmen wir die männliche Schreibweise der Täter/innen, wobei es unter den Tätern sowohl männliche als auch weibliche Personen gibt. In dieser Studienarbeit möchten wir uns kritisch mit dem Thema "inhaftierte Gewalttäter" auseinandersetzen. Momentan ist es ein öffentlich diskutiertes Thema, wie mit Gewalttätern zu verfahren ist. Es werden verschiedene Aspekte hinterfragt, wie z. B. die Dauer der Inhaftierung und der Umgang mit Wiederholungstätern. Es werden Forderungen laut, in Extremfällen die so genannte Sicherungsverwahrung häufiger zu verhängen. Fraglich ist dabei, ob diese auch nachträglich gefordert werden darf und ob es konstruktiv ist, sie bei jugendlichen Straftätern anzuwenden etc. Es ist somit offensichtlich, dass die deutsche Gesellschaft beabsichtigt, mit diesen Tätern härter einherzugehen. Dies wirft bei uns einige Unklarheiten auf, deren Klärung Inhalt dieser Arbeit sein soll. Natürlich müssen die Bürger vor diesen Tätern geschützt werden, aber inwieweit werden hierbei beispielsweise die Menschenrechte des Täters gewahrt? Wie stehen diese im Verhältnis zu den Menschenrechtsverletzungen des Opfers durch den Täter? Oder inwiefern kann man hier von einer anständigen Gesellschaft sprechen, in der Menschen existieren, die anderen Individuen Leid zufügen und als Konsequenz für ihr Handeln von der Gesellschaft ausgeschlossen werden? Handelt es sich hierbei um ein Machtproblem und wenn ja, in welchem Ausmaß? Es stellt sich an diesem Punkt weiter die Frage wer Macht über wen ausübt? Warum ist die derzeitige Situation bezüglich des Umgangs mit Gewalttätern überhaupt ein soziales Problem? Es sollen hier zwei Perspektiven aufgezeigt werden, zum einen die Perspektive der verletzenden bzw. nach dem israelischen Philosophen Avishai Margalit „demütigenden“ Handlungen des Gewalttäters in Bezug auf das Opfer und zum anderen die gesetzlich legitimierte "Demütigung" des Täters durch die Justiz. Die grundsätzliche Frage ist, darf man Gleiches mit Gleichem vergelten? Wir 5 werden uns auf zwei Ebenen der Sozialen Arbeit bewegen, im ersten Fall auf der Mikroebene und im zweiten auf der Mesoebene. Die Mikroebene meint hier das Individuum, also das Opfer und den Täter, die Mesoebene bezeichnet Institutionen, also den Staat bzw. die Justiz. Ziel dieser Arbeit soll sein, die Vorgehensweisen der staatlichen Institutionen unter dem Blickwinkel der "anständigen Gesellschaft" im Sinne Margalits, sowie der Wahrung der Menschenrechte des Täters aber auch der (potentiellen) Opfer zu hinterfragen und auf ihre soziale Gerechtigkeit hin zu überprüfen. Außerdem möchten wir beleuchten, inwieweit die Soziale Arbeit hier vermittelnd bzw. aufklärend tätig werden kann. 2. Vorgehensweise in der Studienarbeit (Silvia Staub-Bernasconi) Um uns in dieser Arbeit wissenschaftlich fundiert mit der Thematik auseinander zu setzen, haben wir uns für die Anwendung des prozessual-systemischen Paradigmas nach Silvia Staub-Bernasconi (STB) in Anlehnung an Werner Obrecht entschieden. STB bietet in Form der fünf Wissensdimensionen ("WFragen") ein professionelles Handlungsmodell an. Dieses wird uns im weiteren Verlauf der Studienarbeit als Grundgerüst dienen. Zur Beantwortung der "WFragen" werden wir andere Theoretiker und Philosophen hinzuziehen. Vorab werden wir zum Verständnis das prozessual-systemische Paradigma anhand der Theorie von STB erklären. 2.1 Allgemeine Erklärung der Theorie des prozessual- systemischen Paradigmas Diese Theorie geht davon aus, dass alles Existierende in Bewegung, vergänglich und nicht statisch, also Prozessen unterworfen und veränderbar ist 6 (Zeitkomponente). Des Weiteren ist alles Existierende in Systeme eingegliedert und miteinander in Beziehung stehend (Raumkomponente). Laut STB sind Menschen von Geburt an in solche (sozialen) Systeme eingebunden. Des weiteren gehen STB und Obrecht davon aus, dass Menschen "selbstwissensfähige Biosysteme" sind, die biologische, psychische, soziale und kulturelle Bedürfnisse haben, wobei Triebe, Emotionen, Gefühle und moralische Empfindungen ein Defizit anzeigen und zu bedürfnisbefriedigendem Verhalten anregen. Die Befriedigung der Bedürfnisse ist abhängig von der Quantität und der Verfügbarkeit der bedürfnisbefriedigenden Güter und Situationen. Die Fähigkeit des Individuums, die verfügbaren Mittel zu nutzen, spielt hier auch eine große Rolle. Soziale Arbeit ist für STB die Antwort auf soziale Probleme in der Gesellschaft. Mit dem Begriff "Problem" meint sie den Zustand, mit dem ein nach Bedürfnisbefriedigung suchendes Individuum unzufrieden ist, da es dafür keine Problemlösung kennt bzw. keinen Zugang zu problemlösungs- angemessenen Ressourcen hat. Soziale Probleme ergeben sich nach STB im allgemeinen dadurch, dass - Menschen sich gegenseitig zum Überleben und zur Bedürfnisbefriedigung brauchen - es in sozialen Systemen eine Knappheit in Bezug auf Bedürfniserfüllung gibt, aber gleichzeitig die individuellen Wünsche grenzenlos sein können - die Bedürfnisbefriedigung nicht immer realisierbar ist - mit Befriedigung von Bedürfnissen Machtstrukturen aufgebaut werden können - wir anderen psychische und physische Verletzungen zufügen oder ihnen helfen, dass wir andere ausschließen, sie bekämpfen oder mit ihnen zusammenarbeiten können - wir als lernfähige, bewusste Individuen Probleme wahrnehmen können, zwischen wahr, gut und böse unterscheiden können und die Wahl haben uns richtig oder falsch zu verhalten. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 368-371). 7 Für das Überleben, ihre Existenzsicherung und ihr Wohlbefinden sind die Menschen nicht ausschließlich von einer natur- und menschengerechten ökologischen Umwelt, sondern auch von einer humanen Gesellschaft abhängig. Dies ist die Grundlage für eine Vielzahl von menschlichen Problemen. Dazu gehören Ausstattungs-, Austausch-, Macht- und Kriterienprobleme. Diese erklären wir im Folgenden. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 371). 2.1.1 Ausstattungsprobleme Der Begriff Ausstattungsprobleme bezeichnet Schwierigkeiten, die mit der verschiedenen Teilhabe an medizinischen, psychischen, sozialen und kulturellen Ressourcen in der Gesellschaft zusammenhängen. Es gibt einerseits einen Mangel an Ausstattung, anderseits einen Überschuss. Ein Mangel an Ausstattung wäre beispielsweise, wenn der Grundbedarf an Nahrung, Kleidung und Wohnung usw. aber auch psychischen wie sozialen Bedürfnissen nicht abgedeckt werden kann. Im Gegensatz dazu bedeutet ein Überschuss, dass das Vorhandene weit über dem Bedarf liegt (Luxus). Problematisch wird es, wenn es hohe Defizite aber auch wenn es hohe Überschüsse in der Ausstattung gibt. Besonders schwierig wird es, wenn diese beiden Extreme sich gegenüberstehen. (Vgl. ebd., S. 371). 2.1.2 Austauschprobleme Um ihre Existenz sichern zu können, sind die Menschen auf den Austausch mit anderen und ihrer Umwelt angewiesen. Ausgetauscht werden beispielsweise Wissen, Kompetenzen oder Güter. STB unterscheidet zwischen symmetrischem Austausch, d.h. am Ende der Tauschbeziehung sind die Partner gleichgestellt, und asymmetrischen Tauschbeziehungen, bei denen am Ende einer über mehr verfügt und der andere dadurch benachteiligt ist. Soziale Probleme entstehen 8 ausschließlich in asymmetrischen Konstellationen. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 372). 2.1.3 Machtprobleme Um Zugang zu bestimmten Ressourcen und Teilsystemen der Gesellschaft (Bildung, Wissenschaft, Politik, Kultur usw.) zu erlangen, sind die Menschen abhängig von ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie von der Verfügbarkeit bestimmter Machtquellen. Nach STB wird Macht oftmals zum Auf- und Abbau von Einfluss und Machtstrukturen eingesetzt, was zu einer Differenzierung der Gesellschaft führt. Wichtige Machtquellen sind gesellschaftliche und soziale Stellung, ökonomisches Kapital, Bildungskapital, physische Stärke etc. Soziale Probleme entstehen dadurch, dass durch die Macht des einen möglicherweise ein anderer begrenzt oder behindert wird. Diese Begrenzung kann sich jedoch auch positiv äußern, indem durch sie soziale Gerechtigkeit hergestellt wird. (Vgl. ebd., S. 373). 2.1.4 Kriterienprobleme Nach STB sind Werte und Kriterien bedeutende Elemente einer bestimmten Kultur, deren Vorstellungen von den meisten Mitgliedern dieser Gesellschaft geteilt oder zumindest akzeptiert werden. Sie fungieren als Regelwerke mit ausgebautem sozialen Kontrollapparat, um die Verwirklichung zu ermöglichen und zu überwachen (z.B. Menschenrechte). Soziale Probleme entstehen dann, wenn für Sachverhalte keine Werte und Kriterien vorhanden sind oder vorhandene Werte oder Kriterien nicht oder nur beliebig eingesetzt werden. (Vgl. ebd., S. 373). 9 Alle diese Probleme können jeweils einzeln oder miteinander verbunden und aufeinander bezogen vorkommen. Die dadurch entstehenden sozialen Probleme bezeichnet STB als Unterschiede zwischen Menschen, deren Existenz nicht zwingend notwendig ist und prinzipiell zu vermeiden wäre. Soziale Probleme können als Ergebnis von Strukturen und Praktiken gesehen werden, welche eine adäquate Bedürfnisbefriedigung verhindern. Nach STB ist das Ziel der sozialen Arbeit die Werte und Kriterien der einzelnen Problemkategorien zu (Ausstattungsproblem), sichern, z.B. Reziprozität körperliche (Austauschproblem), Unversehrtheit Gewaltlosigkeit (Machtproblem) und Freiheit (Kriterienproblem). Um dies zu verwirklichen hat STB gemäß ihres prozessual-systemischen Theorieverständnisses eine professionelle Handlungstheorie entwickelt. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 373f). 2.2 professionelle Handlungstheorie ("W-Fragen") Die Struktur dieser Handlungstheorie wird im Folgenden erklärt, wobei die Konstruktionselemente jeweils einen Reflexions- und/oder Handlungsschritt auf das vorliegende Soziale Problem eröffnen. 2.2.1 Gegenstandswissen Das Gegenstandswissen antwortet auf die Frage "Was ist los?". Es beschreibt ein Problem in raum-zeitlicher Hinsicht und klärt entsprechend nach seiner Beschaffenheit, der Ereignisgeschichte sowie seiner geografischen und kulturellen Variationsbreite die Fragen. (Vgl. ebd., S. 367). 10 2.2.2 Erklärungswissen Es antwortet auf die Frage "Warum ist das so?". Es erklärt die Entstehung eines problembehafteten Sachverhalts und die Bedingungen seines Fortbestehens und seines Wandels. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 367). 2.2.3 Wert- oder Kriterienwissen Es beantwortet die Frage "Woraufhin soll verändert werden?". Dieses philosophisch-ethische Wissen, welches das Idealbild eines Sachverhalts darstellt, gibt die Möglichkeit der Be- und Verurteilung problembelasteter Sachverhalte und Strategien, sowie des Entwurfes der Vorstellung vom Wunschbild und einer damit verbundenen Zielformulierung. (Vgl. ebd., S. 367). 2.2.4 Verfahrenswissen Es gibt Antwort auf die Frage "Wie kann was verändert werden?". Durch dieses Wissen werden mögliche Mittel und Verfahren aufgezeigt, mit denen problematische Sachverhalte in gewünschte umgewandelt und in jeder Prozessphase unter Beachtung von Diagnosen und Erklärungen die Vorgehensweisen abgeklärt werden. (Vgl. ebd., S. 367). 2.2.5 Evaluationswissen Es ermöglicht die Beantwortung der Frage "Was ist geschehen?". Es ist das Ergebnis einer systematischen empirischen Auswertung, einerseits der Hauptund Nebeneffekte des/der Klient/innen und deren benachbarten Teilsysteme, 11 welche durch bestimmte Arbeitsweisen erzielt worden sind, und anderseits die Rückwirkungen auf umfassendere Systeme. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 367). Für uns jedoch ist das Evaluationswissen in dieser Arbeit nicht relevant, da wir uns auf einer theoretischen Ebene bewegen und nicht in der Praxis agieren. Somit besteht auch nicht die Möglichkeit der Reflexion. Der Vollständigkeit halber wollten wir es dennoch anführen. Gewalt ist ein breiter Begriff und daher werden wir im Folgenden die Formen und Definitionen klären. 3. Gegenstandswissen 3.1 Herkunft und Gebrauch des Begriffs „Gewalt“ Vorerst möchten wir die Herkunft des Wortes "Gewalt" und seine ursprüngliche Bedeutung anführen. Der Begriff "Gewalt" lässt sich aus dem althochdeutschen Verb verwalten, bzw. waltan (stark sein, beherrschen) herleiten. Von seiner etymologischen Wurzel her bedeutet er das "Verfügen-können über das innerweltliche Sein", ursprünglich bezeichnet dieser Begriff ausschließlich das Vermögen zur Durchführung einer Handlung und beinhaltet somit kein Urteil über deren Rechtmäßigkeit. Diese der Herkunft nach neutrale bis positive Begriffsbestimmung ist im heutigen Sprachgebrauch noch in Begriffen wie "gewaltige Anstrengung oder gewaltige Dimensionen" erkennbar. Damit wird eine über das übliche Maß hinausgehende Leistung anerkennend beschrieben. Größtenteils wird das Wort "Gewalt" im heutigen Sprachgebrauch jedoch mit einer negativen Wertung verwendet, zumeist dann wenn eine Handlung, die mit Zwang durchgesetzt wurde, beschrieben werden soll. Beispiele hierfür sind: Gewalttat, Gewaltverbrechen und Vergewaltigung. 12 (Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalt ). 3.2 Negativer Gebrauch In dieser Arbeit werden wir ausschließlich auf die negative Benutzung der Begrifflichkeit eingehen. "Gewalt im negativen Sinne wird häufig als schädigende Einwirkung auf Andere verstanden. Als Gewaltformen werden psychische oder physische, personale oder strukturelle (oder auch kulturelle), [...] unterschieden. Ein engerer "Gewalt"Begriff, auch als "materialistische Gewalt" bezeichnet, beschränkt sich auf die zielgerichtete, direkte physische Schädigung einer Person, der weiter gefasste Gewaltbegriff bezeichnet zusätzlich die psychische Gewalt ( etwa in Form von Deprivation, emotionaler Vernachlässigung, "weißer Folter", verbaler Gewalt) und in seinem weitesten Sinn die "strukturelle Gewalt". [...]" (http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalt ) Physische Schädigung beinhaltet jegliche Gewalt, die absichtlich gegen den Körper einer Person gerichtet wird, dazu gehört auch die sexualisierte Gewalt. 3.3 Definition "Gewalttat" bzw. "Gewaltverbrechen" Die angeführte Definition des Begriffs "Gewalt" führt uns zu dem Begriff "Gewalttat", welcher nachfolgend erklärt wird. Eine Gewalttat ist eine Handlung, die unter Anwendung von Gewalt durchgeführt wird. Sie kann sich auf Handlungen beziehen, welche gegen die körperliche oder die psychische Unversehrtheit eines Anderen gerichtet ist. Gewalttaten werden häufig rechtlich sanktioniert, meist als Straftaten. Der Begriff der "Gewalttat" oder des "Gewaltverbrechens" ist kein juristischer Begriff, sondern eine umgangssprachliche Bezeichnung. (Vgl. ebd). 13 Als "Gewaltverbrechen" versteht man nach allgemeinem Sprachgebrauch einen gesetzwidrigen Anschlag auf die körperliche Unversehrtheit einer Person durch einen Täter. Gewaltverbrechen sind Straftaten. Beispielhaft für Gewaltverbrechen stehen im deutschen Strafrecht • Körperverletzungsdelikte (inkl. Folter, §§ 223ff StGB) • Mord sowie alle weiteren Tötungsdelikte (§§ 211ff StGB) • Nötigung (§ 240 StGB) • Raub und andere Delikte, bei denen räuberische Mittel angewendet werden (§ 249 StGB) • Vergewaltigung und andere gewaltsam durchgesetzte Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 176, 177, 182 StGB). ( http://de.wikipedia.org/wiki/Gewalttat ) 3.4 Aktuelle Statistik regionaler Gewaltverbrechen Nachdem wir nun den Begriff "Gewalt" geklärt haben, möchten wir anschließend die Aktualität von Gewaltverbrechen anhand von Statistiken aufzeigen. Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik für den Freistaat Bayern wurden im Jahr 2006 21957 Fälle von Gewaltkriminalität angezeigt. Davon wurden 18419 Fälle von der Polizei aufgeklärt. Diese 21957 Fälle wurden von 23808 Tätern begangen, was darauf schließen lässt, dass einige Delikte gemeinschaftlich ausgeübt wurden. In der Gegenüberstellung zum Vorjahr sind diese Zahlen zwar gesunken, jedoch im langfristigen Vergleich von zehn Jahren beträgt die Zunahme 3693 Fälle oder 20,2%. In diesen Zahlen sind lediglich gefährliche und schwere Körperverletzung und Raub inbegriffen. Die gefährliche und schwere Körperverletzung beträgt einen Anteil von 79,6%. Die restlichen Gewaltverbrechen bestehen aus Raub. Vergewaltigungen wurden im Jahr 2006 1009 Fälle zur Anzeige gebracht, bei Tötungsdelikten handelt es sich um 354 14 Fälle, die erfasst wurden. Diese Zahlen beinhalten jeweils auch die versuchte Vergewaltigung bzw. die versuchte Tötung. (Vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik für den Freistaat Bayern 2006, S. 41; 45ff). Nachdem wir uns auf die inhaftierten Gewalttäter fokussieren, möchten wir nun einen Überblick über die Straftäter geben, die wegen ihrer Gewalttaten zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Die Justizministerin Dr. Beate Merk äußerte sich in einer Pressemitteilung im Jahre 2006 wie folgt zu dieser Thematik. Sie gibt an, dass in den Bayerischen Justizvollzugsanstalten (JVAs) immer mehr Täter wegen Körperverletzungs- und Betäubungsmitteldelikten inhaftiert sind. Bei ihrer Aussage stützt sie sich auf die Zahlen der Strafvollzugsstatistik 2006 die zu entsprechendem Zeitpunkt bekannt gegeben wurde. Laut genannter Statistik verbüßten zum 31.März 2006 in Bayerns Gefängnissen 1114 Strafgefangene eine Freiheitsstrafe wegen Körperverletzungsdelikten. Dies bedeutet in den letzten fünf Jahren einen Anstieg um 31,2%. Im Vergleich dazu betraf es im Jahr 2005 849 Gefangene. Auch ihr relativer Anteil unter der Gesamtzahl der Strafgefangenen stieg in diesem Zeitraum von 10,2 auf 11,9% an. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung lagen bei 7,5%, Straftaten gegen das Leben waren bei 6,7% der Inhaftierten der Verurteilungsgrund. Die Anzahl der Täter, die wegen Raub und Erpressung inhaftiert waren, betrug 8,5%. Dies beträgt im gesamten eine Zahl von 34,6% was bedeutet, dass mehr als jeder dritte Gefangene in Bayern eine Straftat unter Anwendung von Gewalt ausübte. Die Justizministerin kommentierte die Statistik folgendermaßen: „Die Entwicklung zeigt den Stellenwert dieser Straftaten innerhalb der Kriminalität. Zugleich demonstriert sie die Reaktion der Justiz: Körperliche Gewalt und Drogenhandel werden in Bayern mit allem Nachdruck geahndet.“ (Vgl. http://www.justiz.bayern.de/ministerium/presse/archiv/2006/detail/65.php). Um den Blick auf die Opfer nicht zu vernachlässigen, werden wir nun die zu den Prozentsätzen gehörenden Zahlen nennen. Demnach saßen am Stichtag 31. März 2006 in bayerischen Justizvollzugsanstalten 640 Gefangene eine Haftstrafe wegen „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ 15 (§§ 174-184e StGB) ab. Davon kamen 12 Opfer nach §§ 176b, 178 StGB „sexueller Missbrauch mit Todesfolge“ ums Leben. 563 Inhaftierte verbüßten eine Freiheitsstrafe nach §§ 211-222 StGB „Straftaten gegen das Leben“, wobei in 199 Fällen das Opfer durch „Totschlag“ (§§ 212, 213 StGB) und in 283 Fällen durch „vollendeten Mord“ (§ 211 StGB) getötet wurden. Der Anteil der aufgrund von „Körperverletzung“ (§§ 223-231 StGB) Verurteilten betrug 920. Davon kamen 27 Opfer zu Tode (§ 227 StGB „Körperverletzung mit Todesfolge“). Wegen „Raub und Erpressung“ (§§ 249-255 StGB) waren 593 Personen inhaftiert. 14 Opfer starben durch „Raub mit Todesfolge“ (§ 251 StGB). Diese Zahlen beziehen sich auf Erwachsene und jugendliche Straftäter. Zusätzlich beinhalten sie auch die nach § 61 StGB Verurteilten, d.h. Strafgefangene, die sich aufgrund ihrer Allgemeingefährlichkeit, Höhe der ausgesprochenen Strafe in Kombination mit Vorstrafen in Sicherungsverwahrung befinden. (Vgl. Strafvollzugsstatistik in Bayern 2006, S. 3, 16-20). Mit diesen alarmierend hohen Zahlen, vor allem in Hinblick auf die Anzahl der Geschädigten und im Extremfall zu Tode gekommenen Opfer, möchten wir auf die Dringlichkeit und Aktualität des Themas "Gewalt" aufmerksam machen und verdeutlichen, weshalb wir uns für diese Thematik entschieden haben. Es scheint, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Gewaltbereitschaft einzelner Menschen so hoch ist, dass sie selbst den Tod eines anderen billigend in Kauf nehmen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, scheint es sich hierbei um ein erhebliches Problem der Postmoderne zu handeln und nachfolgend werden wir überprüfen, ob es sich dabei ebenfalls um ein soziales Problem nach dem Theoretiker Werner Obrecht handelt. 4. Erklärungswissen (Werner Obrecht) STB geht bei dieser Frage auf die Entstehung eines Problems ein, wir jedoch 16 möchten hier nach dem Theoretiker Werner Obrecht klären, warum es sich um ein angenommenes soziales Problem handelt. Er geht auf verschiedene Theorien ein, die wir im Folgenden zum Verständnis erklären. Anschließend werden wir versuchen, einen Bezug zu unserer Thematik herzustellen. 4.1 Metatheorien 4.1.1 Ontologie Wie zu Anfang schon anhand der Theorie von STB erklärt, sind alle Menschen Mitglieder von Systemen. Die meisten Systeme sind nach Obrecht natürlich, einige jedoch sind künstlich geschaffen, also „Artefakte“. Da der Mensch zwar an sich von Geburt an ein natürliches System ist, aber anhand von Familie, Bildungseinrichtungen, Gesellschaft und durch Werte und Normen der jeweiligen Kultur geprägt wird, sind seine personalen oder psychischen (Sub)Systeme im weiten Sinne auch Artefakte. (Vgl. Obrecht o. J., S. 3). Alles was ein Mensch ist, war oder in Zukunft sein wird, ist Prozessen unterworfen und somit auch veränderbar. Dies würde bedeuten, dass wenn der Mensch in andere Prozesse involviert wird, könnte er sich ändern, wobei diese Änderung vorerst wertfrei ist. Damit ist gemeint, dass sich der Mensch in einem lebenslangen Entwicklungsprozess befindet. Beziehen wir dieses Wissen auf unser Thema „Inhaftierte Gewalttäter“ müssen wir davon ausgehen, dass diese nicht als gewaltbereite Menschen auf die Welt kamen, sondern durch Prozesse in ihrer Umwelt, wie z.B. die Erziehung ihrer Eltern, Lehrer oder sonstigen Bezugspersonen sowie durch die Sozialisation durch ihre Freunde und Mitschüler zu solchen wurden. Weiter gehen wir davon aus, dass alles Prozessen unterworfen und somit veränderbar ist und der Mensch ein selbstwissens- und selbstentscheidungsfähiges Wesen ist. Dadurch stellt sich uns die auch in der Allgemeinheit diskutierte Frage, wer „Schuld“ an der Entwicklung von Gewalttätern ist, bzw. ob der Anteil ausschließlich an den 17 äußeren Prozessen liegt oder ob der Täter nicht ab einem gewissen Alter selbst in der Lage ist (sein kann), den Prozess zu steuern und zu entscheiden ob das was er tut „richtig oder falsch“ ist. Obwohl dies für uns nicht eindeutig zu beantworten ist, gehen wir davon aus, dass nach Obrecht der Mensch veränderbar ist, wenn er anderen Prozessen unterworfen wird. Die deutsche Justiz teilt in diesem Punkt unsere durch Obrechts Theorie entwickelte Annahme. „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel)“. (§ 2 StVollzG). Jedoch bleibt es für uns kritisch zu betrachten, ob die erwünschte Verhaltensänderung tatsächlich durch Freiheitsentzug erreicht werden kann. 4.1.2 Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie Obrecht unterscheidet von konkreten Systemen begriffliche und symbolische. Er geht aber in dem Text nur auf „alltägliche und wissenschaftlich begriffliche Systeme“ ein. Er erklärt, dass das Alltagsdenken Dinge wahrnimmt und sie im Zuge dessen mit der Wirklichkeit identifiziert. Davon ausgehend wird eine Welt voller guter und böser Dinge und Kräfte entwickelt, die nach unserem Verständnis dann für unser Tun verantwortlich gemacht werden. (Vgl. Obrecht o. J., S. 3). Im übertragenen Sinne würde dies bedeuten, dass der Täter, so wie er sich seine Welt aufgrund seiner Wahrnehmung konstruiert hat, zumindest für sich selber eine Rechtfertigung für seine Taten hat. Möglicherweise betrachtet er sich als Opfer der Umstände und ist sich seines Fehlverhaltens nicht bewusst, da er es für sich legitimiert hat. Im Gegensatz dazu untersuchen die Wissenschaften die Dinge an sich, wie sie sind und vor allem die Mechanismen bzw. die Bedingungen die dieses Verhalten auslösen. Zudem hinterfragen sie auch die vorangegangenen Lernprozesse, die den Ursprung darstellen, aus dem sich das Verhalten entwickelt hat. Ziel der Wissenschaft ist es, das Verhalten nicht nur zu verstehen, sondern auch zu erklären und somit präventiv 18 entgegenwirken zu können. In Bezug auf den Gewalttäter würde dies bedeuten, dass wenn sich nachvollziehen lässt, welche Faktoren notwendig sind, um in ihm gewaltbereites Handeln auszulösen, man in der Lage sein könnte im Vorfeld vorbeugend zu agieren. Die Wissenschaft setzt sich nach Obrecht mit der Sozialisation des Täters auseinander um evtl. familiäre Entstehungsmuster von Gewalt zu beleuchten und somit die Ursachen für das Handeln des Täters verstehen und erklären zu können. 4.1.3 Werttheorie Obrecht geht von intrinsischen und funktionalen Werten aus. Alle Lebewesen streben einen bestimmten Zustand an. Zu unterscheiden ist, dass die Klasse der bevorzugten Zustände aller Lebewesen intrinsische oder Biowerte sind. Davon zu differenzieren sind noch die funktionalen Werte von sprach- und selbstwissensfähigen Lebewesen, also von Menschen. Diese funktionalen Werte werden kognitiv repräsentiert, das bedeutet sie werden vom Verstand her gesteuert. Von diesen nimmt das Individuum an, dass sie ihm zur Erreichung seiner intrinsischen Werte behilflich sind. Obrecht spricht von praktischen und kognitiven Problemen. Dies sind Konstellationen, in denen ein Individuum bemerkt, dass es seine intrinsischen oder funktionalen Werte nicht verwirklichen kann oder diese gefährdet sind. Praktische Probleme bezeichnet er als Zustände bestimmter Systeme außerhalb des eigenen Wissens und Denkens, kognitive Probleme bezieht er auf Prozesse innerhalb dieser Sphäre. Das kognitive Problem eines Individuums kann zum praktischen Problem eines anderen werden. chemische, Im Allgemeinen biologische, werden psychische, Probleme soziale und in physikalische, kulturelle Systeme unterschieden. Bezogen auf intrinsische Werte bezeichnet Obrecht praktische und kognitive Probleme als Bedürfnisspannungen, von denen es drei Arten gibt: biologische, (bio)psychische und (biopsycho)soziale. (Vgl. Obrecht o. J., S. 3f). 19 Nach unserem Verständnis würde dies bezugnehmend auf den inhaftierten Gewalttäter bedeuten, dass er einen bestimmten intrinsischen oder funktionalen Wert nicht verwirklichen kann. Daraus ergeben sich Bedürfnisspannungen, woraus Aggressionen entstehen können, die er in der jeweiligen Situation nicht steuern kann. Die kognitiven Probleme eines Täters (z. B. (bio)psychische oder (biopsycho)soziale) werden die praktischen (biologischen) Probleme seines Opfers. 4.2 Objekttheorien Nach Obrecht sind soziale Systeme interindividuell, intersozial oder intersozietal. In diesen Systemen existieren zwei Gruppen von Eigenschaften, die Kultur und die Sozialstruktur. Zu der Kultur zählen die Sprache, die aggregierten Bilder, Codes und die funktionalen Werte der Mitglieder. In der Sozialstruktur wird zwischen Interaktions- und Positionsstruktur unterschieden, welche miteinander in dynamischer Beziehung stehen. Innerhalb der Positionsstruktur werden zusätzlich vertikale (z. B. Schichtung), funktionale (Biologie, Ökonomie, Politik, Kultur), lebenszeitliche (altersbezogene Organisationen), geschlechtliche und weitere Differenzierungen getroffen. Ihre emergenten Eigenschaften betreffend unterscheiden sie sich von anderen Arten von Systemen; gleich sind ihnen ihre Einbettung in die Welt der anderen Systeme und der Austausch mit diesen, sowie ihre Entwicklungsphasen (Entstehung, Konsolidierung, Wandel und Zerfall). (Vgl. Obrecht o. J., S. 4f). Hinsichtlich der Thematik „Inhaftierte Gewaltverbrecher“ würden wir daraus schließen, dass bezüglich der Positionsstruktur innerhalb der Sozialstruktur Gewalttäter häufig aus sozialen Unterschichten stammen, jedoch nicht ausschließlich. Nach der bereits beschriebenen Theorie der Ausstattungsprobleme von STB kann dies auch in sozialen Oberschichen vorkommen, da hier ein Überschuss an Ausstattung (Luxus, Materialismus) 20 gegeben ist. Da die Kultur nach Obrecht die Sprache, die aggregierten Bilder, Codes und funktionalen Werte der Systeme der Mitglieder bzw. in diesem Fall der Gewalttäter sind, gehen wir davon aus, hiermit sei die Erziehung, die Lebenswelt, die Erfahrung etc. der Person gemeint. Wenn ein Kind folglich in einem Umfeld aufwächst, in dem Gewalt alltäglich ist, so wird es im weiteren Verlauf seines Lebens Problemlösungsstrategien diese Verhaltensweisen übernehmen. Dies ist als selbstverständliche vergleichbar mit der Lerntheorie des „Modelllernens“, in der Psychologie auch als sozial-kognitive Theorie nach Albert Bandura bekannt. Demnach erlernen Menschen Einstellungen durch die Beobachtung anderer Personen aus ihrem direkten Umfeld (natürliche Modelle) und aus Filmen, Fernsehen, Büchern, Comics (symbolische Modelle), was bei Übernahme der Verhaltensweisen durch das Kind zu einer Verhaltensänderung, in unserem Fall zur Übernahme gewaltgeprägter Muster, führt. (Vgl. Hobmair 1997, S. 392 ). Psychische Systeme sind die Steuerungs(sub)systeme von Individuen. Menschen sind aufgrund ihrer Nervensysteme eine spezielle Art solcher Systeme, nicht zuletzt wegen ihrer Sprach- und somit Selbstwissensfähigkeit. Diese Nervensysteme weisen drei umfassende und wechselwirkende Funktionsbereiche auf. Sie kennzeichnen die Leistungen der Nervensysteme durch Motivation (biologische, psychische und soziale Bedürfnisse), Kognition und Handeln (Routinen und Geplantes). Individuen sind Komponenten sozialer Systeme, in deren Interaktions- und Positionsstruktur sie hineinwachsen und integriert sind. (Vgl. Obrecht o.J., S. 5). Obrechts Theorie nach ist der Eingliederungsprozess und die Bindung zwischen Eltern und Kind ein ausschlaggebender Faktor für das spätere Verhalten eines Individuums: „Der Integrationsprozess von Menschen in soziale Gebilde ist ein durch Bedürfnisse motivierter und durch emotio-kognitive Prozesse gesteuerter Vorgang auf der Grundlage einer biologischen Ausstattung der Neugeborenen wie auch der Erwachsenen, die im Normalfall jene affektive Bindung zwischen dem Baby und seinen biologischen oder sozialen Eltern sicherstellt, die sich später auf die Verwandtschaft, andere soziale Primärgruppen und die lokalen 21 [sic] Gemeinschaft ausdehnt und gegebenenfalls sogar auf weitere, funktional differenzierte und höherleveliger [sic] Systeme.“ (ebd., S. 5). Menschen versuchen stetig, durch ihre inneren Bilder und ihre Bedürfnisse motiviert, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden und durch Handlungen zu ihrem Ziel zu gelangen. Allerdings sind sie sich über die Mechanismen ihrer inneren Bilder und Codes, sowie über die Gestaltannahme ihrer Ziele und Handlungspläne nicht bewusst. Menschen handeln zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse im biologischen, psychischen und sozialen Bereich und streben die Lösung der physikalischen, biologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Probleme an. Soziale Probleme stehen im Zusammenhang mit der Befriedigung sozialer Bedürfnisse. Entsprechend dieser Bedürfnisse entstehen soziale Probleme, wenn die Einbindung in die freiwillig gewählten oder mit unfreiwilliger Mitgliedschaft entstandenen Systeme in der Interaktions- und Positionsstruktur nicht adäquat gelingen. Probleme auf einer Ebene (z.B. auf der psychischen) können weitere Probleme auf einer anderen Ebene (z.B. auf der sozialen) zur Folge haben. (Vgl. Obrecht o. J., S. 5). Nachdem Obrecht beschreibt, dass Menschen Komponenten sozialer Systeme sind und in diese hineinwachsen, würde dies bedeuten, dass auch ein Gewalttäter in sein familiäres Umfeld (System) hinein geboren wird und die affektive Bindung, die er zu seinen Eltern hatte, welche er später auf sein Umfeld überträgt, war in diesem Fall vermutlich gewaltgeprägt. Ein Gewalttäter versucht, wie jeder andere Mensch auch, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden und durch Handlungen seine Ziele zu erreichen, wobei er nichts über die Struktur, Dynamik und Mechanismen seiner inneren Codes und Bilder (welche er sich in seiner Entwicklung und durch Erfahrungen „angeeignet“ hat) weiß. So fehlt ihm beispielsweise die Einsicht einer fehlenden Frustrationstoleranz, geschweige denn das Wissen über die Ursache dieses Defizits. Da der Täter seine auf die Interaktionsstruktur bezogenen Bedürfnisse, wie z.B. zwischenmenschliche Beziehungen, Liebe, Geborgenheit und/oder seine auf die Positionsstruktur bezogenen Bedürfnisse 22 wie beispielsweise Statusvollständigkeit oder sozialer Aufstieg in Gruppen nicht befriedigen kann, entsteht ein soziales Problem, welches er nicht lösen kann. Durch die Tatsache, dass er dieses soziale Problem nicht selbstständig lösen kann und aufgrund seiner durch den Mangel an befriedigten Bedürfnissen entwickelten Aggressionen, übt er körperliche Gewalt aus. In diesem Fall wird sein unbefriedigtes Bedürfnis zu einem Problem des Opfers, vermutlich auf der psychischen Ebene, da es möglicherweise ein Trauma erlitten hat, in jedem Fall aber ein biologisches durch die körperlichen Verletzungen. Durch diese Einschränkungen kann es wiederum seine Bedürfnisse, wie z.B. die uneingeschränkte Teilhabe am sozialen/kulturellen Leben nicht mehr ausreichend befriedigen. Um die Kettenreaktion eines von einer einzelnen Person unbefriedigten Bedürfnisses zu verdeutlichen, führen wir das Beispiel weiter. So würde es sich im Falle des Todes des Opfers nicht mehr ausschließlich um ein soziales Problem des Opfers handeln, sondern auch um eines seiner Angehörigen. Durch den Verlust des ihnen nahe stehenden Menschen erfahren sie ein Unrecht, welches ihnen nicht begreiflich ist. Dies kann gegebenenfalls zu einer Isolation durch mögliche Depressionen führen und somit einen sozialen Abstieg in der Gesellschaft zur Folge haben. Bei Betrachtung des Täters kann rückblickend davon ausgegangen werden, dass die Mitglieder des sozialen Systems, in welches er hineingeboren wurde, bereits ein Problem auf einer der genannten Ebenen hatten und einen Mangel an Bedürfnisbefriedigung erlebten. Falls die Gewalttat des Täters zu einer Inhaftierung führt, begibt sich dieser in die unfreiwillige Mitgliedschaft des Systems der Justizvollzugsanstalt, in der er wiederum nicht in der Lage ist, seine Bedürfnisse ausreichend und selbstständig zu befriedigen. Vermutlich könnte diese Spirale in die Vergangenheit oder Zukunft endlos weitergeführt werden, jedoch wird aufgrund der Gewalttat die Existenz des Problems offensichtlich und verlangt somit angemessenen Reaktion der Kontrollorgane der Gesellschaft. . 23 nach einer Durch die vorherigen Ausführungen haben wir nun belegt, dass inhaftierte Gewalttäter ein Problem für sich selbst, für ihre Opfer und auch für die Allgemeinheit darstellen und zwar in der Vergangenheit, der Gegenwart und möglicherweise auch in der Zukunft. Dieser negative Zukunftsausblick ergibt sich für uns daraus, dass durch die Inhaftierung des Täters der „Teufelskreis“ aus unbefriedigten Bedürfnissen, welche zu einem sozialen Problem führen, nicht unterbrochen sondern eher noch verstärkt werden. Im Folgenden werden wir uns damit beschäftigen, warum es sich hierbei um ein Machtproblem handeln könnte. 5. Wert- oder Kriterienwissen STB möchte mit diesem Schritt durch das philosophisch-ethische Wissen eine Be- und Verurteilung von problematischen Sachverhalten und Handlungen ermöglichen. 5.1 Macht (Heinrich Popitz) Der Philosoph Heinrich Popitz unterscheidet vier anthropologische Grundformen von Macht. Er benennt die Aktionsmacht, die instrumentelle Macht, die autoritative Macht und die datensetzende Macht. Für diese Arbeit erachten wir jedoch lediglich die Aktionsmacht und die instrumentelle Macht als relevant und werden daher ausschließlich auf diese beiden eingehen. Popitz stellt einige nahezu allgemein akzeptierte Prämissen zu Machtphänomenen auf, welche wir im Folgenden kurz zum Verständnis erläutern werden: Die erste Prämisse ist der Glaube an die Machbarkeit von Macht. Macht ist ein 24 Menschenwerk und nicht Gottgegeben. Macht ist konstruierbar und veränderbar. Die zweite Prämisse geht davon aus, dass Macht omnipräsent ist. Macht ist überall und existiert in allen Bereichen des Lebens, unter anderem in zwischen-menschlichen Beziehungen. Andere zu nennende Bereiche von Macht wären Geld, die Staatsmacht (Gesetze), Beruf und Wissen. (Vgl. Popitz 1992, S. 12-17). Die dritte Prämisse handelt von der Konfrontation von Macht und Freiheit: „Alle Machtanwendung ist Freiheitsbegrenzung. Jede Macht ist daher rechtfertigungsbedürftig.“ (ebd., S. 17). Macht ist nicht ausschließlich ein negativer Eingriff in die Selbstbestimmung. Gewisse Machtformen sind unvermeidbar, wie die beschützende und erzieherische Macht über Kinder, Macht als organisatorisches Mittel um Zusammenschlüsse von Menschen zu ordnen und um den Schutz von Recht und Frieden zu gewährleisten. (Vgl. Popitz 1992, S. 19f). Macht als Definition im anthropologischen Sinn beschreibt etwas, das der Mensch vermag: „Das Vermögen sich gegen fremde Kräfte durchzusetzen“. (ebd., S.22). 5.1.1 Aktionsmacht Popitz definiert die (verletzende) Aktionsmacht als Verletzungskraft. Seiner Annahme nach besitzt diese jeder Mensch gegenüber allen anderen Organismen und somit auch gegenüber anderen Menschen. Damit meint er, dass wie bei Jäger und Tier auch Menschen die Fähigkeit besitzen, andere Menschen zu fangen und zu töten. Diese Macht ist in der Regel aufgrund angeborener Begabungen, Intelligenz, Schnelligkeit, Gewandtheit und Muskelkraft ungleich verteilt. Die Ungleichheit bezieht sich ebenfalls auf die Möglichkeit von Übungsgewinn sowie der heterogenen Verfügung über künstliche Mittel zur Steigerung der Verletzungseffizienz (Waffen und Kampforganisationen). Die potentielle Gefährlichkeit des Menschen im Hinblick 25 auf einen anderen Menschen ist unendlich, da es für diese künstliche Effizienzsteigerung keine Grenzen gibt. Parallel dazu ist der Mensch ein vielfältig empfindliches und verletzliches Wesen. Dies begründet sich darin, dass allen lebenden Wesen das Leben wieder genommen werden kann. Der Mensch ist ein besonders anfälliges Individuum, da er keine angeborenen Schutzmechanismen wie Fell oder Panzer besitzt und somit seine lebenswichtigen Organe ungesichert gegenüber Angriffen von außen sind. Zu der körperlichen Verletzbarkeit kommt die ökonomische Verletzbarkeit des Menschen. Durch die Ausübung von Macht ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten, Menschen ihre Subsistenzmittel zu entziehen, zu rauben und zu zerstören, und ihnen den Zugang zu lebens-notwendigen Ressourcen zu beschränken bzw. zu verwehren. Ein bedeutender Aspekt von Macht ist zudem die Verletzbarkeit des Menschen durch den Entzug der Möglichkeit an sozialer Teilhabe. Durch den damit einhergehenden Verlust von Zugehörigkeiten und die unendlichen Möglichkeiten von Ausgrenzungen und Herabsetzungen wird die individuelle Existenz bedroht. (Vgl. Popitz 1992, S. 24f). Dies ist laut Popitz die Grundlage jeglicher Formen von Macht: „Menschen können über andere Macht ausüben, weil sie sie verletzen können.“ (ebd., S. 25). Der Gewalttäter übt somit (Aktions)Macht gegen sein Opfer aus, indem er ihm durch seine Gewalt körperlichen und ökonomischen Schaden zufügt und es somit verletzt. Das Opfer ist dadurch, dass es ein verletzliches Individuum und weniger mit Schnelligkeit, Muskelkraft oder Gewandtheit ausgestattet ist, dem Täter schutzlos ausgeliefert. Auch zu beachten ist der Fall, indem das Opfer dem Täter zwar körperlich gegenüber gleichwertig, jedoch nicht bewaffnet ist. Somit ist es den Macht- bzw. Gewaltausübungen des Täters ebenfalls wehrlos ausgesetzt. Hiermit handelt es sich folglich eindeutig um ein Machtproblem, dies möchten wir anhand eines weiteren Zitats von Popitz belegen: „Wer Aktionsmacht ausübt, kann etwas tun, wogegen andere nicht gefeit sind; er hat die Macht, andere etwas erdulden zu lassen. Er kann […] den anderen einsperren oder vertreiben, ihn verstümmeln, vergewaltigen, töten. Aktionsmacht ist Verletzungsmacht, der Aktionsmächtige der Verletzungsmächtige.“ (ebd., S. 43). 26 Nachdem wir bereits den Täter in der Rolle des machtausübenden „Täters“ betrachtet haben, werden wir uns nun mit dem Täter in der machtertragenden Rolle als „Opfer“ der Macht der Justiz befassen. Als Folge seiner Aktionsmacht gegen das Opfer, in der er es zwang seine Gewalt zu erdulden, ist er nun durch seine Inhaftierung ebenfalls in der Situation Aktionsmacht durch Ausschluss von der Gesellschaft und somit den Entzug der Sozialen Teilhabe zu ertragen. Er muss ohnmächtig aushalten, dass er eingesperrt wird und nicht mehr die Möglichkeit besitzt, uneingeschränkt seine zwischenmenschlichen Kontakte zu pflegen. Durch die Ausgrenzung wird seine Existenz bedroht. Sowohl Täter als auch Opfer sind mit Aktionsmacht bzw. einem Machtproblem konfrontiert, wenn auch durch verschiedene machtausübende Individuen bzw. Instanzen und aus unterschiedlichen Gründen. Im Vergleich zu dem Täter, der selbst verantwortlich für seine Gewalttat und damit auch für seine Lage ist, wurde das Opfer hingegen schuldlos in diese Situation gebracht. STB würde sagen, der Täter begrenzt durch seine Machtquelle „physische und körperliche Stärke“ das Opfer indem er ihm möglicherweise den grundsätzlich offenen Zugang zu vereinzelten Lebensbereichen beschränkt. Diese Begrenzung bezeichnet sie als ein Machtproblem des Opfers. Bei dem Täter handelt es sich nach STBs Theorie aufgrund seiner Inhaftierung um Behinderung, da er von der Teilhabe an Ausstattung, Austausch, Macht und/oder Wertfindung ausgeschlossen wird. Nach STB handelt es sich bei der Behinderung um ein Machtproblem des Täters. (Vgl. Staub-Bernasconi in Engelke 2002, S. 373). Der Täter jedoch wird aufgrund seiner Straftat nicht nur Aktionsmacht, sondern auch instrumenteller Macht unterworfen. 5.1.2 Instrumentelle Macht 27 Laut Popitz bezeichnet das Geben- und Nehmen- Können und die Verfügung über Belohnungen und Strafen die Basis der instrumentellen Macht. Weiter sagt er, das Eintreffen der genannten Maßnahmen muss glaubhaft sein. Der Aufbau und das Bewahren dieser Glaubhaftigkeit bestimmt die Strategie der instrumentellen Machtausübung. Die Methode dieser Machtausübung ist das Vorhandensein eines „Entweder-oder-Prinzips“. Somit wird von dem Alternativensteller das Verhalten der Betroffenen in zwei Klassen, in Fügsamkeit und Ungehorsamkeit, geteilt. Jegliches Verhalten des Betroffenen wird in Jaund Nein- Handlungen gegliedert, d.h. seine Handlungen werden automatisch und zwangsläufig zu einer Antwort auf eine Frage, die er sich selbst nicht gestellt hat - und zwar die Frage nach Belohnung oder Bestrafung. Diese Alternative hat im Fall der Androhung einer Strafe den Charakter von Erpressung, im Fall des Versprechens von Belohnung den Charakter einer Bestechung. Die Motive, welche das zukünftige Handeln erzeugen, sind folglich Angst und Hoffnung. Da sich unser soziales Handeln am zukünftig erwarteten Handeln anderer orientiert, können vorauszusehen solche glauben Alternativen oder funktionieren. unbewusst Dinge, antizipieren, die wir wirken verhaltenssteuernd. (Vgl. Popitz 1992, S. 26). Im Fall der verhaltenssteuerndinstrumentellen Macht werden Menschen somit dauerhaft zum Werkzeug fremden Willens. Zu beachten ist, dass soziale Macht – im Unterschied zur Macht über Tiere – über sprechende, denkende Subjekte ausgeübt wird, die prinzipiell im gleichen Sinne handlungsfähig sind, wie die Machtausübenden. „Die instrumentelle Macht des Drohens und Versprechens ist die typische Alltagsmacht, die konventionelle Form der Durchsetzung gegen fremde Kräfte. Zugleich ist sie ein notwendiges Element aller dauerhaften Machtausübung. Jedes langfristige Machtverhältnis beruht auch auf instrumenteller Macht.“ (ebd., S. 27). Bezugnehmend auf unser Thema ist der Staat die instrumentelle Macht ausübende Instanz. Dies geschieht über das Instrument Justiz, wobei der 28 ausführende Arm die JVA ist, in welcher der Täter inhaftiert ist. Die Methode der instrumentellen Macht, das Prinzip „Belohnung – Bestrafung“, ist in unserer Gesellschaft omnipräsent. Der Täter hat sich bei Begehung der Straftat für die Antwort „nein“ entschieden indem er sich durch seine Gewaltausübung nicht gesetzeskonform verhielt. Die Konsequenz auf sein Verhalten ist die „Bestrafung“ in Form der Freiheitsstrafe. In der JVA wird dieses Prinzip nun fortgeführt und der Täter hat erneut die Möglichkeit, sein Verhalten dementsprechend auszurichten. Der Grundgedanke der instrumentellen machtausübenden Instanz Staat ist hierbei, dass er sich aufgrund der Motive „Hoffnung“ (z. B. auf frühzeitige Entlassung) und „Angst“ (z.B. vor weiteren internen Bestrafungen) zukünftig innerhalb und außerhalb der JVA regelkonform und gesetzestreu verhalten wird. Auch in diesem Fall greift STBs Theorie, dass es sich aufgrund der den Täter behindernden Macht um ein Machtproblem handelt, da er an der Teilhabe am sozialen Leben behindert wird. (Vgl. StaubBernasconi in Engelke 2002, S. 371). Zusammenfassend lässt sich nach diesen Ausführungen die eindeutige Existenz von Machtproblemen im Sinne von STB im Kreislauf „Täter – Gewalt – Opfer – Justiz“ belegen. Dies spielt sich sowohl auf Täter- als auch auf Opfer-Ebene ab. Des Weiteren möchten wir die Situation „Inhaftierte Gewalttäter“ und die damit verbundenen Machtprobleme auf die Verletzung von Menschenrechten hin überprüfen. 5.2 Menschenrechte Am 10. Dezember 1948 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als internationales System zum Schutz der Menschenrechte in Westeuropa gegründet. Diese Erklärung hat den Zweck, die universelle und wirksame Anerkennung und Einhaltung der darin erklärten Rechte zu gewährleisten. Das Ziel des Europarates ist die Erreichung einer größeren 29 Einigkeit unter seinen Mitgliedern. Eines der Mittel zur Erlangung dieses Ziels ist die Wahrung und die Entwicklung dieser Menschenrechte und Grundfreiheiten. Mit der Konvention wollten sie ihren tiefen Glauben an die Grundfreiheiten, welche die Friedens- und Gerechtigkeitsgrundlagen in der Welt darstellen, bekräftigen. Um diese aufrecht zu erhalten, bedarf es eines wahrhaft demokratischen politischen Regimes sowie der gemeinsamen Auffassung und Achtung der Menschen-rechte. (Vgl. Beck-Texte 1985, S. 211). Die teilnehmenden Regierungen europäischer Staaten verpflichten sich, allen ihrer Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen, die in dieser Konvention niedergeschriebenen Rechte und Freiheiten zuzugestehen. (Vgl. Art. 1, EMRK). Im Folgenden möchten wir die für unser Thema relevanten Menschenrechte und Grundfreiheiten nennen, wobei die Bedeutsamkeit der übrigen dadurch nicht in den Hintergrund gedrängt werden soll. Wir werden nach der Nennung des jeweiligen Menschenrechtes unmittelbar Bezug zu unserer Thematik herstellen und ihre mögliche Verletzung durch die Gewalttat erläutern. 5.2.1 Das Recht aller auf Leben (Art. 2 EMRK) Artikel 2 der EMRK besagt, dass das Recht jedes Menschen auf Leben gesetzlich geschützt wird. Eine Ausnahme bildet die Vollstreckung eines Todesurteils, das von einem Gericht im Falle eines mit Todesstrafe bedrohten Verbrechens ausgesprochen wurde. (Vgl. Art. 2, Abs. 1, EMRK). Die Tötung wird außerdem nicht als Verletzung des Artikels betrachtet, wenn die Gewaltanwendung unbedingt erforderlich war. Dies wäre der Fall bei Notwehr, bei Festnahmen oder Festhaltungen einer Person durch die Polizei und um einen Aufstand zu unterdrücken. (Vgl. Art. 2, Abs. 2, EMRK). Im Falle der extremsten Gewaltformen, den (versuchten) Tötungsdelikten, verletzt der Täter das elementarste aller Menschenrechte, indem er dem Opfer 30 sein Leben nimmt oder es zumindest versucht. Er hat hierzu keine Berechtigung und handelt deshalb wider dem auf den Menschenrechten basierenden Strafgesetzbuch. 5.2.2 Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) Artikel 5 der EMRK sichert jedem Menschen das Recht auf Freiheit und Sicherheit zu. Es gibt jedoch Situationen in denen es gesetzmäßig erlaubt ist, die Freiheit eines Menschen zu entziehen. Dazu gehören beispielsweise die nach einer Verurteilung rechtmäßige Inhaftierung eines Straftäters oder der Freiheitsentzug eines Menschen zum Schutz der Gesellschaft vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten. Des Weiteren, wenn dieser alkoholkrank, psychisch krank, rauschgiftsüchtig oder ein Landstreicher ist. Etliche weitere Ausnahmen führen wir an dieser Stelle nicht auf, da sie für unser Thema nicht relevant sind. (Vgl. Art. 5, Abs. 1, EMRK). Dem Opfer einer Gewalttat wird durch den Angriff des Täters auf seine biologische, physische und psychische Gesundheit das Recht auf Sicherheit verwehrt. Es ist selbst nicht in der Lage, sich und seine Sicherheit ausreichend zu schützen. Somit widerfährt ihm eine Menschenrechtsverletzung. Diese wird stellvertretend für das Opfer von der Justiz geahndet und wird unter bestimmten Bedingungen mit einem Freiheitsentzug bestraft. Somit wird durch eine Inhaftierung des Täters nicht gegen sein Recht auf Freiheit und Sicherheit verstoßen, da eine gesetzlich fundierte Rechtfertigung für diesen Freiheitsentzug besteht. Sollte die Inhaftierung wider Erwarten widerrechtlich sein, so hat der Täter das Recht auf Schadenersatz. 5.2.3 Gebot der Achtung der privaten Sphäre (Art. 8 EMRK) 31 Artikel 8 der EMRK sagt aus, dass jeder Mensch einen Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs hat. (Vgl. Art. 8, Abs. 1, EMRK) Davon ausgenommen ist der gesetzlich vorgesehene Eingriff einer öffentlichen Behörde, welcher eine Maßnahme zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ruhe und Ordnung, des wirtschaftlichen Wohl des Landes, der Verteidigung der Ordnung, der Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer darstellt. (Vgl. Art. 8, Abs. 2, EMRK). Nach unserem Verständnis verletzt der Täter das Recht des Opfers auf Privatsphäre, da er durch die Ausübung von Gewalt unerlaubt in diese eindringt und somit das Privatleben des Opfers nicht unerheblich stört. Da sich das Privatleben nicht zwingend in privaten Räumen abspielen muss, ist jeglicher Angriff - unabhängig des Tatortes - ein Eingriff in die private Sphäre. Im Gegenzug dazu muss der Täter infolge seiner möglichen Inhaftierung nun erdulden, dass in sein Privatleben eingegriffen und dieses kontrolliert wird. Es handelt sich hierbei nicht um eine Menschenrechtsverletzung, da es zu den in Absatz 2 genannten Ausnahmefällen gehört und somit gesetzlich legitimiert ist. 5.2.4 Verletzungen nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Neben den Menschenrechtsverletzungen bestehen bei dem Opfer einer Gewalttat folgende Grundrechtsverletzungen nach dem Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland. Diese möchten wir der Vollständigkeit halber kurz erwähnen: • Schutz der Menschenwürde (Art. 1 GG) bei jeder Gewalttat • Persönliche Freiheitsrechte (Art. 2 GG) bei jeder Gewalttat • Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) bei Gewalttaten innerhalb 32 des Wohnraums des Opfers • Eigentum, Erbrecht und Enteignung (Art. 14 GG) bei Raub und anderen Gewalttaten, bei denen räuberische Mittel angewandt werden. Nachdem wir uns nun eingehend mit den Menschenrechten beschäftigt haben, ist deutlich geworden, dass etliche Rechte des Opfers durch die Aktionsmacht des Täters verletzt werden. Um diesen Tatbestand zu ahnden, greift der Staat anhand Aktionsmacht und instrumenteller Macht schützend ein. Im ersten Moment könnte man vermuten, dass durch eine Inhaftierung die Menschenrechte des Täters verletzt werden, jedoch ist diese vermeintliche Verletzung seiner Rechte durch Gesetze fundiert und somit legal. So bleibt es weiterhin eine moralische Frage, nicht aber eine gesetzliche. „Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ (§ 2 StVollzG). Auf Artikel 1 des Grundgesetzes „Schutz der Menschenwürde“ möchten wir nun anhand des Philosophen Avishai Margalit, dessen Theorie durch die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls inspiriert wurde, gezielter eingehen. 5.3 Gerechtigkeitstheorie (Avishai Margalit) Bei der Gerechtigkeitstheorie des Philosophen Avishai Margalit handelt es sich um das Konzept der „anständigen Gesellschaft“. Deren Kernaussage ist, dass die Würde eines Menschen (Mitglied der Gesellschaft) an erster Stelle, vor allem anderen steht. Menschenwürde und Achtung stehen als Gegenbegriffe zu Demütigung. Für Margalit existieren drei Formen der Demütigung: Menschen unmenschlich behandeln, Ausschluss einer Person aus der menschlichen Gesellschaft und Einschränkung der Kontrollfähigkeit bzw. Verlust der Selbstkontrolle. Eine Gesellschaft ist nach Margalit nur dann anständig, wenn 33 nicht nur die Mitglieder untereinander sondern auch die Institutionen der Gesellschaft ihre Mitglieder nicht demütigen. Sie bekämpft Verhältnisse durch die sich ihre Mitglieder gedemütigt fühlen könnten und setzt sich mit der institutionellen Ebene der Gesellschaft auseinander. Dies bedeutet, dass die Rechte, Würde, Selbstachtung und Integrität der Menschen von der Gesellschaft und von ihren Institutionen geschützt werden müssen. Margalit plädiert für die Verwirklichung der „anständigen Gesellschaft“, da seiner Meinung nach die „gezügelte Gesellschaft“ (die nicht grausam ist) nicht ausreicht und die „gerechte Gesellschaft“ (die nicht kränkt) schwieriger zu realisieren ist. Außerdem betrachtet er es als bedeutender, dass in einer Gesellschaft niemand ausgeschlossen wird, als alle ihrer Leistung gemäß anzuerkennen, wie es bei einer gerechten Gesellschaft gefordert werden würde. Im Folgenden werden wir uns mit einzelnen, für unser Thema wichtigen Aspekten seiner Theorie auseinander setzen und diese in Bezug zu den „Inhaftierten Gewalttätern“ stellen. 5.3.1 Demütigung Nach Margalit lassen sich alle Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen, als Demütigung bezeichnen. Das Entscheidende daran ist, dass nur das Verhalten eines anderen Menschen uns gegenüber Auslöser für das Gefühl der Demütigung sein kann. Es können auch Lebensverhältnisse ein Gefühl der Demütigung auslösen, dies hat nach Margalit aber nur Berechtigung wenn dem menschliche Handlungen oder Unterlassungen zugrunde liegen, jedoch nicht, wenn sie natürlich sind. (Vgl. Margalit 1997, S. 23). „Nur Menschen können demütigen, auch wenn die zugefügte Demütigung nicht unbedingt in ihrer Absicht liegen muss.“ (Margalit 1997, S. 24). Margalit geht davon aus, dass das Gefühl der Demütigung auch auf andere Menschen übertragbar ist. Dies geschieht durch Identifikation mit dem Opfer, wenn eine Person dieselben 34 Merkmale oder Eigenschaften aufweist, deretwegen der eigentlich Geschädigte erniedrigt wurde. (Vgl. Margalit 1997, S. 49). Folglich liegt in dem Moment, in dem der Täter seinem Opfer Gewalt zufügt (Menschliches Verhalten ist alleiniger Auslöser für Demütigung eines Menschen), bei diesem ein berechtigter Grund für das Gefühl der Demütigung vor. Die Demütigung muss sich nicht nur auf die Tat beziehen, sondern kann auch durch die darauf folgenden negativen Umstände für das Opfer aufrecht erhalten werden, da sie nicht auf natürlichem Wege entstanden ist. Weiter ist zu beachten, dass sich nicht nur die direkten Opfer von Gewalttaten gedemütigt fühlen können, sondern sich z.B. bei Sexualdelikten gegen Frauen auch andere Frauen aufgrund der gemeinsamen Eigenschaft der Geschlechtszugehörigkeit „Frau“ gedemütigt fühlen können. Wie Anfangs bereits erklärt, geht Margalit davon aus, dass Menschen durch die Tatsache unmenschlicher Behandlung durch Institutionen einen berechtigten Grund haben können, sich gedemütigt zu fühlen. Es gibt unterschiedliche Arten einen Menschen unmenschlich zu behandeln. Dazu zählt, ihn als Objekt, Maschine, Tier oder Untermensch zu betrachten. Durch den Ausschluss einzelner Personen aus der menschlichen Gemeinschaft werden diese nach Margalit ebenso unmenschlich behandelt, da es das Recht eines jeden ist, an einer menschlichen Gesellschaft teilzuhaben. Auch durch die „Dämonisierung“ einzelner Personen/Gruppen wie in der Vergangenheit der „Hexen“ oder Juden, welchen Bösartigkeit und Zerstörungswut unterstellt wurden, können Menschen bzw. Gruppen inhuman behandelt werden. (Vgl. Margalit 1997, S.114f). Bei den Gewalttätern, vor allem den Sexualstraftätern, lässt sich in der Gegenwart eine ähnliche Entwicklung bezüglich einer Dämonisierung der Täter beobachten. Da nach Margalit die Institutionen einer anständigen Gesellschaft ihre Mitglieder nicht dämonisieren dürfen, ist z.B. die teils hetzerische Berichterstattung in den Medien (als Institution der Gesellschaft) kritisch zu 35 hinterfragen und auf ihre „Anständigkeit“ hin zu überprüfen. Außerdem ist hier unverkennbar eine Darstellung der Täter als Untermenschen („Bestien“) ersichtlich. Margalit versteht unter Demütigung auch den Ausschluss einzelner Personen aus identitätsstiftenden Gruppen. Diese Gruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine gemeinsame Kultur besitzen, die die wesentlichen Lebensbereiche umfasst. Diese besitzen nur dann moralische Legitimation wenn sie weder ihre Mitglieder, noch ihre Nicht- Mitglieder in jedweder Form demütigen. Erst wenn die Gruppen diese Vorraussetzungen der NichtDemütigung erfüllen, ist der Ausschluss dieser Gruppen aus der Gesellschaft eine Demütigung. (Vgl. Margalit 1997, S. 166ff). Das bedeutet, demzufolge ist eine Gesellschaft, die der Gruppe der Gewalttäter den Zugang zu der Gesellschaft verwehrt, dennoch eine Anständige, da diese Gruppe keine moralische Legitimation besitzt. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass sie ihre Nicht-Mitglieder durch die Ausübung von Gewalt ihrer Menschenrechte berauben und damit demütigen. Hinzufügen könnte man, dass sich die Mitglieder dieser Gruppe vermutlich auch gegenseitig Gewalt antun, also sich untereinander demütigen. Somit wird ihnen auch aus diesem Grund die moralische Legitimation verwehrt. Daraus schließen wir, mit unserem derzeitigen Wissensstand über Margalits Gerechtigkeitstheorie, dass sich der inhaftierte Gewalttäter durch seine Freiheitsstrafe (Ausschluss aus der Gesellschaft) zwar gedemütigt fühlen kann, jedoch aufgrund der vorangegangenen Erklärungen nach Margalit kein berechtigter Grund für dieses Gefühl vorliegt. Als weiteren Aspekt von Demütigung und im engen Zusammenhang mit Ausschluss aus der Gesellschaft führt Margalit die Verminderung der Kontrollfähigkeit bzw. den Verlust der Selbstkontrolle an. Seiner Meinung nach ist die Selbstkontrolle eine wichtige Komponente für das Selbstgefühl eines 36 Menschen, da diese anderen Menschen in hohem Maße Respekt einflößt. (Vgl. Margalit 1997, S. 143). „Gesten der Selbstkontrolle spielen sowohl für die Bezeigung sozialer Ehre als auch für die Wahrung persönlicher Würde eine zentrale Rolle“ (Margalit 1997, S. 143). Der Verlust an Selbstkontrolle führt im Umkehrschluss zu einem Verlust der Selbstachtung. Margalit ist der Auffassung, dass jeder Mensch aufgrund seines Menschseins die Fähigkeit inne hat, sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens positiv zu verändern. Durch den Verlust der Kontrollfähigkeit würde man ihm sein Menschsein aberkennen und ihn in seiner Fähigkeit sich zum positiven zu verändern beschränken, (Vgl. Margalit 1997, S. 144ff). „ Wenn man die Freiheit eines anderen beschneidet und ihm mit entsprechenden Gesten deutlich macht, dass er die Kontrolle über sich weitgehend verloren hat, kann dies bedeuten seine Menschlichkeit zu leugnen. Eben darin besteht der Zusammenhang zwischen Demütigung als Exklusion und Demütigung als Verlust der Kontrollfähigkeit“. (Margalit 1997, S. 147). Bezüglich der Vorstellung von Demütigung in Form von Freiheitsentzug, welchen wir in unserem Fall als Gefängnisstrafe auslegen, geht Margalit davon aus, dass der Mensch in diesem Kontext zwar eingeschränkt, jedoch innerhalb dieses Rahmens dennoch frei ist, Entscheidungen zu treffen wann immer er möchte. Nach unserem Verständnis erfährt der Täter keinen tatsächlichen Kontrollverlust und erleidet somit auch keine Demütigung durch seine Inhaftierung. Folglich kann der Täter also auch im Gefängnis, trotz Verminderung der Kontrollfähigkeit die Entscheidung treffen in Zukunft ein besserer Mensch zu werden. Das Opfer hingegen verliert durch die Tat seine Selbstkontrolle, da es dieser weder zustimmen noch widersprechen kann. Im Grunde hat es fast keine Kontrolle über den Verlauf der Handlungen, welche ihm zugefügt werden. Laut Margalit führt dies wiederum zum Verlust der Selbstachtung. Somit sind also die Taten von Gewalttätern demütigend und nicht konform mit den Normen und Werten einer anständigen Gesellschaft im Sinne von Margalit. 37 5.3.2 Achtung Wie sich im vorherigen Punkt „Demütigung“ heraus kristallisiert hat, misst Margalit dem Begriff der Achtung eine große Bedeutung bei. Laut Margalit existieren drei Rechtfertigungsstrategien weshalb der Mensch Achtung verdient. Als erstes möchten wir die „positive Begründung“ anführen. Diese geht von der gemeinsamen Eigenschaft aller Menschen aus, die Möglichkeit zu besitzen sich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens zu einem moralischen Individuum zu verändern. Der „skeptischen Begründung“ nach ist die Achtungsbezeigung selbst die Rechtfertigung, das bedeutet ein Mensch verdient Respekt aufgrund seines Menschseins, auch wenn er nichts leistet. Man könnte auch sagen, mit eigenen Worten, der Mensch ist Achtung. Die negative Begründung löst sich von den vorherigen Rechtfertigungsstrategien und stellt umgekehrt die Frage warum es falsch ist, einen Menschen zu demütigen. (Vgl. Margalit 1997, S. 77ff). Nach Überprüfung der „positiven Rechtfertigungsstrategie“ bezüglich unserer Thematik, kommen wir zu folgenden Schluss: Die Gesellschaft achtet die Gewalttäter in Margalits Sinne ausreichend, da sie dessen Annahme über die Möglichkeit einer positiven Veränderung augenscheinlich teilt. Dies sehen wir durch die zeitliche Begrenzung der Haftstrafe belegt. Unserer Auffassung nach bestehen drei Gründe weshalb die Justiz eine freiheitsentziehende Maßnahme über den Gewalttäter verhängt. Zum Ersten den Schutz der Öffentlichkeit vor weiteren möglichen Taten, außerdem muss negatives Verhalten sanktioniert werden und zuletzt der Gedanke der Resozialisierung, in der Hoffnung, dass der Täter dieses negative Verhalten nicht wiederholt. Der Hintergedanke bei der Resozialisierung ist, dass sich der Täter durch die Haft zu einem besseren Menschen wandelt und sich in Zukunft in Anlehnung an Popitz für „Ja“ entscheidet. Im Hinblick auf den Schutz der Gesellschaft vor weiteren Straftaten von Gewalttätern und der Resozialisierung von Gewalttätern sehen wir einen stark moralisch und rechtlich geprägten Spannungszustand. Die Forderung der 38 Allgemeinheit bei Wiederholungstätern, sie für immer zu verwahren auf der einen Seite und der Gedanke der Resozialisierung auf der anderen Seite stehen in Opposition zueinander. Durch die Inhaftierung auf Lebenszeit würde den Straftätern Veränderung jene nach verwehrt Margalit werden. achtungsbezeugende Aktuell ist es auf Möglichkeit zur politischer und gesellschaftlicher Ebene ein stark diskutiertes Thema, wie mit der so genannten Sicherungsverwahrung (§ 61 StGB) zu verfahren ist. Unter Anbetracht des Aspekts der Achtung des Täters ist es keine Entscheidung, die leichtfertig zu treffen ist. Der Täter verwehrte dem Opfer seine ihm nach Margalit zustehende Achtung indem er es durch seine Gewalttat demütigte. 5.3.3 Strafe in der anständigen Gesellschaft Margalit beschäftigt sich neben den existentiellen Aspekten einer anständigen Gesellschaft wie Würde, Achtung und Demütigung auch mit dem Umgang von Bestrafung unter Berücksichtigung dieser Punkte. Er ist der Auffassung, dass sich anhand der Bestrafungspraxis einer Gesellschaft ablesen lässt ob sie sich zu einer anständigen zählen darf oder nicht. Er geht davon aus, dass eine Gesellschaft Straftätern (in unserem Fall Gewalttätern) zwar keine soziale Ehre zuerkennen muss, ihnen aber dennoch die grundlegende Achtung, welche ihnen allein für ihr Menschsein zusteht, entgegen bringen muss. Dies bedeutet: eine Gesellschaft ist dann als „anständig“ zu betrachten, wenn sie Schwerverbrecher bestraft ohne diese zu entwürdigen. (Vgl. Margalit 1997, S. 301). „Da Demütigung gleichbedeutend mit der Verletzung der Menschenwürde ist, hat auch ein Krimineller das Recht, nicht gedemütigt zu werden.“ (ebd., S. 301). Die in der Vergangenheit in Deutschland gewaltsam ausgeübte Strafpraxis nach dem Grundsatz „Gleiches mit Gleichem vergelten“ war eine demütigende. Da diese körperliche Grausamkeiten, wie z. B. Folter beinhaltete, kann man im Fall der vormodernen Gesellschaft nicht von einer anständigen Gesellschaft sprechen. Folglich darf die anständige Gesellschaft für sich nicht nur den 39 Anspruch erheben frei von institutioneller Demütigung zu sein, sondern muss auch eine Strafpraxis ohne körperliche Grausamkeit vorweisen können. Außerdem sollte der zentrale Wert einer anständigen Gesellschaft die Wahrung der Menschenwürde seiner Mitglieder und Nicht-Mitglieder sein, auch derer, welche sich nicht konform verhalten. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass sich die Strafpraxis einer Gesellschaft ebenfalls an die Bedingung der Wahrung der Menschenwürde halten muss, wenn sie den Anspruch erhebt anständig zu sein. Wenn eine Gesellschaft in allen anderen Bereichen die Würde und Achtung ihrer Mitglieder und Nicht-Mitglieder wahrt, ihre Justiz jedoch Straftäter demütigt, ist sie im Sinne von Margalit keine anständige Gesellschaft. (Vgl. ebd., S. 302ff). Um dies nochmals zu überprüfen gehen wir nun explizit auf den Aspekt der Demütigung in Zusammenhang mit Bestrafung ein. Margalit vertritt die Annahme, dass zwischen Strafe und Schmerz (impliziert auch psychische Leiden) ein Zusammenhang besteht, wobei nicht jede systematische Schmerzzufügung zwangsläufig demütigend ist. So ist zwar die Inhaftierung von Gewalttätern bewusst darauf angelegt sie zu entehren (ihrer sozialen Ehre zu berauben) und Schande über sie zu bringen, wobei ihre Entehrung aber nur in Ausnahmefällen zu einem Extrem getrieben wird, in dem sie die Menschenwürde verletzt und somit zur Demütigung wird. An diesem Punkt stellt sich Margalit die Frage, wie eine Haftstrafe ohne Demütigung vonstatten gehen kann. (Vgl. Margalit 1997, S. 305f). „Einerseits ließe sich darauf antworten, dass jede Strafpraxis, die Schmerz und Entehrung einschließt, demütigend sein muss. Allenfalls könne die mit der Strafe verbundene Erniedrigung abgeschwächt werden, aber sofern die Haftstrafe überhaupt einen Zweck hat, lässt sich dieser nur durch das Leiden und die Entwürdigung erreichen, die mit dem Ausschluß [sic] des Häftlings aus der menschlichen Gesellschaft verbunden sind.“ (ebd., S. 306) Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet könnte man jedoch auch behaupten, dass der Täter durch seine Haftstrafe und die dazugehörigen negativen Konsequenzen (Leiden) als moralisches Subjekt anerkannt wird und er dadurch geachtet wird. Deutlicher gesagt, würde man einem geistig gesunden Menschen die Straffähigkeit absprechen, indem man ihn für sein Handeln nicht 40 verantwortlich macht, würde er nach Margalit zwar nicht entehrt, aber auch nicht geachtet werden. Überspitzt formuliert wird einem Täter die Ehre erteilt, ein bestrafbares moralisches Subjekt zu sein, da ihm dadurch die ihm gebührende Achtung erwiesen wird. Daraus lässt sich erkennen, dass durch die Inhaftierung an sich noch keine Demütigung vorliegt. Inhaftierte Gewalttäter befinden sich laut Margalit in einer äußerst unangenehmen Situation und in der gesellschaftlichen Hierarchie an unterster Stelle. Diese unangenehme Situation definiert sich unter anderem durch den Verlust der Autonomie, welcher an sich bereits denkbar entwürdigend ist. Jedoch sollte es nicht im Interesse einer Gesellschaft sein ihre Häftlinge zusätzlich zu erniedrigen. Es liegt in der Verantwortung einer anständigen Gesellschaft für ein gewaltfreies Miteinander der ihr unterstellten Inhaftierten zu sorgen. Sollten sie sich in der Institution gegenseitig demütigen, so muss auch von einer institutionellen Demütigung gesprochen werden. Zusammenfassend verdeutlicht Margalit, dass Strafe als ein Signal für die Gesellschaft sowie für die Bestraften fungiert, welche die Verknüpfung von Verbrechen mit Schande und Entehrung darlegt. Er plädiert dafür, diese Schande rein als den Verlust der sozialen Ehre zu betrachten sowie persönliche Demütigung zu vermeiden. Dies bedeutet, sie nicht aus der Gesellschaft auszuschließen. (Vgl. Margalit 1997, S. 306-309). „Einer anständigen Gesellschaft muß [sic] die Würde ihrer Gefangenen am Herzen liegen.“ (Margalit, 1997, S. 309). Nach eingehender Betrachtung und Überlegung sind wir zu dem Schluss gekommen, dass man Deutschland in Hinblick auf die Inhaftierung von Gewalttätern im Großen und Ganzen als eine anständige Gesellschaft bezeichnen könnte, welche ihre Sträflinge in der Regel nicht persönlich demütigt. Auch werden die Menschenrechte durch und während der Inhaftierung aufgrund entsprechender Ausschlussklauseln nicht verletzt. Der Richtigkeit halber muss an dieser Stelle jedoch angemerkt werden, dass es auch in deutschen JVAs schon zu persönlicher Demütigung durch das Fehlverhalten der diensthabenden Beamten gekommen ist. Diese werden aber, sofern 41 öffentlich geworden geahndet und bestraft, da eine Demütigung von Seiten der ausführenden Justiz nicht im Sinne der deutschen Rechtsprechung ist. Jedoch mit Blick auf die Gewalttätigkeit und Demütigungen der Häftlinge untereinander, welche beinahe als alltäglich betrachtet werden können, lässt sich sagen, dass diese nicht akzeptabel sind. Kürzlich wurde in einer Jugendhaftanstalt in Siegburg ein Jugendlicher von drei Mithäftlingen auf brutale Art und Weise gequält und schließlich erhängt. Der Häftling hatte seine Autonomie durch die Freiheitsstrafe verloren und war somit schutzbedürftig. Er befand sich in einer Abhängigkeit gegenüber der Institution JVA. Hier wirft sich die Frage auf, wie diese Tat von den Justizvollzugsbeamten unentdeckt vonstatten gehen konnte, da wir davon ausgehen, dass dieser Vorfall ein prozesshaftes Geschehen war und dieser Prozess vermutlich nicht unbemerkt blieb. Die Institution bzw. die Beamten hatten nicht ihrer Verantwortung gemäß schützend eingegriffen. Dies wäre ihre oberste Pflicht gewesen um eine institutionelle Demütigung im Sinne Margalits zu vermeiden. Ein großes Problem, das in engem Zusammenhang mit der Verletzung von Menschenrechten, aber auch mit dem vermehrten Auftreten von Gewalt in den Gefängnissen selbst steht, ist die massive Überbelegung der Vollzugsanstalten. Jeder Inhaftierte hat nach § 18 Abs.1 StVollzG einen rechtlichen Anspruch auf Einzelunterbringung während der Ruhezeit, nach welchem eine gemeinschaftliche Unterbringung in einem Haftraum nur vorübergehend und aus zwingenden Gründen (z. B. Hilfebedürftigkeit eines Insassen) zuzulassen ist. Einzige Ausnahme bildet hier der offene Vollzug, in welchem Gefangene bei allseitigem Einverständnis und ohne Befürchtung einer schädlichen Beeinflussung auch gemeinsam in einer Zelle untergebracht werden können. (Vgl. http://www.gesetze-im-internet.de/stvollzg/index.html). In der Realität sieht dies jedoch deutlich anders aus. Die Kapazitäten der JVAs sind sowohl räumlich als auch personell der steigenden Anzahl von Inhaftierten bei weitem nicht gewachsen, so dass auch im geschlossenen Vollzug Haftzellen mit Mehrfachbelegung die Regel sind. Dies ist auf der einen Seite ein Verstoß 42 gegen die Menschenwürde und die Wahrung des Rechts auf Privatsphäre und somit der Menschenrechte der betroffenen Gefangenen. Auf der anderen Seite bietet diese Situation einen Nährboden für weitere Gewalthandlungen innerhalb der Anstalt, was wiederum institutionelle Demütigung im Sinne Margalits zulässt. Aufgrund der Einschränkung ihrer Privatsphäre kann es zu Frustration und Aggression bei den Inhaftierten kommen, wobei das Ausleben dieser Gefühle, welche bekanntlich eng mit Gewalt verknüpft sind, wiederum durch die Überbelegung begünstigt wird. Je mehr Personen in einer Zelle untergebracht sind, desto größer ist die Gefahr, dass es Konflikte gibt. Hinzukommend ist bei einer Mehrfachbelegung des Haftraumes die Möglichkeit der Beobachtung und Kontrolle durch die Vollzugsbeamten erschwert. Dies soll im oben genannten Fall in Siegburg jedoch nicht das offensichtliche Fehlverhalten der diensthabenden Beamten entschuldigen. Nachdem wir nun die Gerechtigkeitstheorie der anständigen Gesellschaft nach Margalit mit dem Ist-Zustand in Deutschland verglichen haben, gelangen wir zu folgenden Ergebnis: Vorausgesetzt, das Ziel Deutschlands wäre die anständige Gesellschaft, hat es sich zwar grundlegend den richtigen Maximen wie Achtung, Würde und Nicht-Demütigung verschrieben, ist deren Umsetzung hingegen defizitär und durchaus noch verbesserungswürdig. Nach Abschluss der wertmäßigen Begründung nach STB unter Berücksichtigung der Menschenrechte, des Machtproblems anhand der Theorie von Popitz und der Gerechtigkeitstheorie von Margalit, möchten wir uns im nächsten Punkt damit befassen, wie das soziale Problem zum Positiven verändert werden könnte. Dabei möchten wir uns an der Begründung und deren Defiziten orientieren. 43 6. Verfahrenswissen Gemäß der Frage „Wie kann was verändert werden?“ nach STB möchten wir nun Interventions- sprich Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit und anderen Institutionen aufzeigen, welche im Zusammenhang mit dem Thema „Inhaftierte Gewalttäter“ auf verschiedenen Ebenen im Bereich der Gewaltprävention, vorbeugend, aber auch innerhalb des Sozialraumes der Täter und im Kontext der JVA geleistet werden können. Neben der Klärung von Begrifflichkeiten möchten wir unter diesem Punkt mögliche Methoden und Programme der Sozialen Arbeit, wie z. B. der Kinder- und Jugendhilfe, im Umgang mit (potentiellen) Gewalttätern vorstellen. Auch der Begriff „Achtung“, der, wie bereits beschrieben, einen hohen Stellenwert in Margalits Theorie der anständigen Gesellschaft einnimmt, soll im Kontext der Gewaltprävention noch einmal aufgegriffen werden. 6.1 Gewaltprävention Der Begriff „Gewaltprävention“ wird in der Fachliteratur kaum diskutiert. Da es hier keine allgemein gültige Definition gibt, kommt es in der Literatur oft zu Vermischungen von Prävention und Intervention bei Gewalt. Grob kann man sagen: „Gewaltprävention bezeichnet […] alle institutionellen und personellen Maßnahmen, die der Entstehung von Gewalt vorbeugen bzw. diese reduzieren. Die jeweiligen Maßnahmen zielen ab auf die Person selbst, auf die Lebenswelt dieser Adressaten wie auch auf den Kontext der sie tangierenden sozialen Systeme“. (Schatz in SGB VIII – Online-Handbuch o. J., S.1). In der Gewaltprävention können die drei Ebenen der primären, sekundären und tertiären Prävention unterschieden werden. Das Ziel der primären Prävention ist das Verhindern von Gewalt bereits im Vorfeld, indem gewaltfördernde Bedingungen aufgedeckt und verändert bzw. Adressaten zum adäquaten, 44 kompetenten Umgang damit befähigt werden. Die sekundäre Prävention strebt vorbeugende Maßnahmen bei bereits identifizierten, sprich auffällig gewordenen Personengruppen an und betreibt sowohl Schadensminderung, als auch Kompetenzförderung durch gezielte person-, sozialraum- und institutionsbezogene Programme. Tertiäre Prävention beabsichtigt durch spezifische rehabilitative oder resozialisierende Maßnahmen eine Vermeidung des Rückfalls. (Vgl. ebd., S. 1). Ziel der Aktivitäten zur Gewaltprävention ist es, abhängig von theoretischer Orientierung und Schwerpunktbildung, bei Individuen Veränderungen im personalen, kommunikativen und interaktiven Bereich zu bewirken. Diese Veränderungen zeigen sich in der Stärkung des Selbstwertgefühls, der Reflexion des eigenen Selbst, der Stärkung der Persönlichkeit, der Ausbildung bzw. Verbesserung der sozialen Wahrnehmung, der Konfliktfähigkeit, im kontrollierten Handeln und allgemein im Erwerb oder Ausbau sozialer Kompetenzen. Auf lange Sicht hin werden eine Vermeidung von Straffälligkeit und soziale Akzeptanz durch sozial integriertes Verhalten der Adressaten angestrebt, dies nicht zu letzt auch zum Schutze der Allgemeinheit vor potentiellen Straftätern. (Vgl. ebd., S. 1). Die Gewaltprävention ist zum Teil gesetzlich verankert und zeigt sich in der vielfältigen Struktur ihrer Angebote. Es kann grob unterteilt werden in Angebote der öffentlichen und freien Jugendhilfe und in Angebote aus dem Bildungsbereich der Schulen. Auch dieser Bereich betrifft die Soziale Arbeit, da es aufgrund des Anstiegs von Kriminalität und Gewalt an Schulen inzwischen eine vermehrte Präsenz von Schulsozialarbeit gibt. Nach gängiger Praxis fallen die Angebote unter § 14 SGB VIII (Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz), das JGG in Verbindung mit dem § 27 SGB VIII (Hilfen zur Erziehung) oder als ambulante Hilfe und Angebot des sozialen Lernens im Bereich des sozialen Lernens nach § 29 SGB VIII (Soziale Gruppenarbeit). Diese geht oft einher mit 45 Bestandteilen von sozialen Trainingskursen. (Vgl. Schatz in SGB VIII – OnlineHandbuch o. J., S. 1). 6.1.1 Handlungsmöglichkeiten der primären Gewaltprävention Dieser gewaltunspezifische Ansatz nimmt an, dass durch allgemeine förderliche Angebote, die sowohl die Persönlichkeit als auch das Umfeld potentieller oder tatsächlicher Täter ansprechen, indirekt positive Verhaltensänderungen im Sinne eines Absehens von Gewalt ergeben. Hierzu zählt beispielsweise die aufsuchende akzeptierende Jugendarbeit, die z. B. zu einem großen Teil in der Gemeinwesenarbeit zu finden ist. Da die Primärprävention einen Fokus auf die Veränderung gewaltfördernder Bedingungen legt, hat sie eine gute Chance, wenn sie direkt vor Ort in der Lebenswelt bzw. im Sozialraum der Adressaten agiert. Offene, möglicherweise geschlechterspezifische und vor allem niedrigschwellige Angebote bieten den Kindern und Jugendlichen einen Raum, ihre Freizeit konstruktiv zu gestalten. Dies wird möglich durch aktive, pädagogische Angebote, welche die individuelle Entwicklung der Kinder fördern und ihnen ermöglichen, gewalttätige Energien (z. B. Aggressivität) in erlaubte (z. B. Austoben) umzuwandeln. Ein weiterer wichtiger Punkt ist eine klare Struktur der Angebote und die Aufstellung klarer Regeln, um den Kindern eine Orientierung und damit Sicherheit zu ermöglichen. Um die Adressaten ihre eigene Selbstwirksamkeit spüren zu lassen und somit ihr Selbstvertrauen zu stärken, können sie durch Partizipation unmittelbar an der Regelentwicklung teilhaben und so ihre Lebenswelt aktiv mitgestalten. (Vgl. Dialog Bad Essen 2001, S. 6). So werden Sanktionen, die aus Regelverstößen resultieren, im Vorfeld von ihnen selbst aufgestellt und nicht von „Stärkeren bzw. Mächtigeren“ übergestülpt, was ihnen ein destruktives Gefühl der „Machtlosigkeit“ und somit „Schwäche“ geben würde. Das Ergebnis daraus könnte eine versuchte Demonstration ihrer „Macht“ über Schwächere in den ihnen zugänglichen Bereichen sein, was wohl meist mit zerstörerischen und/oder gewalttätigen 46 Handlungen und der Demütigung anderer im Sinne Margalits einhergeht. Gemeinwesenarbeit hilft in der Arbeit mit Familien, durch die Förderung einer ressourcen- und lösungsorientierten Sichtweise, wertschätzende und stabile Beziehungsmuster zu entwickeln. Dies dient dem Prozess der Beziehungsklärung innerhalb familiärer Strukturen und der evtl. Vorbeugung von Erziehungsdefiziten. (Vgl. ebd., S. 17). Welch hohe Bedeutung eine positive Familienstruktur für die Entwicklung eines Kindes und somit für die Ausprägung seines Gewaltpotenzials hat, wurde bereits von Obrechts Objekttheorie unter Punkt 4.2 dieser Arbeit in Anlehnung an die Lerntheorie des Modellernens nach Albert Bandura beschrieben. Der Begriff „Achtung“, der in Margalits Theorie der anständigen Gesellschaft einen hohen Stellenwert hat, steht unserer Auffassung nach ebenso in engem Zusammenhang mit (primärer) Prävention. Einem Individuum soll Achtung entgegengebracht werden, ohne dass es dafür etwas besonderes Leisten muss. Wir verstehen den Begriff „achten“ hier sinnbildlich für „beachten“ und sehen einen Zusammenhang zwischen dem Motiv der Gewalttat des Täters und der Beachtung, die ihm anschließend von unterschiedlichen Seiten (Familie, Polizei, Justiz,…) entgegengebracht wird. Auch wenn diese Beachtung negativ ausfällt, ist sie für den Täter ein Zeichen für Interesse an seiner Person. Grundsätzlich muss nach Margalits Gerechtigkeitstheorie einem Individuum aufgrund seines Menschseins von vorn herein (positive) Achtung entgegengebracht werden, dies bedeutet, dass man es auch beachten muss, wenn es weder negativ noch positiv auffällt. Denn wenn es in diesem Sinne für seine Tat durch die Aufmerksamkeit im Besonderen „belohnt“ wird, so wird es dieses Verhalten evtl. öfter zeigen. Dies ist eine weitere in der Psychologie fundierte Lerntheorie, welche unter dem Begriff „operante Konditionierung“ oder auch Verstärkungslernen bekannt ist. „Eine Verhaltensweise wird häufiger auftreten und erlernt, wenn durch sie mehrmals ein angenehmer Zustand herbeigeführt und aufrechterhalten oder ein 47 unangenehmer Zustand beseitigt, vermieden bzw. verringert werden kann.“ (Hobmair 1997, S. 211). Wichtige präventive sozialpädagogische Handlungsmöglichkeiten sind folglich ein aufmerksames Wahrnehmen bzw. genaues Hinsehen, das Kind und seine evtl. auffälligen gewaltgeprägten Handlungen (wenn es beispielsweise Tiere quält oder aggressive Verhaltensweisen anderen Kindern gegenüber zeigt) ernst zu nehmen und frühzeitig entsprechend zu reagieren. Ein wichtiger Punkt ist hier auch die Vernetzung und kooperative Zusammenarbeit der verschiedenen Beteiligten (ASD, Jugendamt, Schule, Eltern, usw.), um eine effektive und effiziente Intervention zu gewährleisten. 6.1.2 Handlungsmöglichkeiten der sekundären Gewaltprävention Dieser Ansatz widmet sich den Kindern und Jugendlichen, die bereits durch Formen der Gewaltanwendung aufgefallen sind und ist daher in seinen Methoden und Handlungsweisen an gewaltspezifischen Programmen ausgerichtet. Ziel ist hier die Schadensminderung und Förderung der sozialen Kompetenzen, um weiteren Gewalthandlungen vorzubeugen. Die meisten Programme favorisieren Unterstützung der ein personenbezogenes Arbeiten, das mit Gruppe und durch gruppenpädagogische Aktivitäten Veränderungsprozesse des Einzelnen anstreben. Sie setzen an bei den Erfahrungen und Problemlagen der Jugendlichen (Lebensweltorientierung), stellen Selbstentfaltungsmöglichkeiten bereit (Ressourcenorientierung) und vereinbaren und fixieren Veränderungsabsichten (Lösungsorientierung). Unter diese Maßnahmen fallen beispielsweise Trainingsprogramme für aggressive Kinder, Programme zum Umgang mit Konflikten, so genannte Streit-SchlichterProgramme und das „Coolness-Training“. Besonders Letzteres scheint Erfolg zu versprechen, da es umfassend gewalterzeugende und aufrechterhaltende Faktoren anspricht. Der Fokus liegt hier auf der Gruppe und den Strukturen, in denen sich die Jugendlichen bewegen. Gruppendynamische Prozesse spielen 48 in Gewaltsituationen oft eine große Rolle. Im Coolness-Training werden die ablehnende Haltung und Feindseligkeit gegenüber anderen reduziert. Rituale und Strukturen von Begegnungen im öffentlichen Raum haben dabei einen hohen Stellenwert und werden, z. B. durch Rollenspiele, analysiert. (Vgl. Schatz in SGB VIII – Online-Handbuch o. J., S. 3-5). 6.1.3 Handlungsmöglichkeiten der tertiären Gewaltprävention Bei diesen gewaltspezifischen Präventionsprogrammen finden sich vor allem gewalttherapeutische Methoden (Sozialer Trainingskurs, Soziale Gruppenarbeit, am Anti-Aggressivitätstraining orientierte Arbeit), das Anti-AggressivitätsTraining (AAT) und der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA). Soziale Gruppenarbeit und der Soziale Trainingskurs sind erzieherische Maßnahmen, die dem Jugendlichen Hilfestellung geben sollen, in der Gruppenarbeit seine Probleme zu erkennen, zu bearbeiten und zu lösen. Soziale Gruppenarbeit zählt zu den ambulanten Hilfen zur Erziehung für ältere Kinder, Jugendliche und junge Volljährige. Über das soziale Lernen sollen günstige Erfahrungen, Erlebnisse und Einsichten vermittelt werden, die letztlich zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit führen. Im § 29 SGB VIII läuft der Soziale Trainingskurs unter dem Sammelbegriff Soziale Gruppenarbeit. In der Sozialen Gruppenarbeit wie im Sozialen Trainingskurs finden sich dabei weitgehend ähnliche methodische Elemente wie lebensweltorientierte Maßnahmen, Erlebnispädagogik oder auch konfrontative Pädagogik. (Vgl. Schatz in SGB VIII – Online-Handbuch o. J., S. 5). Der Soziale Trainingskurs zielt auf eine problem- und handlungsorientierte Aufarbeitung der Schwierigkeiten, die zur Straftat geführt haben. Aus juristischer Sicht handelt es sich bei den Teilnehmern um jugendliche und heranwachsende Straftäter, bei denen eine eingriffsschwächere Reaktion (Ermahnung, 49 Verwarnung) erzieherisch nicht ausreicht, wegen der Schwere der Schuld eine Jugendstrafe aber nicht erforderlich ist. Es geht hier nicht um die Ahndung der Straftat, sondern ist viel mehr eine Maßnahme zur Beseitigung von Erziehungsdefiziten, auf denen die Tat beruht. Die Zielsetzung richtet sich im Sozialen Trainingskurs auf die Förderung und Stärkung der Kommunikationsund Konfliktfähigkeit, die Verbesserung des Selbstkonzeptes, das Erlernen von Toleranz, die Entwicklung von Problembewusstsein, Planungsfähigkeit und Zukunftsgestaltung wie sozial verantwortliches Handeln. Die Jugendlichen sollen also befähigt werden, ihren oft sehr krisenanfälligen Alltag eigenverantwortlich zu gestalten und die Möglichkeit haben, ein straffreies Leben zu führen. (Vgl. ebd., S. 5). Das Anti-Aggressivitäts-Training (AAT) wendet sich in der Regel an gewalttätige jugendliche und heranwachsende Wiederholungstäter und stellt eine sehr intensive gewaltpräventive Maßnahme dar. Oft findet man dieses Training im stationären Bereich (z. B. JVA) vor. Ihm liegen die bereits erwähnten sozialen Lerntheorien zugrunde, vor allem das Lernen am Modell. Das AAT sucht die Auseinandersetzung des Täters mit seinem aggressiven Potential und seinen Taten mit dem Ziel, den Täter nicht nur zu resozialisieren, sondern primär künftige Gewalttaten und somit Opfer zu vermeiden. Beim AAT handelt es sich um eine deliktspezifische Behandlungsmaßnahme, die als Spezialisierung des sozialen Trainings zu verstehen ist. Es findet eine Orientierung an den Prinzipien des sozialen Lernens statt. Ausschlaggebend sind hier die Inhalte in Anlehnung auf das aktuelle Problemverhalten, der problemnahe Ort und der Trainer, der intensiven und sitzungsübergreifenden Kontakt zum Täter haben sollte. Erst wenn bei diesem eine Einstellungsänderung vorliegt, die Körperverletzung als inhumanes, unwürdiges Verhalten erkennt und nicht als präventive Konfliktlösungsstrategie, führt dies auch längerfristig zu einem Erfolg. 50 6.2 Handlungsmöglichkeiten innerhalb der JVA Um wieder auf das Thema der „inhaftierten Gewalttäter“ zu lenken, möchten wir an dieser Stelle aufzeigen, welche Möglichkeiten der Veränderung es bezüglich des gewalttätigen Verhaltens der Inhaftierten gibt. Innerhalb der JVAs gibt es zwar pädagogische und tertiärpräventive Angebote, welche allerdings aufgrund des bereits beschriebenen Problems der Überbelegung der Anstalten bei Weitem nicht ausreichen. Die Soziale Arbeit hat in diesem Bereich also nur einen begrenzten Einfluss auf das Repertoire und die Intensität des Angebots und der Maßnahmen. Sie könnte effektiver und effizienter tätig werden, wenn das Problem der Überbelegung gelöst, bzw. ein Mehr an Stellen für pädagogische Fachkräfte, wie Sozialpädagogen, zur Verfügung stehen würde. Hierfür müssten jedoch wirtschaftliche Entscheidungen auf höherer politischer Ebene getroffen werden, auf welche die Soziale Arbeit in dem Sinne keinen direkten Einfluss hat. „Ebenso müssen Initiativen zur Verbesserung seiner Rahmenbedingungen und seines Image aus dem Vollzug selbst kommen und die Leistungen der gewährten Grundversorgung deutlich herausstellen, um öffentliche Akzeptanz zu erhöhen und zur Verbesserung materieller und personeller Bedingungen beitragen.“ (Gefährdetenhilfe Scheideweg e.V. o. J., S.1) Sozialpädagogische Maßnahmen, die im Rahmen einer Inhaftierung der Gewaltbereitschaft der Gefangenen entgegenwirken sollen, sind – wenn auch nicht ausreichend – in Form von AAT und Sozialem Kompetenztraining vorhanden. Der oft ausbleibenden effektiven Wirkung dieser Angebote im Rahmen der Haftanstalt liegt zugrunde, dass aufgrund des oben genannten Dilemmas eine Regelmäßigkeit und Intensität der Maßnahme, welches aber wichtige Bedingungen für den Erfolg sind, nicht gewährleistet werden kann. 51 6.3 Alternative Handlungsmöglichkeiten Aufgrund der hohen Rückfallquote bei den aus der Haftanstalt entlassenen Gewalttätern wirft sich uns die Frage auf, ob es nicht alternativ zum Strafvollzug Möglichkeiten der Rückfallvermeidung für (Wiederholungs-)Täter gibt. Wie bereits unter Punkt 5.3.3 dieser Arbeit beschrieben, ist in den JVAs die Problematik der Gewalt unter den Häftlingen selbst äußerst präsent und verstärkt sogar oft noch das gewalttätige Verhalten einzelner Gefangener. So steigt das Gewaltpotenzial vieler Täter im Vergleich zum Beginn der Haft eher noch an, als sich zu verringern. Um diesem beinahe unlösbar erscheinenden Dilemma zu entfliehen, sollten nach unserem Ermessen alternative Programme zur so genannten (U-)Haftvermeidung nach §§ 71f JGG vermehrt zum Einsatz kommen. Für die Ausführung dieser Maßnahmen ist die Jugendhilfe in Zusammenarbeit mit Sozialen Diensten und der Jugendgerichtshilfe zuständig. Zielgruppe der Haftvermeidung sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 14 und 25 Jahren, die einen sozialpädagogischen Unterstützungs- und Betreuungsbedarf haben. Diese Form der ambulanten Betreuung soll einer Verfestigung strafbaren Verhaltens entgegenwirken und den betroffenen Jugendlichen individuelle Lösungen anbieten. Straffällige Jugendliche, die unmittelbar von U-Haft bedroht sind, werden im Kontext einer Krisenintervention in das jeweilige Projekt aufgenommen. Bei der Erarbeitung von angepassten, mit den Jugendlichen abgestimmten individuellen Lösungen geht es meist um Unterstützung in verschiedenen Lebensbereichen, wie z. B. Schule, Umgang mit Ämtern, etc., um Beratung bei persönlichen Problemen, Betreuung in Verbindung mit dem Strafverfahren, Hilfestellung bezüglich sozialer Kontakte und Reflexion des eigenen Lebenslaufs, um Ursachen für eigene Verhaltensweisen zu erkennen. Die Methoden orientieren sich an Einzelgesprächen zur Situationsanalyse, Festlegung zur Vorgehensweise, Gesprächen mit der Familie des Täters, Beratung, Therapievermittlung, usw., können aber je nach Maßnahme und 52 individuellem Bedarf variieren. (Vgl. http://www.mdj.brandenburg.de/sixcms/detail.php/lbm1.c.281746.de). Ein Beispiel für ein Projekt zur Haftvermeidung sind spezielle Trainings-Camps für straffällig gewordene Jugendliche. Eines der bekanntesten solcher Camps ist die Jugendhilfeeinrichtung „Durchboxen im Leben“® - Trainingscamp Lothar Kannenberg, welches von selbigem ins Leben gerufen wurde. Er selbst war früher krimineller, gewaltbereiter Straftäter. Es handelt sich bei dieser Form um eine vollstationäre Betreuung mit gruppenpädagogischem Ansatz mit an der Erlebnispädagogik und an Sport orientierten Schwerpunkten. (Vgl. Konzept Jugendhilfeeinrichtung Trainingscamp Lothar Kannenberg o. J., S. 4). Spezielles Ziel dieser Einrichtung ist es, Jugendlichen den Sport als ein Ventil für aufgestaute Emotionen als Handlungsalternative anzubieten. Im geschützten Rahmen des Trainingscamps werden sie einerseits gefordert und erhalten andererseits die Gelegenheit, ihre „Maske“ abzusetzen, sich zu öffnen und kooperative, soziale Verhaltensformen zu üben. Gleiches gilt für Jugendliche, die in einer Opferrolle lebten und ihre Umgebung durch ihr Verhalten indirekt dominierten. Sie können Selbstbewusstsein aufbauen und lernen aktiv für ihre Interessen einzutreten. (ebd., S. 4). Die Mitarbeiter der Maßnahme setzen sich zusammen aus einer Pädagogischen Leitung (Dipl.-Soz. Päd.) weiteren Diplom-Sozialpädagogen, RespekttrainerInnen, Erlebnispädagogen, Mountainbike-Guides, Fitnesstrainern, lizenzierten Übungsleitern, Erziehern, Boxtrainern, ausgebildeten Handwerker, die jedoch ebenfalls mit pädagogischer Arbeit vertraut sind. (Vgl. ebd., S. 3). Als Fazit sehen wir die Haftvermeidung allgemein und im Speziellen diese Möglichkeit als sehr positiv zu bewertende Alternative zur Haftverbüßung in 53 einer der überbelegten gewaltgeprägten Justizvollzugsanstalten. Während in den JVAs Gewalt unter den Häftlingen immer noch an der Tagesordnung steht und das gewalttätige Verhalten der Täter durch mangelnde sozialpädagogische und therapeutische Angebote eher noch verstärkt wird, bietet die Haftvermeidung einen geschützten Rahmen, in dem individuell auf die Einzelfälle und Bedürfnisse der Täter eingegangen werden kann. Ihnen wird durch die sozialpädagogische Begleitung und in Gruppenarbeit eine bessere Möglichkeit gegeben, sich mit ihrem „gewalttätigen“ Selbst und der/den begangenen Gewalttat/en auseinander zu setzen und durch angeleitete Selbstreflexion ihr Verhalten zum Positiven hin zu verändern. Dadurch kann ihnen die durch Margalit geforderte (Be-)Achtung in einem wesentlich höheren Maße als innerhalb einer JVA entgegengebracht werden. Diese (Be-)Achtung steht ihnen einerseits aufgrund ihres Menschseins zu und andererseits benötigen sie diese, um nicht mehr negativ durch etwaige gewalttätige Straftaten auffallen zu müssen. 7. Schlussgedanken Nachdem wir uns nun ausführlich mit den Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit befasst haben, möchten wir abschließend noch einmal unsere Erkenntnisse zusammen fassen und einen hypothetischen Ausblick wagen. Wir klärten in dieser Arbeit hinsichtlich der Verletzung von Menschenrechten bei „Inhaftierten Gewalttätern“ und deren Taten, dass rein rechtlich keine Menschenrechtsverletzungen bezüglich des Täters im Rahmen der Inhaftierung vorliegen, da es im Gesetz oft Sonderklauseln, bzw. Ausweichungen gibt. Trotzdem bleibt es für uns eine moralische Frage, ob es durch diese gesetzliche „Legitimierung“ wirklich vertretbar ist, dass in die Menschenrechte des Täters eingegriffen wird. Dies ist jedoch eindeutig der Fall, beispielsweise beim Schutz der Privatsphäre oder dem Briefgeheimnis, da dieses in der JVA nicht gewahrt 54 wird. Solange aber nicht geeignete Alternativen zum Strafvollzug zum Tragen kommen, wird es diese für uns moralisch unbefriedigende Lösung geben. Natürlich darf man hier auch nicht den Blick auf die Opfer außer Acht lassen, die im Endeffekt Hauptleidtragende der Tat waren. Sie hatten schließlich auch nicht die Macht, den Menschenrechtsverletzungen gegen ihre Person durch den Täter zu entgehen. Außerdem hat der Gewalttäter sich de facto mit einer Handlung strafbar gemacht und muss daher Einschränkungen in Kauf nehmen. Diese dienen letztendlich auch dem Schutz der (potentiellen) Opfer. Von den Opfern und der Gesellschaft wird Gerechtigkeit gefordert. Aber was ist gerecht? Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Gerechtigkeit ist hier Ermessenssache und nicht so einfach umzusetzen. Dies erfordert eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Thema Menschenrechtsverletzung in JVAs, welche wohl eher eine Aufgabe für die Justiz darstellen. Der Sozialen Arbeit werden innerhalb der Vollzugsanstalt andere Prioritäten zuteil. Sie legt ihren Fokus eher auf spezielle Aufgabengebiete und den Ausgleich der individuellen Defizite der Inhaftierten (z. B. Suchtberatung, soziales Kompetenztraining usw.). Die Verbesserung der Haftbedingungen sollte Gegenstand einer politischen Diskussion sein, welche durch die Soziale Arbeit lediglich angeregt werden kann. Sie kann sich dafür einsetzen, dass der Inhaftierte nicht nur als „Täter“, sondern primär als „Mensch“ gesehen wird, dessen Interessen und Bedürfnisse ebenso wie bei allen anderen Menschen bestmöglich gewahrt werden müssen. Abschließen möchten wir mit der provokanten These, dass die Gesellschaft akzeptieren müsste, dass es sich bei noch so „unmenschlich“ erscheinenden Taten trotzdem um etwas „menschliches“ handelt, da diese nun mal von Menschen ausgeführt werden. Wir gehen davon aus, dass je besser die Gewalttäter behandelt werden und je mehr sich für sie eingesetzt wird, sie also im positiven Sinne „beachtet“ werden, desto höher ist die Chance, dass sie in Zukunft keine weiteren Straftaten mehr begehen. „Behandlung“ umfasst nicht 55 nur den wertschätzenden Umgang mit ihnen, sondern auch die therapeutische Auseinandersetzung mit ihren Defiziten, welche im Zusammenhang mit der begangenen Straftat stehen. Es müsste somit auch im Sinne der Gesellschaft sein, den Gewalttätern einen möglichst effizienten Rahmen zu bieten, da sie so selbst als potentielle Opfer von entlassenen Gewalttätern besser geschützt sind. 56 Literaturverzeichnis Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung (Hrsg.) (2006): Strafvollzugsstatistik in Bayern 2006. München Bayerisches Staatsministerium des Innern (Hrsg.) (2006): Polizeiliche Kriminalstatistik des Freistaates Bayern 2006. 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