Musikstadt Hamburg Salons im Fanny-Hensel-Saal 1 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ April – Juli 2012 Musikstadt Hamburg Salons im Fanny-Hensel-Saal April – Juli 2012 Eine Veranstaltungsreihe der Hochschule für Musik und Theater Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Beatrix Borchard in Kooperation mit Dr. Bettina Knauer und Prof. Marc Aisenbrey – gefördert durch die ZEIT -Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und die Gerhard Trede-Stiftung. 5 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Inhalt Vorwort 7 Salon I Zwischenräume: Musik im Budge-Palais 8 Salon II Von Schwänen und Hanseaten: Bürgerschaftsengagement in Hamburg 30 Salon III Stars und Sterne: Hamburg als Auftrittsort 48 Salon IV Zwischen Alster und Elbe (und Bille) 64 Tipps zum Lesen und Hören Impressum Bild- und Textnachweise 76 78 78 7 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Hamburg als neuentdeckte Stadt der Musik wird allerorten beschworen, aber was könnte „Musikstadt Hamburg“ jenseits von Hochglanzbroschüren bedeuten? … im Zusammenhang mit den diesjährigen Salons eine Öffnung von alten und neuen ­Räumen für Musik, das Aufzeigen von Orten kulturellen Handelns, die bei der Konzentration auf sog. „Leuchttürme“ und Stars mitunter in den Hintergrund geraten, die aber die Basis ­einer lebendigen Musikkultur bis heute bilden. Für das selbstbewusste Hamburger Bürgertum, das sich eine Oper am Gänsemarkt baute, das in Privaträumen – wie im Fall des Senators und Dichters Barthold Hinrich Brockes eine Passion aufführte, das – wie Friedrich von Hagedorn, Johann Valentin Görner, Georg Philipp Telemann – das begleitete Sololied als Medium freundschaftlicher Geselligkeit entdeckte, das mit Louise Reichardt eine Musikvermittlerin, Kom­ ponistin und Veranstalterin in seinen Mauern besaß, die den Musikunterricht für ­höhere Töchter mit dem „Management“ geist­licher Musikfeste vor 5000 Besuchern zu verbinden wusste, war vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert die Durchlässigkeit zwischen privaten, halböffentlichen und öffentlichen Räumen konstitutiv. Und diese Durchlässigkeit war für die Etablierung einer lebendigen ­Musikkultur entscheidend. Bis zum Kulturbruch durch die NS-Zeit waren jüdische und nichtjüdische Häuser Orte der kulturellen Selbstvergewisserung, oft auch des Experiments. So traten im Palais von Emma und Henry Budge nicht nur die berühmten Sänger ihrer Zeit wie Enrico ­Caruso und Ottilie Metzger-Lattermann auf, sondern auch ein Komponist wie der umstrittene Paul Hindemith wurde eingeladen mit seinem Quartett. Musik, so praktiziert und kommuniziert, ist Teil eines geselligen und gesellschaftlichen Beziehungsgefüges, bei dem sich die Wege der Ausführenden verschiedentlich kreuzen und zwischen privatem Aufführungsort und öffentlichem ­Auftrittsort vielfältige Berührungen entstehen. Durchlässigkeit, Korrespondenzen, gegenseitige Impulse, das gilt für die Beziehung zwischen den einzelnen Salons unserer Reihe untereinander und es gilt grundsätzlich für die Perspektiven, die vom quasi halböffentlichen Raum eines ehemaligen Privathauses über historische und aktuelle Institutionen sich auf Alster und Elbe erweitern. 9 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Salon I Donnerstag, 26. April 2012 Zwischenräume: Musik im Budge-Palais 11 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Fanny-Hensel-Saal Fanny-Hensel-Denkmal und Fanny-Hensel-Platz in Hamburg, Fanny-Hensel-Weg in Berlin, Fanny-Hensel-Grundschulen, Fanny-Hensel-Briefmarke – nun der Fanny-­ Hensel-Saal in der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Man mag solche Taufaktionen für oberflächlich erachten, aber sie dienen dazu, einen Namen in das ­öffentliche Bewusstsein zu bringen. Aber wer war Fanny Hensel, warum wurde gerade ihr in unserer Hochschule ein Saal gewidmet? Zum einen weil sie Hamburgerin war, aber da war sie nicht die einzige. Dann war sie die „große“ Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy. Der Fanny-Hensel-Saal bildet also künftig das Pendant zum Mendelssohnsaal. Die Geschwister stammten aus einer jüdischen Familie. Da unsere Hochschule in einem Stadtpalais untergebracht ist, das bis zur NS-Zeit einer jüdischen Kaufmannsfamilie gehörte, die sehr viel für das Kulturleben in Hamburg getan hat, soll der Name des Raums auch an die Geschichte unseres Hauses erinnern. Viele Musiker der damaligen Zeit sind hier im Budge-Palais aufgetreten, darunter internationale Stars wie der Tenor Enrico Caruso oder die später in Auschwitz ermordete Altistin Ottilie Metzger-Lattermann. Das Ehepaar Budge bot in seinem Haus allen ein Forum, selbst einem so umstrittenen zeitgenössischen Komponisten wie Paul Hindemith. Damit stand es in einer großen Tradition, die mit einer Familie wie den Mendelssohns an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begann. Denn besonders, aber nicht nur jüdische Familien haben in allen europäischen Großstädten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Räume für Musik jenseits des öffentli­chen Musiklebens geschaffen. Ihre Häuser waren Orte bürgerlicher Geselligkeit. Wir würden heute von Salon sprechen und meinen damit einen Aufführungsort in den eigenen vier Wänden vor geladenen Gästen, einen quasi ‚öffentlichen‘ Raum im Gegensatz zum nur der Familie vorbehaltenen Wohnzimmer bzw. den Privaträumen der einzelnen Familienmitglieder und eine besondere Kommunikationsform: verschiedene Themen debattieren, gemeinsam musizieren, improvisieren, musikalische und literarische Gesellschaftsspiele, Tee und Butterbrote. Ein weiteres wichtiges Defini­ tionsmerkmal für „Salon“ im deutschen Kulturraum: eine Frau bildete das Zentrum der Geselligkeit, und der „Macht des Gespräches“ (Emilie Bilkski) wuchs an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine große politische Brisanz zu, und zwar sowohl im Hinblick auf die zumindest zeitweise Überwindung von Standesunterschieden als auch auf geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen. Die Veranstaltung von Salons kann man historisch als ein vor allem von Frauen getragenes kommunikatives Experiment verstehen. Die Einrichtung eines Fanny-Hensel-Saals knüpft an diese Zwischenund Experimentierräume an, die Musik als Beziehungskunst und den Dialog von ­Wissenschaft und Kunst, Musik und Literatur erlebbar machen. Der entscheidende Aspekt für die Namensgebung ist jedoch: Fanny Hensel war eine der wichtigsten Musikerinnen des 19. Jahrhunderts. Mit ihrer Biographie, ihrem Wirken als Konzertveranstalterin in den eigenen vier Wänden und vor allem mit ihren Kompositionen sind bis heute aktuelle Fragen verbunden. Denn wer sich heute mit den Werken von Fanny Hensel beschäftigt, ist sofort mit Grundsatzfragen konfrontiert. Es beginnt schon mit dem Namen. Wie sie nennen: Fanny Zippora Mendelssohn? ­Fanny Cäcilie Mendelssohn Bartholdy? Fanny Hensel? Fanny Hensel-Mendelssohn? Fanny Hensel-Mendelssohn-Bartholdy? Oder auch nur Fanny? Für die ersten drei ­Versionen gibt es Argumente, der erste ist ihr Geburtsname, der zweite ihr Taufname, zu dem auch noch ein neuer Vorname, nämlich der Name der Schutzpatronin der ­Musik, hinzukam. Den dritten schließlich führte sie ab ihrer Eheschließung, unter ihm publizierte sie auch. Keine Argumente gibt es für den Doppelnamen. Gleich in welcher Gestalt, ist er eine Konstruktion aus der Sicht von heute und verknüpft im Verkaufs­ interesse von Schallplattenfirmen und Buchverlagen den unbekannten Komponistennamen Hensel mit einem berühmten, dem Namen des Bruders, Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Anrede Fanny schließlich ist Ausdruck unangemessener Familiarität, die leider im Umgang mit den Namen von Frauen weit verbreitet ist. Also haben wir uns bei der Namensgebung für die ehemalige Alte Bibliothek auf den Namen Fanny Hensel geeinigt. Während die Namensfrage qua Vereinbarung relativ leicht zu lösen ist, stellt sich die Werkfrage sehr viel komplexer dar. Denn was ist das Werk von Fanny Hensel? Alles, was 12 13 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ sie jemals komponiert hat? Nur die wenigen Werke, die sie selber noch veröffentlichen konnte, also op. 1–7, einschließlich der Stücke, die sie bzw. ihr Bruder nach ihrem überraschenden Tode 1847 noch zum Druck vorbereitet hat, also einschließlich der Opusnummern 8–11? Der größte Teil dessen, was Fanny Hensel komponiert hat, ist uns nur in mit vielen Korrekturen übersäten Entwurfsfassungen überliefert, und selbst zu umfangreichen Stücken wie ihren drei Kantaten, die sie nachweislich zur Aufführung gebracht hat, fehlen Reinfassungen. Einer Handvoll autorisierter Opera in den Gattungen klavier­ begleitetes Sololied, Klavierlied, Chorlied, Klaviertrio stehen ca. 450 weitere Stücke auch anderer Gattungen gegenüber, von denen wir nicht wissen, ob Fanny Hensel mit ihrer Veröffentlichung einverstanden gewesen wäre, und wenn ja, in welcher ­Werkgestalt. Die Frage nach Fanny Hensels Werk löst eine Fülle von Überlegungen aus, die den Rahmen üblicher Editionsproblematik sprengen. Denn jede posthume Veröffent­ lichung ist mit der Konstruktion einer Werkgestalt verbunden, die durch die Kompo­ nistin selber nicht autorisiert ist. Das zwingt uns z. B., über unseren Werkbegriff, über Autorschaft, die Bedeutung von Entstehungs- und Aufführungsbedingungen für ihre Werke, der Adressierung ihrer Musik etc. neu nachzudenken. Beatrix Borchard ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Zu Gast im Budge-Palais Henry Budge (1840–1928) Emma Ranette Budge, geborene Lazarus (1852–1937) Der klassizistische Villenbau des Architekten Martin Haller am Harvestehuder Weg 12 wurde 1884 als Wohnhaus errichtet und später mehrfach umgebaut. Ab 1903 war er der Wohnsitz von Henry und Emma Budge. In den Jahren 1909/1910 ließ Henry Budge als Geburtstagsgeschenk für seine vielseitig kunstinteressierte Frau auf der Rückseite einen im Stil des Historismus gehaltenen Saal anbauen, der, als Spiegelsaal eingerichtet, privaten Theater- und Musikaufführungen diente. Der Gesamtumbau zum BudgePalais dauerte bis 1913. „Viele Hamburger nannten [das Palais] aber die ‚Badeanstalt‘, weil es so viele Bade­ zimmer hatte (20, so viel ich mich erinnere). Das kam daher, dass Budges von Amerika kamen, wo Badezimmer unbedingte Notwendigkeiten der Leute guten Tones geworden sind […]“ – erinnert sich Peter Kahn, der Großneffe Henry Budges, der in seiner Kindheit im Budge-Palais lebte. Fanny Hensel, Portrait 1847. Stahlstich von Eduard Mandel nach einer Zeichnung von Wilhelm Hensel Da sich das Leben der Budges – auch das gesellschaftliche – vorwiegend im privaten Rahmen abspielte, ist es heute schwierig, etwas Konkretes darüber zu sagen. Sicherlich ist der prächtige Spiegelsaal des Öfteren Zeuge von Festen, Empfängen, Privatkonzer­ ten und Theateraufführungen, Lesungen etc. gewesen. Paul Hindemith trat mit seinem 14 15 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Quartett auf. Der große Enrico Caruso hat im Budge-Palais gesungen. Am 9. März 1913 sang die Altistin Ottilie Metzger-Lattermann dort Franz Schuberts Der Tod und das Mädchen. Sie war von 1903 bis 1915 erste Altistin in Hamburg und trat bei Gastspielen von Enrico Caruso in den weiblichen Titelrollen auf. ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Ottilie Metzger-Lattermann Der Spiegelsaal im Budge-Palais – heute: Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg Das Palais, das ganze Anwesen, muss ­ amals ein beeindruckendes Erscheid nungsbild geboten haben. Die von Emma Budge liebevoll gepflegten Gärten (ca. 16.000 m²) reichten bis an das Alsterufer (auch ein Bootsstieg war dabei) und das Innere des Hauses barg eine schier unüberschaubare Fülle von Schätzen. Über die Jahre hinweg hatte Emma Budge unter fachlicher Anleitung des damaligen Direktors des Museums für Kunst und Gewerbe, Justus Brinkmann, systematisch eine Sammlung von wertvollen Kunstgegenständen aufgebaut. Hierzu gehörten neben Silber, Porzellan, Fayence und Kleinplastiken auch Möbel und Tapisserien – 1020 Teile zählte man 1937 bei der Versteigerung des Nachlasses. Paul Hindemith (rechts) 1933 beim Musizieren (mit Viola) – hier in Wien. v. l. n. r.: Bronisław Huberman (Violine), Pablo Casals (Cello), Artur Schnabel (Klavier) Ottilie Metzger-Lattermann zählte Anfang des 20. Jahrhunderts zu den herausragenden Altistinnen Deutschlands und war insbesondere als Wagner-Interpretin sehr gefragt. Von 1901 bis 1912 wirkte sie bei den Bayreuther Festspielen u. a. als Erda, Waltraute und 2. und 3. Norn mit. In ihrem Stammhaus, dem Hamburger Stadttheater, wurde sie 1910 neben ­Enrico Caruso als Carmen gefeiert. Sie wirkte bei zahlreichen Ur- und Erstaufführungen mit, so in Hamburg 1905 bei Siegfried Wagners Bruder Lustig, 1908 bei Leo Blechs Versiegelt und 1909 bei Eugène d’Alberts Izëyl. Unter Gustav Mahlers Leitung übernahm sie bei der Uraufführung der 8. Symphonie (München, 12. 9. 1910) die 1. Altpartie des 1. Teils sowie die Partie der „Mulier Sama­ritana“ des 2. Teils. Bereits ab 1902 wurde sie wiederholt ans Covent Garden Opera House eingeladen, wo sie u. a. bei Ottilie Metzger-Lattermann als Carmen den englischen Erstaufführungen von (Atelier Fr. Groth) Richard Strauss’ Salome und Elektra mitwirkte. Neben Tourneen durch die USA, wo sie hauptsächlich Wagner-Rollen sang, aber auch die amerikanischen Erstauf­ führungen von Wilhelm Kienzls Der Evangelienmann und Eugène d’Alberts Die toten Augen mitgestaltete, brillierte sie schließlich während ihres letzten festen Engagements an der Dresdner Hofoper vor allem in Wagner-, Verdi- und Strauss-Rollen. Neben ihrer Bühnentätigkeit pflegte sie ein breit gefächertes Lied-Repertoire mit berühmten Begleitern wie Richard Strauss, Hans Pfitzner, Otto Klemperer und Karl Pembaur. Nach ihrem Bühnenabschied 1925 war sie ab 1927 als Gesangspädagogin in Berlin tätig, ab 1933 waren ihr als Jüdin nur noch Auftritte beim Jüdischen Kulturbund möglich. 1939 ging sie nach Belgien ins Exil, wo sie 1942 verhaftet und nach Auschwitz deportiert wurde. Gudrun Föttinger 16 17 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Rollenverzeichnis Ottilie Metzger-Lattermann Rolle Stück Komponist Adriano Rienzi Richard Wagner Altpartie Das Lied von der Erde Gustav Mahler Altsolo Parsifal Richard Wagner Amme Die Frau ohne Schatten Richard Strauss Amneris Aida Giuseppe Verdi Azucena Der Troubadour Giuseppe Verdi Brangäne Tristan und Isolde Richard Wagner Carmen Carmen George Bizet Czipra Der Zigeunerbaron Dalila ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Klytämnestra Rollendebüt Elektra Richard Strauss Lucia Cavalleria rusticana Pietro Mascagni Maddalena Rigoletto Giuseppe Verdi Magdalena Der Evangelienmann Wilhelm Kienzl 1924 (US-amerikanische Erstaufführung) Maria von Magdala Die toten Augen Eugène d’Albert Mary Der fliegende ­Holländer Richard Wagner Magdalene Die Meistersinger von Nürnberg Richard Wagner Orfeo Orpheus und ­ uridike E Christoph Willibald Gluck Johann Strauss Ortrud Lohengrin Richard Wagner Samson und Dalila Camille Saint-Saëns Page Lohengrin Richard Wagner 1898 Dritte Norn (eigentlich Sopranpartie) Götterdämmerung Richard Wagner Vermtl. 1902 Erda Rheingold Siegfried Richard Wagner Erste Altpartie im 1. Teil, sowie Mulier Samaritana im 2. Teil 8. Symphonie Gustav Mahler Erste Norn Götterdämmerung Richard Wagner Fidès Der Prophet Giacomo Meyerbeer Flosshilde Rheingold Götterdämmerung Richard Wagner Vermtl. 1901 Fricka Rheingold Richard Wagner Vermtl. 1898 Hänsel und Gretel Engelbert Humperdinck Gräfin Der Wildschütz Albert Lortzing Grimgerde Die Walküre Richard Wagner Vermtl. 1901 Herodias Salome Richard Strauss 1910 (Londoner Erstaufführung) 1898 12. 9. 1910 (UA, München) Schwertleite Walküre Richard Wagner Ulrica Maskenball Giuseppe Verdi Urme Bruder Lustig Siegfried Wagner Waltraute Götterdämmerung Richard Wagner Zweite Norn Götterdämmerung Richard Wagner 13. 10. 1905 (UA, Hamburg) Partien in Opern ohne genaue Rollenangabe Gertrud Vermtl. Frau Gertrud (Mezzosopran) oder Frau Willmers (Alt) Versiegelt Leo Blech 1908 (UA) Izëyl Eugène d’Albert 1909 (UA) 19 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Steine des Anstoßes als späte Geste Auf den Gehsteigen der Hamburger Straßen bieten sie inzwischen einen vertrauten Anblick, die kleinen quadratischen Messingplatten mit eingravierten Namen und ­Daten: „Stolpersteine“ – über 4000 sind seit 2002 allein in Hamburg verlegt worden, um die Erinnerung an ehemalige Hamburger Mitbürgerinnen und Mitbürger wach zu halten, die Opfer der NS-Verfolgung wurden. Die Idee, kleine Gedenksteine für einzelne namentlich bekannte Opfer des nationalsozialistischen Regimes an ihrer letzten Wohn- oder Wirkungsstätte zu setzen, geht zurück auf die Initiative des Künstlers ­Gunter Demnig, der die „Stolpersteine“ selbst fertigt und verlegt. Bereits an über 30.000 Menschen wird auf diese Weise in vielen Städten Deutschlands und europäi­ schen Nachbarländern erinnert. Ottilie Metzger-Lattermann (Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth) In Ottilie Metzger-Lattermanns Fall ist bekannt, dass 1942 über hundert Hamburger und Altonaer mit einer Petitionsliste zu erreichen versuchten, dass die von ihnen verehrte Sängerin ihre Freiheit zurückerhielt; eine Aktion, die leider nicht nur vergeblich blieb, sondern den Petenten massive Drohungen eintrug. Einer der Petenten, der Gewerbelehrer Jacob Gustav Holler, bekam vom Gauleiter Karl Kaufmann eine scharfe Rüge. Im Jahr darauf wurde er aufgrund einer Denunziation verhaftet und im KZ Neuengamme am 3. Dezember 1944 ermordet. (Nachzulesen in: Berndt W. Wessling, Unser Friedhof – Stiller Weg Nr. 28, ­Kirchengemeinde Groß Flottbek, Hamburg 1997, S. 71–84; für den Hinweis danken wir Joist Grolle). Im Sommer 2007 auf zwei neue Stolpersteine vor dem Eingang der eigenen Hochschule zu stoßen, dürfte jedoch viele der hier Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden tatsächlich gedanklich zum Stolpern, zum Innehalten gebracht haben. Unmissverständlich geben sie zu verstehen, dass also auch das Budge-Palais eines dieser vielen tausend Hamburger Häuser ist, deren einstige Bewohner zu Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung wurden. Es war allgemein kaum bekannt, dass auch bisher nicht benannte Verwandte des Hamburger Ehepaares Budge in diesem Hause wohnten und persönlich die nationalsozialistische Verfolgung erleiden mussten. Zwar informiert seit 1993 eine Wandtafel neben dem Haupteingang der Hochschule für Musik und Theater über Daten zur Geschichte des Gebäudes, ihre allzu knappen Zeilen geben jedoch vom tatsächlich geschehenen Unrecht nichts zu erkennen: Von der unrecht­mäßigen Entziehung des immensen Budge-Nachlasses durch die Nationalsozialisten und dem Pseudo-Wiedergutmachungsverfahren, das nach dem Krieg bewusst an den rechtmäßigen Erben vorbei arrangiert wurde, von bis heute fortdauernden Ungereimtheiten, geschweige denn von Todesopfern. Anlässlich der offiziellen Rückbenennung des Altbaus als „Budge-Palais“ angebracht, wird sie der Funktion als Gedenktafel auch nicht ansatzweise gerecht – immerhin gewährleistet ihre Inschrift, dass der Name Budge in Hamburg im Gedächtnis bewahrt bleibt. Die beiden „Stolpersteine“, die nun, wenige Schritte von der Wandtafel entfernt, den Eintretenden in den Weg gelegt wurden, wirken als notwendige Ergänzung. 20 21 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ­ llerdings dürften die eingravierten A ­Namen einige Leser irritieren: Während die Namen Emma und Henry Budge der einstigen jüdischen Eigentümer des Budge-Palais wohl allen, die heute in der Hochschule zu tun haben, vertraut sein werden, hat wohl kaum jemand von Dr. Siegfried und Ella Budge, den letzten rechtmäßi­gen Bewohnern des BudgePalais, gehört. Die Steine geben Anstoß, nach dem Schicksal dieser Personen zu fragen und sie so aus dem Dunkel des Vergessenseins zu holen. ihrer Lebensgeschichte. Lediglich einer alten Meldekarte Siegfried und Ella Budges, archiviert im Bestand des Ins­ titutes für Stadtgeschichte Frankfurt, ­lassen sich grobe Eckdaten entnehmen: Als Ella Henriette Mayer wurde sie am 8. Mai 1875 in einer jüdischen Familie in Frankfurt am Main geboren, ihre Eltern waren Louis Mayer und Marie Mayer, geborene Strauß. Am 16. 8. 1897 heirateten Ella und Siegfried Budge in Frankfurt. Die Meldekarte vermerkt eine Tochter: Nelly Budge, geboren am 30. 6. 1898 in Frankfurt. Ella Budge und ihr Ehemann waren nach Emma Budges Tod 1937 die rechtmäßigen Bewohner des Budge-­ Palais, bevor es noch im gleichen Jahr von den Nationalsozialisten in Beschlag Ella Budge (1875–1943) genommen und vom Gauleiter Karl Kaufmann zur Reichsstatthalterei umfunktioniert wurde. Nach dem Tode ihres Mannes wurde Ella Budge am 11. 4. 1942 von der Hamburger Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager und Polizeigefängnis Fuhlsbüttel in Hamburg verschleppt, wo sie – ohne ersichtlichen Grund – über drei Wochen festgehalten wurde. Es ist wahrscheinlich, dass ihr ein sogenanntes Devisenvergehen angehängt wurde, ein von der Gestapo häufig konstruierter Vorwand zur Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung. Dass Ella Budge 1942 ausgerechnet im KZ Fuhlsbüttel eingesperrt wurde, das von demjenigen eingerichtet worden war, der nun die repräsentative Anlage ihres einstigen Hauses für seine Machtausübung missbrauchte, zeigt den Zynismus der nationalsozialistischen Gewaltherrscher. Nur einige Wochen nach ihrer Entlassung aus der GestapoHaft erhielt sie den Deportationsbefehl. Am 19. 7. 1942 wurde Ella Budge zusammen mit 700 anderen Hamburger Bürgern nach Theresienstadt deportiert. Den dort herrschenden unmenschlichen Bedingungen erlag sie am 6. November 1943. Ihr Name ist einer von 8877 Namen, die im Gedenkbuch „Hamburger jüdische ­Opfer des Nationalsozialismus“ erfasst sind. Es dokumentiert die große Zahl der jüdi­ schen Bürgerinnen und Bürger Hamburgs, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verfolgt wurden und zu Tode kamen. Siegfried Budge, am 18. 6. 1869 in Frankfurt am Main geboren, war ein Neffe von Henry Budge, der Sohn von dessen Bruder Max und seiner Frau Rosalie, Dr. Siegfried Budge (1869–1941) ­geborene Samson aus Hamburg. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften und der Heirat mit Ella Henriette Mayer (1897) eröffnete Siegfried Budge eine Rechtsanwaltspraxis in Frankfurt. Er schloss ein Studium der Nationalökonomie an, habilitierte sich 1921 an der Universität Frankfurt bei Franz Oppenheimer und lehrte von 1925 bis 1933 als Professor für Nationalöko­ nomie an der Universität Frankfurt. Er wurde als Fachmann der Volkswirtschaft ins­ besondere auf dem Gebiet der Geldtheorie bekannt. Der philanthropischen Familientradition der Budges folgend, war er Vorstandsmitglied der „Max und Rosalie BudgeStiftung“ für sozial Bedürftige; auch betätigte er sich als Kunstsammler. Bereits im März 1933 wurde ihm als Jude die Lehrbefugnis entzogen – ausgerechnet von der Universität, die sein Onkel Henry Budge als Gründungsmitglied mit großzügigen Spenden bedacht hatte. Nach erfolglosen Bemühungen Siegfried Budges um eine Anstellung im Ausland zogen er und seine Frau 1934 auf Einladung Emma Budges nach Hamburg in ihr Palais an der Alster. Nach dem Tode Emma Budges am 14. 2. 1937 mussten sie die Villa verlassen. Die folgenden vier Jahre in Hamburg sollten für sie eine demütigende Suche nach Unterkunft bedeuten – viele Male mussten sie umziehen. Siegfried Budge starb am 1. September 1941 infolge schwerer Krankheit. Das Wissen über Ella Budge ist verschwindend gering. Es scheint, dass sie durch die NS-Verbrechen nicht nur ihres Lebens beraubt wurde, sondern auch eines großen Teils Livia Gleiß 22 23 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Ein Brief von Ella Budge Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) Fanny Hensel (1805–1847) Auf Flügeln des Gesanges Wenn ich in deine Augen sehe Auf Flügeln des Gesanges, Herzliebchen trag’ ich dich fort, Fort nach den Fluren des Ganges, Dort weiß ich den schönsten Ort. Wenn ich in deine Augen sehe, so schwindet all mein Leid und Wehe; Doch wenn ich küsse deinen Mund, so werd ich ganz und gar gesund. Dort liegt ein rothblühender Garten Im stillen Mondenschein; Die Lotosblumen erwarten Ihr trautes Schwesterlein. Wenn ich mich lehn an deine Brust, kommt’s über mich wie Himmelslust; Doch wenn du sprichst: „Ich liebe dich!“, so muss ich weinen bitterlich. Angesichts des heutigen geringen Wissens über Ella Budge kommt es einem Wunder gleich, dass doch Worte dieser Frau bewahrt werden konnten, persönliche Worte als Zeilen eines Briefes, den Ella Budge an ihre Enkel schrieb. Der Enkel Prof. Peter Kahn (1921–1996) gibt beachtenswerte Gedanken dieses Briefes in seiner Denkschrift ­wieder: „Bevor meine Großmutter aus Hamburg abtransportiert wurde, schrieb sie uns einen Brief, den ein Freund, wohl unter großer Gefahr, für uns (die Enkelkinder) bis nach dem Krieg aufbewahrte und der uns dann nach großen Schwierigkeiten erreichte. In diesem Brief schrieb unsere Großmutter“: Nun will es das unerbittliche Schicksal, dass alle Juden aus Hamburg evakuiert werden, und zwar schon im Juli, so dass nunmehr keine Gewissheit für mich besteht, Euch – wenn überhaupt – in absehbarer Zeit umarmen zu dürfen […]. Beim Verlassen Deutschlands habe ich unterschreiben müssen, dass ich dem Deutschen Reich mein Vermögen freiwillig gebe […]. Ihr könnt diesen Gewaltakt als Amerikaner nach Kriegsende anfechten, sollte ich nicht mehr am Leben sein. (Peter Kahn 1986, S. 16) Es sind Zeilen, geschrieben in auswegloser Lage, in der Ella Budge alles genommen worden war, was ihre Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben hätte erhalten ­können. Sie hatte das Leid, unter nationalsozialistischer Gefängnisaufsicht Häftling zu sein, im KZ Fuhlsbüttel schon erfahren müssen. Und dennoch sind diese Worte nicht nur Ausdruck von Resignation und Verzweiflung, sondern lassen neben der Liebe zu ihrer Familie auch den starken Gerechtigkeitssinn einer Persönlichkeit erahnen, die auch in dieser extremen Situation ihre Würde bewahrte. Die Veilchen kichern und kosen, Und schau’n nach den Sternen empor; Heimlich erzählen die Rosen Sich duftende Mährchen in’s Ohr. Es hüpfen herbei und lauschen Die frommen, klugen Gazell’n; Und in der Ferne rauschen Des heiligen Stromes Well’n. Dort wollen wir niedersinken Unter dem Palmenbaum, Und Liebe und Ruhe trinken, Und träumen seligen Traum. Heinrich Heine (1797–1856) Leise zieht durch mein Gemüt Leise zieht durch mein Gemüt Liebliches Geläute. Klinge, kleines Frühlingslied. Kling hinaus ins Weite. Kling hinaus, bis an das Haus, Wo die Blumen sprießen. Wenn du eine Rose schaust, Sag, ich laß sie grüßen. Heinrich Heine (1797–1856) Heinrich Heine (1797–1856) Aus meinen Tränen sprießen Aus meinen Tränen sprießen viel blühende Blumen hervor, Und meine Seufzer werden ein ­Nachtigallenchor. Und wenn du mich lieb hast, Kindchen, schenk’ ich dir die Blumen all. Und vor deinem Fenster soll klingen das Lied der Nachtigall. Heinrich Heine (1797–1856) Im wunderschönen Monat Mai Im wunderschönen Monat Mai, Als alle Knospen sprangen, Da ist in meinem Herzen Die Liebe aufgegangen. Heinrich Heine (1797–1856) Morgenständchen In den Wipfeln frische Lüfte, fern melod’scher Quellen Fall, durch die Einsamkeit der Klüfte Waldeslaut und Vogelschall. 24 25 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Scheuer Träume Spielgenossen steigen all beim Morgenschein auf des Weinlaubs schwanken Sprossen dir zum Fenster aus und ein. Und wir nahn noch halb in Träumen, und wir tun in Klängen kund, was da draußen in den Bäumen singt der weite Frühlingsgrund. Regt der Tag erst laut die Schwingen, sind wir alle wieder weit, aber tief im Herzen klingen lange nach noch Lust und Leid. Joseph von Eichendorff (1788–1857) Nachtwanderer Er reitet nachts auf einem braunen Roß, Er reitet vorüber an manchem Schloß: Schlaf droben, mein Kind, bis der Tag erscheint, Die finstre Nacht ist des Menschen Feind! Er reitet vorüber an einem Teich, Da stehet ein schönes Mädchen bleich Und singt, ihr Hemdlein flattert im Wind: Vorüber, vorüber, mir graut vor dem Kind! Er reitet vorüber an einem Fluß, Da ruft ihm der Wassermann seinen Gruß, Taucht wieder unter dann mit Gesaus, Und stille wird’s über dem kühlen Haus. Wann Tag und Nacht im verworrnen Streit, Schon Hähne krähen im Dorfe weit, Da schauert sein Roß und wühlet hinab, Scharret ihm schnaubend sein eigenes Grab. Joseph von Eichendorff (1788–1857) Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) Abendbild Friedlicher Abend senkt sich aufs Gefilde, sanft entschlummert Natur, um ihre Züge schwebt der Dämmerung zarte Verhüllung, und sie lächelt, die holde, Lächelt, ein schlummernd Kind, in Vaters Armen, der voll Liebe zu ihr sich neigt, sein göttlich Auge weilt auf ihr, und es weht sein Odem über ihr Antlitz. Nikolaus Lenau (1802–1850) Warum sind denn die Rosen so blaß? Warum sind denn die Rosen so blaß? o sprich mein Lieb warum? Warum sind denn im grünen Gras die blauen Veilchen so stumm? Warum singt denn mit so kläglichem Laut, die Lerche in der Luft? Warum steigt denn aus dem Balsamkraut verwelkter Blütenduft? Warum scheint denn die Sonn’ auf die Au, so kalt und verdrießlich herab? Warum ist denn die Erde so grau, und öde wie ein Grab? ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Warum bin ich selbst so krank und trüb? Mein liebes Liebchen sprich? O sprich mein herzallerliebstes Lieb, warum verließest du mich? Heinrich Heine (1797–1856) Wandrers Nachtlied Der du von dem Himmel bist, Alles Leid und Schmerzen stillest, Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquickung füllest, Ach ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz und Lust? Süßer Friede, Komm, ach komm in meine Brust! Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) Bergeslust O Lust, vom Berg zu schauen weit über Wald und Strom, hoch über sich den blauen, den tiefklaren Himmelsdom. Vom Berge Vögelein fliegen und Wolken so geschwind, Gedanken überfliegen die Vögel und den Wind. Die Wolken ziehn hernieder, das Vöglein senkt sich gleich, Gedanken gehn und Lieder Ihr Vöglein singt munter hernieder, wir singen lustig hinaus, wenn der Lenz kommt, kehren wir wieder, wieder in Nest und Haus, von Süden! Jetzt aber hinaus! Anonym Richard Strauss (1864–1949) Mädchenblumen op.22 Gedichte von Felix Dahn (1834–1912), für eine Singstimme mit Pianoforte­ begleitung 1. Kornblumen Kornblumen nenn ich die Gestalten, die milden mit den blauen Augen, die, anspruchslos in stillem Walten, den Tau des Friedens, den sie saugen aus ihren eigenen klaren Seelen, mitteilen allem, dem sie nahen, bewußtlos der Gefühlsjuwelen, die sie von Himmelshand empfahn. Dir wird so wohl in ihrer Nähe, als gingst du durch ein Saatgefilde, durch das der Hauch des Abends wehe, voll frommen Friedens und voll Milde. Joseph von Eichendorff (1788–1857) 2. Mohnblumen Nach Süden Von allen Zweigen schwingen sich wandernde Vögel empor, weit durch die Lüfte klingen hört man den Reisechor, nach Süden, nach Süden in den ewigen Blumenflor. Mohnblumen sind die runden, rotblutigen gesunden, die sommersproßgebraunten, die immer froh gelaunten, kreuzbraven, kreuzfidelen, tanznimmermüden Seelen; die unter’m Lachen weinen und nur geboren scheinen, 26 27 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ die Kornblumen zu necken, und dennoch oft verstecken die weichsten, besten Herzen, im Schlinggewächs von Scherzen; die man, weiß Gott, mit Küssen ersticken würde müssen, wär’ man nicht immer bange, umarmest du die Range, sie springt ein voller Brander aufflammend auseinander. 3. Epheu Aber Epheu nenn’ ich jene Mädchen mit den sanften Worten, mit dem Haar, dem schlichten, hellen um den leis’ gewölbten Brau’n, mit den braunen seelenvollen Rehenaugen, die in Tränen steh’n so oft, in ihren Tränen gerade sind unwiderstehlich; ohne Kraft und Selbstgefühl, schmucklos mit verborg’ner Blüte, doch mit unerschöpflich tiefer treuer inniger Empfindung können sie mit eigner Triebkraft nie sich heben aus den Wurzeln, sind geboren, sich zu ranken liebend um ein ander Leben: an der ersten Lieb’umrankung hängt ihr ganzes Lebensschicksal, denn sie zählen zu den seltnen Blumen, die nur einmal blühen. 4. Wasserrose Kennst du die Blume, die märchenhafte, sagengefeierte Wasserrose? Sie wiegt auf ätherischem, schlankem Schafte das durchsicht’ge Haupt, das farbenlose, sie blüht auf schilfigem Teich im Haine, gehütet vom Schwan, der umkreiset sie einsam, sie erschließt sich nur dem Mondenscheine, mit dem ihr der silberne Schimmer gemeinsam: so blüht sie, die zaub’rische Schwester der Sterne, umschwärmt von der träumerisch dunklen Phaläne, die am Rande des Teichs sich sehnet von ferne, und sie nimmer erreicht, wie sehr sie sich sehne. Wasserrose, so nenn’ ich die schlanke, nachtlock’ge Maid, alabastern von Wangen, in dem Auge der ahnende tiefe Gedanke, als sei sie ein Geist und auf Erden gefangen. Wenn sie spricht, ist’s wie silbernes Wogenrauschen, wenn sie schweigt, ist’s die ahnende Stille der Mondnacht; sie scheint mit den Sternen Blicke zu tauschen, deren Sprache die gleiche Natur sie gewohnt macht; du kannst nie ermüden, in’s Aug’ ihr zu schau’n, das die seidne, lange Wimper umsäumt hat, und du glaubst, wie bezaubernd von seligem Grau’n, was je die Romantik von Elfen geträumt hat. ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Hugo Wolf (1860–1903) aus den Eichendorff-Vertonungen Verschwiegene Liebe Über Wipfel und Saaten In den Glanz hinein Wer mag sie erraten, Wer holte sie ein? Gedanken sich wiegen, Die Nacht ist verschwiegen, Gedanken sind frei. Errät’ es nur eine, Wer an sie gedacht, Beim Rauschen der Haine, Wenn niemand mehr wacht, Als die Wolken, die fliegen Mein Lieb ist verschwiegen Und schön wie die Nacht. Der Musikant Wandern lieb ich für mein Leben, Lebe eben wie ich kann, Wollt ich mir auch Mühe geben, Paßt es mir doch gar nicht an. Schöne alte Lieder weiß ich, In der Kälte, ohne Schuh Draußen in die Saiten reiß ich, Weiß nicht, wo ich abends ruh. Manche Schöne macht wohl Augen, Meinet, ich gefiel’ ihr sehr, Wenn ich nur was wollte taugen, So ein armer Lump nicht wär. – Mag dir Gott ein’n Mann bescheren Wohl mit Haus und Hof versehn! Wenn wir zwei zusammen wären, Möcht mein Singen mir vergehn. Die Nacht Nacht ist wie ein stilles Meer, Lust und Leid und Liebesklagen Kommen so verworren her In dem linden Wellenschlagen. Wünsche wie die Wolken sind, Schiffen durch die [stillen]1 Räume, Wer erkennt im lauen Wind, Ob's Gedanken oder Träume? -Schließ' ich nun auch Herz und Mund, Die so gern den Sternen klagen, Leise doch im Herzensgrund Bleibt das linde Wellenschlagen. Hans Pfitzner (1869–1949) aus den Eichendorff-Vertonungen Der Gärtner Wohin ich geh’ und schaue, In Feld und Wald und Tal, Vom Berg hinab in die Aue; Viel schöne, hohe Fraue, Grüß ich dich tausendmal. In meinem Garten find’ ich Viel’ Blumen schön und fein, Viel’ Kränze wohl draus wind’ ich Und tausend Gedanken bind’ ich Und Grüße mit darein. Ihr darf ich keinen reichen, Sie ist zu hoch und schön, Die müssen alle verbleichen, Die Liebe nur ohnegleichen Bleibt ewig im Herzen stehn. 28 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Ich schein’ wohl froher Dinge Und schaffe auf und ab, Und, ob das Herz zerspringe, Ich grabe fort und singe, Und grab mir bald mein Grab. Der Kühne Und wo noch kein Wandrer gegangen, Hoch über Jäger und Roß Die Felsen im Abendrot hangen Als wie ein Wolkenschloß. Dort zwischen den Zinnen und Spitzen Von wilden Nelken umblüht, Die schönen Waldfrauen sitzen Und singen im Wind ihr Lied. Der Jäger schaut nach dem Schlosse: Die droben das ist mein Lieb! – Er sprang vom scheuenden Rosse, Weiß keiner, wo er blieb. Abschied Abendlich schon rauscht der Wald Aus den tiefsten Gründen, Droben wird der Herr nun bald An die Sternlein zünden. Wie so stille in den Schlünden, Abendlich nur rauscht der Wald. Alles geht zu seiner Ruh. Wald und Welt versausen, Schauernd hört der Wandrer zu, Sehnt sich recht nach Hause. Hier in Waldes stiller Klause, Herz, geh endlich auch zur Ruh. 29 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 30 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Salon II Donnerstag, 24. Mai 2012 Von Schwänen und Hanseaten: Bürgerschaftsengagement in Hamburg 32 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Die Hamburger Gänsemarktoper Zwischen Gänsemarkt und Binnenalster eröffnete 1678 die Gänsemarkt­ oper, das „magnifique Operen-Hauß am Gansemarckt“. Das Opernhaus war kein Prunkbau, sondern ein unscheinbares Hamburger Oper am Gänsemarkt. Fachwerkhaus, in dem eine Bühne mit Baubeginn 1677, Abriss 1757. enormer Tiefe und ausgeklügelter BühZeichnung von Peter Heineken, 1726 (Staatsarchiv Hamburg) nenmaschinerie rund 2000 Zuschauer und Zuschauerinnen in biblische, antike und mythologische Welten – aber auch in das damals aktuelle Hamburg versetzen konnte. Die Gänsemarktoper wird vielfach als „Bürgeroper“ bezeichnet, aber hier muss differenziert werden: zwar waren Eigner und Pächter bürgerlich, jedoch blieb der Einfluss des Adels prägend. Zum Gründungskonsortium zählten: der Rechtsanwalt und spätere Ratsherr Gerhard Schott, der Jurist Peter Lütkens, und der Organist der Hauptkirche St. Katharinen Jan Adam Reinken – ideell und finanziell unterstützt wurde das Unternehmen durch Herzog Christian Albrecht von Holstein-Gottorf. Die Bühne wurde mit einem Opernstoff über Adam und Eva eröffnet: Der erschaffene, gefallene und auffgerichtete Mensch (Komposition: Johann Theile, Libretto: Christian Richter). Obwohl in den ersten Jahren einige biblische Opernstoffe auf dem Spielplan standen, kämpfte der pietistisch aus­ gerichtete Teil der Geistlichkeit zunächst gegen die Gänsemarktoper als einen „Tempel der Wollust.“ Die Oper war ein Wirtschafts- und Standortfaktor, wie auch der Hamburger Musiker, Musiktheoretiker und Sekretär der englischen Gesandtschaft Johann Mattheson 1728 betonte: „Wissenschafften, Künste und Handwercker fahren wol dabey, und der Ort macht sich so ausnehmend mit guten Opern, als mit guten Banken: denn diese nützen und jene ergetzen. Die letzten dienen zur Sicherheit, die ersten zur Lehre.“ (Johann Mattheson: Der Musicalische Patriot, Hamburg 1728, S. 176) Trotz künstlerischer Hochleistungen war die Oper ein Verlustgeschäft und blieb angewiesen auf Zuschüsse aus Adels- und Diplomatenkreisen. Der Rat der Stadt unterstütz­ te die Oper nach dem Vorbild der Fürstenhöfe, auch wenn die Stadtkämmerer immer 33 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ wieder auf die Sparbremsen traten. Die Operndirektionen wechselten, einzig ­ argaretha Susanna Kayser (geb. Vogel, geb. zwischen 1685 und 1690, gest. nach 1749), M eine berühmte Sängerin, behauptete sich über einen längeren Zeitraum. Fast 320 verschiedene Opern sind hier aufgeführt worden und ermöglichen so einen Streifzug durch europäische Operngeschichte. Denn ein Großteil der Opern sind deutschsprachige Bearbeitungen von italienischen oder französi­ schen Vorlagen, einige sind Neuschöpfungen, gelegentlich mit Hamburger Lokalkolorit und plattdeutschen Einlagen. Rund 50 Opern, ein Sechstel, waren Festopern (Singballette, Prologe, Epiloge), Auftragswerke für Krönungen, Geburtstage von Fürstinnen und Fürsten oder Siegesfeiern. Gänsemarktoper Hamburg von der Lombardsbrücke, Ölgemälde um 1760/70 (Museum für Hamburgische Geschichte) Während fast alle Libretti erhalten sind, ist ein Großteil der Musik verloren gegangen, da Partituren (in der Regel) nicht gedruckt wurden. Nur einige Opern sind komplett überliefert – und einzelne Arien, die in gedruckte oder handschriftliche Sammlungen übernommen wurden. Es gab eine weitere Sehenswürdigkeit, ausgestellt in einem Nebenraum der Oper: das Modell des Salomonischen Tempels, zwischen 1680 und 1692 nach den Plänen des Rekonstruktionsversuches des Jerusalemer Tempels, den Nebukadnezar 586 v. Chr. zerstörte, gefertigt. Heute kann es im Museum für Hamburgische Geschichte bewundert werden. Im April 1738 wird das Hamburger „Theatro“ als „selbständiges Unternehmen“ geschlossen. Das Haus wurde fortan genutzt von Operngesellschaften, wie denen von Angelo und Pietro Mingotti, oder von Theatertruppen (die z. B. geleitet wurden von den Schauspielerinnen Caroline Neuber oder Sophie Charlotte Schröder). Ab Oktober 1751 stand das Haus leer und wurde dann 1757 abgerissen. An die Hamburger Gänsemarktoper erinnert heute nur noch eine Gedenktafel am Hotel Vierjahreszeiten. Birgit Kiupel 34 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Mattheson gegen Händel: Sie waren Helden (!?) Duelle vor und auf der Opernbühne Hamburg im Dezember 1704, ein Markt in der Nähe der Gänsemarkt-Oper. Eben ­drangen noch Klänge aus Johann Matthesons Oper Cleopatra zwischen Pferde­ getrappel und lauten Ausrufen, als zwei wütende junge Herren aus dem Opernhaus heraus rannten. Mit gezogenen Degen setzten sie auf der Straße die Opernprobe fort, so wollte es zunächst scheinen. Doch es handelte sich um blutigen Ernst. Und schnell waren die beiden Hitzköpfe identifiziert und umringt, der 23-jährige Johann Mattheson und der 19-jährige Georg Friedrich Händel. Ob auf der Bühne der Gänsemarkt-Oper oder in den Straßen Hamburgs: adlige oder bürgerliche Männer markierten gern die wehrhaften Helden und lieferten sich blutige „Raufhändel“ oder fast tödliche Duelle, natürlich im Namen der Ehre. Dabei hatte die Obrigkeit immer wieder solche Gewaltakte verboten und mit strengen Strafen bedroht. Bereits in einem Mandat vom 16. Februar 1664 heißt es, dass „auch keiner des Nachts 35 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ mit geladenem und bloßem Gewehr und ohne […] Laterne sich auf den Gassen finden lasse“. 1720 bekräftigte der Rat für „die Stadt und dero Gebiete“ auch ein Edikt des ­Kaisers und alle bisher gedruckten und verkündeten Mandate und Verordnungen und untersagte: alle Schlägereyen, Ausforderungen, und deren Annehmungen, Duelle, verdächtige Recontres, Zuschickungen der Cartellen, Edikte, und sonsten alle eigenmächtige und frevelmüthige Ueberfälle und gewaltthätige Angriffe, woraus nicht allein gefährliche Leibes = Verwundung und Beschädigung, sondern auch oftmahls vorsetzliche Todtschläge und Verluste zeitlicher und ewiger Wohlfahrt erfolgen, allen und ieden Ein = und Ausheimischen, wes Standes, Würden oder Condition dieselben seyn mögen, ernstlich und, nach Befinden, bey Leib = und Lebens = Strafe […]. Doch gegenüber solchen Ermahnungen erwiesen sich auch sonst so sensible Operis­ ten, Komponisten und Musiker als taub. Johann Mattheson erinnert sich an seinen Zweikampf mit (oder gegen) Händel in der Nähe der Gänsemarkt-Oper, Dieser endete glimpflich, Dank eines stabilen Rockknopfes auf Händels Rock. Aus diesem farbigen Dokument „männlicher“ Selbstdarstellung soll ausführlicher zitiert werden: Händel saß am Cembalo, Mattheson dirigierte und sang zugleich den Antonius, der sich vor dem Ende des Schauspieles mit seinem Schwert umbringt. Da: entstund ein Misverständniß: wie solches bey jungen Leuten, die, mit aller Macht und wenigem Bedacht, nach Ehren streben, nichts neues ist. Ich dirigirte, als Componist, und stellte zugleich den Antonius vor, der sich, wohl eine halbe Stunde vor dem Beschluß des Schauspiels, entleibet, war ich bisher gewohnt, nach dieser Action, ins Orchester zu gehen, und das übrige selbst zu accompag­ niren: welches doch unstreitig ein jeder Verfasser besser, als ein andrer, thun kann; es wurde mir aber diesesmahl verweigert. Der junge Händel verweigerte die Selbsteinwechselung von Mattheson, wollte ihm nicht den Platz am Cembalo überlassen: Darüber geriethen wir, durch einige Anhetzer, im Ausgange aus der Oper, auf öffentlichem Marckte, bey einer Menge Zuschauer, in einen Zweikampf, welcher für uns beide sehr unglücklich hätte ablauffen können; wenn es Gottes Führung nicht so gnädig gefüget, daß mir die Klinge, im Stossen auf einem breiten metallenen Rockknopf des Gegners zersprungen wäre. 36 37 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Zum Glück waren besonnene Hamburger Ratsherren zugegen und auch der damalige Opernpächter, die dafür sorgten, dass die beiden Duellanten sich wieder vertrugen und nicht weiter strafrechtlich belangt wurden. Kurz vor Jahreswechsel dann, am 30. Dezember 1704 hatte Mattheson die Ehre: Georg Philipp Telemann (1681–1767) aus den Singe-, Spiel- und Generalbaß-Übungen (1733) Falschheit Händeln bey mir zu bewirthen, wonächst wir beide, auf den Abend, der Probe von seiner Almira beiwohnten, und bessere Freunde wurden, als vorhin. Syrachs Worte cap. 22 traffen also hier ein: Wenn du gleich ein Schwerdt zückest über deinen Freund, so machst du es nicht so böse, (als mit schmähen.) Denn ihr könnet wohl wieder Freunde werden, wenn du ihn nicht meidest, und redest mit ihm. Also alles nur ein „Missverständnis“, noch dazu von anderen angestachelt? Jedenfalls Glück für die Opernwelt – nicht nur am Gänsemarkt. Sind aus Händels Hamburger Zeit nur die Oper Almira und das „Laudate pueri“ erhalten und Teile seiner Cembalowerke, so gelangten später viele seiner Erfolge aus Italien und London auch in Hamburg zur Aufführung – wie z. B. Aggrippina, Rodelinda, Richardus, manche von seinem Freund und Hamburger Musikdirektor Georg Philipp Telemann mit deutschen Rezitativen versehen und bearbeitet. Die Musikgeschichte ist reich an männlichen Hitzköpfen, behütet von Zufällen und beherzten Mitmenschen. So wird auch vom 20-jährigen Johann Sebastian Bach berichtet, dass er als Organist in der Neuen Kirche von Arnstadt in einen Rauf- und Ehrenhändel mit einem Schüler verwickelt war, in dessen Verlauf er den Degen zog. Hier ­verhinderte seine Base Schlimmeres. Auf der Opernbühne lieferten sich singende Cavalliere Gefechte, oft von Trompeten oder Barockoboen begleitet, die ebenfalls in der Regel schnell unterbunden wurden. Endete so ein Kampf tödlich, folgten endlose blutige Verwicklungen. Birgit Kiupel Es herrschet in der Welt die Falschheit aller Orten; Die Wahrheit ist verbannt, die Redlichkeit verjagt; Die Freunde dieser Zeit sind Freunde bloß in Worten: Der allerehrlichste tut anders, als er sagt. Der, so dich herzt und küsst, wird dich unfehlbar fällen, So bald er glaubt, dein Fall könn’ ihm ersprießlich sein. Kein Mensch ist, was er scheint: man weiß sich zu verstellen, Nie stimmt mit dem Gemüt das Anseh’n überein. Georg Philipp Telemann, Kupferstich von Georg Lichtensteger (um 1745) Der Spiegel Ein Schäfer pflegt in reinen Quellen Ihm seine Bildung vorzustellen; Dem Thoren, der dem Wucher hold, Zeigt sein Gesicht das blanke Gold; Ein schmeichelnd Glas muß Doris lehren, Sich selbst, als Engel, zu verehren. Auf Freunde! Lasst uns klüger sein: Bespiegelt euch in klarem Wein! Friedrich von Hagedorn (1708–1754) Doch dieses alles muss man nicht von Weibern meinen, Weil ihrer keine fast uns je betrogen hat, Indem sie insgeheim von außen boshaft scheinen, Und wenn man’s untersucht, so sind sie’s in der Tat. Barthold Hinrich Brockes (1680–1747) Sommerluft Auf den bunt beblümten Feldern, in den schattenreichen Wäldern herrscht, in stiller Einsamkeit, Unschuld und Zufriedenheit. Fern vom städtischen Getümmel, als in einem ird’schen Himmel, find ich hier die güld’ne Zeit. Barthold Hinrich Brockes (1680–1747) 38 39 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Wechsel Glück Die Nacht muss in die Fremde wandern, Sobald der Tag nach Hause kömmt. Bei Lust und Last folgt eins dem andern; Die Freude wird zwar oft gehemmt Und von Betrübnis unterdrückt, Doch aber niemals ganz erstickt. Das Glücke kömmt selten per Posta zu Pferde, Es geht zu Fuße, Schritt vor Schritt; Sein Eigensinn ist nicht zu zwingen, Man mag auch noch so sehr nach seiner Ankunft ringen; Es ändert darum nicht den langsam fortgesetzten Tritt. Dringt dich die Not mit vollen Haufen, So merke diesen Trost mein Geist! Das Wasser kann sich leicht verlaufen, Das alle Ufer niederreißt; Je größer Kummer, Angst und Pein, Je näher wird ihr Ende sein. Daniel Stoppe (1697–1747) Daniel Stoppe (1697–1747) Ohnesorge Geht schlafen, geht, macht Feierabend, Ihr Sorgen! Hört ihr’s? Legt euch doch! Schweigt und schreit mir nicht den Kopf noch weiter voll! Ihr habt wahrhaftig hohe Zeit Hier seht ihr die Zufriedenheit, Die euch zu Bette leuchten soll. Mein! Sagt mir: was verzieht ihr noch? S. [sic] ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ „Die Alster lehrt gesellig sein“ – Hagedorn und das Hamburger Lied der Aufklärung „Den Ort, der Hamburgs Flur zum neuen Eden macht, Um den der Scherze Heer mit muntrer Sorgfalt wacht, In dem, wohin man sieht, auch Liebesgötter schweben, Der Alster kühlen Fluß soll mein Gesang erheben.“ Nicht weniger als 19 Strophen lang ist eine Ode mit dem Titel Das Lob der Alster, die 1747 – nach gängiger Praxis der Epoche anonym – in der Hamburgischen Wochenschrift Poetische Gedancken über die neuesten und merckwürdigsten Begebenheiten ­abgedruckt wurde. Ausführlich finden sich dort die Naturschönheit wie die geselligen Freuden geschildert, die der Aufenthalt an oder auf der Alster bereithielt. Dieses bevorzugte Sommervergnügen der Hamburgerinnen und Hamburger wurde vielfach geschildert, u. a. in dem 1760 erschienenen Tractat Die Stadt Hamburg in ­Ihrem politischen, öconomischen und sittlichen Zustande des Kameralisten Christian Ludewig von Griesheim: „Vorwärts ist die Alster in ein Baßin eingefaßt, darauf schwimmen Gondeln, wovon man öfters um ein Spottgeld, zuweilen aber vor vier Reichsthaler etliche Stunden Gebrauch machen kann. Es fladdern eine Menge zahmer Schwäne herum, und erwarten, ob man ihnen was Brod zuwerfen wolle. Musik und Erfrischungen vergnügen alle Sinnen.“ Schon 1724 findet sich in der Wochenschrift Der Patriot die Beschreibung einer solchen Lustfahrt auf der Alster mit „gar angenehmer Wasser = ­Music“: „Wir stiegen daselbst […] in eine so genannte Schüte, und die Hoffnung einer sattsamen Ergetzlichkeit ward desto grösser, da wir sahen, daß sich neben uns zu gleicher Zeit eine Gesellschaft der besten Hamburgischen Virtuosen, mit ihren Instrumenten, in ein anderes Fahr = Zeug begab.“ Georg Philipp Telemanns Alster-Ouvertüre zählt unter anderem zu dem Repertoire, das bei solchen Gelegenheiten zu Gehör ­gebracht werden konnte. Auch die oben bereits zitierte Ode Lob der Alster beschreibt diese Form der Instrumentalmusik: „Itzt zieht ein ganzes Heer von Schüten durch den Baum Und die Lustflotte faßt der Alster innrer Raum. Bey heller Paucken Schall, bey sanfter Saiten Thönen Folgt ihr ein froher Zug, von Neugiers = vollen Schwänen.“ 40 41 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Die letzten beiden Strophen dieser Ode schließen mit einer Reverenz an den prominentesten Dichter der Hamburger Aufklärung, an Friedrich von Hagedorn: „Die stille Dämmerung, der Abend bricht herein, Die lustge Flott erhellt, der Lichter Pracht und Schein; Da sieht man die Apolls, der Gluterfüllten Dichter, Die Ehrfurchts würdigsten, die reitzendsten Gesichter. Doch für so grosse Pracht ist mein Witz viel zu klein, Sie kann von Hagedorn nur groß besungen seyn; Drum Musen, fliehet nur, ich will viel lieber schweigen, Als bey zu schwacher Glut, mich unvollkommen zeigen.“ Wieso der Autor auf Hagedorn verweist, ist klar: Hagedorn hatte in seiner Lyrik wiederholt die Alster als poetischen Idealort entworfen, an dem sich freundschaftliche Geselligkeit mit künstlerischer Inspiration verband. 1744 erschien in einem Liederbuch Hagedorns Die Alster mit einer Vertonung von ­Johann Valentin Görner, wobei die Besetzung mit Waldhörnern eine Aufführung im Freien prädisponiert. Unentwirrbar durchflechten sich Imagination und Praxis, ­poetischer Entwurf und Wirklichkeitswahrnehmung. „Das Ufer ziert ein Gang von ­Linden, / In dem wir holde Schönen sehn, / Die dort, wann Tag und Hitze schwinden, / Entzückend auf- und niedergehn.“ Hagedorn hatte, so beschreiben es mehrere zeit­ genössische Quellen, einen Lieblingsplatz, an den er sich mit Freunden traf oder auch zum Schreiben zurückzog. So erinnert der Hamburgische Jurist Johann Friedrich Lorenz Meyer in seinen um 1800 erschienenen Skizzen zu einem Gemälde aus Hamburg anlässlich seiner Beschreibung des englischen Gartens in Harvestehude: „Hier stand einst Hagedorn’s Linde […]. Der Sitz unter dieser Linde war sein täglicher Lieblingsplatz; hier saß er oft mit seinen Freunden, Klopstock und Karpser, in fröhlichem Gespräch, noch öfter einsam, Lieder der Freude und der Liebe dichtend. Die Linde war so ganz sein, und er an dem Ort so allbekannt, dass, wenn andere Gäste dort sassen und Hagedorn nur in der Ferne erschien, sie aufstanden, um ihm diese Stelle unter der Linde zu räumen.“ Dass viele Lieder des mittleren 18. Jahrhunderts die freie Natur feiern oder den locus amoenus als Szenerie tändelnder Liebeslyrik nutzen, steht komplementär zu der Tat­ sache, dass das Lied eine stadtbürgerliche Gattung war: Sie fand ihren sozialen Ort in den Geselligkeiten der Familien von Bildungsbürgern und Kaufleuten. Hamburg zählte schon im 17. Jahrhundert neben Königsberg, Nürnberg und den mitteldeutschen Städ- ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ten zu den interessantesten Orte der geistlichen wie der weltlichen Liedproduktion. Dies verband sich zunächst vor allem mit den Dichtern Johann Rist und Philipp von Zesen, die in ihren Sprachgesellschaften auch Lieddichter und -komponisten um sich scharten. Doch dann setzte ab 1670 der Druck weltlicher Liederbücher über ein halbes Jahrhundert aus. In Hamburg fällt das mit der Zeit der Gänsemarktoper in eins, allerdings ist die sogenannte „liederlose Zeit“ deutschlandweit zu beobachten und ein noch unverstandenes Phänomen der Gattungsgeschichte. Nach 1740 ist wieder eine große Produktivität zu verzeichnen, initiiert maßgeblich durch den Dichter Friedrich von Hagedorn und die Komponisten Georg Philipp Telemann und Johann Valentin Görner. 1708 in Hamburg geboren, ging Hagedorn nach seiner Schulzeit am akademischen Gymnasium zum Jurastudium nach Jena, lebte zwei Jahre in London und kam 1731 in die Hansestadt zurück. Er selbst war offenbar eher unmusikalisch, sein Bruder schrieb ihm einmal: „Es ist besonders, daß ein Mensch, der weder singen noch Ton halten kann, Chansons schreibt. Liskow meldet, daß, um die Andacht der Gemeine nicht zu stören, die englische Gemeine in Hamburg bloß deinetwegen eine Orgel habe bauen müssen, damit man deine Stimme nicht hören dürfe.“ Aber Hagedorn war in ganz Deutschland in den Jahren zwischen 1740 und 1760 einer der am häufigsten vertonten Lyriker, und in Hamburg erschien in diesem Zeitraum kein Liederheft ohne HagedornText. Er war Pionier eines neuen Tons der Lyrik, der die als schwülstig empfundene ­Barockdichtung ablöste: mit unprätentiöser Bildlichkeit, einem natürlichen Fluss der Verse und stilistischer Eleganz. Und das gab Impulse für die Liedkomposition. Als ­erster Komponist überhaupt hat 1733 Telemann in seinen Singe-, Spiel- und Generalbassübungen einen Hagedorn-Text vertont. 1741 veröffentlichte Telemann dann seinen wichtigsten Lieddruck, die Vier und zwanzig, theils ernsthaften, theils scherzenden Oden, die fünf Hagedorn-Texte enthalten. Kurz darauf brachte Hagedorn selbst drei Bände Sammlungen neuer Oden und Lieder mit Vertonungen von Johann Valentin ­Görner heraus. Görner stammte ursprünglich aus dem Erzgebirge und war nach dem Studium in Leipzig nach Hamburg gekommen, wo er zur Zeit der Liedkomposition als Klavierlehrer arbeitete, später wurde er Musikdirektor am Hamburger Dom. Hagedorn gehörte „nicht zu den Dichtern, die Wein und Liebe besingen und beide nicht kennen“, wie sein früher Biograph Johann Henrich Herold bekundet. Auch andere zeitgenössische Quellen belegen, dass Hagedorn ein sehr geselliger Mensch gewesen sein muss. Konkret spielte sich dies etwa in Dressers Kaffeehaus als Treffpunkt der „besten Kaufleute und Gelehrten“ ab, doch für seine Lieder lässt sich ein noch wichti­ gerer sozialer Kontext konkretisieren, nämlich der Kreis um Peter Carpser. Carpser war ein hochanerkannter Chirurg, und darüber hinaus ein ungewöhnlich gebildeter und kunstinteressierter Mann, bei dessen berühmten Freitagsgesellschaften zahlreiche einheimische und auswärtige Künstler und Intellektuelle verkehrten – er spielte auch in 42 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ der Geschichte der Hamburger Freimaurerei eine wichtige Rolle. Bemerkenswert war offenbar Carpsers Geschick, im besten aufklärerischen Sinne ständische Hierarchien vergessen zu machen im gemeinsamen Enthusiasmus für die Künste und Wissenschaften. Eine Quelle berichtet: „Ohne Rangordnung, ohne Zeremoniell sitzt man bei höchstens sechs Gerichten beisammen. Es wird gesagt, seine Gastlichkeit koste ihn im Jahr mehr als 2000 Reichstaler.“ Der mit Lessing verschwägerte Schriftsteller Christlob Mylius schilderte seinen Besuch bei dem berühmten Arzt: „Den 26sten May speisete ich in großer und artiger Gesellschaft bey dem berühmten und überaus geschickten Chirurgus Herrn Carpser. Er ist über dieses ein gelehrter, belesener, witziger und aufgeräumter ehrlicher Mann; ein großer Liebhaber und Kenner der Wissenschaften und Künste und wahrer Menschenfreund.“ Eine humoristische Charakteristik lieferte noch 1804 Jean Paul in seinen Flegeljahren. Auf die Frage, wer Carpser sei, wird geantwortet: „Balbieramtsmeister in Hamburg […]; ein Mann […] von so feinen Sitten, so voll belebter Reden, so zauberisch, daß Fürsten und Grafen, die nach Hamburg kamen, ihr erstes und größtes Vergnügen nicht im Pestilenzhaus oder auf dem Dreckwall oder im Scheelengang und in den Alster-Alleen suchten und fanden, sondern lediglich darin, daß unser Balbier zu Hause war und sie vorlassen wollte.“ Titelvignette von Richey, Michael: Deutsche Gedichte. Mit einer Vorrede Gottfried Schützens, Bd. I, Hamburg: bey Johann Georg Fritsch 1764 43 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Carpser dichtete selbst, und Hagedorn war sein guter Freund. Des weiteren trafen sich in dem Zirkel u. a. der Dichter Barthold Hinrich Brockes, der Jurist Matthäus Arnold Wilckens, die Journalisten Joachim Friedrich Liscow und Barthold Joachim Zinck, Hagedorns Verleger Johann Carl Bohn, der Prediger Joachim Johann Daniel Zimmermann, der Kaufmann Georg Behrmann und der Dichter Johann Matthias Dreyer, der in Telemanns Vierundzwanzig Oden mehrfach vertreten ist. Während Telemanns Verkehr im Hause Carpser nur als wahrscheinlich anzunehmen ist, machte Görner hier sogar „die Honneurs“, wenn der Arzt „zu einem Kranken gerufen“ ward, vertrat also Gastgeberstelle. In diesem Kreis trafen demnach wichtige Akteure der Liedkultur zusammen: Nicht nur Dichter und Komponist, sondern auch Verleger und Kritiker: Zincks Hagedorn-Rezensionen wurden z. B. in Zürich nachgedruckt und unterstützten damit auch überregional die positive Aufnahme von Hagedorns Liedern. Obgleich die Quellenliteratur über Peter Carpsers Gesellschaften nur (bekannte) Männer als Gäste erwähnt, waren wohl Frauen gerade als Singende wesentlich beteiligt. So berichtet Herold über Görners Oden: „Diese Melodien wurden bei ihrer Herauskunft und einige Zeit nachher, wo man noch nicht, wie nur zu oft itzt, sich die unbillige Forderung erlaubte, in den deutschen Mädchen und Frauen lauter Virtuosinnen im Singen zu verlangen, sondern wo man, wie mich dünkt, mit Recht, zufrieden war, wenn jede durch ihren Gesang etwas zum gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Vergnügen beitrug, häufig bei Tische und oft in dem Zirkel, wo Hagedorn selbst gegenwärtig war, gesungen.“ Das „Publikum“ – die versammelten Gastgeber und Gäste – hörte nicht nur zu, sondern konnte sich auch am Gesang beteiligen. Denn Geselligkeit war nun nicht nur der soziale Rahmen der Liedkultur, sondern der Modus der Geselligkeit ist buchstäblich in die musikalische Struktur eingeschrieben. Typisch für das Lied in Hamburg war nämlich der Chorrefrain, den Goerner in mehreren seiner Lieder explizit vorschreibt und der auch in Telemanns Liedern teilweise naheliegt oder zumindest ohne Probleme möglich ist. So auch in dem ersten Stück von Telemanns 24 Oden, der Hagedorn-Vertonung ­Indoctum sed dulce bibenti, deren Titel einen Vers aus Horaz Epistulae zitiert: „quin etiam canet, indoctum, sed dulce bibenti.“ (Selbst auch singet er, zwar kunstlos, doch lieblich dem Zecher, Ü. Johann Heinrich Voss) „Ihr Freunde! Zecht bei freudevollen Chören! Auf! stimmt ein freies Scherzlied an. Trink ich zu viel, so trink ich euch zu Ehren, und daß ich heller singen kann. Der Rundtrunk muß der Stimmen Rund beleben, so schmeckt der Wein uns doppelt schön Uns soll der Durst des Heuchelns überheben, das Glas so lange voll zu sehen.“ 44 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Freundschaft – Freude – Wein – Gesang. Mit dieser Konstellation von Begriffen formuliert Hagedorn quasi die Poetik des geselligen Liedes der Aufklärung. Das Singen ist in einem sozialen Kontext freundschaftlicher Geselligkeit situiert, als Ausdruck und zugleich Anlass von Freude, und es wird steigernd parallelgeführt mit dem Weingenuss: Das Trinken ermuntert zum Singen, und das Singen regt wiederum zum weiteren Trinken an. Der Wein ist ein Kernmotiv der Anakreontik, zu deren Protagonisten Hagedorn zählt, und er wird bei ihm auch zur „poetologischen Kategorie“, denn der Wein fördert die Produktion und die Rezeption von Dichtung, indem er den Dichter inspiriert und zugleich dessen Publikum aufnahmefähig macht. Gleichermaßen aber steht der Wein auch in einem Zusammenhang mit der Liebe, dem zweiten zentralen Thema der Anakreontik, denn der Wein erhitzt die Sinne und macht die Küsse kräftig. Ausgelassene Geselligkeit und sinnenfreudige Liebe seien das Gebot der Gegenwart. Auch in Die Alster erscheinen alle diese Signalbegriffe einer aufgeklärten Lebensfreudigkeit wieder. Die „singenden Chöre“ huldigen der Schönheit der Natur, die Freude resultiert aus freundschaftlicher Geselligkeit: „In schwimmenden Nachen / Schifft Eintracht und Lust, / Und Freiheit und Lachen / Erleichtern die Brust“. Der Weingenuss und die gemütsaufhellende Wirkung der Musik vereinigen sich zur Erfahrung „froher Freiheit“: „O glückliche Stunden! / O liebliche Fahrt!“ Und die Musik baut durch den Taktwechsel – die erste Strophenhälfte steht im 3/4-Takt, die zweite im 3/8-Takt – eine Beschleunigung des Pulses ein, die den Affekt der Fröhlichkeit in jeder Strophe wieder frisch erfahrbar macht. Giebichenstein, Blick vom Garten auf das Reichardtsche Gehöft Louise Reichardt (1779–1826) Katharina Hottmann Louise Reichardt war eine Liedkomponistin und -interpretin, die von dem auf dem elterlichen Gut Giebichenstein weilenden romantischen Dichterkreis (Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Clemens Brentano, die Brüder Schlegel und Grimm, Friedrich Schleiermacher u. a.) hoch geschätzt wurde. 1809 ging sie nach Hamburg, um sich als Gesangs- und Klavierlehrerin sowie als Komponistin eine berufliche Existenz aufzubauen. Zusammen mit Johann Heinrich Clasing gründete sie den „Musikalischen Verein für geistliche Musick“ und veranstaltete vielbeachtete Aufführungen oratorischer Werke, vor allem Georg Friedrich Händels, Mozarts und italienischer Komponisten. Das Musikfest von 1818 gilt als Vorläufer der 1819 gegründeten Hamburger Sing-Akademie. Als Chorleiterin, Organisatorin von Konzerten und Beraterin leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Etablierung eines bürgerlichen Musiklebens in der Hansestadt. Ellen Freyberg 46 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 47 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Wer die großen Schwierigkeiten kennt, welche im nördlichen Deutschland der Aus­ führung bedeutender Kirchenmusiken im Wege stehen, wird sich, selbst mit Berücksichtigung der grossen Kunstmittel, welche Hamburg darbietet, wundern, wie es möglich ­gewesen, eine Versammlung von 360 bis 400, theils Tonkünstler vom Fache, theils Dilettanten zu versammeln, welche die Meisterwerke Händels und Mozarts, den Messias und das Requiem, auf eine Vollendung sich nähernde Weise auszuführen vermochten. Der in neuen Zeiten gänzlich erstorbene, ja man dürfte sagen, unterdrückteste Sinn für geist­ liche Musik, die Beschwerlichkeit und Kostbarkeit der Reisen, vielleicht auch das grössere Phlegma der Norddeutschen, sind Hindernisse, welche nur durch den höchsten Enthusiasmus und unermüdete Thätigkeit ganz uneigennütziger, selbst zu bedeutenden Opfern fähiger Freunde der Musik besiegt werden können. Vor wenigen Jahren noch würde die Ausführung einer solchen Musik in Hamburg ein frommer Wunsch gewesen seyn. Zuerst verdient hier also genannt zu werden, die sinnige Künstlerin, Dem. Louise Reichardt, würdige Tochter des unvergessenen Kapellmeisters Reichardt. Ihre unermüdete Thätigkeit, ihr sorgfältiger Unterricht, und ihre Uneigen­ nützigkeit bey der Bildung und Pflege der weiblichen Stimmen, hat es möglich gemacht, einen Chor zu bilden, und Sängerinnen an die Spitze der Ausführung zu stellen, die, ­obgleich sie nur für Dilettanten gelten wollen, wahren Virtuosen gleich zu achten sind. In Verbindung mit Herrn Clasing, dessen ich weiter unten erwähnen werde, haben mehrere Jahre auf ihre Veranlassung regelmässige Uebungen stattgefunden, an welchen bald die gebildeten Liebhaber der Musik Antheil nahmen, und welche hauptsächlich würdige Kirchenmusik zum Gegenstande haben. Im November vor. Jahres unternahmen diese beyden Künstler es zuerst, mit diesem engern Verein zur Feyer des Reformationsfestes in der Waisenhauskirche aufzutreten. Der 100ste Psalm und einige Stücke aus dem Judas Maccabäus, beyde von Händel, wurden vor und nach der Predigt ausgeführt, und lohnten die Unternehmer mit ungetheiltem Beyfall. […] Ein zahlreiches Publikum (es waren in jeder Aufführung wenigstens 5000 Zuhörer) lohnte die Unternehmer durch seinen Besuch und durch eine stille Aufmerksamkeit, welche bey einer so eng zusammen gedrängten Menschenmasse wol nur durch die himmlische Kraft der Musik zu bewirken seyn möchte, zugleich aber auch ein schönes Zeugnis für den Kunstsinn der Hamburger abgiebt. (Allgemeine Musikalische Zeitung, 20, 1818, Sp. 713ff.) 48 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Salon III Donnerstag, 21. Juni 2012 Stars und Sterne: Hamburg als Auftrittsort 49 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 50 51 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Erinnerungen an ein Konzert Franz Liszts im Hotel „Alte Stadt London“ heute, nach beinahe sechzig Jahren, klar vor der Seele stehen, ­waren das Septett von Hummel, die chromatische G-durEtüde von Moscheles, das Schubertsche Ständchen und die schon erwähnten beiden Sätze aus der Beethovenschen sogenannten Mondscheinsonate. Sehr imponirte es mir, daß Liszt zwischen den einzelnen Vor­tägen sich nicht zurückzog, sondern vom Podium herabstieg und als vollendeter Cavalier mit der schönen Damenwelt plauderte. Franz Liszt, 1858 (Fotografie Franz Hanfstaengl) Mein erstes Begegnen mit Franz Liszt war kein persönliches: Liszt, im Zenith seines Ruhmes als Virtuose stehend, gab in Hamburg ein Concert, und ich, als obscurer clavierspielender Knabe, hatte selbstverständlich keinen heißeren Wunsch als ihn, den größten Clavierspieler seiner Zeit, zu hören, einen Wunsch, den der gütige Vater erfüllte. So wanderte ich denn klopfenden Herzens von der Nachbarstadt Altona nach dem Hotel Alte Stadt London auf dem Hamburger Jungfernstieg. Es war noch zur Zeit vor dem schrecklichen Hamburger Brande und zur Zeit der kleinen intimen Concertsäle. Der fashionabelste Saal Hamburgs war der im genannten Hotel, er faßte nur vier- bis fünfhundert Hörer. Liszt war meines Wissens der ers­ te Claviervirtuose, welcher seine Concerte ganz allein, ohne jegliche Mitwirkung anderer Künstler bestritt. Das that er auch in diesem Concerte, abgesehen davon, daß er das berühmte Septett in D-moll von Hummel mit Begleitung einiger Hamburger Künstler vortrug. ­Liszt, eine überaus schlanke, elegante Gestalt, begann mit der Sonate quasi una fantasia in Cis-moll von Beethoven, und ich erinnere mich genau, daß ich ebenso entzückt war von dem unvergleichlichen Vortrage der ersten beiden Sätze wie erstaunt über die rhythmi­schen Gewalt­ thätigkeiten, welche er im letzten Satze verübte. […] Unvergleichliche, durch nichts getrübte Leistungen, die mir noch (aus: Carl Reinecke, … und manche liebe Schatten steigen auf: Gedenkblätter an berühmte Musiker, Leipzig 1900, S. 11–13) Auftritte von Clara Wieck/Clara Schumann in Hamburg 14. März 1835 20. März 1835 4. April 1835 1. April 1837 8. April 1837 8. Februar 1840 5. März 1842 16. März 1850 19. März 1850 23. März 1850 13. November 1854 16. November 1854 12. Dezember 1855 21. November 1863 23. November 1867 24. November 1867 Clara Schumann, Fotografie 1854 im 29. Philharmonischen Privat-Concert ein „Großes Concert“ im Abschiedskonzert von Georg Albert im 37. Philharmonischen Privat-Concert eine Musikalische Soiree im 47. Philharmonischen Privat-Concert im 56. Philharmonischen Privat-Concert im 78. Philharmonischem Privat-Concert eine Musikalische Soiree eine Musikalische Soiree im 99. Philharmonischen Privat-Concert eine Musikalische Soiree im Großen Extra-Concert im 1. Abonnent-Concert im 3. Großen Abonnement-Concert in der 4. Kammermusik-Soiree: Schumann-Abend 52 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 53 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Am 13. Juli 1861 bezog Brahms in dem Hamburger Vorort Hamm (Schwarze Straße 5) eine Wohnung im Hause von Elisabeth Rösing, der Witwe eines ­Privatgelehrten; Frau Dr. Rösings Nichten, Betty und Marie Völckers, die im Nachbarhaus wohnten, waren Stützen des von Brahms zwischen Juni 1859 und Mai 1861 geleiteten Hamburger Frauenchores gewesen. Zusammen mit ihren Freundinnen Laura Garbe und Marie Reuter bildeten sie noch immer jenes Vokalensemble, das Brahms zärtlich „mein Mädchenquartett“ nannte. Bis zu Brahms’ Abreise nach Wien (September 1862) sollte Brahms Mädchenquartett des Hamburger Frauenchores: Hamm seine Künstlerresidenz bleiben. v. l. Laura Garbe, Marie und Betty Völckers, Marie Reuter, Der damals noch ganz ländliche Ort Foto von 1862 am linken Alsterufer war von der Stadt (Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck) aus bequem zu erreichen, und Brahms konnte den ihn besuchenden Freunden sein verwaistes Zimmer im Elternhaus anbieten. Zu den Gästen, die Brahms hier schon in den ersten Monaten seines Aufenthaltes besuchen sollten, gehörten – allen voran – Clara Schumann aus Berlin und Joseph Joachim aus Hannover. […] Die schwarze Straße ist doch eine der lichtesten und freundlichsten Erinne­ rungen für mich, wie gern denke ich an ihre gemütlichen Häuser, die gemüthvollen Menschen darin u[nd] ihre Herzlichkeit für mich […]. (an Marie Völckers, Sept. 1872) Ihre freundlichen Plaudereien aber machen, daß ich noch eins so gern zurückdenke […]. Von wie Vielem könnte ich dann weiter plaudern, das Ihnen deutlich zeigte, wie die Erinnerung an Ihr Vaterhaus u das nachbarliche mir eine der theuersten u wohlthuendsten meines Lebens ist. (25. August 1896) Johannes Brahms Geburtshaus, Nr. 24 Specksgang, später: Nr. 60 Speckstraße (Museum für Hamburgische Geschichte) 54 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 55 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Anneliese Rothenberger Glück im Pech Hamburger Abendblatt, 2. November 1950 Für New Yorker Konzerte verpflichtet. Das Pech bestand darin, daß man Anneliese Rothenberger, die junge Sopranis­ tin der Hamburger Oper, angesichts der Freiheitsstatue auf dem heute vielgenannten Ellis Island festhielt. Ihr Glück war, daß sie die Adresse eines ihr von südamerikanischen Freunden empfohlenen New Yorker Gentlemans wußte, der die gesetzlich vorgesehene Kaution von 500 Dollar hinterlegte. Anneliese kam nicht nur nach New York herein, sie hatte zugleich die märchenhafte Gelegenheit, vor einer illustren Gesellschaft der Silvermine Gild of Artists und an der Seite zweier Stars der Metropolitan Oper in einem Konzert zu gastieren! Daß sie dann stürmischen Beifall erntete, dankt sie zwar ihrem Können. Aber daß sie gleich für zwei weitere Konzerte im Januar und Februar kommenden Jahres abschließen durfte, war wieder Glück … Anneliese Rothenberger ist im Herbst 1945 nach Hamburg gekommen und sang schon im Winter in nicht weniger als 146 Konzerten. Direktor Ruch bat sie zum Vor­ singen, und der eben aus München eingetroffene Dr. Rennert verpflichtete die junge Mannheimerin ans Haus in der Dammtorstraße. Dort hat man ihr inzwischen eine hübsche Reihe begehrter Partien wie die Lucy in Brittens „Beggars Opera“, die Uhr­ machersgattin in Ravels „L’heure espagnol“ und das Blondchen in Mozarts „Ent­ führung“ anvertraut. Die junge Sängerin empfahl sich gleichzeitig auch als hochveranlagte Darstellerin. Ihre Grazie, ihr rheinisches Temperament waren an ihren Erfolgen in Curaqao, Baranquilla, Bogota und Caracas zweifellos nicht unbeteiligt. Annelieses Wunschtraum: einmal die Traviata singen und spielen zu dürfen […]. (Werner Knoth) Hamburger Abendblatt, 22/23. September 1967 Triumphaler Erfolg der Hamburger „Lulu“ Hamburger Abendblatt, 19. Juni 1967 Die erste Aufführung von Alban Bergs „Lulu“ ist in Montreal nach dem konzertant aufgeführten „Freischütz“ und „Mathis der Maler“ zu dem bisher größten Erfolg der Hamburgischen Staatsoper auf ihrer Amerika-Tournee geworden. Nicht nur die Kritik zeigte sich begeistert, auch das Publikum wurde mitgerissen und sparte nicht mit Beifall. Entscheidenden Anteil an dem Erfolg hatte Anneliese Rothenberger. Sie wurde von der Kritik als die ideale Verkörperung der „Lulu“ angesehen. Aber auch dem Dirigenten Leopold Ludwig und dem Regisseur Günther Rennert galt die einhellige Bewunderung der Kritik. Die Montrealer „Gazette“ schrieb über die „Lulu“-Aufführung: „War die Rothenberger hervorragend, so konnte doch jedes Mitglied des Ensembles mit ihrer Stimme und Leidenschaft mithalten. Kein Zweifel, jeder Sänger in dieser Operngesellschaft muß zu den am besten erzogenen und am höchsten gebildeten Musikern in der Welt gehören.“ 56 57 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Um Mitternacht: Die Callas in Hamburg Hamburger Abendblatt, 15. Mai 1959 Trotz der mitternächtlichen Stunde ­hatten sich Hunderte vor dem AtlanticHotel in Hamburg eingefunden, um ­Maria Meneghini-Callas stürmisch zu begrüßen. Um 23.30 Uhr war die berühmte Sängerin auf dem Fuhlsbüttler Flughafen gelandet. Mit ihrem Lieblingspudel Toy schritt die Callas durch das Spalier der Hamburger. Heute abend wird sie in der Musikhalle ihr erstes Deutschland-Konzert geben. Triumph des Gefühls Jubel um die neue Callas Hamburger Abendblatt, 17. März 1962 Hamburger Abendblatt, 17./18. März 1962 Sie zauberte den Glanz einer Galavorstellung in die blumengeschmückte ­Musikhalle: Maria Callas, eine strahlend junge Königin auf dem Podium! Sie trägt eine Extravaganz zur Schau, die ihre herbe Anmut noch unterstreicht. Sie scheint nicht nur äußerlich verwandelt, ihre Stimme klingt lyrischer denn je. Die Hamburger jubelten der neuen Callas zu. Das Konzert begann mit der Ouvertüre zum „Römischen Carneval“ von Berlioz. Der französische Dirigent Georges Prêtre führte das NDR-Sinfonieorchester mit einer zackigen Eleganz, die fast etwas Militärisches hatte. Aber an der bravourösen Genauigkeit, mit der er virtuose Pointen als Überraschungseffekte setzte und rasante Strettawirkungen heraus- Hamburg, 1959 Hamburg, 1962 brachte, erkannte man den geborenen Operndirigenten. Als scharf gewürzte Temperamentsleistungen servierte er auch das Carmen-Vorspiel und die Ouvertüren von Rossini und Verdi. Die Lichter im Saal verdunkelten sich, Maria Callas erscheint. Die Ausstrahlung ­ihrer Persönlichkeit ist so faszinierend, daß man sich mit der Stimme „an sich“ erst ­beschäftigt, wenn ein Ton, eine Phrase nicht ganz „sitzt“. Verlangt man doch gerade von ihr stets das Außerordentliche. Die Stimme ist dunkler, weicher geworden, jedenfalls wirkt sie in der Mittellage, im Mezzo- und Altklang, am natürlichsten. Wo sie das große Espressivo der Leidenschaft trägt, hört man über gelegentliche Höhenschärten und kleine Brüche hinweg. Aber da, wo es um perfekte Virtuosität geht (in der Arie der Elvira aus „Ernani“ von Verdi und der Angelina-Partie von Rossini) stockt einem der Atem. Wer raffinierte Stimmartistik erwartet, ist enttäuscht (…) Das Unverwechselbare ihrer Kunst aber ist die Hingabe an das große Gefühl, die Gespanntheit des dramatischen Ausdrucks, der sich auch in Haltung und Bewegung widerspiegelt. Ihre Carmen ist im Stimmtyp gewiß nicht konkurrenzlos. Aber wie sie die Habanera und die Seguidilla „erlebt“? Dieses schwingende sinnliche Vibrato, dieses nuancierte Parlando haben wir von ihr noch nie gehört. Im exaltierten Schmerz, im faszinierenden Wechsel von Resignation zum ausbrechenden Affekt, auf dieser Skala der großen Gefühle spielt sie seit jeher meisterhaft. Auf solche Steigerung hin war auch das Programm angelegt, in dem die große Szene der Eboli aus Verdis „Don Carlos“ zum glanzvollen Höhepunkt wurde. (Sabine Tomzig) 58 59 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Placido Domingo Der 28. September 1975 war eines der wichtigsten Daten in meiner Karriere. An diesem Abend gestaltete ich in Hamburg zum ersten Mal die Rolle des Othello. Die Herausfor­derung war so unglaublich groß, weil in „Othello“ zwei Elemente gleich wichtig sind: der Gesang und die Schauspielkunst. „Othello“ ist das Nonplusultra, eine starke B ­ elastung für die Stimme, eine technisch äußerst anspruchsvolle Arbeit. (aus: Helena Matheopoulos, Placido Domingo, meine Rollen – mein Leben, Berlin 2001) Placido Domingo: Meine heimliche Romanze mit Hamburg Hamburger Abendblatt, 27. Februar 2006 Abendblatt-Reporterin Nataly Bombeck traf den Sänger in New York. Im Sommer ist Konzert am Rothenbaum. Open-AirGala am 2. Juli mit Hamburger Sym­ phonikern und Sopranistin Ana Maria Martinez – einziger Solo-Auftritt in Deutschland. „Aber jetzt freue ich mich erst mal sehr auf Hamburg, wo ich zuletzt vor fünf Jahren war. Hamburg war meine erste deutsche Stadt zu Beginn meiner Karriere als junger Tenor. Daher ist Hamburg ein ganz wichtiger Teil meiner persönli­ chen Geschichte“, sagt Placido Domingo. 1967 bis 1970 hatte er einen Vertrag an der Staatsoper, brillierte als Cavaradossi in „Tosca“. Später dirigierte er in Hamburg den „Troubadour“, feierte hier 1992 sein 25. Bühnenjubiläum als Othello. Placido Domingo als Othello Hamburger Abendblatt, 27. Dezember 1967 60 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ „In Hamburg habe ich eine meiner besten Zeiten verbracht. Hier ist mein Sohn ­ lvaro in Blankenese aufgewachsen, und ich schätze das enthusiastische Hamburger A Publikum sehr. Das Wetter ist zwar oft kalt, das Publikum aber umso wärmer. Mit Hamburg habe ich eine heimliche Romanze“, sagt Placido Domingo. […] „Ich werde meine Familie mit nach Hamburg bringen, schließlich haben wir dort viele Bekannte und Freunde an der Staatsoper“, sagt Placido. Und dann: „Ich suche dringend noch ein paar Tickets für die WM-Spiele und will mir unbedingt das Viertelfinale in der AOL-Arena anschauen. Für das Endspiel hoffe ich auf Spanien oder Mexiko als Teilnehmer. Aber auch für die Deutschen und Italiener stehen die Chancen gut, Weltmeister zu werden“, meint der Fußballfan. Er ist Mitglied bei Real Madrid, war früher ein erstklassiger Mittelstürmer. „Heute spiele ich lieber in der Verteidigung, aber das leidenschaftlich“, erzählt Placido Domingo. Und dann erinnert er sich an das Jahr 1974. Auch damals war Fußball-WM in Deutschland. Die Bundesrepublik spielte gegen die DDR im Volksparkstadion. „Für mich war extra die Vorstellung von „Aida“ nach vorne verlegt worden. Als ich fertig gesungen hatte, bin ich ins Stadion gerast. Da hörte ich schon die lauten „Netzer, Netzer“und „Uwe, Uwe“-Rufe. Die Stimmung war unglaublich – besonders, als dann die BRD gegen die DDR 1:0 verlor. Das werde ich nie vergessen“, erzählt Placido Domingo und schmunzelt. Und der Tenor hofft auf ein Wiedersehen mit Staatsoper-Intendantin Simone Young, sagt: „Sie ist eine bewundernswerte Kämpferin, eine tolle Dirigentin, mutige Frau und wirkliche Freundin. Es gibt Pläne, daß ich im Februar 2007 an der Staatsoper gastiere.“ „Ich habe mein ganzes Leben an der Oper verbracht. Schon als kleiner Junge habe ich meine Eltern, zwei populäre Zarzuela-Sänger in Spanien, auf ihren Reisen begleitet. Seitdem ist die Oper ein Teil von mir, sie ist mein Leben“, sagt Placido Domingo. In ­seinem Terminkalender stehen Auftritte in London, Tokio, Madrid und eine Operngala in New York. Außerdem gibt er jetzt vier neue Opernaufnahmen heraus. Ein rastloser Placido Domingo? „Nein, ich arbeite nur sehr gerne. Aber vier Stunden vor jedem Auftritt verordne ich mir strikte Ruhe. Ich lese, schlafe oder mache einfach nichts. Und bevor ich auf die Bühne gehe, bete ich. Für die heilige Cäcilia, die Patronin der Musiker und Künstler, und für den heiligen Blasius, Schutzheiliger für Halsleiden und Musiker“, sagt er. Und dann, zum Abschluß, sagt Placido Domingo noch etwas über die junge, nachfolgende Operngeneration, für die er 1993 den jährlichen und größten Gesangswett­ bewerb, die Operalia, gründete. „Es macht mich sehr glücklich, diese jungen Talente zu fördern. Wenn ich mit ihnen arbeite, möchte ich ihnen Impulse geben.“ Er meint, wer auf der Bühne stehe, singe für das Publikum, das dann für eine kurze Zeit seine Sorgen vergessen möge. Placido Domingo: „Ich möchte das Publikum weinen oder ­lachen sehen.“ 61 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Renate Behle „Eine Wagnersängerin von Jubelformat“ (Die Welt) „She can produce every Wagnerian effect from dulcet velvety tones to clarion outbursts of passion“ (Daily News) Renate Behle hat viele Jahre als eine der führenden dramatischen Sopranistinnen das Wagner- und Strauss-Repertoire auf den Opernbühnen der Welt geprägt. Seit 2007 ist sie – der „Sonderfall einer Wagner-Heroine mit Herz und Intellekt“ (Kölner Stadt­ anzeiger) – als dramatischer Mezzosopran international tätig. Über anderthalb Jahrzehnte zählte Renate Behle weltweit zu den bedeutendsten ­Interpretinnen im dramatischen Fach. Mit ihrer „warmen, üppigen, großzügigen ­Stimme“, deren „Klang sich ins Gedächtnis einbrennt“ (Financial Times), begeisterte sie Publikum und Presse auf nahezu allen bedeutenden Opernbühnen dieser Welt. Im Laufe ihrer mittlerweile über vier Jahrzehnte währenden Karriere hat Renate Behle eine außergewöhnliche stimmliche Vielseitigkeit bewiesen. Angefangen hat sie ihre Gesangslaufbahn als lyrischer Mezzosopran. Nach ihrem Studium in Graz und Rom war Renate Behle zwei Jahre am Badischen Staatstheater Karlsruhe beschäftigt. Um nach der Geburt ihres Sohnes mehr Zeit für ihre Familie zu haben, wechselte sie 1974 als 1. Alt in den Chor des Norddeutschen Rundfunks. Fünf Jahre später folgte eine Verpflichtung als Lyrischer Mezzosopran ans Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. 1982 wurde sie an die Niedersächsische Staatsoper Hannover engagiert, wo sie trotz ständig wachsender internationaler Bekanntheit 15 Jahre lang Ensemblemitglied blieb – eine wichtige Zeit der Entwicklung, in der sie sich ein weitgespanntes Repertoire aus Partien von Hänsel bis Eboli erarbeiten konnte. 1987 wurde sie zur Kammersängerin ernannt. Im selben Jahr leitete sie – nachdem sie zuletzt Partien wie Adalgisa (Norma) und Adriano (Rienzi) gesungen hatte – einen Fachwechsel ein. Zunächst übernahm sie ­Aufgaben des jugendlichen Sopranfachs wie Sieglinde, Ariadne und Marschallin („Da schwebt die Behle auf einem Klangpolster und die Zuhörer halten den Atem an, um nichts zu versäumen von den Zwischentönen“, Hannoversche Allgemeine), wenig später kamen die großen dramatischen bis hochdramatischen Partien wie Leonore (Fidelio), Isolde und Brünnhilde hinzu. Der Durchbruch für ihre internationale Karriere ereignete sich 1991, als Renate Behle in der Titelpartie von Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk an der Hamburgischen Staatsoper einsprang. Seitdem führten sie Auftritte an die bekanntesten 62 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Renate Behle in der Uraufführung von Wolfgang Rihms „Eroberung von Mexiko“ (Staatsoper Hamburg, 1991) Opernhäuser und Festivals der Welt: Sie sang die Leonore an der Metropolitan Opera in New York, an der Wiener Staatsoper, an der Hamburgischen Staatsoper, an der Dresdner Semperoper und bei den Salzburger Festspielen. Sie interpretierte die Isolde in Los Angeles, Houston (hier unter der Leitung von Christoph Eschenbach), Dresden und Savonlinna. Als Salome trat sie an der Mailänder Scala, in Dresden und Buenos Aires auf. Viele weitere deutsche und italienische Partien gehörten und gehören zu ­ihrem Repertoire, beispielsweise Senta, Sieglinde, Brünnhilde, Ariadne, Marschallin (u. a. in Hamburg unter Christian Thielemann), Chrysothemis (u. a. unter Peter Schneider in München) und Färberin ebenso wie Fanciulla, Tosca und Verdis Lady Macbeth. Über ihre Interpretation der letztgenannten Partie schrieb die Kölner Rundschau: „Ihre Stimme wird perfekt geführt, besitzt das dunkle Timbre des ehemaligen Mezzos, die feste Durchschlagskraft in der Höhe, die Beweglichkeit in den Koloraturen, wo der Sopran quirlt und perlt wie Sekt.“ 2007 nahm Renate Behle von diesem Repertoire Abschied und singt mittlerweile vorwiegend Partien für dramatischen Mezzosopran wie beispielsweise Herodias und Klytämnestra. 63 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Neben ihrem umfangreichen klassischen Repertoire widmete sich Renate Behle von jeher mit großer Leidenschaft der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Die ersten wesentlichen Aufgaben in diesem Bereich waren die Partie der Regine in der deutschen Erstaufführung von Rolf Liebermanns La Forêt (Der Wald) bei den Schwetzinger Festspielen (1988; 1989 an der Oper Frankfurt) und die Kassandra in Aribert Reimanns Troades. Eine besonders enge Zusammenarbeit verbindet sie mit Wolfgang Rihm, von dem sie bislang drei bedeutende Werke zur Uraufführung brachte: Die Eroberung von Mexico (Hamburgische Staatsoper, 1991, unter Ingo Metzmacher), Das Gehege ­(Bayerische Staatsoper, 2009, unter Kent Nagano) und Penthesilea Monolog für dramatischen Sopran und Orchester (Theater Basel, 2009/10). Außerdem sang sie die Hauptpartie in Dukas’ Ariane et Barbe-Bleue in Hamburg und New York und die Agaue in Henzes Die Bassariden in Hamburg und München. Eine Reihe von Einspielungen dokumentiert Renate Behles Gesangskunst. Auf CD sind Zemlinskys Der Kreidekreis (musikalische Leitung: Stefan Soltesz), Spohrs ­Jessonda (Gerd Albrecht), Schumanns Genoveva (Gerd Albrecht), Schoecks Penthesilea (Mario Venzago) und Rihms Die Eroberung von Mexico (Ingo Metzmacher) erschienen, außerdem Beethovens Neunte Sinfonie (Michael Gielen). Auf DVD wurden zwei ­Stuttgarter Inszenierungen mit Renate Behle in Hauptpartien veröffentlicht: Fidelio (musikalische Leitung: Michael Gielen, Regie: Martin Kušej) und Die Walküre (Lothar Zagrosek, Christof Nel). Die gebürtige Österreicherin lebt seit 1971 in ihrer Wahlheimatstadt Hamburg, wo sie von 2000 bis 2010 an der Hochschule für Musik und Theater eine Professur für Gesang innehatte. 64 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Salon IV Donnerstag, 5. Juli 2012 Zwischen Alster und Elbe (und Bille) 65 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 66 67 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Die Alster (1757) Ertönt, ihr scherzenden Gesänge, Aus unserm Lustschiff um den Strand! Den steifen Ernst, das Wortgepränge Verweist die Alster auf das Land. Du leeres Gewäsche, Dem Menschenwitz fehlt, O fahr in die Frösche; Nur uns nicht gequält! Befördrer vieler Lustbarkeiten, Du angenehmer Alsterfluß! Du mehrest Hamburgs Seltenheiten Und ihren fröhlichen Genuß. Dir schallen zur Ehre, Du spielende Fluth! Die singenden Chöre, Der jauchzende Muth. Der Elbe Schifffahrt macht uns reicher; Die Alster lehrt gesellig seyn! Durch jene füllen sich die Speicher; Auf dieser schmeckt der fremde Wein. In treibenden Nachen Schifft Eintracht und Lust, Und Freyheit und Lachen Erleichtern die Brust. Das Ufer ziert ein Gang von Linden, In dem wir holde Schönen sehn, Die dort, wann Tag und Hitze schwinden, Entzückend auf- und niedergehn. Kaum haben vorzeiten Die Nymphen der Jagd, Dianen zur Seiten, So reizend gelacht. O siehst du jemals ohn Ergetzen, Hammonia! des Walles Pracht, Wann ihn die blauen Wellen netzen Und jeder Frühling schöner macht? Wann jenes Gestade, Das Flora geschmückt, So manche Najade Gefällig erblickt? Hier lärmt, in Nächten voll Vergnügen, Der Pauken Schlag, des Waldhorns Schall; Hier wirkt, bei Wein und süssen Zügen, Die rege Freyheit überall. Nichts lebet gebunden, Was Freundschaft hier paart. O glückliche Stunden! O liebliche Fahrt! Friedrich von Hagedorn (1708–1754) Man siehet jetzt fast über all mit Haufen / Viel bunte Käferchen, gefärbte kleine Fliegen / Zu unsrer Augenlust ein Leben kriegen / Und in dem Gras, auf Kraut und Blumen laufen. […] Wie manche Art von Wespen und von Bienen / Erblicket man in dem beblümten Grünen! / Die Hummel fliegt mit Brummen hin und her; / Ihr Körper scheinet in sich schwer, / Als wenn er in der Luft ein kleiner Bär / Mit Flügeln wär. Barthold Hinrich Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott Kirsch-Blühte bey der Nacht Ich sahe mit betrachtendem Gemüthe Jüngst einen Kirsch-Baum, welcher blühte, In kühler Nacht beym Mondenschein; Ich glaubt’, es könne nichts von größrer Weisse seyn. Es schien, ob wär’ ein Schnee gefallen. Ein jeder, auch der klein’ste, Ast Trug gleichsam eine schwere Last Von zierlich weissen runden Ballen. Es ist kein Schwan so weiß, da nemlich jedes Blatt, Indem daselbst des Mondes sanftes Licht Selbst durch die zarten Blätter bricht, So gar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat. Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden Was weissers ausgefunden werden. Indem ich nun bald hin und her Im Schatten dieses Baumes gehe; Sah’ ich von ungefähr Durch alle Blumen in die Höhe, Und ward noch einen weissern Schein, Der tausend mal so weiß, der tausend mal so klar, Fast halb darob erstaunt, gewahr. Der Blühte Schnee schien schwarz zu seyn Bey diesem weissen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht Von einem hellen Stern ein weisses Licht, Das mir recht in die Seele strahlte. Wie sehr ich mich am Irdischen ergetze, Dacht’ ich, hat Gott dennoch weit größre Schätze. Die größte Schönheit dieser Erden Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden. Barthold Hinrich Brockes (1680–1747) 68 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 69 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Felicitas Kukuck Illustration zu Brockes Irdisches Vergnügen in Gott (erste Hälfte 18. Jh.) Felicitas Kukuck, geb. Cohnheim, wurde am 2. November 1914 in Hamburg geboren. Ihr Vater, Prof. Dr. med. Otto Cohnheim, und ihre Mutter Eva Cohnheim förderten die künstlerische Entwicklung von Felicitas von Kindheit an. 1916 änderte ihr Vater auf Wunsch seiner Mutter seinen jüdischen Namen in Kestner um. Felicitas besuchte die Lichtwarckschule, die bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten Wert auf eine welt­ offene Kulturkunde und Erziehung zu selbständigem Denken und Urteilen gelegt hatte, bis zum Jahre 1933. Ihr Abitur machte sie 1935 im Landschulheim der Odenwaldschule. An der Berliner Musikhochschule ­studierte Felicitas zunächst Klavier und Querflöte. 1937 bestand sie die Privatmusiklehrerprüfung für Klavier, bekam jedoch sogleich Unterrichtsverbot Felicitas Kukuck, ca. 1950 ­wegen ihrer teiljüdischen Abstammung. Bei Paul Hindemith studierte sie bis zu dessen Emigration nach Amerika Komposition. 1939 schloss sie ihr Musikstudium mit der künstlerischen Reifeprüfung für Klavier ab. Dass sie nicht von den Nazis ermordet wurde, verdankt sie Dietrich Kukuck, der ­Felicitas 1939 heiratete. Er fand einen vernünftigen Standesbeamten, dem er mutig und entschlossen eine „astreine“ Geburtsurkunde mit dem Namen Kestner vorlegte. 1940 wurde ihr erster Sohn Jan geboren. Felicitas Kukuck hat sich in der Nazizeit, vor allem als Komponistin, nie entmutigen lassen. In Berlin war ihre teiljüdische Herkunft unbekannt. Sie nahm eine Jüdin bei sich auf. Die rettende Bleibe brannte 1945 am 3. Mai, dem letzten Kriegstag in Berlin, nieder. Während ihr Sohn Jan mit der „Aktion Storch“, die die Engländer für die hungernden Kinder organisierten, im Oldenburger Land war, siedelte Felicitas Kukuck 70 71 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 1945 mit einem Flüchtlingstransport nach Hamburg um. 1946 wurden dort ihre Zwillin­ge Margret und Irene geboren. 1948 zog sie mit ihrer Familie nach HamburgBlankenese, wo ihr jüngster Sohn Thomas geboren wurde. Ihr Kompositionslehrer Paul Hindemith hat Felicitas Kukuck nachhaltig beeinflusst. Sein Bekenntnis zur ethischen Verpflichtung des Komponisten ist für sie richtungweisend geworden. Die konkreten Bedingungen einer Aufführung, d. h. den Anlass, das Können der Ausführenden, das Publikum, den Ort bereits bei der Komposition selbst zu berücksichtigen, ist für sie nie eine Einengung, sondern eine musikalische Herausforderung gewesen. Wie für Hindemith bestimmen Techniken wie die übergeordnete Zweistimmigkeit und harmonisches Gefälle sowie Sekundbrücken ihren Komposi­ tionsprozess. In über sechs Jahrzehnten hat Felicitas Kukuck neben Instrumentalwerken eine ­reiches Werk geistlicher und weltlicher Vokalmusik geschaffen und dabei einen sehr eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelt. Von herausragender Bedeutung für die Komponistin war die freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem Lektor des Möseler Verlages und Leiter des Norddeutschen Singkreises, Gottfried Wolters . Aus ihrem umfangreichen Werkverzeichnis seien zwei Oratorien und zwei Kirchenopern erwähnt: Das kommende Reich, Uraufführung 1953 in Hamburg, Der Gottesknecht, Uraufführung 1959 in Hamburg und Berlin, Der Mann Mose, Uraufführung 1986 in Hamburg und 1989 beim Evangelischen Kirchentag in Berlin wiederaufgeführt, und Ecce Homo, Uraufführung 1991 in Hamburg. Mit ihrem eigenen „Kammerchor Blankenese“ hob Felicitas Kukuck beide Stücke in der Blankeneser Kirche aus der Taufe. In ihren neuesten Werken setzt sich Felicitas Kukuck mit existenziellen Fragen unserer Zeit – mit Krieg und Frieden, mit Auschwitz, Hiroshima und Tschernobyl – aus­ einander. Im Gedenken an die atomare Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki wurde am 11. August 1995 im Rahmen einer Weltfriedenswoche in Hamburg ihre Kantate Und es ward: Hiroshima. Eine Collage über Anfang und Ende der Schöpfung in der Turmruine St. Nikolai, die heute ein Mahnmal ist, uraufgeführt. Anlässlich der 800-Jahrfeier der Hamburger Hauptkirche St. Nikolai 1995 entstand die szenische Kantate Wer war Nikolaus von Myra? Wie ein Bischof seine Stadt aus einer Hungersnot rettete und vor Krieg bewahrte. Aus den Schlussworten der Kantate spricht die Überzeugung der Komponistin, für die der Frieden in der Welt und zu Hause ein höchstes Gut ist: „Möge Nikolaus behüten / unsere Freunde in der Fremde / und die Fremden in der Stadt.“ Die Kantate wurde am 3. Dezember 1995 von drei Chören in der Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern uraufgeführt. 1996 entstanden unter dem Titel Und kein Soldat mehr sein zehn Lieder gegen den Krieg, die anläßlich des Anti-Kriegstages am 1. September im Monsun-Theater ­uraufgeführt wurden. Ich bin in Sehnsucht eingehüllt ist der Titel ihrer jüngsten Veröffentlichung (1999) von sieben Klavierliedern auf Gedichte eines jüdischen Mädchens an ihren Freund. Es sind Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger, die achtzehnjährig in einem Konzentrationslager starb. Die Freie und Hansestadt Hamburg ehrte Felicitas Kukuck 1989 für ihre Verdienste um Kunst und Kultur in Hamburg mit der Biermann-Ratjen-Medaille und verlieh ihr 1994 für ihre Verdienste um das Hamburgische Musikleben und als Auszeichnung für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Musik die Johannes Brahms-Medaille . Auch im Alter von 86 Jahren komponierte Felicitas Kukuck noch täglich. Ständig war sie auf der Suche nach guten Texten, denn es waren, wie sie selbst einmal sagte, „die Worte“, die sie „entzünden“. Sie starb am 4. Juni 2001. Margret Johannsen Felicitas Kukuck mit ihrem Lehrer Paul Hindemith in Berlin, 1937 72 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ 73 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Hamburg im Fahrtwind Man macht sich auf dich so leicht keinen Reim, man tanzt an der Elbe auch nicht in den Himmel hinein. Du hältst dich bedeckt und bist doch so frei: Was kostet die Welt? Mit ‚nem Scheck bist du immer dabei. Hamburg im Fahrtwind geht die Puste nie aus. Hamburg im Fahrtwind, hier bin ich zu Haus. Hamburg im Fahrtwind, Hamburg im Fahrtwind, sturmerprobt und wetterfest, Start und Ziel für Ost und West. Du hältst deinen Kurs bei Ebbe und Flut. Egal ob ‚ne Baisse oder Hausse Hamburg, mach’ s gut. Hamburg im Fahrtwind geht die Puste nie aus. Hamburg im Fahrtwind, hier bin ich zu Haus. Hamburg im Fahrtwind, Hamburg im Fahrtwind, Kaufmannsvolk und Schipperslüd, Start und Ziel für Nord und Süd. Hamburg im Fahrtwind geht die Puste nie aus. Hamburg im Fahrtwind, hier bin ich zu Haus. Margret Johannsen Gutachten von Paul Hindemith für seine Schülerin Felicitas Kestner, vom 28. Dezember 1938 In Hamburg heißen alle Möwen Emma 1. In Hamburg hängt der Himmel nicht voll Geigen, doch manchmal ist er sogar am Sonntag blau. Wenn dann vom Elbstrand Drachen steigen, fliegt Emma ihre Sonntagssonderschau. In Hamburg heißen alle Möwen Emma. So heißen Möwenfrau und Möwenmann. In Hamburg ist sowas kein Dilemma: Hier kommt es auf die wahren Werte an. 2. Hier kämmt man sich in himmelgrauen Pfützen und föhnt sich frau das Haar im Gegenwind, und Rentner zieh’n in Schippermützen für Emma aus der Alster Butt und Stint. In Hamburg heißen alle Möwen Emma. So heißen Möwenfrau und Möwenmann. In Hamburg ist sowas kein Dilemma: Hier kommt es auf die wahren Werte an. 3. In Hamburg bläst der Wind zumeist aus Westen, bei Ostwind trifft man sich mit frau am Strand, und was sie übrig lassen von den Festen, pickt sich die Möwe Emma aus dem Sand. In Hamburg heißen alle Möwen Emma. So heißen Möwenfrau und Möwenmann. In Hamburg ist sowas kein Dilemma: Hier kommt es auf die wahren Werte an. Margret Johannsen 74 75 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Fünfzig Jahre In Hamburg sagt man Prost Ich halte still auf meiner Fahrt Und schaud’re, dass ich fünfzig ward. Ich dachte, dass auf Erden Bloß andere fünfzig werden. Die Welt vertost, die Ahnung spricht: So stirbt man einst und glaubt es nicht. 1. An einem blauen Sonntag in Hamburg an der Elbe, da fuhren Hein und Fiete mit ‚m Kutter auf dieselbe. Geladen hatten Hein und Fiete nur vom Besten, der Wind kam aus Südosten und sie fuhren nach Nordwesten. Fiete hielt das Steuer und Hein, der hielt die Buddel. Sie nahmen Kurs auf Stade, doch da gab’s ein Kuddelmuddel: Aus der grauen Suppe kam ein ausgeflaggter Tanker, Fiete hielt drauf zu, und bei Tonne 100 sank er. Alfred Kerr (1867–1948) Sterbelied Lass wenn ich tot bin, Liebste Lass du von Klagen ab. Statt Rosen und Zypressen wächst Gras auf meinem Grab. Ich schlafe still im Zwielichtschein, in schwerer Dämmernis. Und wenn du willst gedenke mein, und wenn du willst vergiss. Ich fühle nicht den Regen, ich seh’ nicht ob es tagt. Ich höre nicht die Nachtigall, die in den Büschen klagt. Vom Traum erweckt mich keiner, die Erdenwelt verblich. Vielleicht gedenk ich deiner, vielleicht vergaß ich dich. Alfred Kerr (1867–1948) In der Frühe Goldstrahlen schießen übers Dach, Die Hähne krähn den Morgen wach; Nun einer hier, nun einer dort, So kräht es nun von Ort zu Ort. Und in der Ferne stirbt der Klang Ich höre nichts, ich horche lang. Ihr wackern Hähne, krähet doch! Sie schlafen immer, immer noch. Theodor Storm (1817–1888) Meeresstrand Ans Haff nun fliegt die Möwe, Und Dämmerung bricht herein; Über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein. Graues Geflügel huschet Neben dem Wasser her; Wie Träume liegen die Inseln Im Nebel auf dem Meer. Ich höre des gärenden Schlammes Geheimnisvollen Ton, Einsames Vogelrufen – So war es immer schon. Noch einmal schauert leise Und schweiget dann der Wind; Vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind. Theodor Storm (1817–1888) Refrain: Junge, roll ein Faß an Bord! Bei 53° N (gesprochen: dreiundfünfzig Nord) und 10° O (gesprochen: zehn Grad Ost) In Hamburg sagt man Prost. 2. Bei Glückstadt war die Buddel leer, die Kehlen waren trocken, da muß ‚ne neue Ladung her, rief Fiete unerschrocken. In ihrem Elend enterten sie einen Italiener und löschten ihren Brand mit Vino Rosso im Container. So schafften sie Brunsbüttel und wollten durch die Schleuse, doch da entdeckte Hein in seiner Koje weiße Mäuse. Ins Deck und in die Planken schlugen sie die spitzen Zähne, da stellte Fiete Schiff und Mannschaft unter Quarantäne. Refrain: Junge, roll ein Faß an Bord! Bei 53° N (gesprochen: dreiundfünfzig Nord) und 10° O (gesprochen: zehn Grad Ost) In Hamburg sagt man Prost. 3. Sie trieben weiter Richtung West, der Wind war eingeschlafen, und landeten zu guter Letzt doch schließlich in Cuxhaven. Da luden sie zwei Ladies an Bord von ihrem Kutter, die hatten eines nur im Sinn, und das war – was wohl? – Butter! Dann fuhr’n sie los nach Helgoland, doch sind nie angekommen, sie haben dort auf hoher See ‚n neuen Kurs genommen. Ja, das ist die Geschichte von zwei Männern aus dem Norden, zuletzt sind sie im Hafen von Shanghai gesichtet worden. Refrain: Junge, roll ein Faß an Bord! Bei 53° N (gesprochen: dreiundfünfzig Nord) und 10° O (gesprochen: zehn Grad Ost) In Hamburg sagt man Prost. Margret Johannsen 76 77 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Tipps zum Lesen Marie-Agnes Dittrich, Musikstädte der Welt: Hamburg. Hamburg 1990. Rüdiger Thomsen-Fürst, Hamburg ­ usikalisch: Spurensuche in der Neum stadt. Hamburg 2000. Birgit Kiupel, Zwischen Krieg, Liebe und Ehe. Studien zur Konstruktion von Geschlecht und Liebe in den Libretti der Hamburger Oper am Gänsemarkt (1678–1738). Freiburg/Breisgau 2010. Hermann Rauhe, Musikstadt Hamburg. Eine klingende Chronik. (Buch mit 7 CDs). 2. Aufl. Hamburg 2010. Birgit Kiupel, Kirsten Reese, Cornelia Geissler, Dienstmädchen auf der ­Opernbühne des 18. Jahrhunderts, MUGI (Musikvermittlung und Genderforschung), Hochschule für Musik und Theater. Hamburg 2005. http://mugi.hfmt-hamburg.de/dienstmaedchen/ Cordula Sprenger, Felicitas Kukuck als Komponistin von Solo- und Chorliedern. Tectum Verlag 2008. MUSICA SACRA HAMBURGENSIS Die elfteilige klingende Denkmäler-Reihe Musica sacra Hamburgensis 1600–1800 möchte ein nachhaltiges Interesse für diese Glanzzeit der Hamburger Kirchenmusik wecken. Anhand exemplarisch ausgewählter, oftmals unbekannter Kompositionen, dargeboten von renommierten Ensembles aus dem Bereich der Alten Musik, sollen die Vielfalt wie auch manche Besonderheiten der in Hamburg entstandenen Kirchenmusik von der frühen Neuzeit an bis zur beginnenden Romantik vermittelt werden. Die Reihe wurde von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius initiiert. Beratende Unterstützung erfuhr sie von Seiten der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, weitere Kooperationspartner waren Deutschlandradio Kultur sowie das Klassiklabel cpo. Tipps zum Hören Musica Sacra Hamburgensis 1600–1800 Wiederentdeckungen Hamburger Kirchen­ musik 1600–1800. Hrsg. von der ZEITStiftung Ebelin und Gerd Bucerius. CPO. Felicitas Kukuck: Von den Anfängen bis zum Spätwerk. Doppel-CD. Gespräche mit Felicitas Kukuck über die Musik. Von ihren musikalischen Anfängen in der Kindheit bis zu ihrem 80. Lebensjahr. Bezug beider CDs über [email protected] Übersicht der erschienenen CDs unter: www.zeit-stiftung.de 78 79 ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Impressum Textnachweise Texte (wenn nicht anders angegeben) und Redaktion: Prof. Dr. Beatrix Borchard, Dr. Bettina Knauer Gestaltung: Veronika Grigkar (grigkar.de) Druck: diedruckerei.de Salon I Zu Gast im Budge Palais. S. auch: Hanns-Werner Heister (Hrsg.), Kunsträume Studium Innenansichten. 50 Jahre Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Hamburg 2000 (www.hfmt-hamburg.de/hochschule/historie/das-budge-palais). Gudrun Föttinger, Ottilie Metzger-Lattermann, MUGI (Musik­ vermittlung und Genderforschung), Hochschule für Musik und Theater (http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel. php?id=metz1878). Rollenverzeichnis Ottilie Metzger-Lattermann erstellt von Raika Simone Maier Peter Kahn, Das Budgehaus am Harvestehuder Weg. In: Charlotte Ueckert-Hilbert (Hrsg.), Fremd in der eigenen Stadt. Erinnerungen jüdischer Emigranten aus Hamburg. Hamburg 1989. Bildnachweise sofern nicht im Text angegeben: Salon I S. 10 Budge-Palais, Fanny-Hensel-Saal (Torsten Kollmer) S. 13 Portraits Emma und Henry Budge (Hochschule für Musik und Theater Hamburg) S. 14 Paul Hindemith und sein Quartett (www.wikipedia.de) S. 15 Ottilie Metzger-Lattermann als Carmen – MUGI (Musikvermittlung und Genderforschung), Hochschule für Musik und Theater (http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel. php?id=metz1878) S. 18 Ottilie Metzger-Lattermann (Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth) S. 19 Stolpersteine (Torsten Kollmer) S. 20 Siegfried Budge (Universitätsarchiv Frankfurt a. M.) S. 21 Ella Budge (Privatarchiv Wolf Kahn) Salon II S. 31 Zeichnung von Birgit Kiupel, Die Opernchefin Madame Kayserin privat S. 37 Georg Philipp Telemann, Kupferstich von Georg Lichtensteger (www.wikipedia.de) S.45 Giebichenstein (www.wikipedia.de) S.46 Furore-Verlag, Von Goethe inspiriert. Lieder von Komponistinnen des 18. und 19. Jahrhunderts Salon III S. 49 Anneliese Rothenberger als Lulu (www.annelieserothenberger.ch) S. 50 Franz Liszt 1858 (Fotografie Franz Hanfstaengl, www.wikipedia.de) S. 55 Archiv des Hamburger Abendblatts S. 58 Placido Domingo, Autogrammkarte (www.cs.princeton.edu/~san/domingo28.jpg) S. 62 Renate Behle/Hamburgische Staatsoper Salon IV S. 65 Hans Albers (dradio.de) S. 68 Illustration zu B. H. Brockes Irdisches Vergnügen in Gott (www.wikipedia.de) S. 69/70 Felicitas Kukuck (www.felicitaskukuck.de) Salon II Birgit Kiupel, Die Hamburger Gänsemarktoper. S. auch Birgit Kiupel, Dienstmädchen auf der Opernbühne. Multimediale Präsentation. MUGI (Musikvermittlung und Genderforschung), Hochschule für Musik und Theater (http://mugi.hfmt-hamburg. de/dienstmaedchen/). Birgit Kiupel, Mattheson gegen Händel: Sie waren Helden (!?). Zuerst erschienen in: Journal, das Magazin der Hamburgischen Staatsoper 2011/12 September, Oktober. Ellen Freyberg, Louise Reichardt. MUGI (Musikvermittlung und Genderforschung), Hochschule für Musik und Theater (http:// mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=reic1779). Salon III Archiv Hamburger Abendblatt Salon IV Margret Johannsen über Felicitas Kukuck (www.felicitaskukuck.de) ˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜˜ Eine Veranstaltungsreihe der Hochschule für Musik und Theater Hamburg unter Leitung von Prof. Dr. Beatrix Borchard in Kooperation mit Dr. Bettina Knauer und Prof. Marc Aisenbrey Fanny-Hensel-Saal der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Harvestehuder Weg 12 (Eingang Milchstraße) 20148 Hamburg www.hfmt-hamburg.de Gefördert durch die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und die Gerhard Trede-Stiftung