Ausgabe 01/13 - Kassenärztliche Vereinigung Berlin

Werbung
KVH • aktuell
Informationsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen
Pharmakotherapie
Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis
Jhrg. 18, Heft 1 – April 2013
Behandlung nach Leitlinien
Wer soll das alles schlucken?
Große Therapiestudien und Leitlinien verschaffen unserer Arbeit in der Praxis eine
evidenzgesicherte Grundlage. Aber leider haben sie fast alle einen Tunnelblick und
behandeln nur eine einzige Krankheit oder ein enges Behandlungssegment. Daher
bleibt ein großes Problem übrig, mit dem vor allem Allgemeinärzte und viele Internisten konfrontiert werden: Ihre Patienten sind meist multimorbide, wenn man
ihnen all das verordnet, was die jeweils fachspezifischen Leitlinien vorsehen, dann
kommt ein unübersichtlicher und zum Teil sogar gefährlicher Medikamentenmix
heraus. Hier ist also Mut zur Lücke nicht nur gefragt, sondern zwingend notwendig.
Das ist leichter gesagt als getan, denn bei der Bereinigung des Medikationsplans
ist vieles zu bedenken und abzuwägen. Zum Glück gibt es jetzt aber eine Leitlinie,
die gerade das Thema Multimedikation aufgreift. Sie gibt fundierte und praxisnahe
Tipps, wie man einen Medikationsplan analysiert, Schwachstellen und Risiken aufSeite 29
spürt, um ihn dann auf das richtige Maß zu bringen.
MAI
M
edikation
erfassen
Sensation bei kardiovaskulärer Sekundärprävention
Gesunde Ernährung bringt auf Dauer
viel mehr als ACE-Hemmer und Sartane
Wir kennen es alle: Einen Patienten zu einer wirklich gesunden Ernährung zu bewegen, ist ziemlich schwer – wenn er nicht gerade überzeugter Vegetarier ist. Und
wir selbst sind da ja auch nicht immer konsequent. Dabei lohnt es sich, insbesondere auch in der kardiovaskulären Sekundärprävention: Eine gesunde Lebensweise
beeinflusst die Mortalität mehr als ACE-Hemmer und Sartane. Man muss dafür
nicht absolut asketisch leben, aber die Grunddevise lautet in jedem Fall: Sparen
Seite 4
beim Fleisch, Klotzen bei Salat und Gemüse.
Koronarpatient nimmt Plättchenhemmer
Was tun, wenn ein Eingriff ansteht?
Patienten, die nach Koronarsyndrom oder Stentimplantation einen Thrombozytenaggregationshemmer einnehmen, stellen ihren Arzt bei einem bevorstehenden
blutigen oder blutungsgefährdeten Eingriff regelmäßig vor die Frage: Weiter
einnehmen, absetzen oder Bridging? Die Antwort hängt von der individuellen
Konstellation ab. Drei Parameter sind zu klassifizieren: Kardiovaskuläres Risiko,
Blutungsrisiko, Dringlichkeit des Eingriffs – daraus ergibt sich rasch eine ganz solide
Seite 7
Entscheidungsgrundlage für den Einzelfall.
Paradigmenwechsel im Arzneimarkt
Position der Ärzte bröckelt immer weiter
Seite 21
A
ngemessenheit
bewerten
I
ntervention
durchführen
KVH • aktuell
Seite 2
Editorial
Nr. 1 / 2013
Das beste Rezept:
Gesundheitsbewusstsein
Sehr geehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen,
frisch gestartet ins neue Jahr, hat man meistens gute Vorsätze – gesunde Ernährung gehört für viele von uns und unseren Patienten dazu. Dass eine gesunde
Ernährung sich aber nicht nur beim nächsten Badeurlaub positiv bemerkbar
macht, sondern auch in der kardiovaskulären Sekundärprävention auf Dauer
mehr bringt als ACE-Hemmer und Sartane, das belegt der Beitrag von Dr. Klaus
Ehrenthal in der vorliegenden „Pharmakotherapie“.
Nicht das einzige interessante Thema der ersten Ausgabe des Jahres 2013:
Frauen profitieren ungemein und genauso wie Männer vom Rauchstopp. Haben
Sie sich schon immer gedacht? Eine neue Studie, die hier vorgestellt wird, erklärt
auch, warum das so ist.
Wie sieht es mit dem Zusammenspiel von Psychopharmaka und Verkehrsunfällen
aus – ist das Bewusstsein bei der Therapie und Verordnung immer gegeben?
Dieser Frage gehen wir nach.
Wie auch im letzten Jahr gibt es darüber hinaus die Rubrik „Sicherer Verordnen“
und Informationen für Patienten.
Dies und Vieles mehr soll Ihnen bei Ihrer Arbeit hilfreich sein – wie immer wünsche
ich Ihnen eine interessante Lektüre.
Ihre
Angelika Prehn
Vorstandsvorsitzende der KV Berlin
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 3
Editorial 2
Wirkung der kardiovaskulären Sekundärprävention
Gesunde Ernährung bringt auf Dauer mehr als ACE-Hemmer und Sartane
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Plättchenhemmer und OP:
Empfehlungen für das periinterventionelle Management
Rauchen tötet Frauen ebenso wie Männer – neue Studie zeigt:
Auch Frauen profitieren enorm vom Rauchstopp
Dr. med. Klaus Ehrenthal
4
7
11
Verkehrsunfälle nach Psychopharmaka: Denken wir immer daran?
Dr. med. Klaus Ehrenthal
14
Sicherer verordnen
Fluorochinolone: schwere Leberschäden bei alten Patienten
16
16
Levofloxacin: Indikation eingeschränkt wegen neuer unerwünschter Wirkungen
16
Akute tubulointerstitielle Nephritis durch Arzneistoffe
16
Ösophagus-Läsionen – medikamenteninduziert
17
Milde Hypertonie: wann medikamentös therapieren?
17
Kodein: Vorsicht bei Tonsillektomien
17
Ungewöhnliche Übertragung von Sexualhormon
18
Kognitionseinschränkende Pharmaka im Alter
18
Kardiovaskuläres Risiko nicht-steroidaler Antiphlogistika (NSAID)
19
H1-Antihistaminika: Gefahr für Säuglinge und Kleinkinder
19
Nur ein schöner Wunsch?
Zum Beitrag „Was hilft, wenn die Metformin-Monotherapie ausgereizt ist?“
Paradigmenwandel im Arzneimittelmarkt
Position der Ärzte bröckelt immer weiter ab
Dr. med. Jürgen Bausch
Inhaltsverzeichnis
20
21
Unabhängige Informationen sind
existenziell wichtig – auch für Patienten
27
Erster Preis für Leitliniengruppe Hessen
28
Leitlinie Multimedikation, Teil 1
Warum eine Leitlinie zur Multimedikation?
Hausärztliche Schlüsselfragen
Einführung
Medikationsprozess – Bestandsaufnahme
Medikationsprozess – Bewertung
29
30
30
31
35
37
Der arriba®-Risiko-Rechner
Eine Patienten-Info, die Ihnen die Prävention erleichtert
47
Impressum
Verlag: XtraDoc Verlag Dr. med. Bernhard Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden
Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte: Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15,
60325 Frankfurt (www.kvhessen.de)
Redaktionsstab: Dr. med. Joachim Fessler (verantw.),
Dr. med. Christian Albrecht, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med.
Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang LangHeinrich, Dr. med. Alexander Liesenfeld,
Dr. med. Uwe Popert, Karl Matthias Roth, Dr. med. Michael Viapiano, Petra Bendrich, Dr. med. Jutta Witzke-Gross
Fax Redaktion: 069 / 79502 501
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt;
Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt
Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge; darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen
der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseignen Signa oder mit Verfassernamen gekennzeichnete Beiträge geben die Auffassung der Verfasser wieder und decken
sich nicht zwangsläufig mit der Auffassung des Herausgebers. Sie dienen der umfassenden Meinungsbildung. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass
solche Namen im Sinne der Warenzeichen- oder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Wie alle anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was
Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Broschüre eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und
Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung der Broschüre entsprechen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und
Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.
KVH • aktuell
Seite 4
Nr. 1 / 2013
Wirkung der kardiovaskulären Sekundärprävention
Gesunde Ernährung bringt auf Dauer
mehr als ACE-Hemmer und Sartane
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Was bewirkt mehr in der Sekundärprävention bei kardiovaskulären Risikofällen
zur Vermeidung von Herzinfarkten, Herzversagen, Schlaganfällen: eine gesunde
Ernährung oder die medikamentöse Therapie mit ACE-Hemmern oder Sartanen?
Diese Frage wurde von Dehghan et al. jetzt in einer prospektiven Kohortenstudie
an 31.546 kardiovaskulären Risikopatienten mit überraschenden Ergebnissen untersucht [1].
Vorgehensweise
Es wurde eine Begleituntersuchung zur Auswirkung des Ernährungsverhaltens zu
den zwei 2012 erschienenen randomisierten klinischen Studien ONTARGET [2]
und TRANSCEND [3] durchgeführt, bei denen insgesamt 31.546 Patienten aus 40
Ländern (22.168 Männer und 9.378 Frauen, Altersdurchschnitt 66,5 Jahre +/-6,2
Jahre), mit manifester kardiovaskulärer Erkrankung untersucht worden waren. Es
sollte dabei der Effekt von Telmisartan, Ramipril sowie dem von Ramipril plus Telmisartan [2] und von Telmisartan bei ACE-unverträglichen Patienten gegen Placebo
[3,4] untersucht werden. Die Studiendauer betrug median 56 (53-60) Monate. Alle
aufgenommenen randomisierten Patienten wurden nach sechs Wochen, nach sechs
Monaten und dann weiter alle sechs Monate nachuntersucht.
Da Unterschiede der Ernährung nicht doppelblind randomisiert durchführbar sind,
bildete die Ernährungsforscherin Mahshid Dehghan vom Population Health Research
Institute am General Hospital in Hamilton, Ontario, Canada aus den Probanden der
beiden Studien 5 Risikogruppen, nachdem sie mittels eines Fragebogens vor Studienbeginn die unterschiedlichen Essgewohnheiten ermittelt hatte. Sie bewertete die
Gruppenzuordnungen nach Ernährungs-Indices: einem modifizierten „Alternative
Healthy Eating Index“ und dem „Diet Risk Score“, ausgehend von den Ergebnissen
der INTERHEART-Studie [5,7] und der INTERSTROKE-Studie [6]: Gruppe 1 entsprach
den gesündesten Ernährungsgewohnheiten, Gruppe 5 den schlechtesten.
Es wurden von ihrer Arbeitsgruppe folgende Befunde zu den Probanden gesammelt: Alter, Bildungsstand, Ethnie, Lebensstil einschliesslich Ernährung, körperliche
Aktivität, Rauchgewohnheiten (nie, derzeit, früher geraucht), täglicher Alkoholgebrauch und dessen Menge, Nüchtern-Lipide und Nüchternglukose. Ausserdem
wurden Medikation, körperliche Aktivität, Blutdruck, BMI, Bauch-und Hüftumfang
sowohl bei Aufnahme in die Studien, als auch nach zwei Jahren und beim Studienende festgehalten.
Es wurden die kardiovaskulären Outcomes der fünf Gruppen nach 56 Monaten
der Nachbeobachtung in der ONTARGET- und der TRANSCEND-Studie genutzt, um
bei den in dieser Zeit beobachteten 5 190 Ereignissen die Effekte der Ernährungsqualität auf die Endpunkte zu ermitteln.
Die Autorin hatte die schon früher in den Studien INTERHEART [5] und
INTERSTROKE [6] nachgewiesenen günstigen kardiovaskulären Wirkungen einer
entsprechenden gesundheitsbewussten Ernährung mit den daraus gewonnenen
Ernährungsempfehlungen [7] jetzt bei den 31 546 Studienpatienten der beiden
Studien ONTARGET [2] und TRANSCEND [3] ermittelt und daraus das beobachtete
kardiovaskuläre Risiko ernährungsabhängig errechnet. Dazu wurde eine sorgfältige statistische Analyse zur Risikoveränderung durch die geprüften Medikamente
(ein Sartan (Telmisartan), ein ACE-Hemmer (Ramipril) und deren Kombination) im
Vergleich zu Risikoveränderungen durch eine gesunde Ernährung mittels Cox-
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 5
Regressions-Analyse vorgenommen. Endpunkte waren kardiovaskulärer Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall. Es konnte dabei auch gezeigt werden, dass die gefundenen
günstigen Effekte einer gesünderen Ernährung unabhängig von der angewandten
Medikation auftraten.
Ergebnisse
Während die Studien mit Telmisartan ebenso wie mit Ramipril zu weitgehend ähnlichen positiven präventiven Ergebnissen im Hinblick auf das kardiovaskuläre Risiko
führten, wurden bei der Kombination beider Substanzen vermehrt Nebenwirkungen
ohne eine Verbesserung des kardiovakulären Risikos gefunden (ONTARGET [2]). Der
primäre zusammengesetzte Endpunkt (Tod durch kardiovaskuläre Ursache, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Hospitalisation wegen Herzversagen) zeigte für Telmisartan
ein relatives Risiko von 1,01 (95%-Konfidenzintervall 0,94-1,09) – im Wesentlichen
ähnlich wie bei Ramipril.
Die TRANSCEND-Studie, bei der Telmisartan bei 5.926 kardiovaskulären Risikopatienten gegen Placebo untersucht wurde, zeigte beim kombinierten Endpunkt
(kardiovaskulärer Tod, Herzinfarkt, Schlaganfall, Hospitaliserung wegen Herzversagen) nach median 56 Monaten im Vergleich zu Placebo keinen deutlichen Effekt:
das relative Risiko betrug 0,92; das 95%-Konfidenzintervall 0,81-1,05; p=O,216,
war also nicht signifikant.
Nach 56 Monaten fand sich dagegen bei Patienten, die sich gesundheitsbewusst ernährt hatten, eine deutliche Verbesserung des kardiovaskulären
Risikos mit einer
Reduktion der kardiovaskulären Mortalität um 35%,
Reduktion neuer Herzattacken um 14%,
Reduktion kongestiven Herzversagens um 28%,
Reduktion von Schlaganfällen um 19%.
Das kardiovaskuläre Risiko, errechnet aus dem Unterschied der gesündesten
und der ungesündesten Ernährung, zeigte eine Hazard Ratio von 0,78 mit einem
95%-Konfidenzinterval von 0,71-0,87.
Der kardiopräventive Effekt durch gesunde Ernährung übertraf den der
Angiotensin-Rezeptorblocker (ACE-Hemmer, Sartane) deutlich. Hierin zeigte
sich ein erheblicher nichtmedikamentöser Zusatzeffekt durch gesunde Ernährung,
der durch eine Kombination mit den beschriebenen medikamentösen Maßnahmen
weiter verstärkt werden kann.
Ernährungsempfehlungen:
Aus den Empfehlungen der INTERHEART-Studie [5] und den weiterführenden Arbeiten der INTERSTROKE-Studie [6] wurden durch die Harvard School of Public Health
Ernährungsvorschläge erarbeitet, die inzwischen weltweite Anerkennung gefunden
haben [8,9], und die hier nur kurz im Detail referiert werden sollen:
Gesunde Öle (z. B. Olivenöl, Rapsöl) zum Kochen, auf Salaten und bei Tisch
verwenden. Butter ist einzuschränken, Transfette sind zu vermeiden!
Je mehr Gemüse und je unterschiedlicheres Gemüse gegessen wird, desto
besser! Kartoffeln und Pommes frites zählen dabei nicht als Gemüse.
Es sollten viele Früchte in allen Farben gegessen werden!
Trinke ausreichend Wasser, Tee oder Kaffee mit wenig oder keinem Zucker!
Begrenze Milch auf täglich ein- oder zweimal, Saft auf ein kleines Glas täglich, vermeide gesüsste Getränke!
Iss Vollkornprodukte (wie Naturreis, Weizenvollkornbrot, Vollkornnudeln)! Begrenze verfeinerte Mehl- und Kornprodukte wie weißen Reis und Weißbrot!
Bevorzuge Fisch, Geflügel, Bohnen und Nüsse! Begrenze rotes Fleisch!
Praxis-Tipp
Kombination
von
ACE-Hemmer
und
AT1-Blocker:
Mehr
Schaden als
Nutzen
Eine kleine
Sensation:
Kardiovaskuläre
Mortalität
sank um 35%!
Und das nur
durch die richtige
Ernährung.
KVH • aktuell
Seite 6
Nr. 1 / 2013
Vermeide Schinken, durchgedrehtes oder anderes verarbeitetes Fleisch!
Bleibe aktiv – das ist der halbe Weg zur Gewichtsnormalisierung!
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Sparen beim Fleisch, klotzen bei Salat und Gemüse
Als gesundheitsfördernde Maßnahme der Sekundärprävention sollte bei kardiovaskulären Risikofällen in erster Linie eine gesundheitsbewusste Ernährung
in Betracht gezogen werden, denn ihr Effekt ist größer als der Nutzen durch
Medikation mit ACE-Hemmern oder Sartanen.
In der kardiovaskulären Sekundärprävention bei Risikofällen ist die Kombination von nichtmedikamentösen Maßnahmen (gesunde Ernährung, Bewegung)
mit den etwas weniger wirksamen Angiotensin-Antagonisten (ACE-Hemmer
– bei Husten Sartane) optimal synergistisch wirksam.
Als sinnvoll hat sich eine Lebensstiländerung mit der Beachtung folgender
Ernährungsregeln herausgestellt (modifiziert nach [8]): sparsam essen: rotes Fleisch, verarbeitetes Fleisch, Butter, weisses Mehl, weisser Reis, weisses
Brot, Nudeln, Kartoffeln, süsse Drinks, Süssigkeiten, Salz, nur moderater
Gebrauch von Alkohol (nicht für jedermann), tägliche Zufuhr von Vitaminen
und Calzium (z.B. mageren Hartkäse), Nüsse, Körner, Bohnen, Tofu, Fisch,
Geflügel, Eier, reichlich Gemüse, Obst, bevorzuge Transfett-freie ungehärtete Fette (z.B. Olivenöl, Rapsöl, Sonnenblumenöl, Erdnussöl), Vollkornprodukte, Vollkornnudeln, Naturreis, Haferflocken, sowie ausreichend ungesüßte Flüssigkeit (Wasser).
Neben Ermunterung zu Sport und Bewegung, zu Gewichtskontrolle und
der Anwendung der vorstehenden Ernährungsempfehlungen entsprechend den inzwischen verbesserten (von kommerziellen Interessen freien)
Vorschlägen „new Healthy Eating Plate“ and „Healthy eating Pyramid“ der
Harvard Medical School [9] bleibt die Umstellung des gesamten Lebensstils
ein oftmals nur mühevoll erreichbares Ziel, das sich dauerhaft als besondere ärztliche Aufgabe stellt.
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1
Dehghan M, Mente A, Teo KK, et al.: Relationship Between Healthy Diet and Risk of Cardiovascular Disease Among Patients on Drug Therapies for Secundary Prevention: A Prospective Cohort Study of 31 546
High-Risk Individuals From 40 Countries. Circulation 2012;126:2705-2712, doi: 10.1161/CIRCULATIONAHA.112.103234
2
Yusuf S, Sleight P, Anderson K, et al. (The ONTARGET Investigators): Telmisartan, Ramipril, Or both in Patients
at High Risk for Vascular Events. N Engl J Med 2008;358(15): 1547-1559
3
Yusuf S, Teo K, Anderson C, et al. (The TRANSCEND-Investigators) : Effects of the angiotensin-receptor blocker
telmisartan on cardiovascular events in high-risk patients intolerant to angiotensin-converting enzyme inhibitors: a randomized controlled trial. Lancet 2008;372(9644):1174-1183, doi: 10.1016/S0140-6736(08)612428
4
Teo K, Sleight P, Anderson C, et al.: Rationale, design, and baseline characteristics of 2 large, simple, randomized trials evaluating telmisartan, ramipril, and their combination in high-risk patients: the Ongoing Telmisartan Alone and in Combination With Ramipril Global Endpoint Trial/Telmisartan Randomized Assessment
Study in ACE Intolerant Subjects With Cardiovascular Disease (ONTARGET/TRANSCEND) trials. Am Heart J
2004;148:52-61
5
Yusuf S, Hawken S, Öunpuu S, et al.: Effect of potentially modifiable risk factors associated with myocardial
infarction in 52 countries (the INTERHEART study): case-control study. Lancet 2004;364:937-952, www.
thelancet.com Vol364, September 11, 2004
6
O’Dollell MJ, Xavier D, Liu Z, et al.: Risk factors for ischaemic and intercerebral haemorrhagic stroke in 22
countries (the INTERSTROKE study): a case-control study. Lancet 2010;376:112-123
7
Sullivan LM, Massaro JM, D’Agostino RB: Presentation of multivariate data for the clinical use: The Framingham
Study risk score funtions. Stat Med 2004;23:1631-1660
8
Eat, Drink, and be Healthy. Free Press/Simon &Schuster Inc. 2005. www.hsph.harvard.edu/nutritionsource
9
Department of Nutrition. Harvard School of Public Health: The new healthy eating plate. / The healthy eating
pyramid. 2005 www.thenutritionsource.org
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Plättchenhemmer und OP:
Empfehlungen für das
periinterventionelle Management
Vorbemerkungen
Patienten, die wegen kardiovaskulärer Ereignisse oder Eingriffe (z. B. nach Stent­
implantation) mit Plättchenhemmern wie ASS und/oder Clopidogrel behandelt
werden müssen, haben bei blutigen oder blutungsgefährdeten Interventionen
das Risiko einer verlängerten Blutungszeit. Es stellt sich demnach die Frage nach
evidenzbasierten Daten für das periinterventionelle Arzneimittelmanagement. Gibt
es überhaupt eine klare Datengrundlage, ob und wann ein antithrombotischer
Wirkstoff vor einem operativen Eingriff abgesetzt werden muss? Bei der näheren
Auseinandersetzung mit diesen Fragen stellt sich heraus, dass es eine eindeutige
Antwort darauf gar nicht geben kann, sondern dass die Entscheidung für das Absetzen einer antithrombotischen Therapie und für dessen geeigneten Zeitpunkt stets
aus einem individuellen Abwägen der folgenden drei Fragen resultiert [2]:
1. Wie hoch ist das kardiovaskuläre Risiko des Patienten? Das heißt: Ist eine kontinuierliche Thrombozytenaggregationshemmung dringend erforderlich oder
ist sie verzichtbar?
2. Wie hoch ist das Blutungsrisiko bei der geplanten Operation? Und in diesem
Zusammenhang auch: Welche Blutungsneigung im OP-Situs ist der jeweilige
Operateur bereit zu tolerieren?
3. Wie hoch ist die Dringlichkeit des geplanten Eingriffs?
Seite 7
Der
Gastbeitrag
Nachdruck mit
freundlicher
Genehmigung
der KV BadenWürttemberg
Aus: KVBW
Verordnungsforum
23; Juli 2012
Kardiovaskuläres Risiko
Unter kardiovaskulärem Risiko ist das Eintreten möglicher unerwünschter Ereignisse
(Myokardinfarkt/ReInfarkt, Notwendigkeit einer perkutanen koronaren Intervention
wie PTCA/Re-PTCA/Stentimplantation, Stentthrombose, Tod) zu verstehen. Je höher
das kardiovaskuläre Risiko, umso dringender erforderlich ist eine kontinuierliche
Plättchenhemmung.
Niedriges kardiovaskuläres Risiko:
– Patienten ohne bisheriges kardiales oder neurologisches Ereignis,
– Patienten, die nach einem kardialen Ereignis mindestens ein Jahr klinisch
stabil waren.
Hier können Thrombozytenaggregationshemmer mit vertretbarem Risiko pausiert werden.
Fallbeispiel: Bei einem 60-jährigen Patienten mit stabiler KHK ohne bisherige kardiale Ereignisse ist
die Operation einer Spinalkanalstenose geplant. Es stellt sich nun die Frage, ob und wann die plättchenhemmende Therapie mit ASS 100 mg/d abgesetzt werden soll und welche antithrombotische
Prophylaxe perioperativ indiziert ist.
Antwort: Da das Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen im vorliegenden Fall als gering eingeschätzt wird, kann ASS perioperativ pausiert werden. Außerdem spricht das hohe Blutungsrisiko bei
Operationen im Bereich von Wirbelsäule und Spinalkanal gegen eine ASS-Therapie. Der Hausarzt
entscheidet sich daher, ASS sieben Tage vor der Operation zu stoppen. Postoperativ erhält der Patient prophylaktisch 5.000 IE Dalteparin bis zur vollständigen Mobilisierung. Die Therapie mit ASS
wird am zweiten postoperativen Tag wieder gestartet [1].
KVH • aktuell
Seite 8
Nr. 1 / 2013
Mittleres kardiovaskuläres Risiko:
– Patienten mindestens 6 Wochen nach Myokardinfarkt (MI), perkutaner
koronarer Intervention (PCI) oder Schlaganfall,
– Patienten mindestens 3 Monate nach Implantation eines unbeschichteten
Stents (Bare Metal Stent, BMS),
– Patienten mindestens 12 Monate nach Implantation eines Medikamentenbeschichteten Stents (Drug Eluting Stent, DES).
Elektive Eingriffe sollten auf einen möglichst späten Zeitpunkt nach einem
kardiovaskulären Ereignis verschoben werden. Dringliche Eingriffe sollten
unbedingt unter ASS-Schutz durchgeführt werden, da eine Stentthrombose
oder ein ReInfarkt klinisch bedeutsamer sind als eine Blutung im Operationsgebiet. Nur bei Operationen mit sehr hohem Blutungsrisiko sollte die Operation ohne Plättchenhemmung durchgeführt werden.
Hohes kardiovaskuläres Risiko:
– Patienten bis zu 6 Wochen nach MI, PCI oder Schlaganfall,
– Patienten bis zu 3 Monaten nach BMS,
– Patienten bis zu 12 Monaten nach DES.
Elektive Eingriffe sollten auf einen möglichst späten Zeitpunkt nach einem
kardiovaskulären Ereignis verschoben werden. Dringliche, nicht verschiebbare
Eingriffe können unter dualer Plättchenhemmung oder unter reversibler GPIIb/IIIa-Blockade (Tirofiban = Aggrastat®, Eptifibatid = Integrilin®) durchgeführt
werden; nach Absetzen dieser Substanzen normalisiert sich die Thrombozytenfunktion innerhalb von 4 bis 8 Stunden [3]. Nur bei Operationen mit sehr
hohem Blutungsrisiko sollte die Operation ohne Plättchenhemmung durchgeführt werden.
Nach perioperativer ASS- und/oder Clopidogrel-Pause ist diese Therapie je nach
Wundverhältnissen zum frühestmöglichen Zeitpunkt wieder aufzunehmen [2].
Blutungsrisiko
Je höher das Blutungsrisiko, umso eher sollte auf eine Plättchenhemmung verzichtet werden. Es gibt keine allgemeine Übereinkunft darüber, welche Eingriffe als
besonders blutungsriskant anzusehen sind. In vielen Publikationen wird folgende
Einteilung vorgenommen [2]:
Geringes Blutungsrisiko (sehr seltener Transfusionsbedarf):
– kleinere orthopädische, HNO-, dermatologische, plastische, Hand-, Fuß-,
Gefäß- und allgemeinchirurgische Operationen,
– Operation der vorderen Augenkammer (Katarakt),
– Gastro- und Koloskopien, Endoskopien mit Biopsie,
– zahnchirurgische Eingriffe.
Diese Eingriffe können relativ sicher unter Plättchenhemmung erfolgen.
Mittleres Blutungsrisiko (gelegentlicher bis regelmäßiger Transfusionsbedarf):
– viszeralchirurgische (Schilddrüse, Leber, Pankreas), HNO- und herzchirurgische Eingriffe,
– rekonstruktive, endoskopisch-urologische und große orthopädische Eingriffe,
– endoskopische Polypektomie.
Eine duale Plättchenhemmung ist sehr riskant, deshalb sollten die Eingriffe
verschoben werden, bis sie nicht mehr erforderlich ist.
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 9
Hohes Blutungsrisiko:
– chirurgische Eingriffe an der Prostata,
– Eingriffe der intrakraniellen Neurochirurgie und der Spinalkanal-Chirurgie,
– Operationen an den Sinnesorganen, besonders der hinteren Augenkammer (Glaukom).
Wegen der hohen Gefahr bleibender Schäden durch eine Blutung sollten
diese Eingriffe generell ohne Plättchenhemmer durchgeführt werden. Eine
24-Stunden-Katheterbereitschaft zur sofortigen Intervention bei einem postoperativen akuten Koronarsyndrom ist unabdinG-BAr.
Weitere Faktoren, die das Blutungsrisiko beeinflussen können, sind: Operationsstatistik, Geschicklichkeit und Erfahrung des Operateurs sowie dessen Bereitschaft,
Blutungen im Operationsfeld bis zu einem gewissen Maß zu tolerieren; auch die
Übersichtlichkeit und Komprimierbarkeit im Blutungsbereich spielen eine Rolle.
Darüber hinaus müssen blutungsfördernde Begleitmedikamente (z. B. SSRI, Ginkgo,
Ingwer-Präparate) beachtet werden [2].
Dringlichkeit
Notfalleingriffe: Bei vitaler Indikation muss der Eingriff unter laufender
Plättchenhemmung stattfinden. Nach dem Absetzen dauert es circa fünf
Tage, bis sich der Thrombozytenpool zur Hälfte mit funktionstüchtigen
Plättchen erneuert hat. Während des Eingriffs jedoch muss bei Blutungskomplikationen auf Thrombozytenkonzentrate zurückgegriffen
werden, da es keine Möglichkeit zur Antagonisierung der Thrombozytenaggregationshemmer gibt.
Dringliche Eingriffe: Hier ist der Diskussionsbedarf naturgemäß am
größten. Meist handelt es sich um unvorhergesehene Eingriffe wie Resektion neu entdeckter Tumoren, operative Versorgung von Frakturen,
Polypektomien, größere Zahneingriffe. Diese Operationen sollten so
spät wie möglich nach dem kardiovaskulären Ereignis und zumindest
unter ASS-Schutz erfolgen. Bei hohem kardiovaskulären Risiko kann
eine überbrückende Behandlung mit reversiblen GP-IIb/IIIa-Blockern (s.
o.) versucht werden.
Praxis-Tipp
Erfahrungsgemäß werden
Aggregationshemmer vor
Eingriffen zu oft abgesetzt.
Anhand der
drei Parameter
– kardiovaskuläres Risiko
– Blutungsrisiko
– Dringlichkeit der OP
lässt sich die Entscheidung auf eine rationale
Basis stellen, ohne dass
Patienten einem unnötig
hohen Risiko ausgesetzt
werden.
Elektive Eingriffe: Diese sind bei Patienten mit hohem kardiovaskulären Risiko innerhalb kritischer Zeitintervalle nach Stentimplantation oder Myokardinfarkt unbedingt zu vermeiden und müssen auf einen späteren Zeitpunkt
verschoben werden. Bei niedrigem kardiovaskulärem Risiko kann unter Aussetzen
der plättchenhemmenden Medikation operiert werden [2].
Zusammenfassung
Eine thrombozytenaggregationshemmende Therapie sollte nur bei Patienten mit
niedrigem kardiovaskulären Risiko oder bei Patienten mit dringlichem Eingriff und
sehr hohem Blutungsrisiko unterbrochen werden. Wenn eine Therapiepause notwendig ist, sollte je nach individueller Abwägung ASS ca. eine Woche (5-10 Tage)
beziehungsweise Clopidogrel (5-)7 Tage vor der geplanten Intervention abgesetzt
werden. Nach den neuen Leitlinien des American College of Chest Physicians (ACCP)
von 2012 ist ein Bridging mit Heparin (unfraktioniert oder niedermolekular)
bei Pausieren der plättchenhemmenden Therapie nicht routinemäßig notwendig [4]. Insbesondere bei Patienten mit beschichteten Stents weisen vorläufige Studiendaten darauf hin, dass Heparine wegen mangelnder Effektivität
vermutlich keinen adäquaten Ersatz für Thrombozytenaggregationshemmer
darstellen und dass insbesondere bei hohem kardiovaskulären Risiko die überbrückende Gabe eines GP-IIb/IIIa-Blockers sinnvoll sein kann [2, 5, 6].
KVH • aktuell
Seite 10
Nr. 1 / 2013
Bedeutung
Fazit
für
unsere
Praxis
Die Entscheidung für das vorübergehende Absetzen einer plättchenhemmenden
Medikation mit ASS und/oder Clopidogrel und für dessen geeigneten Zeitpunkt
basiert immer auf einer individuellen Abwägung der drei Kriterien: kardiovaskuläres
Risiko des Patienten, Blutungsrisiko im Rahmen des Eingriffs und Dringlichkeit des
Eingriffs. Bei nicht dringlichen Eingriffen lässt sich das kardiovaskuläre Risiko gegebenenfalls durch Zuwarten vermindern, indem der Eingriff nicht mehr im kritischen
Zeitintervall (<6 Wochen nach MI, PCI, Schlaganfall, <3 Monate nach BMS, <12
Monate nach DES) stattfindet.
Literatur:
1
Nagler M et al. Periinterventionelles Management der Antikoagulation und Antiaggregation. Schweiz Med
Forum 2011; 11: 407-12
2
Anon. Perioperatives Arzneimittelmanagement: Hemmung der Thrombozytenfunktion bei kardiovaskulären
Krankheiten. Arzneimittelbrief 2010; 44(3): 17-9
3www.fachinfo.de
4
Douketis J et al., American College of Chest Physicians. Perioperative management of antithrombotic therapy:
Anti-thrombotic therapy and prevention of thrombosis, 9th ed.: American College of Chest Physicians evidencebased clinical practice guidelines. Chest 2012; 141(2 Suppl): e326S-50S
5
Chou S et al. Bridging therapy in the perioperative management of patients with drug-eluting stents. Rev
Cardiovasc Med 2009; 10: 209-18
6
Anon. Zum perioperativen Management bei KHK-Patienten unter ASS. arznei-telegramm 2012; 43(2): 19-20
Dringlicher Eingriff
Patient mit dualer
Plättchenhemmung
Hohes CV-Risiko:
< 6 Wochen nach MI, PCI,
Schlaganfall;
< 3 Monate nach BMS;
< 12 Monate nach DES
Elektiver Eingriff
Patient mit einfacher
Plättchenhemmung (ASS)
Mittleres CV-Risiko:
> 6 Wochen nach MI, PCI,
Schlaganfall;
> 3 Monate nach BMS;
> 12 Monate nach DES
Operation verschieben auf
einen möglichst späten Zeitpunkt nach einem CV-Ereignis
Operation unter einfacher
Plättchenhemmung
Operation
unbedingt
verschieben
Operation
nicht
verschiebbar
Operation unter dualer Plättchenhemmung oder reversibler
GP-IIb/IIIa-Blockade
Operation mit sehr hohem
Blutungsrisiko
Operation ohne Plättchenhemmung. Invasive Kardiologie im
Stand-by
Abbildung: Entscheidungsalgorithmus für Patienten mit hohem und mittlerem kardiovaskulären Risiko [2].
Abbildung:
(Abkürzungen: BMS: Bare Metal
CV: kardiovaskulär;
DES: Drug
Eluting Stent, MI:Risiko
Myokardinfarkt;
PCI: perkutane
Entscheidungsalgorithmus
fürStent;
Patienten
mit hohem
d mittlerem
un
kardiovaskulären
[2].
koronare Intervention).
(Abkürzungen:
BMS: Bare Metal Stent; CV: kardiovask
ulär; DES: Drug Eluting Stent, MI: Myokardinfarkt;
PCI: perkutane
koronare Intervention).
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 11
Rauchen tötet Frauen ebenso wie Männer – neue Studie zeigt:
Auch Frauen profitieren
enorm vom Rauchstopp
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Rauchen verkürzt das Leben, dies ist in der Tat bereits
bekannt. Aktuelle Zahlen aus England belegten jetzt
in einer großen prospektiven Studie die deutliche
Übersterblichkeit von Raucherinnen [1]. Dabei konnte vor allem gezeigt werden, dass auch in späteren
Lebensjahren ein Rauchstopp noch einen erheblichen
Nutzen für das Überleben bringt. Dies Erkenntnis
stammt aus der großen „Million-Women-Studie“, die
nicht nur Befunde zum Brustkrebsbefall in England
ermittelt, sondern auch die Zusammenhänge zwischen Rauchgewohnheiten und Lebenserwartung der
Frauen untersucht hatte. Was dabei herauskam, gilt
im übrigen auch analog für Männer, wie z.B. durch
Zahlen des US-amerikanischen CDC 2008 belegt
wurde [2].
Die erste Generation, die im Erwachsenenalter nennenswerte Mengen von Zigaretten geraucht hatte,
waren in westlichen Ländern wie z.B. den USA und
Grossbritannien die um 1940 geborenen Frauen. Erst
im 21. Jahrhundert lässt sich nun der ganze Effekt
sowohl des langdauernden Rauchens als auch einer
dauerhaften Beendigung des Rauchens auf die Sterblichkeit von Frauen in Großbritannien nachweisen.
Pirie und Mitarbeiter vom Medizinischen Beirat des
Krebsforschungszentrum in Großbritannien (Cancer
Epidemiology Unit, University of Oxford, UK) untersuchten zwischen 1996 und 2001 die Lebensdaten von insgesamt 1.311.943
Frauen in Großbritannien im Rahmen der „Million Women Study“ des Nationalen
Brustscreening-Programms (NHSBSP) [1]. Die Probandinnen waren dabei inzwischen
50 bis 69 Jahre alt. Bei Aufnahme wurden Befragungen zum Lebensstil, zur medizinischen Vorgeschichte und zu soziodemographischen Faktoren vorgenommen, die
Frauen hatten sich damit einverstanden erklärt. Folgende besondere Fragen wurden
bei Aufnahme in die Untersuchung gestellt: Raucherinnen? (20%), Nichtraucherinnen? (52%), Exraucherinnen? (28%), Wieviele Zigaretten wurden durchschnittlich
geraucht? Dies wurde nach 3 und 8 Jahren wiederholt.
Mittels der individuellen Krankenversicherungsnummern konnte das Register des
National Health System (NHS) mit den dort vermerkten Sterbedaten und TodesDiagnosen, verschlüsselt nach ICD-10, hinzugezogen werden. Alle Frauen der
Untersuchung, auch solche, die den Nachuntersuchungen ferngeblieben waren,
wurden so bis zum 01.01.2011 nachverfolgt – durchschnittlich 12 Lebensjahre.
Exraucherinnen, die sowohl beim Studienbeginn als auch bei der 3-Jahres-Nachuntersuchung und solche, die vor dem Alter von 55 Jahren das Rauchen eingestellt
hatten, wurden kategorisiert nach dem Alter, in dem sie das Rauchen eingestellt
hatten.
Mittels Cox-Regressions-Analyse wurde das relative Sterberisiko im Vergleich von
Raucherinnen zu Exraucherinnen und zu Nichtraucherinnen sorgfältig ermittelt.
Foto: DAK/Wigger
Vorgehensweise
Auch Mädchen und
Frauen rauchen seit
einiger Zeit immer
mehr – und bezahlen
ihre Sucht ebenso
wie rauchende
Männer mit Übersterblichkeit. Allerdings lohnt sich auch
bei Frauen selbst in
späteren Jahren noch
ein Rauchstopp: Er
verlängert das Leben
deutlich gegenüber
denen, die weiterrauchen.
KVH • aktuell
Seite 12
Nr. 1 / 2013
Ergebnisse:
Nach 3 Jahren hatten 23% der Raucherinnen das Rauchen eingestellt, nach 8 Jahren
waren es 44%.
Während der 12-jährigen Nachkontrolle bis 2011 fand sich bei den Raucherinnen,
(von denen einige kurz vorher aufgehört hatten zu rauchen, wodurch sich das Raucherinnenrisiko etwas reduzierte) eine fast 3-fach höhere Mortalität gegenüber den
Nichtraucherinnen (Mortality rate ratio 2,76; 95%-Konfidenzinterval 2,71-2,81).
Bei wenig rauchenden Frauen (unter 10 Zigaretten täglich) fand sich eine nur
2-fach höhere Mortalität gegenüber Nichtraucherinnen. Die tägliche Zigarettenzahl
beeinflusste das relative Sterberisiko also deutlich:
Relatives Risiko (RR) bei weniger als 10 täglichen Zigaretten 2,0
bei 15 täglichen Zigaretten RR: 2,8
bei 25 täglichen Zigaretten RR 3,7
Je jünger mit dem Rauchen begonnen wurde, desto früher starben diese Raucherinnen später.
Risiko bei Rauchbeginn mit 15 Jahren RR: 3,2
bei Beginn mit 18 Jahren RR: 2,9
bei Beginn mit 28 Jahren RR: 2,4
Bei den 30 hauptsächlichen Todesursachen der Raucherinnen lagen in der 12-JahresNachuntersuchung bis 2011 naturgemäß die folgenden bekannten Raucherfolgen
an der Spitze [1,2]:
Chronische Lungenerkrankungen
RR 35,3 (95%-CI 29,2-42,5)
Lungenkrebs
RR 21,4 (95%-CI 19,7-23,2)
Aortenaneurysma:
RR 6,32 (95%-CI 5,17-7,71)
Intestinale Ischämie
RR 5,58 (95%-CI 4,27-7,29)
Krebs (Mund, Pharynx, Larynx, RR 4,83 (95%-CI 3,72-6,29)
Nase, Nasennebenhöhlen)
KHK
RR 4,47 (95%-CI 4,19-4,77)
zerebrovaskuläre Erkrankungen
RR 3,06 (95%-CI 2,83-3,31)
Von den 30 häufigsten bis zum 01.01.2011 gefundenen Todesarten in der MillionWomen-Study war für 23 Todesarten die 12-Jahres-Sterblichkeit bei Raucherinnen
signifikant höher als bei Nichtraucherinnen. Unter den Sterbedaten fanden sich
vermehrt Krebs- und Lungenerkrankungen sowie angiosklerotische Krankheitsbilder. Ausnahmen bei den vermehrten Krebserkrankungen bildeten lediglich etwas
seltenere Endometriumkarzinome.
Die Autoren formulierten ihre an 1,3 Millionen Frauen gefundenen Daten so: Raucherinnen starben früher und bei 2/3 aller Todesfälle starben die Frauen
wegen des langdauernden Rauchens mit 50, 60 oder 70 Jahren, sie verloren
mindestens 10 Lebensjahre.
Das Besondere an diesen ausführlich berechneten statistischen Ergebnissen ist
jedoch, dass auch in späteren Lebensjahren ein dauerhafter Rauchstopp noch
einen erheblichen Benefit beim Überleben brachte:
Obgleich das Raucherrisiko bei unter 40-Jährigen, die mit dem Rauchen aufhörten,
immer noch substantiell war, fanden die Untersucher das Risiko durch Weiterrauchen trotzdem noch 10-mal größer!
Ein endgültiger Rauchstopp bei unter 40-Jährigen, denen es sonst einigermaßen
gut ging, verhinderte mehr als 90% der Exzessmortalität, die durch Wei-
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 13
terrauchen entstanden wäre. Rauchstopp vor dem 30. Lebensjahr vermied sogar
mehr als 97% der Exzessmortalität!
Auch später Rauchstopp bringt noch Lebenszeit
Rauchen verkürzt deutlich die Lebenserwartung (in der vorliegenden Untersuchung bei 1,3 Mill. Frauen erneut klar belegt [1]), das ist allgemein bekannt.
2/3 der gestorbenen Raucherinnen hatten durch ihr Rauchen mindestens
zehn Lebensjahre eingebüsst.
Jedoch bringt auch nach langjährigem Rauchen ein späterer Rauchstopp noch
eine deutliche Verbesserung der Lebenserwartung.
Rauchstopp bei unter 40-Jährigen vermeidet mehr als 90% der Exzesssterblichkeit, die durch Weiterrauchen entstehen würde, Rauchstopp bei unter
30-Jährigen verhindert sogar 97% der Exzesssterblichkeit.
Ärztliche Fürsorge durch unermüdlichen hausärztlichen Beistand und ermunternde und konsequente Beratung zur Überwindung der Nikotinsucht ist nach
Kenntnis dieser Zahlen dringend erforderlich. Die Aufgabe lohnt sich!
Wie bei jeder durch ärztliche Beratung angestrebter Verhaltensänderung –
hier besonders zur Nikotinsuchtbekämpfung – ist für den oftmals damit überforderten Hausarzt mit besonderen persönlichen Widerständen des Patienten
zu rechnen.
Hierzu sind für den Arzt und auch für den Patienten zahlreiche gut gemachte
Informationsschriften erhältlich: vom Deutschen Krebsforschungszentrum
Heidelberg (DKFZ, Leiterin Dr. Martina Pöschke-Langer) [3], ebenso von der
Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung des Bundesgesundheitsministeriums (BZGA) [4].
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Und die
Männer?
Daten des
US-amerikanischen
Centers of
Disease
Control CDC)
zeigen für
Männer
analoge Befunde [2].
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1
Pirie K, Peto R, Reeves GK, et al. (for the Million Women Study Collaboration): The 21st century hazards of
smoking and benefits of stopping: a prospective study of one million women in the UK. Lancet 2013, January12;381:133-141 – www.thelancet.com /Vol 381 January 12,2013
2 Centers for Disease Control and Prevention (CDC) November 2008: Smoking-attributable mortality, years
of potential life lost, and productivity losses – United States, 2000-2004. MMWR Morb. Mortal. Wkly. Rep.
57(45):1226-1228. PMID 19008791 www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19008791
3
Deutsches Krebsforschungszentrum Heidelberg (DKFZ): www.dkfz.de
4
Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZGA): www.bzga.de
5
Deutscher Hausärzteverband: „HausMed Coach Rauchfrei“:
www.hausmed.de/hausmedcoach/rauchfrei
Vom Deutschen Hausärzteverband gibt es ebenfalls ein Online-Programm von Fachleuten
(Ärzte und Psychologen) zum Erlernen einer Nikotinabstinenz in 12 Wochen: „HausMed Coach
Rauchfrei“, dessen Kosten sogar teilweise von den Krankenkassen übernommen werden. Es gibt das
in 2 Versionen: zum Selberlernen (für 49 €) oder zum Erwerb der Nikotinabstinenz mit Unterstützung der jeweiligen Hausarztpraxis (für 79 €) ([5]: www.hausmed.de/hausmedcoach/rauchfrei).
Seite 14
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
Verkehrsunfälle nach Psychopharmaka:
Denken wir immer daran?
Dr. med. Klaus Ehrenthal
Unfall mit schlimmen
Folgen – dahinter
können auch Psychopharmaka stecken.
Immer wieder wird in der medizinischen Literatur auf die Verkehrsgefährdung
durch zentral wirksame Medikamente hingewiesen. Dies ist eigentlich schon lange
bekannt – besonders bei dem Gebrauch von Benzodiazepinen mit ihren mitunter
langen Halbwertzeiten (z.B. bei Diazepam: HWZ-Dauer zwei Tage, dessen aktive
Metabolitenkaskade: HWZ-Dauer oftmals weitere vier Tage). Aber wird dieses Wissen um Verkehrsgefährdungen durch Medikamente vom Arzt bei der Rezeptierung
und vom Patienten beim Gebrauch der Medikamente auch ausreichend umgesetzt?
Hierzu gibt es eine neue Studie [1].
Bereits 2004 hatte Hopf in KVH aktuell Pharmakotherapie [2] ausführlich über die
deutschen Warnhinweise der Hersteller von sehr unterschiedlicher Qualität in den
damaligen Fachinformationen der 100 meistverordneten Arzneistoffe berichtet mit
deutlichen Hinweisen auf die Fürsorgepflicht des Arztes und die Eigenverantwortlichkeit des Patienten.
Wir hatten in KVH aktuell Pharmakotherapie bereits 2011 dazu von einer grossen
Studie aus Frankreich berichtet [3,4]. Dort und in einigen anderen EU-Ländern findet
sich auf den Medikamentenpackungen der von der European Medicine Agency
(EMA) vorgenommene und empfohlene Hinweis zur Verkehrsgefährdung in 4 Leveln
mit folgenden Aufschriften:
Level 0: keine Gefährdung
Level 1: Bitte Vorsicht! Lesen Sie sorgfältig den Beipackzettel, bevor Sie fahren
Level 2: Bitte seien Sie vorsichtig! Holen Sie Rat bei Ihrem Arzt oder Apotheker
ein, bevor Sie ein Auto steuern
Level 3: Gefahr: Kein Fahrzeug führen! Lassen Sie sich von einem Arzt beraten,
bevor Sie wieder ein Auto fahren
Auf dem 14.World Congress on Pain in Mailand stellte der Bioethiker und Psychiater M.Sulliven am 29.08.2012 das erhöhte Risisko durch die ebenfalls ZNS-wirksame
Stoffklasse der Opioide dar. Er warb für eine sehr differenzierte Betrachtung der
Nebenwirkungen, der Gefahren von Toleranz, Abhängigkeit und Überdosierungen.
In den USA übertreffen die Todesfälle durch Opiatüberdosierungen inzwischen die
der Verkehrsunfallstatistik [5].
Studie
Foto: Technikerkrankenkasse
Zur Verkehrsgefährdung durch
Arzneimittel sei auf die neueste
Fall-Kontroll-Studie von HuiJu Tsai vom National Health
Research Institut in Zhunan,
Taiwan, verwiesen, die auch
zu weniger riskanten Psychopharmaka aktuelle Ergebnisse
präsentierte [1].
Es wurden die Arzneiverordnungen von 5.183 medizinisch
wegen eines Verkehrsunfalls
versorgten Erwachsenen verglichen mit denen der sechsfachen
Zahl nicht Verunglückter.
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 15
Ergebnisse
Ein erhöhtes Unfallrisiko fand sich bei mehrfachen Verordnungen, besonders für
die „klassischen“ Benzodiazepine, was allgemein bekannt ist. Das betraf aber auch
Antidepressiva wie Trizyklika und SSRI. Die neuerdings auch mit Abhängigkeitssyndromen in Verbindung gebrachten „Z-Substanzen“ (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon)
zeigten ebenfalls eine Erhöhung des Unfallrisikos.
Es fand sich eine Dosis-Wirkungsbeziehung: höhere Dosierungen erhöhten auch
das Risiko für (schwere) Unfälle, unabhängig davon, ob die Medikamente für einen
Monat, eine Woche oder nur für einen Tag rezeptiert worden waren.
Als Ausnahme fand sich in der Studie von Hui-Ju Tsai in Taiwan keine Unfallrisikoerhöhung bei Antipsychotika, auch nicht bei erhöhter Dosierung. In Taiwan wird
dort in der Regel in den Fachinformationen nach der Anwendung der Antipsychotika
von der Teilnahme am Strassenverkehr abgeraten.
Aus den Ergebnissen, die nur aus Gruppenvergleichen gewonnen worden waren,
lassen sich allerdings keine exakten Risiken einzelner Substanzen herauslesen. Somit
konnten auch keine besonderen Risiken einzelner Substanzen spezifiziert werden.
Risiko wird anscheinend immer noch nicht ausreichend beachtet
Trotz der verbreiteten Kenntnisse zu den Gefährdungen durch Psychopharmaka muss weiterhin mit vermehrten Unfallfolgen im Straßenverkehr durch
Fehlgebrauch und Fehldosierung gerechnet werden.
Die Warnhinweise für den Straßenverkehr werden von verschreibenden
Ärzten und auch von den Anwendern offensichtlich immer noch nicht ausreichend ernst genommen.
Es besteht kein Zweifel daran, dass außerdem Interaktionen verschiedener
Medikamente und besonders mit Alkohol das Risiko erhöhen können.
Bekannte Risiken durch Bezodiazepine müssen genauso beachtet werden,
wie die vielfach als weniger riskant angesehenen „Z-Substanzen“ Zolpidem,
Zopiclon und Zaleplon.
Zu den das ZNS beeinflussenden Substanzen mit erhöhtem Unfallrisiko gehören auch Antidepressiva vom Trizyklika-Typ und ebenfalls die SSRI.
Zu den das ZNS beeinflussenden Medikamenten gehören auch die Opioide,
deren Risiko von Unfällen und Überdosierungen ebenfalls erheblich ist.
Möglicherweise wird das Unfallrisiko bei Antipsychotika etwas überschätzt.
Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1
Hui-Ju Tsai: Psychotropic Drugs and Risk of Motor Vehicle Accidents: a Population-based Case-Control Study. Br
J Clin Pharmacol 2012; doi: 10.1111/j.1365-2125.2012.04410.x
2
Hopf G: Sicherheitsrisiko von Arzneimitteln im Strassenverkehr. KVH aktuell Pharmakotherapie Dezember 2004;
39:17-24
3
Ehrenthal K: Verkehrsunfälle durch Medikamente. KVH aktuell Pharmakotherapie März 2011;16(1):14-16
4
Orriols L et al.: Prescription Medicines and the Risk of Road Traffic Crashes: A French Registry-Based Study. PloS
Medicine 2010;7(11):e1000366 (S.1-10)
5
Sullivan MD: Opioid Therapy for Chronic Pain: Promise and Peril, Vortrag auf dem 14th World Congress on Pain,
Mailand am 29.08.12. Referiert von Thomas Bisswanger-Heim, am 11.09.12 in www.springermedizin.de
Überraschend:
Antipsychotika
machten gar nicht
so viele Probleme.
Bedeutung
für
unsere
Praxis
Seite 16
Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
Fluorochinolone: schwere Leberschäden
bei alten Patienten
In einer kanadischen Fallkontrollstudie mit über 66-jährigen Patienten wurde das
bekannte lebertoxische Potential von Moxifloxacin (Avalox®, bereits 2008 von der
EMA als Reservemedikament eingestuft) bestätigt. Innerhalb der ersten 30 Tage
nach einer Verordnung war das Risiko eines schweren Leberversagens doppelt so
hoch wie nach einer Verordnung von Clarithromycin (Klacid®, Generika). Auch Levofloxacin (Tavanic®) hat ein signifikant erhöhtes lebertoxisches Potential, während
Ciprofloxacin (Ciprobay®, Generika) nur ein tendenziell erhöhtes Risiko besitzt. Die
Autoren verweisen auf eine mögliche zusätzliche Dunkelziffer einer leberschädigenden Wirkung der Fluorochinolone, da sie nur Patienten erfasst haben, die in ein
Krankenhaus aufgenommen wurden.
Quellen: www.cmaj.ca/cmaj.111823, www.aerzteblatt.de/nachrichten/51270
Levofloxacin: Indikation eingeschränkt
wegen neuer unerwünschter Wirkungen
Die europäische Arzneimittelagentur EMA hat die Anwendungsgebiete des Fluorochinolons Levofloxacin (Tavanic®) eingeschränkt (z.B. nur noch Mittel der zweiten
Wahl bei akuter Bronchitis) und folgende neue UAW aufgenommen, z.B.:
hypoglykämisches Koma
ventrikuläe Arrhythmie und Tachykardie bis zum Herzstillstand
akutes Leberversagen bis zum Exitus
benigne intrakranielle Hypertonie
vorübergehender Sehverlust
Pankreatitis
Hörverlust.
Zu der „neuen“ UAW „Bänder- und Muskelrisse“ ist anzumerken, dass diese UAW
schon lange bekannt ist und typischerweise bei allen Fluorochinolonen auftreten
kann. Ein persönlich bekanntes Beispiel: Vor Jahren erlitt eine Kollegin nach einer
Therapie mit einem Fluorochinolon eine Achillessehnenruptur und ließ sich über das
Wochenende mit einem Gehgips versorgen. Sonntags stürzte sie erneut, wodurch
auch die andere Achillessehne riss. Bei Verdacht auf eine Sehnenentzündung muss
das Fluorochinolon sofort abgesetzt und die Sehne ruhig gestellt werden.
Quelle: AkdÄ Drug Safety Mail 2012-122
Akute tubulointerstitielle Nephritis
durch Arzneistoffe
Die interstitielle Nephritis kann als hypererge Reaktion der Niere durch systemische
Autoimmunerkrankungen, systemische bakterielle oder virale Infekte (heute selten)
und am häufigsten durch Arzneistoffe auftreten. Nach einer Zusammenfassung
gelten
Antibiotika, insbesondere ß-Laktam-Antibiotika und Rifampicin
Nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID)
Andere Analgetika wie Metamizol und Paracetamol
Thiazid-Diuretika
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
als häufigste Verursacher dieser UAW. Da die Symptome (Fieber, Flankenschmerz,
Makrohämaturie, Oligourie/Anurie) typischerweise erst Stunden nach der Einnahme
auftreten oder auch nur diskret sein können (insbesondere bei entzündungshemmender NSAID-Einnahme), kann die akute in die chronische Form übergehen, wenn
sie nicht rechtzeitig entdeckt wird. Nach Absetzen des Arzneistoffes kann eine
kurzfristige Glukokortikoid-Gabe über 1 bis 3 Wochen indiziert sein. Die Niereninsuffizienz ist in 70% der Fälle voll reversibel.
Quelle: Internist 2012; 53: 934-42
Ösophagus-Läsionen –
medikamenteninduziert
Läsionen des Ösophagus können bedingt sein durch einen gewebstoxischen Arzneistoff (u.a. Bisphosphonate, Tetrazykline, Kaliumchlorid, Eisensalze, NSAID), durch
die Art des Präparates (große Tabletten, aufquellende Gelatinekapseln) oder durch
Einnahmefehler (keine ausreichende Flüssigkeit von mindestens 125 ml, keine
aufrechte Körperhaltung mindestens 10 min nach der Einnahme). Besonders bei
Patienten mit beeinträchtigter Ösophagusmotilität oder -obstruktion sollten obige
Einnahmemodalitäten besprochen werden. Das Fallbeispiel des Autors (gesunder
17jähriger, Doxycyclin-Einnahme wegen Akne) verdeutlicht, dass Schädigungen des
Ösophagus auch ohne vorbestehende Grunderkrankung auftreten können.
Quelle: tägl.prax. 2012; 53: 493-7
Milde Hypertonie:
wann medikamentös therapieren?
In einem Cochrane Review wurde der Effekt einer antihypertensiven Therapie zur
Primärprävention bei sonst gesunden Personen (RR syst. 140 – 159 mmHg, RR diast.
90 – 99 mmHg) überprüft. Eine Therapie über 4 – 5 Jahre reduzierte im Vergleich zu
Plazebo weder die Gesamtmortalität, die Rate der koronaren Herzerkrankungen, das
Auftreten von Schlaganfällen noch die Gesamtrate kardiovaskulärer Ereignisse. Nur
der Studienabbruch aufgrund unerwünschter Wirkungen (9% der Patienten) war
im Vergleich zu Plazebo signifikant erhöht. Nicht signifikante kleine Verbesserungen
der obigen Parameter in der Verumgruppe und der kurze Beobachtungszeitraum
(Endorganschäden bei sonst gesunden Personen dürften sich erst spät entwickeln)
sollten etwas nachdenklich machen. Den Autoren ist zuzustimmen, dass noch weitere Studien zu diesem Thema notwendig sind.
Quelle: Cochrane Database Syst Rev. 2012 Aug 15,8:CD006742
Kodein: Vorsicht bei Tonsillektomien
In den USA starben 3 Kinder nach der Gabe von Kodein-haltigen Präparaten in
altersgemäßer Dosierung nach einer Tonsillektomie, eines erlitt eine lebensbedrohliche Atemdepression. Alle Kinder waren sog. ultraschnelle Metabolisierer,
d.h. sie verstoffwechselten Kodein über ein doppeltes oder gar dreifach besetztes
Cytochrom 2D6 Enzymsystem in erhöhtem Maß zu Morphin. Es stellt sich die Frage,
ob dieser Arzneistoff generell für Kinder geeignet ist. Der Anteil der ultraschnellen
Metabolisierer in der Bevölkerung schwankt nach Angaben der FDA zwischen 29%
bei Äthiopiern, 6% bei Griechen, 3 – 6% bei afrikanischen Amerikanern und Kaukasiern allgemein, 2% bei Ungarn und 1 bis 2% bei Asiaten und Nordeuropäern.
Die Symptome einer Morphinüberdosierung bei Kindern sollten bekannt sein
Seite 17
Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
Seite 18
Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
(Zentrale UAW wie verstärkte Schläfrigkeit, Benommenheit, Verwirrtheit, Atemdepression; UAW Lunge: verstärkte Atemgeräusche, generelle Atemschwierigkeiten
durch Verlegen der Atemwege durch Schleim, bereits bei geringer Dosierung auftretend: Mydriasis, Oberbauchschmerzen, allergische Erscheinungen bis hin zum
Quinke-Ödem oder Dermatitis exfoliativa) . Bei so niedrig wie möglicher Dosierung
vor allem bei erstmaliger Gabe sollten die Kinder sorgfältig überwacht werden.
Quelle: www.fda.gov/Drugs/DrugSafety/ucm313631
Ungewöhnliche Übertragung
von Sexualhormon
Es ist schon lange bekannt, dass die Anwendung von Estrogen-haltigen Vaginalcremes beim jeweiligen männlichen Geschlechtspartner zu einer Gynäkomastie führen kann. Nach einem neuen Bericht funktioniert die Übertragung auch in Richtung
des weiblichen Geschlechtes: eine 52-jährige bekam plötzlich Geheimratsecken und
eine Tonsur. Grund: erhöhte Testosteronwerte, verursacht durch eine Testosteronhaltige Hautcreme, die der männliche Partner auf die Oberarme auftrug.
Berichte aus 2007 und 2010 weisen darauf hin, dass insbesondere die Haut von
Kindern Sexualhormone leicht resorbieren kann. Ein 16 Monate und ein 4 Jahre
alter Junge zeigten Virilisierungserscheinungen (vergrößerter Penis, Schambehaarung). Beide schliefen oft in den Betten der Eltern, die Ehemänner wandten topische
Testosteroncremes an.
Die Haut und insbesondere die Schleimhaut können bei längerer Exposition auch
ohne Resorptionsvermittler wie Dimethylsulfoxid Arzneistoffe resorbieren – mit
entsprechenden UAW bei hochwirksamen Arzneistoffen. Tragisch endete ein Fall
einer hysterektomierten Frau, der über längere Zeit (Kontraindikation!!) Framycetinhaltige Kegel vaginal appliziert wurden. Nach 3 Wochen entwickelte sich eine
irreversible Schwerhörigkeit, eine typische unerwünschte Wirkung systemischer
Aminoglykoside.
Quellen: Brit. med. J. 2007; 335:310 und 2010; 340: 1137, Ärztezeitung vom 04.10.12, S. 12
Kognitionseinschränkende Pharmaka
im Alter
Kognitionseinschränkungen im Alter sind nicht immer bedingt durch organische
Demenzen: neben u.a. Dehydratation, Elektrolytentgleisungen und Infektionen verursachen Arzneimittel 12 – 39 % der Erkrankungen zum Teil oder sogar erheblich.
Psychopharmaka sind hauptsächliche Auslöser, wobei die anticholinerge Aktivität
nicht immer ausschlaggebend ist: Benzodiazepine haben z.B. nur eine geringe
anticholinerge Potenz, nach einer neuen Fallkontrollstudie könnte das Risiko, unter der Einnahme eines Benzodiazepins an einer Demenz zu erkranken, um 60 %
erhöht sein.
Der Autor vermutet, dass alle delirogenen Substanzen bei chronischer Gabe zu
einer Einschränkung kognitiver Leistungen führen können. Speziell gilt dies z.B. für
trizyklische Antidepressiva, Opiate, sedierende H1-Antihistaminika, zentrale Anticholinergika wie Parkinsonmittel, Lithium, Fluorochinolone. Diskutiert werden über
600 Substanzen, sodass nach Ansicht des Autors vor allem eine Polypharmazie zu
den stärksten Risikofaktoren für eine Kognitionseinschränkung zählt.
Ein Blick in die Priscus-Liste z.B. könnte bei der Auswahl eines Medikamentes für
einen älteren Patienten hilfreich sein. Nach einer neuen Auswertung des ZI (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung) erhielten zwar über 20% der
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Patienten über 65 Jahren einen „ungeeigneten“ Arzneistoff, die meisten jedoch
nur kurzzeitig. Zu hinterfragen sind daher nur jene 5,2 % der Patienten, die eine
Dauertherapie mit einem dieser Arzneistoffe erhielten.
Quellen: Pharm. Ztg. 2012; 157(41): 3470 und 157(44): 3826; Internist 2012; 53: 1240-7
Kardiovaskuläres Risiko nicht-steroidaler
Antiphlogistika (NSAID)
Die europäische Arzneimittelbehörde EMA hat ihre Neubewertung des kardiovaskulären Risikoprofils von NSAID abgeschlossen. Für Diclofenac kann die Behörde
ein leicht erhöhtes Risiko kardiovaskulärer Ereignisse ableiten (ähnlich dem der
selektiven COX2-Hemmer), ebenso für Ibuprofen, jedoch nur unter hohen Dosen
(2400 mg/d). Naproxen hat das geringste Risiko, ganz ausschließen mochte die
Behörde ein grundsätzlich höheres Risiko jedoch nicht. Für alle anderen NSAID war
die Datenlage für eine Beurteilung nicht ausreichend. Die EMA verweist auf die
allgemeine Empfehlung, NSAID grundsätzlich in der niedrigsten effektiven Dosis
und über eine kürzestmögliche Therapiedauer anzuwenden.
Nach einem Kommentar zu einer Cochrane-Anaylse topischer NSAID-Zubereitungen bei Arthrose sollen 40 bis 60 Prozent der Patienten auf eine topische Therapie
angesprochen haben (oral: 34 bis 70 Prozent), gastrointestinale Beschwerden traten
unter topischer Therapie bei 17 Prozent, unter oraler Therapie bei 26 Prozent der
Patienten auf. Entsprechend den Empfehlungen der EMA wäre ein Therapieversuch bei geeigneten Patienten mit einer topischen NSAID-Zubereitung zu erwägen
– immer in der Kenntnis, dass die Freisetzung des Wirkstoffes aus topischen Zubereitungen sehr variabel sein kann und circa 40 Prozent der Patienten von einer
Placebowirkung profitieren.
Quellen: Pharm.Ztg. 2012; 157 (44): 123-4, Dt. Apo.Ztg 2012; 152: 5744-5
H1-Antihistaminika: Gefahr für
Säuglinge und Kleinkinder
H1-Antihistaminika der ersten Generation (Doxylamin, Diphenhydramin und Dimenhydrinat) werden zur Therapie von Schlafstörungen und bei Übelkeit/Erbrechen auch
bei Kleinkindern eingesetzt. Auch in Husten- und Erkältungsmitteln können diese
Arzneistoffe enthalten sein – eine Zulassung in diesen Indikationen fehlt für Kinder
bis zu drei Jahren (obwohl Erkältungssaftzubereitungen dazu führen können, diese
den Kindern anzubieten, auch wegen ihrer sedierenden Eigenschaften).
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte weist darauf hin, dass
diese Arzneistoffe trotz Freiverkäuflichkeit mit erheblichen Risiken verbunden
sein können. Ihre antihistaminergen und anticholinergen Wirkungen können insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern unter anderem zu Krämpfen, Somnolenz
und Tachykardie führen, aber auch zu paradoxen Reaktionen wie Unruhe, Angstzuständen und Atemstillstand (insbesondere bei Überdosierungen). Die Deutsche
Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin empfiehlt bei Erkältungssymptomen
ausreichende Flüssigkeitszufuhr und eventuell Ibuprofen. In den USA haben Hersteller auf Kombinationsprodukte gegen Husten und Erkältungskrankheiten bei Kindern
unter vier Jahren verzichtet, da die Kombination mit weiteren zentralwirksamen
Arzneistoffen wie Ephedrin oder Dextromethorphan die Gefahr für unerwünschte
Wirkungen (UAW) bei Kleinkindern deutlich erhöht.
Quellen: Dtsch.Apo.Ztg. 2012; 152: 5606 -7 und 5656 -61
Seite 19
Sicherer
verordnen
Dr. med.
Günter Hopf
Seite 20
Briefe an die
Redaktion
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
Nur ein schöner Wunsch?
Zum Beitrag „Was hilft, wenn die Metformin-Monotherapie
ausgereizt ist?“ in Heft 4/2012
In diesem Artikel wird für eine antidiabetische Therapie mit Insulin ein Nutzen
unterstellt. Für das Gros unserer hausärztlich betreuten Typ-2-Diabetiker kann dies
jedoch hinsichtlich patientenrelevanter Endpunkte nicht behauptet werden [1]. Die
Insulingabe kann allenfalls diabetesbedingte Symptome lindern. Alles andere bleibt
ein schöner Wunsch. Mehr zur Zeit aber auch nicht.
Dr. med. Armin Mainz, Internist
Anmerkung des Autors: Die angegebene Arbeit von Boussageon [1] untersucht
– wie aus dem Titel zu erkennen – die Effekte einer intensiven gegenüber einer
moderaten Blutzuckersenkung, macht aber keine Aussagen zu den Effekten einer
Insulinbehandlung per se.
Evidenzlage:
In der genannten Metaanalyse [1] wird die UKPDS 33 [2] bzw. 34 [3] als einzige
Studie mit Placebo-kontrollierter Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes erwähnt.
Eine eigene Medline-Recherche mit den Stichworten „Insulin AND diabetes AND
mortality AND controlled trial“ und eine Suche nach Cochrane Reviews unter dem
Stichwort „Insulin“ erbrachte keine weiteren relevanten Studien. In der prospektiven
und randomisierten UKPDS wurde nach zehn Jahren Behandlung mit Insulin gegenüber
Placebo eine Senkung eines gemischten mikrovaskulären Endpunktes gezeigt (insbeAnders als viele sondere von Laserkoagulationen der Augen). In der anschließenden UKPDS-followmeinen, ist auch die up-Kohortenstudie [4] zeigten sich nach weiteren zehn Jahren indifferenter Therapie
endpunktbezogene dann zusätzliche signifikante und relevante makrovaskuläre Späteffekte der InsulinbeEvidenzlage für handlung (Verringerung von Herzinfarkten um 15% und Gesamtmortalität um 13%).
Insulin nicht Beurteilung:
überwältigend. Angesichts der häufigen Behandlung mit Insulin wünscht man sich natürlich eine
bessere Evidenzlage, zumal auch die Analyse der UKPDS nicht ohne Kritik blieb [5].
Allerdings wird man jetzt kaum noch Patienten und Ethik-Kommissionen zu einer
solchen Studie überreden können. Deswegen zählt nach Sackett die beste vorliegende Evidenz. Und die ist für Insulin deutlich besser als für die neueren Antidiabetika
wie z.B. die DPP-4-Hemmer.
In der aktuell vorliegenden Konsultationsfassung der nationalen VerWie machen Sie es?
sorgungsleitlinie „Therapieplanung bei Typ 2 Diabetes“ [6] wird Insulin
jedenfalls wegen der Senkung mikrovaskulärer Endpunkte neben MetforBei einem Ihrer Diabetimin und Sulfonylharnstoffen als evidenzbasierte Therapie geführt.
ker reicht Metformin nicht
Dr. med. Uwe Popert, Arzt für Allgemeinmedizin
mehr aus: Wie gehen Sie
nun vor? Schreiben Sie
uns doch – auch anhand
Literatur:
1 Boussageon Rémy et al. Effect of intensive glucose lowering treatment on all cause mortality,
von Beispielen –, wie Sie
cardiovascular death, and microvascular events in type 2 diabetes, meta-analysis of randomised
mit solchen Patienten
controlled trials. BMJ 2011;343:d4169
umgehen! Denn die Ent2 UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) Group. Intensive blood-glucose control with sulphonyscheidung hängt zweifellureas or insulin compared with conventional treatment and risk of complications in patients with
type 2 diabetes, (UKPDS 33). Lancet 1998;352:837-53.
los auch vom Einzelfall ab,
3 UK Prospective Diabetes Study (UKPDS) Group. Effect of Intensive blood-glucose control with
und deswegen sollten wir
metformin on complications in overweight patients with type 2 diabetes (UKPDS 34). Lancet
alle unsere Erfahrungen
1998;352:854-65.
teilen. Dies trägt sicher zu
4 Holman RR, Paul SK, Bethel MA, Matthews DR, Neil HA.10-year follow-up of intensive glucose
control in type 2 diabetes. N Engl J Med. 2008 Oct 9;359(15):1577-89. doi: 10.1056/NEJeiner besseren Therapie
Moa0806470. Epub 2008 Sep 10.
bei.
5 McCormack J, Greenhalgh T. Seeing what you want to see in randomised controlled trials: versiZuschriften erbeten an:
ons and perversions of UKPDS data. United Kingdom prospective diabetes study. BMJ. 2000 Jun
Fax: 069 / 79502 501;
24;320(7251):1720-3.
6 Konsultationsfassung der nationalen Versorgungsleitlinie „Therapieplanung bei Typ 2 Diabetes“
e-Mail: [email protected]
Version 1.0 vom 29. August 2012; www.versorgungsleitlinien.de
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Paradigmenwandel im
Arzneimittelmarkt
Seite 21
Kritische
Analyse
Position der Ärzte bröckelt immer weiter ab
Dr. med. Jürgen Bausch
Der überwiegende Teil aller rezeptpflichtigen Arzneimittel wird von Allgemeinärzten
und hausärztlichen Internisten verordnet. Die teuersten Verordner jedoch sind die
Spezialambulanzen der Kliniken und die fachärztliche Versorgungsebene der Onkologie, Rheumatologie, der Hepatologie und der Neurologie mit dem Schwerpunkt
Multiple Sklerose.
Allen Verordnern gemeinsam ist ein mehrfacher schrittweise erfolgter Paradigmenwechsel, der nur langsam in das Bewusstsein der Ärzte und der Gesellschaft
vordringt:
Die Ärzte verlieren Stück für Stück ihre Verordnungshoheit.
Individuelle ärztliche Therapieerfahrung hat lediglich anekdotische
Evidenz.
Der patientenrelevante Nutzen eines Arzneimittels entscheidet über
die Verordnungsfähigkeit und den Preis.
Verordnungshoheit perdue
Rabattverträge und die Umkehr der aut-idem-Vorschrift bewirken eine vertragskonforme Arzneimittelzuteilung an den Patienten durch den Apotheker. Der verschreibende Arzt kann zwar unter Inkaufnahme einer Wirtschaftlichkeitsprüfung ein
konkretes Arzneimittel für seinen Patienten verordnen und dadurch die Zwangssubstitution durch den Apotheker ausschließen. Aber er macht nur in Ausnahmefällen
davon Gebrauch. Unnötigen Ärger kann man sich sparen. Der Patient muss sehen,
wie er mit seinem kasseneigenen Rabattpräparat fertig wird. Angeblich gibt es ca.
10.000 Rabattverträge. Dieser Prozess führte und führt zu permanentem Einzelärger
bei Patienten, Ärzten und Apothekern. Der Einspareffekt ist allerdings beachtlich.
Eine systematische, wissenschaftliche Untersuchung darüber, welche Auswirkung
dieser Vorgang auf Compliance, Adherence und die Produktion von ArzneimittelMüll durch Nichteinnahme hat, findet nicht statt.
Warum man allerdings bei der erkennbaren Bereitschaft der Hersteller beachtliche
Rabatte zu gewähren – vorzugsweise geht es um Generikaproduzenten –, nicht per
Gesetz linear das Preisniveau um die durchschnittliche Höhe der Rabatte absenkt
und dadurch wieder Markttransparenz herstellt, die durch die 10.000 Rabattverträge
verloren gegangen ist, verstehe, wer mag. In England und Schweden, so jedenfalls
berichtet Schwabe im neusten Arzneiverordnungsreport, ist das Preisniveau niedriger
als bei uns.
An dieser Stelle sei ein etwas wunderlicher Zwischenruf gestattet: Die Generikaindustrie weicht diesem Preisdruck durch Verlagerung der Produktion nach Indien,
Bangladesch, China und Vietnam aus. Abgesehen von den dort niedrigen Lohnkosten sind es die Umweltauflagen, die die europäischen Produktionskosten stark
nach oben treiben. In Asien und Indien ist das anscheinend kein Problem für die
örtliche Trinkwasserversorgung der Menschen, Tiere und Pfanzen.
Aber dass wir uns – ein Land ohne Rohstoffe, aber mit der Fähigkeit, alle Arzneimittel der Welt zu produzieren – auch noch in der Arzneimittelproduktion von
Schwellenländern abhängig machen, will mir nicht in den Kopf. Ich sehe da einen
gravierenden Unterschied zu dem schon längst zur Gewohnheit gewordenen Import von Billigtextilien aus den gleichen Ländern. Solche antiquierten Vorstellungen
passen nicht in das Zeitalter der Globalisierung.
Wir Ärzte müssen
die Folgen
ausbaden – und
fragen:
Warum 10.000
unübersichtliche
Rabattverträge
statt genereller
Preisabsenkung?
Seite 22
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
Anekdotische Evidenz
Ein weiterer Paradigmenwandel ist der allmähliche Verfall des Wertes der individuellen ärztlichen Erfahrung in der Behandlung von Patienten. Ich komme noch
aus einem medizinischen Zeitalter, wo zur Lösung von Patientenproblemen unterschiedliche Schulen eine ordentliche eminenzbasierte Therapie pflegten. Heute ist
die Berufung auf jahrelange persönliche Erfahrung nichts wert: niedrigster anekdotischer Evidenzlevel.
Dazu zwei Beispiele: Als jüngstes Vorstandsmitglied im neugewählten hessischen
KV-Vorstand vor 25 Jahren habe ich beim Tagesordnungspunkt „wirtschaftliche
Arzneimitteltherapie in der Allgemeinpraxis“ als Beispiel für unwirtschaftliches
Verordnen der Kassenärzte die Verschreibung von oralen Venenpräparaten gegen
Krampfadern gebrandmarkt. Das war kein guter Einstand im Kreis der damaligen
älteren Vorstandskollegen, die durchaus meinten, gute Erfahrungen mit diesen
Rosskastanienprodukten und ähnlichen Phytotherapeutika gemacht zu haben.
Als gegen Ende meiner Vorstandszeit klar wurde, dass die Hormonersatztherapie
bei Frauen in den Wechseljahren mehr Schaden als Nutzen anrichtet, und es allenfalls zu verantworten ist, kurz und niedrig dosiert den vasomotorischen Beschwerden
der geplagten Frauen zu Leibe zu rücken, haben die Frauenärzte in Hessen den Aufstand geprobt und nach Verbündeten gesucht, um den verräterischen Vorsitzenden
des Amtes zu entheben, der solche neuen Erkenntnisse aus einer großen Studie
(WHI-Studie, Writing group for the Women´s Initiative 2002) als „Hirtenbrief“ den
hessischen Ärzten vermittelt hat.
Allerdings ist die Pharmakotherapie ein Gebiet, wo individuelle Erfahrungen
schon wegen der kleinen Fallzahlen recht zwangsläufig irreführende Ergebnisse
produzieren. Die moderne evidenzbasierte Medizin befähigt uns mehr und mehr,
selbstkritisch zu hinterfragen, ob der eingeschlagene Weg auch der Richtige ist.
Erfahrungen wird man dabei nicht ausblenden können, aber ihr Stellenwert hat
sich gewandelt.
Patientenrelevanter Nutzen
Wirkung
allein reicht nicht,
entscheidend ist der
Nutzen
Der Sachverhalt ist scheinbar einfach. Ein Arzneimittel, das wirkt, erhält deswegen
eine Zulassung. Zugelassene Arzneimittel helfen, schließlich wurde das ja in Zulassungsstudien bewiesen.
Was aber unter real-life-Bedingungen außerhalb von Studien tatsächlich passiert,
wurde im Zulassungsverfahren nicht geprüft.
In der Tat war bis vor wenigen Jahren die Zulassung die Eintrittskarte in den Markt
und das Kommando für die Marketingabteilungen, das Produkt an den Mann,
sprich Arzt, zu bringen.
Von allen Paradigmen, die sich gewandelt haben, ist dies am bedeutendsten:
Wirkung allein reicht nicht, notwendig ist der Nachweis eines klinisch relevanten
Patientennutzens. „Denn nur vom Nutzen wird die Welt regiert.“ Kollege Friedrich
Schiller hat diese Erkenntnis Wallenstein in den Mund gelegt.
Und seit dem 1. Januar 2011 ist für Deutschland dann mit dem AMNOG noch
eine weitere Verschärfung hinzugekommen: Alles was neu auf den Markt kommt,
muss gegenüber dem, was bereits etabliert ist, einen klinisch relevanten Zusatznutzen belegen. Und nur wenn das gelingt, wird man in den sich anschließenden
Preisverhandlungen mit den Kassen auch den einen oder anderen kleinen Trumpf
in der Hand haben. Wir sind exakt bei dem Dauerbrenner der Nutzwertdiskussion
angekommen, die schon lange gesundheitspolitisch das Feld bestimmt.
Aus hausärztlicher Sicht klingt diese Philosophie zunächst einmal logisch und
nützlich. Aber wie wir noch sehen werden, steckt der Teufel – wie immer – im Detail. Politisch verkauft sich dieses Konzept sehr gut und medienwirksam: Denn wer
will für einen neuen Mercedes bezahlen und nur einen gebrauchten Fiat-Topolino
Baujahr1957 geliefert bekommen?
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 23
Nutzenbewertung gemäß AMNOG
Es macht Sinn, sich auf einige interessante Bewertungsbeispiele zu konzentrieren,
was als erstes Herantasten der Beteiligten an die neue Materie zu verstehen ist.
1. Beispiel Ticagrelor
Ticagrelor mit dem Handelsnamen Brilique® ist für das akute Koronarsyndrom
indiziert und zugelassen. Nach ASS, Clopidogrel und Prasugrel also ein weiterer,
allerdings reversibler, ADP-Rezeptor-Antagonist. Der erste Wirkstoff, der nach dem
AMNOG eine frühe Nutzenbewertung erfahren hat.
Ticagrelor war 7,5 mal teurer als Clopidogrel (Jahrestherapiekosten im ersten Jahr
1.237,35 €). Die Preisverhandlungen sind jetzt abgeschlossen. Man hat sich auf
einen Preis von 2,04 € Tagestherapiekosten geeinigt. Dadurch reduzieren sich die
Jahrestherapiekosten praktisch um die Hälfte von dem Betrag, den der Hersteller
im ersten Jahr frei kalkuliert nehmen durfte. Der Gemeinsame Bundesausschuss
hat auf der Basis des Herstellerdossiers und der Bewertung durch das IQWIG für
Ticagrelor einen „beträchtlichen Zusatznutzen“ für eine wichtige Subpopulation
konstatiert. Diese Nachricht wurde vom Hersteller mit Erleichterung aufgenommen
und hat viele Kardiologen stark ermutigt, generell beim akuten Koronarsyndrom
von Clopidogrel auf Ticagrelor umzusteigen, so wie es auch die Leitlinie der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft empfiehlt.
Interessant ist jedoch, dass diese europäische Leitlinie Ticagrelor schon aufgenommen hatte, als dieses in Europa und USA überhaupt noch nicht zugelassen war! Ein
etwas irritierender Vorgang.
Schaut man jedoch genauer hin, dann hat das IQWIG eine sehr stark differenzierte
Bewertung vorgenommen: Nur für die instabile Angina pectoris mit dem leichten
Herzinfarkt ohne typische EKG-Hinweise (NSTEMI, Infarklt ohne ST-Hebung) wurde
ein beträchtlicher Zusatznutzen belegt. Wegen der Mortalitätsreduktion um 1,5%,
ganz gewiss ein klinisch relevanter Zusatznutzen.
Kein Zusatznutzen in nahezu allen anderen schweren Fällen von akutem Koronarsyndrom (ACS). Der G-BA hat zusätzlich in seiner frühen Nutzenbewertung
festgelegt, dass Patienten jenseits des 75. Lebensjahres und Patienten mit einer
Vorgeschichte, in der TIAs und Apoplexe vorgekommen waren, mit Ticagrelor behandelt werden können.
In der Praxis hat sich diese differenzierte Sichtweise bislang nicht niedergeschlagen. Offenbar ist es nicht einfach, solche komplizierten Botschaften zu transportieren, so dass die gute Meldung: „Beträchtlicher Zusatznutzen“ voll zu Gunsten
des Herstellers für alle ACS-Indikationen durchschlägt. Letzterer wurde ja nicht bestritten, sondern nur die fehlende Beleglage für den Nachweis eines Zusatznutzens.
NICE hat übrigens grünes Licht für das akute Koronarsyndrom gegeben, ohne eine
solche Differenzierung vorzunehmen.
2. Beispiel Fingolimod
Fingolimod (Gilenya®) ist bei der Behandlung der Multiplen Sklerose indiziert. Erstmals seit vielen Jahren ein neuartiger Wirkstoff mit einem neuen Wirkprinzip gegen
die Multiple Sklerose. 99 von 100.000 Menschen in Europa erkranken daran, überwiegend Frauen. Jahrestherapiekosten in Deutschland vorwiegend für Interferone:
eine Milliarde Euro. Fingolimod ist oral verfüG-BAr, alle anderen Wirkstoffe müssen
injiziert oder infundiert werden.
Das genaue Wirkprinzip des neuen Immunmodulators Fingolimod ist noch nicht
entschlüsselt. Der G-BA fand nur einen „Anhaltspunkt“ für einen geringen Zusatznutzen in der kleinen Patientengruppe der schnell remittierenden MS-Patienten. Für
alle anderen Fälle jedoch keinen Nutzenbeleg. Ein dramatisch schlechtes Ergebnis
für einen großen Hoffnungsträger.
Was war passiert?
Die beiden Zulassungsstudien für Fingolimod waren auf eine first line-Therapie
Zusätzlicher
Nutzen nur für
eine begrenzte
Patientengruppe ...
... aber diese
wichtigen
Feinheiten
werden ignoriert
Seite 24
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
bei Multipler Sklerose angelegt und durchgeführt worden. Die EMA war jedoch
wegen des beachtlichen Schadenspotentials, darunter auch Todesfälle, ähnlich wie
in früherer Zeit bei Natalizumab (Tysabri®) der Auffassung, dass Fingolimod nur eine
second-line-Zulassung erhält. Das IQWiG und der G-BA sind absolut zulassungstreu
und fanden zur Vergleichstherapie keinen Zusatznutzen. Die Studien waren anders
konzipiert worden.
Allerdings hatten die Fachleute für die Zulassung in der Schweiz und in den USA
kein Problem mit der Festlegung einer first-line-Therapie gemäß Studienlage. Und
NICE hat sich preislich mit dem Hersteller geeinigt und erst danach wurde grünes
Licht für die Verordnung im Vereinigten Königreich gegeben.
Interessant an dem Beschluss des G-BA ist: Es gibt „Anhaltspunkte für einen geringen Zusatznutzen“ gegenüber der Vergleichstherapie in nur einer von drei Patientengruppen. Es erfolgte eine Befristung des Beschlusses auf drei Jahre. Bis dahin
können neue Studien vorgelegt werden, um die Beschlusslage zu verbessern. Insbesondere aber, um Belege dafür beizubringen, dass außer einer gezeigten besseren
Schubreduktion auch die fatale Krankheitsprogression aufgehalten werden kann.
Interferone, Glatirameracetat und Natalizumab waren hier bislang enttäuschend.
3. Beispiel Boceprevir
Boceprevir (Victrelis ®) ist indiziert bei der Behandlung von Hepatitis C. IQWiG und
G-BA stoßen bei der Frage eines klinisch relevanten Zusatznutzens bei der Hepatits
C und ähnlichen Erkrankungen an ihre Grenzen. Boceprevir hat in Kombination
mit PegInterferon und Ribavirin in einem Surrogatendpunkt namens SVR einen „im
Ausmaß nicht quantifizierbaren Hinweis auf einen Zusatznutzen“ erbracht. SVR
steht für: sustained virological response (anhaltendes virologisches Ansprechen)
und bedeutet, dass das Virus nicht mehr nachweisbar ist.
Ziel der antiviralen Kombinationstherapie ist: Durch die Inaktivierung des Hepatitis
C-Virus die Folgen der Infektion: Leberzirrhose und Leberzellkarzinom zu vermeiden.
Dieser klinische Endpunkt ist jedoch erst nach 15 bis 20 Jahren feststellbar.
Weswegen man (widerwillig) auf Surrogatendpunkte zurückgreifen musste, die in
diesem Fall an Laborwerten abgelesen werden können und müssen.
Das grundsätzliche Problem aus ärztlicher Sicht: Ärzte freuen sich, wenn es ihnen
gelingt, eine chronische Virusinfektion durch Elimination beseitigt zu haben. Auch
wenn dies lediglich durch Laborwerte bewiesen ist. Sie sehen darin einen großen
Nutzen. Dies ist der Unterschied in der Denkweise des Normalarztes und der Spezialisten bei IQWiG und G-BA.
4. Beispiel Pirfenidon
Pirfenido (Esbriet®) ist zur Behandlung der Lungenfibrose zugelassen worden.
Das IQWiG kommt zum Ergebnis: Kein Zusatznutzen belegt.
Der G-BA kommt zum Ergebnis: Ausmaß des Zusatznutzens nicht quantifizierbar.
Die FDA, (amerikanische Zulassungsbehörde) hat das Präparat zunächst zugelassen. Nach einem halben Jahr jedoch aus der Zulassung entfernt, wegen
fehlender Wirkungsbelege.
Pirfenidon hat einen Orphan-drug-Status. Damit ist der Nutzenbeleg durch Zulassung aufgrund der gesetzlichen Vorgabe erbracht. Was aber nicht vor Kritik schützt,
wenn eine Bewertung des Nutzens vorgenommen wird.
Die Jahrestherapiekosten betragen 39.000 € pro Patient und Jahr. Pirfenidon wird
trotz der negativen Bewertungen von pulmologischen Zentren bei Lungenfibrose
verordnet. Eine hilfreiche Vergleichstherapie oder eine therapeutische Alternative
existiert nicht. In den Preisverhandlungen hat man sich darauf geeinigt, dass neben
den gesetzlichen Rabatten von 16% noch weitere 11% nachgelassen werden müssen. Es ist möglich, dass dieses für das Unternehmen günstige Verhandlungsergebnis
kassenintern scharf kritisiert werden wird.
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
5. Beispiel Linagliptin
Linagliptin (Trajenta®) – Ein Wirkstoff zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ II.
Es handelt sich um einen weiteren DPP-4-Inhibitor. Diesmal von Boehringer und
Lilly. Zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ II als Mono- oder Kombitherapie
mit Metformin. Also first line.
Der G-BA definiert die Vergleichstherapie nach dem Zulassungsstatus und dem
Standard der Versorgung. Das ist in Deutschland Metformin plus gegebenenfalls
Sulfonylharnstoffe.
Die Reaktion der Hersteller: Linagliptin durchläuft zwar den AMNOG-Prozess, aber
es wird in Deutschland dem Markt nicht zur Verfügung gestellt. Man erwartet keinen Zusatznutzen gegenüber der G-BA-Vergleichstherapie und damit auch keinen
vernünftigen Preis im Rahmen der Preisverhandlungen. Das Ziel war, mit den drei
anderen DPP4-Inhibitoren verglichen zu werden. Dann hätte man zwar keine Überlegenheit demonstrieren können, aber zumindest Gleichwertigkeit. Und hätte einen
DPP4-Preis erzielen können, der zur Zeit weit über dem generischen Preis von Metformin und SH-Stoffen liegt. Die Hersteller der Gliptine wurden als erste Gruppe aus
dem Bestandsmarkt aufgefordert, ein Dossier zur Nutzenbewertung vorzubereiten.
Die Folge ist: Man muss sich überlegen, ob derartige Vorgaben des Gesetzgebers
zu einer Innovationsbremse bei den Analogpräparaten führt und ob es dadurch in
Deutschland zu einer verzögerten Vermarktung neuer Wirkstoffe kommen wird.
Es darf daran erinnert werden, dass bei einer ganzen Reihe von Analogpräparaten erst die dritte, vierte oder gar fünfte Entwicklung später zum Therapiestandard
geworden ist, weil diese im Vergleich zu den anderen einen größeren patientenrelevanten Nutzen entfaltet hat. Bei Linagliptin ist die Verordnungsfähigkeit bei
niereninsuffizienten Diabetikern eventuell ein solcher relevanter Nutzen.
6. Beispiel Retigabin
Retigabin (Trobalt®) ist ein Wirkstoff zur Behandlung der Epilepsie. Das Produkt
verfügt über ein neu entdecktes vollkommen neues Wirkprinzip in der Epilepsie-Behandlung: nämlich ein sogenannter Kalium-Kanal-Öffner. In der Innovationsklassifikation nach Fricke und Claus eine klassische A-Klassifikation bzw. eine „Sprunginnovation“ nach Morck und Kollegen. Retigabin wurde in den Zulassungsstudien auch
an Patienten geprüft, die bereits in mehreren Therapien mit anderen Antiepileptika
erfolglos vorbehandelt worden waren. Also add-on in der second und gar third line.
Die Zulassung erfolgte jedoch breit als first-line-Antiepileptikum. IQWIG hat als
Vergleichstherapie deswegen den Nutzen gegenüber Lamotrigin und Topiramat
geprüft, nachdem diese vom G-BA so vorgeschrieben worden war. Beide Wirkstoffe
sind generisch.
Der Hersteller hatte sich das noch nicht generische Lacosamid als Vergleichstherapie ausgeguckt. Das hat aber nichts geholfen. Zulassungstreu bleibt der G-BA bei
seiner Entscheidung: Gegenüber Topiramat und Lamotrigin, das ist die first-lineStandardvergleichstherapie, hat Retigabin keinen Zusatznutzen nachgewiesen. Das
Verfahren ist inzwischen abgeschlossen. Retigabin wird auf dem deutschen Markt
nicht ausgeboten. Wenige Tage nach der Entscheidung des Herstellers, dieses Präparat in Deutschland nicht auf den Markt zu bringen, haben viele Krankenkassen
das Signal gegeben, dass sie den Bezug über die internationale Apotheke gestatten
und bezahlen werden. Dieser Vorgang ist blamabel. Formal wurde zwar korrekt
gehandelt, aber ärztlich vollkommen daneben. Weil es in der Epilepsiebehandlung immer Situationen gibt, wo man auf eine add-on-Therapiealternative
zurückgreifen möchte, wenn man sie denn hätte.
Zwölf „Neue“, sieben ohne Zusatznutzen
Zwischen Dezember 2011 und Mai 2012 wurden 12 frühe Nutzenbewertungen des
G-BA veröffentlicht. 7 mal konnte der G-BA keinen Beleg für einen Zusatznutzen
feststellen.
Seite 25
Seite 26
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
Die Goldmedaille im Ranking des AMNOG wurde überhaupt nicht vergeben. Aber
die Silbermedaille konnte immerhin zweimal in diesem Zeitraum von Ticagrelor und
Abirateronacetat (hormonrefraktäres Prostata-Carzinom) in Empfang genommen
werden. Der Rest verteilte sich auf einen geringen bzw. nicht quantifizierbaren
Zusatznutzen. Also Platz 3 und 4 auf dem sechsteiligen Siegertreppchen.
Es gibt keine seriösen Erhebungen darüber, wie diese Ergebnisse des G-BA von
der Ärzteschaft bewertet werden. Viele Produkte, die bewertet wurden, haben in
der hausärztlichen Versorgungsebene nur eine marginale Bedeutung.
Welche Trends lassen sich aus den bisherigen Entscheidungen ablesen?
1. Die Vergleichstherapie ist vom G-BA festzulegen. Mit der wird der Zusatznutzen verglichen. Sie orientiert sich sehr eng am Zulassungsstatus des zu untersuchenden Wirkstoffs. Der G-BA berät auf Wunsch den pharmazeutischen
Unternehmer schon sehr frühzeitig hinsichtlich dieser Vergleichstherapie. Es
liegt auf der Hand, dass die Festlegung der Vergleichstherapie den weiteren
Verfahrensgang maßgeblich bestimmt. Der G-BA muss sehr darauf achten,
dass er bei dieser Festlegung den Bogen nicht überspannt.
2. Studienergebnisse oder therapeutische Gepflogenheiten der anwendenden
Ärzte aufgrund von Leitlinien, die nicht mit dem Zulassungsstatus in Übereinklang stehen, werden praktisch nicht berücksichtigt.
3. Surrogatparameter sind keine klinisch relevanten harten Endpunkte für den
Beleg eines Zusatznutzens.
4. Head-to-head-Studien mit dem „richtigen“ Komparator sind bei Überlegenheit deutlich von Vorteil.
5. Der Orphan-drug-Status schützt nicht vor einer inhaltlichen Kritik am Nutzen.
6. Tendenziell wird streng ausgesiebt. Die Maschen des Siebs sind eng gestellt.
7. Forschungsinnovationen sind nur dann von Vorteil, wenn das innovative Produkt auch einen klinisch relevanten Zusatznutzen hat.
Pharmakotherapeutischer Fortschritt ist nicht gleich Nutzen.
Aus der Vergangenheit sind die Klassifikationsmodelle von Fricke und Claus oder
das von Morck und weiteren Pharmakologen bei der Bewertung des Innovationsgrades einer Neuzulassung bekannt, festgemacht an den Buchstaben A, B, C und
D oder an den Begriffen Sprung-, Schritt- und Scheininnovation. Das ist Vergangenheit, wenn es um die Nutzenfrage geht. Ein vollkommen neuer Wirkmechanismus
kann, aber er muss keinen klinisch relevanten Zusatznutzen haben. Zumindest
nach der Methode, die durch G-BA und IQWIG vorgegeben ist. Dass aber ein neuer Wirkstoff mit einem neuen Wirkmechanismus auch bei Gleichwertigkeit eine
therapeutische Alternative für Nonresponder oder bei Unverträglichkeitsreaktionen
hat, steht außer Frage. Er fällt – wie Retigabin zeigt – nicht durch die enggestellten
Maschen des G-BA-Siebs.
Das AMNOG-System und alle ähnlichen Konstrukte in Europa wie NICE oder die
Arbeit der französischen Transparenzkommission sind Versuche von Regulierungsbehörden, Dämme aufzubauen, um der Fluten von Arzneimittelneuheiten Herr zu
werden, die mit hohen Kosten die Ausgabenseite der Krankenkassen belasten.
Nicht dass man grundsätzlich den Fortschritt behindern wollte, sondern weil die
Kostenträger hinter den Dämmen Schutz suchen vor unnötigen Ausgaben wegen
eines fehlenden Kosten-Nutzen-Verhältnisses.
Der Gesetzgeber hat den Kassen in Deutschland die Preisverhandlungsmacht
für neue Produkte in die Hände gelegt und sogar die Möglichkeit eingeräumt, im
Bestandsmarkt aufzuräumen. Die Rahmenbedingungen haben sich grundsätzlich
für forschende Unternehmen geändert, keineswegs nur in Deutschland – hier eher
spät. Bei vielen chronischen Erkrankungen warten die Patienten schon lange
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 27
auf therapeutische Durchbrüche (z.B. bei Alzheimer und bei anderen degenerativen Erkrankungen des Nerven- und Skelettsystems, bei der Multiplen Sklerose und
vor allem in der Onkologie). Aber wie die vorgetragenen Beispiele zeigen: zu einer
bezahlbaren und vernünftigen Preis-Nutzen-Relation.
Was bezahlbar ist, das orientiert sich nicht an den Preisvorstellungen der Hersteller, sondern am Haushalt der Kassen. Was vernünftig ist, weiß niemand so
ganz genau, weswegen man diesen Interessenausgleich an den Verhandlungstisch zwischen Hersteller und Zahler verwiesen hat mit der Option, im Nichteinigungsfall zu einer Schiedsentscheidung zu kommen, die auch das europäische
Preisniveau im Auge hat.
Das muss einem als forschende Industrie nicht gefallen. Es fordert aber auf zu
einem Umdenken in den Forschungskonzepten für die Zukunft. Viele begreifen dies
schon länger als eine echte Herausforderung, der man sich stellen muss, wenn man
überleben möchte.
Zusammenfassung
Die Entwicklung des Arzneimittelmarktes in den Nachkriegsjahren war bis vor wenigen Jahren in
Deutschland davon bestimmt, dass er in den Details stark überreguliert, aber im Kern wurde die
Vermarktung und die freie Preisbildung patentgeschützter Produkte nicht ernsthaft angetastet. Erst
die Diskussion über sozial vertretbare „Kosten – Nutzenrelationen“ führte schrittweise zu einem
bedeutsamen Paradigmenwandel im System, der in die Vorschriften des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes mündet. Wer Geld für Leistung haben möchte, muss ein Produkt liefern, das
gegenüber dem Standard der Therapie einen klinisch relevanten Zusatznutzen belegen kann. Kein
leichtes Unterfangen, wie der vorliegende – „frühe“ – Erfahrungsbericht zeigt.
Unabhängige Informationen sind
existenziell wichtig – auch für Patienten
Als Arzt wissen Sie, wie wichtig unabhängige Informationen sind – und Sie wissen auch, wo Sie sich entsprechend informieren können. Beispielsweise in KVH aktuell oder in anderen unabhängigen Zeitschriften
wie dem arznei-telegramm, dem ARZNEIMITTELBRIEF, dem Pharma-Brief und der Arzneiverordnung in
der Praxis. Deren Verlage haben sich zusammengetan und geben ein regelmäßig erscheinendes Informationsheft für Patienten heraus. Dass dies dringend notwendig ist, liegt auf der Hand: Patienten werden
in den Medien und auch im Internet mindestens ebenso stark wie Ärzte mit Informationen überschüttet,
die von der Pharmaindustrie beeinflusst oder sogar direkt gesteuert werden. Das schlägt sich auch in
entsprechenden Verordnungswünschen nieder, gegen die Sie als Arzt dann bisweilen zeitaufwändig anargumentieren müssen. Gute Pillen – Schlechte Pillen bietet Ihnen hier eine Möglichkeit,
gegenzusteuern und die oft von der Pharmaindustrie beeinflusste
und vor allem umsatzorientierte Medikamenteninformationen
Gut geeignet für
das Wartezimmer:
Das Blatt ist völlig
frei von Einflüssen
der Pharmaindustrie. Im
Original ist es
übrigens bunt,
die Materie ist für
Patienten bestens
aufbereitet.
Seite 28
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
richtigzustellen. Die Beiträge sind hervorragend recherchiert, sie stellen die Sachlage objektiv dar und
sind damit bestens als Wartezimmerlektüre geeignet. Nicht wenige Patienten abonnieren das Blatt sogar
selbst. Da es keine Werbung enthält, ist das Abonnement natürlich nicht kostenlos. Allerdings dürften
die 49 Euro pro Jahr durchaus eine gute Investition für die Praxis sein. Dafür gibt es das Praxis-Set:
Sechsmal im Jahr je ein Leseexemplar und ein Ansichtsexemplar der aktuellen Ausgabe von Gute
Pillen – Schlechte Pillen im Abonnement.
Ein Sortiment Patientenbriefe zu den Themen Gut vorbereitet zum Arzt / Erkältungskrankheiten /
Medikamente in der Schwangerschaft / Hören / Hyposensibilisierung / Mit Arzneimitteln auf Reisen / Zeckenbiss /, Herzpässe.
Die Themen in den Heften sind zu vielfältig, um hier ausführlich darauf einzugehen. Aber ein Beispiel:
Die Redaktion erläutert deutlich, warum Generika preiswert sind und dass sie deswegen keineswegs
schlechter sind als das Original. Ansonsten lohnt sich allemal ein Blick auf die Website www.gutepillenschlechtepillen.de, um mehr über das Heft zu erfahren. Dort kann es auch abonniert werden.
Erster Preis für Leitliniengruppe Hessen
Bereits zum dritten Mal in Folge hat der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) im Sommer 2012 einen
Zukunftspreis ausgelobt. Im vergangenen Jahr war der Preis speziell einem Thema gewidmet, das nicht nur
für die Krankenkassen, sondern auch für Ärzte eine besondere Herausforderung darstellt: Es gibt immer
mehr alte Menschen, damit immer mehr multimorbide Patienten, die eine Multimedikation benötigen –
mit all den Interaktionen und Gefahren, die ein umfangreicher Medikamentengebrauch mit sich bringt.
Eines der Probleme in diesem Zusammenhang: Die meisten Therapiestudien wurden nicht an dem
typischen multimorbiden Klientel einer Hausarztpraxis durchgeführt, so dass die Ergebnisse dieser Untersuchungen über einzelne Therapiemaßnahmen nicht ohne Weiteres für den multimorbiden Patienten
„aufsummiert“ werden können. Vielmehr müssen sich insbesondere Hausärzte und Internisten Gedanken
darüber machen, wie sie die Medikation optimieren und reduzieren können, um gefährliche Interaktionen
möglichst zu vermeiden.
Der erste Preis, dotiert mit 15.000 Euro, wurde an das Projekt „Hausärztliche Leitlinie Multimedikation“ von der Leitliniengruppe Hessen in Kooperation mit der PMV forschungsgruppe vergeben. Die
Leitlinie zeigt nicht einfach nur Gefahren auf, sondern gibt eine ganze Menge fundierte und vor allem
auch konkrete Tipps für Ärzte. Der zweite Preis in Höhe von 5.000 Euro ging an das „Aktionsbündnis
Schmerzfreie Stadt Münster“.
Die Leser von KVH aktuell können sich selbst ein Bild von der Leitlinie machen und von ihren
praxisnahen Vorschlägen profitieren: Wir drucken die wichtigsten Teile der Leitlinie in diesem
und den folgenden Heften ab. Los geht es gleich auf der gegenüberliegenden Seite.
Glückliche Preisgewinner neben
zwei Juroren. Von links nach
rechts: Dr. med. Uwe Hüttner,
Dr. med. Alexander Liesenfeld,
Dr. Ingrid Schubert, Prof. Jürgen
Osterbrink*, Dr. med. Monika
Schliffke*, Christian Zahn*, Dr.
med. Joachim Feßler, Dr. med.
Frank Bergert, Dr. med. Klaus
Ehrenthal.
Foto: vdek / Raffaele Nostitz
* Prof. Osterbrink gehört zum Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster, Dr. Monika Schliffke und Christian Zahn sind Mitglieder
der Preisjury. Alle anderen sind Mitglieder der Leitliniengruppe Hessen.
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 29
Hausärztliche Leitlinie
Multimedikation
Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation
bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten
Konsentierung Version 1.00
16.01.2013
Revision bis spätestens
Januar 2016
Version 1.00 vom 16.01.2013
Hausärztliche Leitlinie
Hausärztliche Leitlinie
Multimedikation
Multimedikation
F. W. Bergert
M. Braun
K. Ehrenthal
J. Feßler
J. Gross
U. Hüttner
B. Kluthe
A. Liesenfeld
J. Seffrin
G. Vetter
M. Beyer (DEGAM)
C. Muth (DEGAM)
U. Popert (DEGAM)
S. Harder
(Klin. Pharmakol., Ffm)
H. Kirchner (PMV)
I. Schubert (PMV)
Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation
Empfehlungen
zumund
Umgang
mit Multimedikation
bei Erwachsenen
geriatrischen
Patienten
bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten
Anmerkung:
Die Leitlinie
Multimediaktion
umfasst
Konsentierung
Version
1.00 insgesamt knapp
100 Seiten. Wir veröffentlichen angesichts des Umfangs
Konsentierung
Version 1.00
16.01.2013
nur die wichtigsten Aspekte, aufgeteilt auf mehrere Hefte.
In diesem16.01.2013
Heft finden Sie den ersten Teil.
Revision bis spätestens
Die gesamte Leitlinie einschließlich der im Text erwähnRevision
bis
spätestens
Januar
2016
ten Anhänge
und
Literaturstellen
(Ziffern in eckigen
Klammern),
die hier
Januar
2016nicht abgedruckt sind, finden Sie im
Internet unter www.kvhessen.de/Leitlinie oder www.
pmvforschungsgruppe.de. Auf dieser Webseite bitte
den Cursor in der Menü-Leiste im oberen Teil der Seite
Version 1.00
vom 16.01.2013
auf Publikationen
positionieren
und im aufklappenden
Version
1.00 vomklicken.
16.01.2013
Untermenü
auf Leitlinien
Dann können Sie die
gesamte Leitlinie einsehen bzw. als PDF-Datei auf Ihren
Computer herunterladen. Eine weitere Bezugsquelle finden Sie unter www.leitlinien.de. Dort oben auf „Leitlinie
finden“ klicken, dann links Anbieter auswählen, anschließend führt unter L die „Leitliniengruppe Hessen“ zu den
hausärztlichen Leitlinien.
F. W. Bergert
Braun
F. W.M.Bergert
K. Ehrenthal
M. Braun
J. Feßler
K. Ehrenthal
Gross
J.J.Feßler
U.J.Hüttner
Gross
Kluthe
U.B.Hüttner
A. Liesenfeld
B. Kluthe
J. Seffrin
A. Liesenfeld
G.Seffrin
Vetter
J.
M. Beyer (DEGAM)
G. Vetter
Muth (DEGAM)
(DEGAM)
M.C.Beyer
U.C.Popert
(DEGAM)
Muth (DEGAM)
S. Harder
U. Popert (DEGAM)
(Klin. Pharmakol.,
Ffm)
S. Harder
H.
Kirchner
(PMV)
(Klin. Pharmakol., Ffm)
I. Schubert
(PMV)
H.
Kirchner (PMV)
I. Schubert (PMV)
Seite 30
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
Warum eine Leitlinie zur Multimedikation?
Liebe Kolleginnen und Kollegen
Fast 20 Jahre haben wir für Sie hausärztliche Leitlinien erstellt mit dem Ziel, Ihnen Unterstützung
anzubieten, mit der Sie sicher sein konnten, Ihre
Patienten leitliniengerecht, d. h. evidenzbasiert
und nach guter medizinischer Praxis zu behandeln.
Wenn Sie das getan haben, haben Sie mit den
Jahren gesehen, dass bei Ihren älter werdenden
Patienten immer mehr Medikamente zusammenkamen. Darüber sind Sie sicher auch bisweilen
besorgt. Mit Recht. Wir auch!
Ja, werden Sie sich vielleicht fragen, die einzelnen
Leitlinien empfehlen aber für diese Erkrankungen
doch genau diese Wirkstoffe, sie sind doch alle
wichtig und richtig. Sicher, aber die Leitlinien beschreiben keine Therapieempfehlungen für multimorbide Patienten! Deshalb müssen wir jeweils
genau prüfen, ob die Empfehlung einer Leitlinie
auch für den vor uns sitzenden multimorbiden
Patienten passend ist. Wir werden klären müssen,
welche Probleme vorrangig sind und einer medikamentösen Behandlung bedürfen und welche nicht.
Diese Entscheidungen sollte übrigens nicht der Arzt
allein, sondern gemeinsam mit seinem Patienten
treffen, der meist seine persönlichen Präferenzen
hat und diese in die Entscheidungen einbringen
können sollte.
Arzneitherapie ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Gerade bei Patienten mit Multimedikation stellen sich häufig neue Herausforderungen:
Als Hausärzte müssen wir die Therapie erfragen,
überwachen, überprüfen. Welche Medikation des
Patienten ist noch aktuell? Was ist inzwischen
verzichtbar? Gibt es neue Erkenntnisse? Auch
liebgewonnene Gewohnheiten müssen von uns
kritisch überdacht und manchmal auch über Bord
geworfen werden, wollen wir unseren Patienten
aktuelle Medizin bieten und sie gleichzeitig vor
Schaden bewahren. Das kann zum Beispiel bedeuten, bei der Verordnung eines neuen Wirkstoffes
eine andere Substanz abzusetzen, damit kein unüberschaubarer, unberechenbarer Cocktail daraus
wird oder gefährliche Interaktionen eintreten. All
dies setzt voraus, dass Sie sich schnell über die aktuelle Medikation informieren können.
Als Leitliniengruppe beschäftigte uns folglich die
Frage, wie wir die Arzneitherapie sicher handhaben
können. Was ist zu beachten, wenn Patienten mehrere Arzneimittel gleichzeitig einnehmen? Hierzu
gibt die Leitlinie einige Hilfestellungen, die Sie bei
Ihrer Therapie unterstützen sollen. Sie sehen, dass
Sie nicht allein mit dem Problem dastehen, multimorbide Patienten richtig und ihren Bedürfnissen
gerecht zu behandeln.
Und vielleicht können wir Ihre Begeisterung für
das Thema wecken!
Wir freuen uns jedenfalls auf Ihre Rückmeldungen und Anregungen.
Ihre Leitliniengruppe
Hausärztliche Schlüsselfragen
Wie erfasse ich die Medikation?
Wie erfahre ich die gesamte Medikation (auch
die Selbstmedikation) des Patienten?
Wie erhalte ich Informationen über die Therapien anderer Behandler?
Wie erfahre ich von Anwendungsproblemen
und Widerständen gegen die Arzneitherapie
auf Seiten der Patienten?
Wie erkenne ich Einnahmefehler und NonAdhärenz?
Wie vereinfache ich das Einnahmeschema?
Wie führe ich in vertretbarer Zeit einen
Arzneimittelcheck durch?
Wie erkenne ich Risiken und Gefahren der
Multimedikation?
Wie stelle ich notwendige Dosisanpassung
(insbesondere bei älteren Patienten, bei
eingeschränkter Nieren- und Leberfunktion),
bei Multimedikation sicher?
Welche Medikamente sind im Alter mit
erhöhtem Risiko für unerwünschte Wirkungen
behaftet?
Welche spezifischen Probleme sind bei
besonderen Patientengruppen (z. B. Kinder,
Schwangere, Suchtpatienten) zu beachten?
Welche Kontolluntersuchungen sind
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
in welchen Intervallen bei Vorliegen von
Multimedikation notwendig?
Welche Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung,
um Interaktionen zu erkennen?
Wie vermeide ich Komplikationen, wenn zu
einer Dauermedikation noch eine kurzfristige
Zusatzmedikation aufgrund einer akuten
Erkrankung erfolgt?
Wie achte ich auf Symptome?
Mit welchen unerwünschten Wirkungen ist
beim Absetzen einer Medikation zu rechnen?
Wie erkenne ich arzneimittelbezogene
unerwünschte Wirkungen?
Wie unterscheidet man Nebenwirkungen
einer Therapie von Krankheitssymptomen?
Wie vermeide / reduziere ich unnötige
Multimedikation?
Wie komme ich zu einer individuellen
Priorisierung? Kann in Absprache mit dem
Patienten / Angehörigen eine Priorisierung
der Therapieziele erfolgen, um die Zahl der
Seite 31
verschiedenen Arzneimittel zu reduzieren?
Wie evaluiere ich die Notwendigkeit einer
bestehenden Therapie bzw. Therapiefortsetzung?
Welchen Stellenwert haben symptomatische
und kausale Therapieziele beim einzelnen
Patienten?
Wie kann ich den individuellen Nutzen einer
– auch evidenzbasierten – Therapie für den
Patienten einschätzen?
Wie erkenne ich trotz Multimedikation eine
Unterversorgung?
Nach welchen Kriterien sollte die Weiterverordnung der nach Krankenhausentlassung
empfohlenen Medikamente erfolgen?
Kann Multimedikation ein möglicher
Hinweis auf eine Fehlbehandung sein
(z. B. Verordnungskaskade)?
Wie schätze ich das individuelle Risiko für
Nebenwirkung und Interaktion ab?
Wie kann der Patient zu aktivierenden,
nicht-medikamentösen Maßnahmen
motiviert werden?
Einführung
Epidemiologie der Multimorbidität
Die Behandlung von multimorbiden Patienten,
die eine Vielzahl von Medikamenten gleichzeitig
einnehmen, ist das tägliche Brot des Hausarztes.
Je nach Studie variiert die angegebene Prävalenz
von Multimorbidität zwischen 9% und 80% erwachsener hausärztlicher Patienten [2, 20]. Die
Zahlen sind dabei u. a. abhängig vom Alter der
untersuchten Patienten sowie von Art und Anzahl
der Erkrankungen, die zur Definition der Multimorbidität herangezogen werden. Prävalenzangaben
sind ohne Hinweise hierzu nur schwer einzuordnen.
Vielfach werden zur Bestimmung des Vorliegens
von Multimorbidität nur chronische bzw. das
Gesundheitsschicksal wesentlich beeinflussende
Erkrankungen berücksichtigt, jedoch verwendet
fast jede Untersuchung bis heute eigene Kriterien,
was Vergleiche zwischen Studien und Befunden
erschwert. Eine allgemein anerkannte Definition
liegt nicht vor.
Nach dem Verständnis der Leitliniengruppe
Ist Multimorbidität das gleichzeitige Auftreten
mehrerer (zwei und mehr) chronischer oder
akuter Erkrankungen bei einer Person [1],
erfasst Multimorbidität alle gleichzeitig bestehenden Erkrankungen einer Person.
Unbestritten ist, dass die Anzahl chronischer Erkrankungen und die Anzahl der Neuerkrankungen
mit steigendem Alter stark zunehmen:
Etwa die Hälfte der über 65-Jährigen in Deutschland weist nach dem telefonischen Gesundheitssurvey (GStel03) [116] drei oder mehr relevante
chronische Erkrankungen auf.
Nach einer niederländischen Studie, die in Hausarztpraxen durchgeführt wurde, betrug die Prävalenz von Multimorbidität (definiert als das gleichzeitige Vorliegen von zwei oder mehr chronischen
Erkrankungen) bei Männern bis zum 19. Lebensjahr 11% und bei 80-jährigen Männern 74%. Bei
Frauen der gleichen Altersgruppe lag die Prävalenz
zwischen 9% und 80% [1].
In der Berliner Altersstudie, einer repräsentativen
Querschnittuntersuchung an über 70-Jährigen,
lag die Zahl noch höher. Danach hatten 88% der
älteren Patienten mindestens fünf Erkrankungen
gleichzeitig [138].
Der Hausarzt sieht im Vergleich zu den Prävalenzangaben bevölkerungsbezogener Studien in seiner
Praxis deutlich mehr multimorbide Patien-
Seite 32
KVH • aktuell
ten. Multimorbidität verursacht ein erhebliches
»Problem-Potential« in der täglichen Praxis, das
in Leitlinien oder klinischen Studien bisher leider
nur unzureichend behandelt wird. Auch in Therapiestudien sind multimorbide Probanden
meist unterrepräsentiert oder ausgeschlossen,
was die Aussagekraft der Studien für zahlreiche Patienten in der Alltagspraxis mindert
[20 nach 43].
Wann spricht man von
Multimedikation?
Multimorbidität geht in der Regel mit Multimedikation einher. Sie nimmt in den höheren Altersgruppen zu, kommt jedoch auch bei jüngeren
Patienten vor [98]. Vergleichbar der Multimorbidität
gibt es keinen wissenschaftlichen Standard zur
Messung von Multimedikation (Synonym: Polypharmazie). Auch hier reicht das Spektrum von mehreren (>1) Medikamenten in einer Periode bis hin zur
Festlegung einer bestimmten Anzahl verschiedener
gleichzeitig verordneter Arzneimittel (z. B. >5 oder
10) [102]. Entsprechend groß ist die Streuung der
Angaben zur Häufigkeit der Multimedikation.
Wie häufig und in welchem Ausmaß
tritt Multimedikation auf?
Im Jahr 2010 erhielt jeder gesetzlich Versicherte
über 65 Jahre (27,2% der Gesamtbevölkerung) im
Durchschnitt 3,6 Tagesdosen an Medikamenten als
Dauertherapie. 66% aller Arzneimittel wurden für
diese Altersgruppe verordnet [32].
In Bezug auf die Häufigkeit einer Multimedikation
im Alter, fanden Thürmann et al. 2012 bei 42%
der Patienten über 65 Jahren eine »kumulative
Polypharmazie«, definiert als eine Verordnung von
5 oder mehr Wirkstoffen innerhalb eines Quartals.
[147]. Schuler et al. ermittelten bei rund 58% der
älteren Patienten (>75 Jahre), die in einem Zeitraum
von 3 Monaten neu auf eine internistische Station
aufgenommen wurden, eine Multimedikation mit
> 6 Arzneimitteln. Diese war assoziiert mit dem
weiblichen Geschlecht, Pflegebedürftigkeit, und einer hohen Anzahl an Entlassungsdiagnosen [130].
Notwendige Multimedikation
Auch bei bewusster Verordnungsweise wird der
gemeinsam mit dem multimorbiden Patienten
konsentierte Therapieplan oftmals mehr als fünf
Substanzen umfassen. Ist das nun mindere Qualität, da man ja das empfohlene Ziel von nicht mehr
als fünf Arzneimitteln überschreitet? Unseres Erach-
Nr. 1 / 2013
tens nicht, vorausgesetzt, es handelt sich um eine
bewusste und wohlbegründete Multimedikation.
Die Therapie ist sorgfältig zu überwachen und allgemeine, unspezifische wie spezifische Beschwerden sind zu erfassen. Ein möglicher Zusammenhang von neuen Beschwerden mit der aktuellen
Medikation – besonders neu angesetzen Wirkstoffen oder Dosisänderungen – sollte überprüft
werden, z. B. durch einen Auslassversuch. Es wird
in einer Vielzahl von Fällen gelingen, den Patienten
dadurch eine Besserung seiner Lebensqualität erfahren zu lassen. Dies erfordert eine kontinuierliche
Verlaufsbeobachtung und ggf. Therapieanpassung
unter Berücksichtigung von Interaktionen, erforderlicher Dosisreduktion sowie unter Nutzung aller
Möglichkeiten von Arzneimittelsynergien. Letzteres
meint neben dem Einsatz einer Substanz für verschiedene Indikationen die Kombination mehrerer
Wirkstoffe, um die Dosis einzelner Wirkstoffe
reduzieren zu können und dadurch die Gefahr
von Nebenwirkungen zu verringern (s. hierzu den
Abschnitt Medikationsprozess).
Auch wenn das Ziel immer darin bestehen sollte,
mit möglichst wenigen Arzneistoffen auszukommen, muss man andererseits so viele Arzneistoffe
wie nötig einsetzen und darf dies nicht unterlassen,
nur um ein ideelles Ziel von maximal 5 Wirkstoffen
nicht zu überschreiten.
Wie kommt es zu einer
unerwünschten Multimedikation?
Ein Patient leidet an mehreren Erkrankungen,
zu denen die jeweiligen Leitlinienempfehlungen angewendet werden. Die meisten
Leitlinienempfehlungen sind spezifisch
auf einzelne Erkrankungen ausgerichtet,
was bei einem multimorbiden Patienten
zu ernsthaften Komplikationen führen
kann, wenn alle Einzelerkrankungen ohne ein
Gesamtkonzept therapiert werden [22]. Da
bei vielen chronischen Erkrankungen mehrere
Medikamente kombiniert werden, kommt es
schnell zu einer großen Zahl von verschiedenen
Arzneistoffen. Fünf bis zehn verschiedene Arzneimittel sind dabei keine Seltenheit [20, 54].
Ein Patient wird von verschiedenen Therapeuten behandelt (z. B. Allgemeinarzt, Neurologe, Orthopäde), die jeweils nicht oder nicht
vollständig über die parallel verlaufenden
Verordnungen durch die Kollegen informiert
sind. Die gleichzeitige Verordnung unverträglicher Arzneikombinationen kann zu iatrogenen
Krankheitsbildern führen. Beispiel: Ein
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Kopfschmerzpatient erhält vom Hausarzt Paracetamol, vom Neurologen ein Triptan, vom
Orthopäden wegen Nackenverspannungen
Tetrazepam, vom Apotheker (OTC) Ibuprofen,
von der Nachbarin »weil alles nicht hilft« ASS.
Fehlende Übersicht über die Gesamtmedikation (unzureichende Therapiepläne) und unzureichende Kommunikation zwischen allen
Beteiligten.
Es treten Nebenwirkungen auf, die nicht als
solche erkannt werden und die zum Ansetzen eines weiteren Medikaments führen
und nicht zur Modifikation des auslösenden
Medikaments: Verschreibungskaskade [117].
Nachstehend ein Beispiel für eine mögliche
Verschreibungskaskade bei einer Standardtherapie mit3 Arzneistoffen:
Übernahme von Therapieempfehlungen aus
dem Krankenhaus ohne kritische Bewertung
für die ambulante Dauertherapie. Da die stationären Verweilzeiten laufend kürzer werden,
sind die erwünschten und auch unerwünschten Wirkungen besonders im Zusammenspiel
verschiedener Arzneistoffe aus zeitlichen Gründen oftmals erst nach Entlassung präsent.
Der Patient probiert Medikamente aus, die
ihm aus der Werbung bekannt sind oder
von Verwandten und Freunden empfohlen wurden. Er behandelt sich bei häufigen
Symptomen wie z. B. Schlafstörungen oder
Verdauungsbeschwerden, mit Präparaten der
Selbstmedikation (OTC), ohne dass der behandelnde Arzt darüber informiert ist. Durch
die zunehmende Umwandlung früher rezeptpflichtiger Präparate wie z. B. Triptane, Protonenpumpenhemmer, nichtsteroidale Antirheumatika in apothekenpflichtige Präparate,
erhöht sich hier das Gefährdungspotential für
unerwünschte Arzneimittelwirkungen.
Häufig werden auch sogenannte Anti-AgingPräparate eingenommen oder angeblich harm-
Seite 33
lose und fraglich wirksame »pflanzliche Medikamente«, die Interaktionen auslösen können.
Im Laufe der Jahre werden neue Therapien
initiiert, Arzneimittel werden umgesetzt, aber
die »alten« Maßnahmen werden stillschweigend weitergeführt und erfolglose Therapien
werden nicht beendet. Dadurch kann es zu
einer Kumulation der Medikamente kommen.
Erfolgreiche Therapien werden nach Erreichen
des Therapieziels (z. B. Protonenpumpenhemmer bei Refluxbeschwerden) nicht abgesetzt.
Mögliche Reduktionen der Anzahl der Arzneimittel oder der Dosis werden aufgrund mangelnder Therapie- und Erfolgskontrolle nach
Erreichen des steady state nicht vorgenommen.
Weiterführung der Medikation trotz Änderung der Risikokonstellation (z. B. Gewichtsreduktion, Rauchstopp, Exsikkose) oder Änderung des Krankheitsbildes.
Durch wechselnde Rabattvertragsmedikation
verliert der Patient den Überblick und nimmt
identische Substanzen von unterschiedlichen
Herstellern parallel ein.
Eine gleichmäßige Medikamentengabe ist besonders bei vergesslichen Senioren oft nicht zu
sichern. Besonders, wenn sich kognitive Defizite einstellen, werden oftmals beliebig zuviel
oder zu wenig Tabletten eingenommen [35].
Multimedikation kann auch durch Verordnungen aufgrund einer Erwartungshaltung auf
Seiten der Ärzte entstehen (d. h. auf Grund
der Vorstellung, der Patient würde eine Verordnung erwarten).
Eine unerwünschte Multimedikation wird folglich
durch viele unterschiedliche Faktoren beeinflusst:
durch Verhalten des Patienten, durch Handeln des
Arztes, durch Praxisorganisation und Schnittstellen
in der Gesundheitsversorung u. a. m. (s. hierzu
[95]). Damit wird deutlich, dass eine sichere Arzneitherapie eine Managementaufgabe darstellt,
die diese Faktoren und alle Akteure mitberücksichtigen muss. Neben einer kritischen Bewertung der
Medikation (s. hierzu weiter unten) ist eine gute
Kommunikation zwischen Arzt und Patienten sowie
zu anderen Behandlern und Beratern unerlässlich.
Risiken und Gefahren der
Multimedikation
Zunächst einmal bereitet eine große Anzahl verschiedener Arzneimittel bei einem Patienten
Seite 34
KVH • aktuell
oftmals ein »ungutes Gefühl« beim behandelnden
Arzt (und oft auch beim Patienten), vor allem mit
Blick auf die steigende Interaktionsgefahr und die
Sorge, dass der Überblick verloren gehen könnte.
Durch Multimedikation kann ein »buntes« Bild an
Nebenwirkungen entstehen, die ihrerseits neue
Erkrankungen oder eine Verschlechterung bereits
diagnostizierter Erkrankungen vortäuschen:
Durch jedes neu angesetzte Medikament
steigt das Risiko für das Auftreten von unerwünschten Nebenwirkungen (UAW), Medikationsfehlern oder Arzneimittelinteraktionen
[109, 148].
Multimedikation verursacht häufig unspezifische Beschwerden, wie z. B. Müdigkeit,
Appetitlosigkeit, Schwindel, Verwirrtheitszustände, Tremor oder Stürze und kann zu
Funktionsstörungen führen, deren Ursachen
oftmals schwer zu erkennen sind [28]. In der
Folge kommt es dann zu weiteren Arzneimittelverordnungen.
Die Compliance/Adhärenz des Patienten
sinkt mit der Anzahl der Medikamente und
der Komplexität der Einnahmevorschriften
[14]. Einnahmepläne werden mit der Zunahme an verschiedenen Arzneimitteln immer
komplizierter und der Patient verliert leicht
den Überblick. Möglicherweise sinkt auch die
Motivation des Patienten zur Mitarbeit, insbesondere, wenn es bei ihm zu einer Ablehnung
der Behandlung auf Grund von Bedenken
gegen die vielen Medikamente kommt.
Paradoxerweise kommt es häufig zu einer
Unterversorgung relevanter Erkrankungen.
Multimedikation kann ein Hinweis auf eine
insuffiziente und unkoordinierte Therapie sein
[81].
Es kommt unter Multimedikation zu vermehrten stationären Behandlungen. Etwa 6,5%
aller Krankenhauseinweisungen erfolgen
aufgrund von UAW, die in bis zu 80% als
schwerwiegend bewertet werden (zit. nach
[80], s. hierzu auch [61, 148]).
Die Kosten der Therapie steigen. Die zusätzlichen Gesundheitskosten durch UAW betragen in Deutschland ca. 400 Mio Euro jährlich
[127].
Insgesamt gilt: Bei der Einnahme von mehr
als 5 Wirkstoffen ist nicht mehr vorhersehbar,
was im Organismus an Wirkungen, Interaktionen und UAWs passiert. Hier gilt: Weniger ist
mehr!
Nr. 1 / 2013
Patienten, die dauerhaft mit mehreren Arzneimitteln behandelt werden, stellen folglich eine
Risikopopulation für unerwünschte Ereignisse und
Therapieprobleme dar. An eine sichere Handhabung der Therapie stellen sich u. a. folgende Herausforderungen:
Berücksichtigung potentieller Interaktionen
bei einer zusätzlichen akuten Medikation
(Antibiotika, kurzfristiger Schmerzmittelgebrauch),
Berücksichtigung von Kontraindikationen,
Vermeidung von Doppelverordnungen durch
verschiedene Ärzte, auch als Folge z. B. von
Rabattverträgen,
Berücksichtung der Selbstmedikation durch
den Patienten,
Beachten physiologischer Veränderungen
im Alter und Auswahl für im Alter geeignete
Arzneimittel,
Auswahl eines umsetzbaren Therapieregimes,
Schulung und Information des Patienten,
Sicherstellung der Adhärenz und Vermeidung
von Anwendungsfehlern,
Ständige Aktualisierung des Medikamentenplans und regelmäßige Bewertung der gesamten Medikation.
Patienten mit Multimedikation erfordern hier besondere Aufmerksamkeit. Arzneimittelbezogene
Probleme sind insbesondere zu erwarten [106]:
Bei regelmäßiger Einnahme von fünf und
mehr Medikamenten,
bei Arzneimitteln mit enger therapeutischer
Breite oder erforderlichem Monitoring,
bei Problemen in der praktischen Durchführung der Therapie (Sicherheitsverschlüsse,
Tropfflaschen, Spritzen, Aerosole),
bei kognitiver Überforderung in der Einhaltung
des Therapieregimes durch den Patienten,
bei Patienten mit gleichzeitiger Konsultation
verschiedener Behandler,
bei fehlendem Verständnis für die Therapie.
Um die Sicherheit der Arzneimitteltherapie
und den Therapieerfolg zu gewährleisten, ist
deshalb ein strukturiertes Vorgehen im Verordnungsprozess erforderlich. Dieser wird in
den folgenden Abschnitten mit Hilfestellungen zur Medikationsbewertung vorgestellt.
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Seite 35
Medikationsprozess
Das Ausstellen einer Verordnung wird meist als
Routine betrachtet, stellt aber einen Prozess dar,
dessen Gestaltung Einfluss auf die Qualität der
Therapie und Arzneimittelsicherheit hat. Idealiter
findet dieser Prozess in enger Abstimmung mit
dem Patienten und ggf. anderen Behandlern
statt. Ausgehend von einer Visualisierung von
Bain et al (2008) [9] wird der Medikationsprozess
Schritt 1: Bestandsaufnahme Informationsgewinnung
Der Prozess beginnt mit der Präsentation des Anliegens des Patienten. Es erfolgen eine Erhebung
der Patientenprobleme, seiner Präferenzen und
Therapieziele, verbunden mit einer Anamnese und
ggf. einer körperlichen Untersuchung. Hieraus begründen sich Indikationen zur Therapie.
Prüfen Sie in Ihrer Patientenakte:
Sind relevante Vorerkrankungen bekannt,
in die folgenden Schritte eingeteilt: Bestandsaufnahme – Medikationsbewertung – Erfassung und
Abstim-mung der Therapieziele – Verordnungsvorschlag – Kommunikation – Arzneimittelabgabe
– Arzneimit-telanwendung – Monitoring, wobei
das Monitoring wieder eine erneute Bestandsaufnahme darstellt und der Prozess somit erneut
durchlaufen wird.
sind alle aktuellen Beschwerden und Diagnosen dokumentiert?
Sind Besonderheiten (Allergien, Antikoagulantientherapie) und aktuelle Laborwerte (Nierenfunktion) dokumentiert?
Zur Bestandsaufnahme gehören auch, sofern nicht
schon vorhanden, die Erhebung der Medikamentenhistorie sowie der aktuellen Medikation. Hierbei
wird der Patient nach seinen Erfahrungen und Problemen (auch Handhabungsproblemen gefragt).
Die Bestandsaufnahme der Medikation er-
Seite 36
KVH • aktuell
folgt in unterschiedlicher Intensität in der Praxis
bzw. auch beim Hausbesuch:
Stufe 1: Unstruktuiert im Rahmen einer Konsultation, z. B. bei bekannten Patienten ohne
Hinweis auf Medikationsprobleme: Überprüfung des aktuellen Medikationsplans und
Befragung nach Einnahme weiterer Medikamente inkl. Selbstmedikation. Die Erhebung
erfolgt durch den Arzt.
Stufe 2: Gezielte Überprüfung bei Neuverordnung/Wiederholungsverordnung: Überprüfung des aktuellen Medikationsplans und
Befragung nach Einnahme weiterer Medikamente inkl. Selbstmedikation während der
Sprechstunde. Die Erhebung bei Neuverordnung erfolgt durch den Arzt, bei Wiederholungsverordnung ggf. vorab durch medizinische Fachangestellte (MFA). Durch die
MFA könnte z. B. kontrolliert werden, ob das
Medikament bereits im Medikamentenplan
aufgeführt ist, ob der zeitliche Abstand zur
letzten Verordnung und die Menge plausibel
ist, ob Laborkontrollen notwendig werden.
Stufe 3: Gezielte Überprüfung anlässlich eines Briefes vom Spezialisten oder nach Krankenhausentlassung. Es erfolgt ein Abgleich
mit der vorhandenen Medikation, Festlegung
der Therapiedauer und eine Aktualisierung
des Medikationsplans sowie Festlegung von
Therapiekontrollen. Die Überprüfung erfolgt
durch den Arzt.
Stufe 4: Bei neuen Patienten sowie bei
bekannten Patienten mit Multimedikation
erfolgt die Medikationserfassung und strukturierte Bewertung (z. B. mittels MAI, s. w.
u.) mindestens einmal jährlich bzw. bei Auftreten von Therapieproblemen: Vereinbarung
eines gesonderten Termins in der Praxis, zu
dem der Patient (ggf. eine Bezugsperson)
alle Arzneimittel (inkl. Selbstmedikation) und
Packungsbeilagen von zu Hause mitbringt.
Da dies meist in einer Tüte erfolgt, wird in der
Literatur diese Erhebung auch als Brown BagMethode bezeichnet. Sie steht sinngemäß für
eine Vollerfassung der Medikation.
Die Erfassung kann in der Praxis sehr einfach
über einen handelsüblichen Scanner erfolgen. Dies ermöglicht, die Arzneimittel in der
Patientenakte zu erfassen, Interaktionschecks
durchzuführen und den Medikationsplan zu
aktualisieren.
Hausbesuche sind ebenfalls eine gute Gelegenheit, um sich einen Überblick über die vorhandenen Arzneimittel und die Handhabung
Nr. 1 / 2013
der Medikation (Stellen der Arzneimittel,
Anwendungsprobleme) zu verschaffen.
Ebenso sollten die Einhaltung des Therapieregimes
ermittelt und mögliche Gründe für Abweichungen
und Umsetzungsprobleme der Therapieempfehlungen besprochen werden [36]. Etwa die Hälfte bis
ein Drittel der für chronische Erkrankungen verordneten Medikamente werden nicht wie empfohlen
eingenommen [105, 162], wobei die Abweichungen mit der Zahl eingenommener Medikamente
zunehmen [12]. In einer Studie in hessischen
Hausarztpraxen waren fast alle untersuchten Patienten davon betroffen: sie nahmen verordnete Medikamente nicht oder in abweichender Dosierung
oder zu anderen Zeitpunkten ein als verordnet.
Auch nahmen sie Medikamente ein, von denen
ihr Hausarzt nichts wusste [103]. Häufige Gründe
für diese Abweichungen sind neben Dokumentationsproblemen in der Praxis (Medikamentenplan
nicht aktualisiert) vor allem die Fremdverordnungen
durch mitbehandelnde Ärzte und die Einnahme
frei verkäuflicher Präparate (Over-The-Counter,
OTC) [125].
Im Zusammenhang mit Therapietreue spricht man
heute von Adhärenz. Dem früher häufig verwendeten Begriff Compliance lag ein paternalistisches
Modell der Arzt-Patienten-Beziehung zugrunde,
das durch die alleinige Entscheidungshoheit des
Arztes charakterisiert war. Compliance bedeutete also, der Patient tut, was der Arzt empfiehlt.
In diesem Sinne lag auch die Verantwortung für
die Nichteinhaltung des Therapieplans einseitig
beim Patienten. Demgegenüber steht bei dem
Begriff Adhärenz die aktive Zusammenarbeit von
Arzt und Patient im Sinne einer gemeinsamen
Entscheidungsfindung (shared decision making)
und Therapiezielvereinbarung im Vordergrund.
Die Meinung des Patienten wird aktiv erfragt und
in die Behandlungsplanung einbezogen [76, 162].
Wenn der Patient sich nicht oder nur unvollständig an die zuvor vereinbarten Behandlungsabsprachen hält, spricht man von Non-Adhärenz [132].
Non-Adhärenz sollte also nicht als Problem des
Patienten verstanden werden, vielmehr ist es in der
Regel eine Kombination aus der nicht ausreichend
hergestellten Akzeptanz der Verschreibung und
mangelnder Unterstützung bei der Einnahme. Es
werden zwei Formen der Non-Adhärenz unterschieden:
Beabsichtigte Non-Adhärenz (Patient entscheidet bewusst, die Empfehlungen des
behandelnden Arztes nicht umzusetzen).
Unbeabsichtigte Non-Adhärenz (Patient
möchte den Empfehlungen folgen, hat
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
aber Probleme bei der Umsetzung oder insgesamt ein fehlendes Verständnis für die Therapie) [105].
Die Non-Adhärenz (Non-Compliance) kann unterschiedliche Ausprägungen haben. [157]
Arten von Non-Compliance [157]
Auslassen (Vergessen einzelner Arzneidosen), auch bei
täglicher Einmalapplikation.
Abweichen von der verordneten Einnahmezeit und
Dosierungsintervallen.
Einnahmepausen; vom Patienten initiierte »Drug holidays« (≥ 2 aufeinanderfolgende Tage).
Abbruch jedweder Therapie/Einnahme.
Mindereinnahme (Unterdosierung), diese ist häufiger als
Mehreinnahme (Überdosierung).
Morgendliche Einnahme ist regelmäßiger als abendliche
Einnahme.
Weniger regelmäßige Einnahme ist häufig im Intervall
zwischen Arztbesuchen, regelmäßige Einnahme in
engem zeitlichen Zusammenhang mit Arztbesuch (sog.
Toothbrush-effect, White coat compliance).
Bei auftretenden Therapieproblemen denken Sie
bitte auch an Non-Adhärenz. Prüfen Sie deshalb
in festgelegten Intervallen, was der Patient über
die Medikamente weiß, ob Bedenken gegen die
Einahme bestehen und ob der Patient der Auffassung ist, dass die Medikamente weiterhin für ihn
von Nutzen sind [105]. Bedenken Sie, dass Patienten manchmal ihre eigenen Wege gehen, und die
Wirkung der Medikamente austesten wollen, z. B.
indem sie selbstständig Arzneimittel absetzen bzw.
ansetzen. Aus einer empfohlenen Dauertherapie
kann so u. U. eine symptomorientierte Bedarfstherapie werden.
Mit den folgenden Fragen können Sie das Problem der Non-Adhärenz eingrenzen. Fragen Sie
beispielsweise,
ob der Patient mit der bisherigen Medikation
zurecht gekommen ist,
ob es bei der Anwendung der Arzneimittel
Probleme gibt, z. B. Öffnen der Packung,
Tropfenzählen, Tablettenteilen, Einnehmen (z.
B. Schlucken [122]),
ob der Patient versteht, warum die Medikamente verordnet wurden,
ob er die Einnahme der Medikamente weiterhin für sinnvoll hält,
ob der Patient die Dosierung selbstständig
erhöht oder erniedrigt,
Seite 37
ob schon einmal ein Auslassversuch gemacht
wurde,
wie der Patient die Medikamente für den
Tag/die Woche zusammenstellt, damit nichts
vergessen oder doppelt genommen wird,
wie er sich verhält, wenn eine Einnahme vergessen wurde.
Versuchen Sie ein Gesprächsklima herzustellen, in
dem es dem Patienten nicht peinlich sein muss, Unverständnis oder fehlende Zustimmung zum Therapieregime oder praktische Probleme zuzugeben!
Klären Sie mögliche Gründe der Non-Adhärenz und
stimmen Sie alle Maßnahmen, einschließlich der
Verlaufskontrollen, mit dem Patienten ab.
Weitere Hinweise, was Sie tun können, um die Adhärenz zu verbessern, gibt die Leitlinie »Medicine
adherence« des National Institute for Health and
Clinical Excellence (NICE Guideline 76 [105]).
Schritt 2: Medikationsbewertung
Zentraler Bestandteil im Prozess der Verordnungsentscheidung ist die kritische Prüfung und Bewertung der vorhandenen Medikation für jeden
Patienten. Je nach Komplexität der Patientensituation (Multimedikation, Therapieprobleme) wird
die Medikationsbewertung mit unterschiedlicher
Intensität erfolgen: von der Routineüberprüfung
bis hin zum intensiven Medikamentenreview und
ggf. anschließender Priorisierung der Arzneimittel.
Generell sollte bei Patienten mit Multimedikation (z. B. ≥ fünf Arzneimitteln, ≥ 3
chronischen Erkrankungen, eine evidenzbasierte Empfehlung gibt es hierzu nicht) mindestens einmal im Jahr eine umfassende
Erfassung und Medikationsbewertung
durchgeführt werden [133].
Bei Ihnen bekannten Patienten ohne aktuelle Hinweise auf Medikationsprobleme
sollte eine Multimedikation kritisch begleitet
werden. Empfohlen wird eine regelmäßige
Überprüfung des Medikationsplanes.
Umfassende Medikationsbewertung bzw.
Medikamentenreview:
Hilfreich hierfür sind Leitfragen, die die Verordnungsentscheidung lenken. In der Literatur werden verschiedene Vorgehensweisen [36, 123]
und Instrumente beschrieben, mit denen dies in
einer strukturierten Form erfolgen kann, wie z.B.
VASS [154], der Medication Appropriateness Index (MAI) [60], NoTears [90], Start-Stopp [48, 49].
Die Leitliniengruppe empfiehlt, die Fragen
Seite 38
KVH • aktuell
des Medication Appropriateness Index (MAI) [60]
heranzuziehen (im Folgenden auch als MedikationAngemessenheit-Interventions-Instrument bezeichnet). Der MAI wurde verschiedentlich erprobt und
evaluiert [41, 124, 137]. Er besteht aus Leitfragen,
mittels derer unnötige Medikation erkannt, die
Anwendungssicherheit erhöht und die Therapiequalität verbessert werden kann (zu MAI s. w. u.).
Die Leitfragen werden Schritt für Schritt auf Basis
der aktuellen Medikation abgearbeitet. Die auf
diese Weise systematisch zusammengetragenen
Informationen bilden die Basis für den neuen Verordnungsvorschlag.
Eine Medikationsbewertung wird auch empfohlen bei:
Patienten, bei denen eine Verschlechterung
des Gesundheitszustandes auftritt,
Patienten mit Hinweisen auf Einnahmeprobleme (Adhärenz, Handhabung, kognitive Einschränkungen),
Die Leitfragen des Medication Appropriateness
Index
Medikations neuen werden
PatientenalsderInstrument
Praxis mit zu
Multimedikation,
erfassung als Voraussetzung zur Bewertung der
Patienten mit mehreren PsychopharmakaverAngemessenheit
für
gezielte
Intervention
ordnungen,
empfohlen.
Patienten mit komplexen Medikationsplänen
Die kritische Überprüfung der Medikation mittels
MAIDie
beginnt
mitÜberprüfung
der Frage nach
der Indikation
für
kritische
der Medikation
mittels
die MAI
verordneten
anschliesbeginnt mitMedikamente.
der Frage nach Daran
der Indikation
für
senddiesollte
geprüft werden,
ob fürDaran
die Wirksamkeit
verordneten
Medikamente.
anschliesder send
Arzneimittel,
diewerden,
auf dem
Prüfstand
stehen,
sollte geprüft
ob für
die Wirksamkeit
ausreichende
Belegediefürauf
dendem
Nutzen
existieren,
der Arzneimittel,
Prüfstand
stehen,ob
neue
Erkenntnisse
vorliegen
sich
die Bewerausreichende
Belege
für den oder
Nutzen
existieren,
ob
tungneue
bereits
existierender
Studien
durch
Erkenntnisse
vorliegen
oder sich
dieExperten
Bewergegebenfalls
hat.Studien
Im Weiteren
werden
tung bereitsgeändert
existierender
durch Experten
geändert
hat. Im Weiteren
werden
alle gegebenfalls
eingenommenen
Medikamente
auf mögliche
alle eingenommenen Medikamente auf mögliche
Interaktionen, Nebenwirkungen sowie die korrekte
Nr. 1 / 2013
oder Arzneimitteln mit hohem Interaktionspotential und/oder enger therapeutischer Breite
(z. B. Antikoagulanzien und Plättchenhemmer),
Patienten mit unspezifischen Symptomen,
Patienten mit Problemen desTherapieregimes.
Medikationsprozess
Eine individuelle
Prioritätensetzung enthält der MAI
nicht. Diese erfolgt erst nach der Anwendung des
und2:nur
bei besonderen Anlässen (s. hierzu den
ÌMAI
Schritt
Medikationsbewertung
Abschnitt Prioritätensetzung). In vielen Fällen wird
sich nach Anwendung des MAI die Zahl der Arzneimittel verringern. Der MAI enthält auch keine expliziten Kriterien, ob einzelne Wirkstoffe indiziert und
angemessen sind bzw. besondere Risiken aufweisen.
Hierzu müssen ergänzend zusätzliche Instrumente
(wie z. B. die PRISCUS-Liste oder die START-STOPPKriterien, s. u.) herangezogen werden.
Die Leitfragen des Medication Appropriateness
Index
werden als
zu MedikationserfasDie Zielgruppen
undInstrument
die zunehmende
Intensiviesung
als
Voraussetzung
zur
Bewertung
rung der Medikationsbewertung lassen sichder
wieAngemessenheit
für
gezielte
Intervention
empfohlen.
folgt visualisieren:
Die Zielgruppen und die zunehmende Intensivierung der Medikationsbewertung lassen sich wie
folgt visualisieren:
Interaktionen, Nebenwirkungen sowie die korrekte
Dosierungund
und
Dauer
Verordnung
Dosierung
Dauer
derder
Verordnung
oder oder
Dop- Doppelverordnungen
überprüft.
pelverordnungen
überprüft.
Für die Medikationsbewertung erfolgt eine JaNein-Bewertung
(ohne Summenscore),
die vom
Für
die Medikationsbewertung
erfolgt eine JaBehandler in Bezug
die weitere Maßnahme
zu
Nein-Bewertung
(ohneauf
Summenscore),
die vom
bewerteninistBezug
(absetzen,
ändern zu
etc.).
Behandler
auf die Dosierung
weitere Maßnahme
bewerten ist (absetzen, Dosierung ändern etc.).
In den folgenden Abschnitten gehen wir näher auf
In
folgendenSchritte
Abschnitten
gehenein.
wir näher auf
dieden
einzelnen
des MAI
die einzelnen Schritte des MAI ein.
Medikationsprozess
KVH • aktuellÌ Schritt 2: Medikationsbewertung Seite 39
Nr. 1 / 2013
Ì MAI: Medikation-Angemessenheit-Intervention:
Instrument zur Medikationsbewertung
Der Prozess der Medikationsbewertung umfasst eine Reihe von Fragen:
Medication Appropriateness Index (MAI) (modifiziert nach Hanlon [60])

22
Hausärztliche Leitlinie
»Multimedikation«
Version 1.00
I
16.01.2013
Seite 40
KVH • aktuell
Mögliche Fragen zur Überprüfung
der Indikation
Ist die Diagnose noch gültig?
Haben sich die Umstände oder Risikofaktoren geändert z. B. bei Hypertonie, Diabetes?
Insbesondere bei betagten/schwerkranken
Patienten: ist eine Medikation zur Risikoprävention mit Blick auf die eingeschränkte
Lebenserwartung (noch) sinnvoll?
Wie lang liegt das Ereignis (Brustkrebs, Osteoporose, Thrombose, Herzinfarkt, Schlaganfall)
zurück? Welche Therapie ist weiterhin erforderlich? Gibt es Studien, die für eine lebenslange/
zeitlich begrenzte Therapie sprechen (z. B. Therapiedauer für Bisphosphonate: 3 Jahre [37])?
Ist evtl. eine neue Erkrankung aufgetreten, die
zu einer Kontraindikation einer bestehenden
Medikation führt?
Erfolgte eine Verordnung zur Behandlung
einer Nebenwirkung?
Werden lediglich klinisch nicht relevante Parameter (z. B. asymptomatische Hyperurikämie,
Hypercholesterinämie ohne nennenswerte
Risikoerhöhung) oder geringfügige Beschwerden (Befindlichkeitsstörungen) behandelt?
Gibt es für das ausgewählte Präparat in der
vorliegenden Indikation eine Evidenz?
Hinweise zur Evidenz finden sich u. a. in
Nationalen VersorgungsLeitlinien (NVL)
Leitlinien der Leitliniengruppe Hessen
DEGAM-Leitlinien
Leitlinien der Arzneimittelkommission (AkdÄ)
und der AWMF
Hilfreich sind hierbei auch Cochrane Reviews,
IQWIG-Berichte und Leitlinien aus anderen Ländern
(NICE, SIGN). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass
fehlende Studien zur Evidenz nicht zwangsläufig
bedeuten, dass kein Nutzen vorliegt.
Wenn Sie sich über eine Indikation, die Evidenz
oder ein Vorgehen in der Behandlung nicht schlüssig sind, teilen Sie dem Patienten ruhig mit, dass
Sie die Optionen in Ruhe überprüfen müssen und
vereinbaren Sie einen neuen Termin! Der Ratgeber »PraxisWissen« ermutigt, auch im Beisein der
Patienten, Informationen zu recherchieren oder
nachzuprüfen. Die Patienten nehmen dies in der
Regel positiv wahr [74].
Prüfen von Kontraindikationen
In der ärztlichen Umgangsprache ist häufig von »absoluter« oder »relativer« Kontraindikation die Rede.
Nr. 1 / 2013
Eine solche Unterscheidung gibt es in der Roten
Liste und in den medicolegal bindenden Angaben
der Fachinformation nicht. Eine als »absolut« zu verstehende Kontraindikation für ein Arzneimittel wird
in der Roten Liste® und in der Fachinformation
(dort unter 4.3) als »Gegenanzeige« bezeichnet.
Ferner gibt es in der Roten Liste die Angaben zu
»Anwendungsbeschränkungen«, die in der Fachinformation detaillierter unter »4.4. Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die Anwendung« dargestellt sind. Neben diesen Angaben der
Fachinformation sind aber auch unter dem Punkt
4.2 »Dosierung, Art und Dauer der Anwendung«
dringend zu beachten, da hier nochmals Angaben
zu Gegenanzeigen oder Vorsichtsmaßnahmen bei
besonderen Patientengruppen (Ältere, Jugendliche, Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion
etc.) gemacht werden. Häufiger werden hier in der
Fachinformation Gegenanzeigen, die in der Roten
Liste als solche dargestellt sind, z.B. durch spezielle
Dosierungsangaben wieder relativiert. In der Regel
gilt, dass nur die Angaben in der behördlich
genehmigten Fachinformation unter juristischen Gesichtspunkten bindend sind! (Zugang
zur Fachinformation: www.fachinfo.de)
Die Überprüfung auf das Vorliegen von Gegenanzeigen ist unerlässlicher Bestandteil beim Medikationsprozess, da Fehler hier auch direkte juristische
Implikationen haben. Die Verschreibung eines
Wirkstoffes trotz Vorliegens einer in der Fachinformation hinterlegten Gegenanzeige ist nur statthaft,
wenn der Patient in diese Anwendung nach Aufklärung einwilligt und dieses auch dokumentiert
ist. Diese Situation dürfte sich selten ergeben, da
für fast alle Konstellationen Wirkstoffalternativen
vorhanden sind.
Ausnahme: z. B. Metformin, für das tatsächlich die Gegenanzeige »Kreatinin-Clearance
<60 ml/min« gilt, obwohl dieser sehr strenge
Grenzwert durchaus umstritten ist. (Viele
über-gewichtige Typ-2-Diabetiker würden
sicherlich von dieser Therapie profitieren,
erhalten dies aber wegen einer Kreatininclearance von <60, aber >50 ml/min nicht).
Die Nationale Versorgungsleitlinie Diabetes
empfiehlt Metformin nach entsprechender
Information des Patienten über den out-oflabel-Einsatz und unter regelmäßigen Sicherheitskontrollen bis zu einer Kreatininclearance
von 30 ml/min ([27] s. hierzu auch [66]).
Ein Problem bei der Angabe zu Gegenanzeigen ist
die Unbestimmtheit der Angaben, insbesondere bei
älteren Wirkstoffen. So wird häufig eine nicht
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
näher spezifizierte »Leberinsuffizienz« (z. B. bei
Metformin) oder »Leberparenchym-Erkrankung«
(z. B. bei Phenprocoumon) aufgeführt. Bei neuen
Wirkstoffen wird wenigstens das Child-PughSchema zur Stadieneinteilung der Leberzirrhose
verwendet.
Mitunter sind die Angaben in der Roten Liste mit
denen der Fachinformation nicht deckungsgleich:
So gilt z. B. gemäß Roter Liste die »Leberinsuffizienz« als Gegenanzeige für Ramipril (hier
Delix®) wegen unzureichender Therapieerfahrung, während in der Fachinformation unter
4.2 (Patienten mit eingeschränkter Leberfunktion) steht: »Bei Patienten mit eingeschränkter
Leberfunktion darf die Behandlung mit Delix®
nur unter strenger medizinischer Überwachung eingeleitet werden, die Tageshöchstdosis beträgt 2,5mg Delix®«.
Insgesamt sind die Angaben in der Roten Liste®
somit restriktiver, d. h., aus defensiver Erwägung
heraus macht es Sinn, zuerst die Rote Liste zu konsultieren und danach – wenn Zeit vorhanden – die
Fachinformation.
Zu beachten ist außerdem, dass sich Fachinformationen verschiedener Generika einer Substanz
unterscheiden können.
Es macht wenig Sinn, im Rahmen dieser Leitlinie
eine Liste der wichtigsten Gegenanzeigen aufzuführen, zumal der Teufel bekanntermaßen im
Detail steckt – d. h., bei wenig beachteten oder
selten verordneten Wirkstoffen wird die Gegenanzeige übersehen, während eigentlich jeder weiß,
dass man z. B. Verapamil nicht bei AV-Block (ab
Grad II) geben darf.
Auch sind Gegenanzeigen nicht immer innerhalb einer Wirkstoffklasse gleich, d. h., was z. B.
für Ramipril gilt, muss nicht automatisch auch für
Enalapril gelten.
Fazit: Die Leitliniengruppe empfiehlt eine generelle Beschränkung des Medikationsportfolios,
da dies dem Hausarzt die Übersicht erleichtert.
Eine Reduktion der Verschreibung beim einzelnen
Patienten wird die Zahl möglicher nicht erkannter
Gegenanzeigen verringern.
Überprüfen von Interaktionen
In der Hausarztpraxis können Dauertherapien durch
interkurrente Erkrankungen problematisch werden,
indem kurzfristig parallel weitere Medikamente ins
Spiel kommen. Anlässe hierfür können z. B. Infekte und Schmerzzustände sein. Interaktionen sind
auch zu bedenken, wenn eine neue Dauertherapie
angesetzt wird.
Seite 41
Nicht immer treten Interaktionen, trotz vielfältiger
Warnhinweise einschlägiger Software, obligat
auf, und nicht immer haben Interaktionen eine
klinische Relevanz. Manche interaktionsträchtige
Kombinationen sind mitunter klinisch nicht zu vermeiden (z.B. Phenprocoumon und Amiodaron bei
Vorhofflimmern). Bei den in der Tabelle auf den folgenden Seiten zusammengestellten Arzneimitteln/
Wirkstoffgruppen besteht allerdings eine klinisch
relevante und auch durch epidemiologische Studien belegte Interaktionsgefahr. Folgende Strategien
stehen in dieser Situation zur Verfügung:
Für bestimmte Schlüsselindikationen einen
interaktionsärmeren Partner einsetzen, z.B.
Pantoprazol als PPI, Pravastatin als CSEHemmer, Azithromycin als Makrolid,
einen Wirkstoff, wenn möglich pausieren (z.
B.Statine während einer Antibiotikagabe),
Dosisanpassung (sollte als Strategie ultimaratio sein, da nicht gut steuerbar).
Hilfestellung für Interaktionschecks
Es gibt eine ganze Reihe von elektronischen Interaktionsprüfern, die zum Teil im Hintergrund der
Praxissoftware laufen und sich auf unwillkommene
Weise durch multiple Warnhinweise aufdrängen.
Das Unterdrücken dieser Vielfalt von ungefilterten
Warnsignalen hat allerdings den Nachteil, dass die
eine oder andere tatsächlich dann relevante Interaktion nicht erkannt wird. Das Problem liegt vor
allem auch daran, dass zunehmend Interaktionen
im Rahmen der Neuentwicklung von Arzneistoffen
in vitro (z. B. durch Zellkulturen) geprüft werden
und dann ohne klinischen Beleg oder wenigstens
eine Probandenstudie Eingang in die Warnhinweise
der Hersteller finden. Andere Interaktionsmeldungen beruhen dagegen auf – teilweise historischen
– Einzelfallstudien, die sich durch wiederholte
Zitierungen dann multiplizieren. Generell ist die
Evidenz für klinisch relevante Interaktionen eher
schwach Eine geeignete Software sollte daher bei
der Überprüfung der Medikation stets die klinische
Relevanz angeben können und auch Empfehlungen
zum Management machen können, z.B. ob die
Kombination unbedingt vermieden werden soll
(was eher selten der Fall ist) oder ob es Alternativen
gibt und welche Überwachung ggf. notwendig ist
bzw. auf was der Patient selber achten soll.
Generell sollte beim Umgang mit klinisch nicht
brisanten Interaktionsrisiken bedacht werden, dass
diese Risiken im Einzelfall nicht wahrscheinlich sind,
aber insgesamt den Sicherheitsspielraum einer
Medikation verringern können. Dies kann zum
KVH • aktuell
Seite 42
einen relevant werden, wenn weitere Risikosituationen beim Patienten entstehen (z. B. Infekte,
Exsikkose, Veränderungen der Nierenfunktion).
Zum anderen ist die hohe Zahl von Arzneimittelverordnungen einzubeziehen: auch seltene Reaktionen können sich angesichts der hohen Zahl an
Verordnungen in der Hausarztpraxis auswirken.
In der Reihe dieser elektronischen Instrumente weisen wir auf folgende Produkte oder Web-Portale
hin:
www.pharmatrix.de (entwickelt von der Krankenhausapotheke der Uniklinik Tübingen),
www.hiv-druginteractions.org,
http://www.azcert.org/medical-pros/
druginteractions.cfm.
Für iPhonebesitzer und Androidnutzer gibt es
im APP-Store eine hilfreiche APP, die unter vielen
anderen Optionen einen raschen Interaktionscheck
erlaubt, auch unterwegs beim Hausbesuch. Eine
kostenlose Anmeldung ist sowohl für die Nutzung
am PC als auch für die APP erforderlich (http://
www.medscape.com).
Die nachstehende Tabelle gibt eine Übersicht zu
häufigen Interaktionen, die gefährliche Folgen
haben können. Die Auswahl beruht auf eigenen
Einschätzungen der Leitlinienautoren.
Für Grapefruitsaft und für JohanniskrautPräpa-rate (OTC und verordnungsfähige) sind
multiple Interaktionen bekannt. Das Ausmaß des
Risikos ist jedoch abhängig von der Herkunft/
Quelle (welcher Johanniskraut-Extrakt, welche
Grapefruitsorte und Erntezeit) und somit kaum
vorhersaG-BAr. Man sollte deshalb
1. multimedizierte Patienten generell vom Genuss von Grapefruitsaft abraten, zumindest sollte
dieser nicht innerhalb von 2 Stunden vor und 4
Stunden nach einer Medikamenteneinnahme
erfolgen und
2. bei Einnahme von Medikamenten vor gleichzeiti-
Nr. 1 / 2013
ger Therapie mit Johanniskrautpräparaten (OTC!)
warnen, bzw. bei Verordnung auf die Fachinformation hinsichtlich der Hinweise zur Interaktionsgefahr achten [7, 34].
Während viele Arzneistoffe durch ein oder mehrere
Cytochrom-P-450-Isoenzyme metabolisiert werden, sind andere auch als Induktoren oder Hemmer
(Inhibitoren) der Metabolisierung verschiedener
Stoffe wirksam, was zu unterschiedlichen Wirkstoffkonzentrationen führt [31]. Dadurch kann es
besonders bei Multimedikation zu Interaktionen
kommen, die nicht immer vorhersehbar sind.
Beispiele für Interaktion durch Zytochrom-P-450:
CYP 3A4 wird u. a. durch Clarithromycin
gehemmt. Eine gleichzeitige Behandlung mit
Verapamil, das zur Metabolisierung CYP3A4
benötigt, führt durch CYP3A4-Mangel zu
überhöhter Konzentration von Verapamil. Für
viele Indikationen steht mit Amoxicillin eine
interaktionsärmere Alternative zur Verfügung.
Paroxetin benötigt CYP2D6 und CYP3A4, die
ebenfalls von Metoprolol zur Metabolisierung
benötigt werden. Bei gleichzeitiger Verordnung kommt es durch Konkurrenz bei der
Metabolisierung zur Kumulation von Metoprolol, da die Verstoffwechselung durch CYPMangel behindert ist. Alternativ: Bisoprolol.
Viele Wirkstoffe führen neben ihren Haupteffekten auch zu anticholinergen (parasympatikolytischen) Begleiteffekten (z. B. trizyklische Antidepressiva, ältere H1-Antihistaminika wie Hydrazin
oder Promethazin). Spasmolytika (Butylscopolamin,
Oxybutynin) haben als Hauptwirkung anticholinerge Effekte. Diese begründen Symtome wie Mundtrockenheit und »verstopfte« Nase, in schwereren
Fällen kann sich ein sog. »Anticholinerges Syndrom« mit Verwirrtheit, Schwindel, Sehstörung
und Hyperthermie ausbilden. Meistens tritt dieses
Syndrom als Interaktion bei gemeinsamer Gabe
mehrerer anticholinerger Arzneimittel (die teilweise
auch als OTC verfüG-BAr sind) auf.
Wirkstoff 1 Wirkstoff 2 (neu)
Effekte
Was tun?
ACE-Hemmer/
AT1 Blocker
NSAR/Coxibe (z. B. Diclofenac, Ibuprofen etc.)
Wirkabschwächung des ACE- 1. Vermeiden
Hemmers (z. B. Risiko einer
2. (Selbst)Kontrolle z. B. RR und
akuten Dekompensation),
Gewicht
zusätzliche Nierenfunkti3. Wahl eines anderen Analgetikums
onseinschränkung
Diuretika
NSAR/Coxibe (z. B. Diclofenac, Ibuprofen etc.)
Wirkabschwächung des Diuretikums (z. B. Risiko einer
akuten Dekompensation).
1. Vermeiden
2. (Selbst)Kontrolle z. B. RR und
Gewicht
3. Wahl eines anderen Analgetikums
KVH • aktuell
Nr. 1 / 2013
Wirkstoff 1 Wirkstoff 2 (neu)
Effekte
Seite 43
Was tun?
CSE-Hemmer
(Pravastatin
und Fluvastatin
haben wenig
relevante Interaktionen)
Makrolidantibiotika (außer gegenseitige WirkverstärAzithromycin), Amiodakung, Risiko Rhabdomyolyse
ron Fluconazol, Fibrate,
Verapamil,
1. CSE-Hemmer während Antibiotika
pausieren
2. Vermeiden
3. Bei Notwendigkeit zu gemeinsamer
Gabe zu Pravastatin wechseln
Phenprocoumon
z. B. TMP, Cotrimoxazol,
Blutungsrisiko, Verstärkung
Metronidazol, Doxycyclin, oder Abschwächung der
Amoxicilin/ClavulansäuWirkung
reNSAR/Coxibe, Rifampicin, Phenylbutazon,
Makrolidantibiotika (alle!),
Ginseng, Ginkgo
1. Vermeiden
2. Generell: wenn ein neues Medikament dauerhaft zu Phenprocoumon gegeben wird, initial (14
Tage) INR engmaschig kontrollieren (wenigstens alle 7 Tage), vice
versa
Betablocker
Verapamil, Diltiazem
kann zu AV-Block III. Grades
führen
Kontraindiziert
Glukokortikoide
NSAR
Risiko Blutung im
Magen-Darm-Trakt
1. Vermeiden
2. wenn NSAR unumgänglich,
PPI dazu
SSRIs
NSAR
Blutung im
Magen-Darm-Trakt
1. Vermeiden
2. wenn NSAR unumgänglich, PPI
dazu.
Theophyllin
Gyrasehemmstoffe (alle),
Konzentrationsanstieg von
Erythromycin, Clarithromy- Theophyllin
cin, Fluvoxamin
1. Vermeiden
2. wenn unumgänglich, Toxizitätszeichen beachten und ggf. Spiegelkontrolle am 3.Tag.
PDE-Hemmer
für erektile Dysfunktion
Nitrate, PENT, Molsidomin
unbehandelbare, ggf. letale
Hypotonie
Kontraindiziert
QTc-Verlängerung (Terfenadin), Wirkverstärkung/
Konzentrationsanstieg
(Loratadin),
Terfenadin generell nicht
bei Multimedikation
Terfenadin, Lora- Makrolidantibiotika
tadin etc.
Dabigatran
Ketoconazol, Ciclosporin A, Blutungsrisiko, Verstärkung
Itraconazol oder Tacrolider Wirkung
mus
Kontraindiziert
Rivaroxaban,
Apixaban
Blutungsrisiko, Verstärkung
Azol- Antimykotika wie
z. B. Ketoconazol, Itracona- der Wirkung
zol und Proteasehemmer
wie z. B. Ritonavir
Kontraindiziert
Trizyklische Antidepressiva
Anticholinerge Spasmolyti- Potenzierung anticholinerger
ka (z. B. Oxybutynin)
Effekte (Mundtrockenheit,
Schwindel, Verwirrtheit)
1. Erkennen
2. Vermeiden
3. wenn unumgänglich,
auf Symtome achten
Seite 44
KVH • aktuell
Prodrugs
Prodrugs, die erst durch die Metabolisierung in die
wirksame Form überführt werden, können durch
Hemmung oder Induktion der entsprechenden
CYP-Isoenzyme die erwünschte Wirkung verlieren
oder verstärken. Beispiel für Zytochrom-Interaktionen bei Prodrugs:
das Prodrug Clopidogrel benötigt CYP2C19,
damit es in die wirksame Form überführt wird.
Dieses wird neben CYP3A4 auch von Omeprazol zu Metabolisierung benötigt. Relevanter
Effekt: Wirkungsverlust von Clopidogrel.
Auch für das Antiöstrogen Tamoxifen gilt,
dass erst eine Bioaktivierung zu Endoxifen via
CYP2D6 erfolgen muss. Dieser Schritt wird
durch starke CYP2D6-Hemmstoffe wie Fluoxetin, Paroxetin oder Chinidin behindert.
Es gibt aber zu Clopidogrel und Tamoxifen keine
belastbaren klinischen Daten zur Relevanz dieses
Interaktionstyps. Wenn möglich sollten entsprechende Kombinationen aber vermieden werden.
Arzneimittel mit Gefahr der QT-Verlängerung [62]:
Die medikamentenbedingte Verlängerung des QTIntervalls hat in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erregt. Nicht nur bei Medikamenten mit
kardialer Indikation (Antiarrhythmika) sondern auch
bei zahlreichen Medikamenten mit nichtkardialer
Indikation ist sie eine gefürchtete unerwünschte
Wirkung, da es zum Auftreten einer abnormen
QT-Verlängerung und im Zusammenhang hiermit
zum Auftreten von potenziell lebensbedrohlichen
ventrikulären Herzrhythmusstörungen vom Typ der
Torsade de pointes kommen kann. Die Liste der
Medikamente, die in der Lage sind, das QT-Intervall
zu verlängern, wird ständig erweitert. Zahlreiche
Indikationsgruppe
ZNS-Pharmaka
Magen-Darm-Mittel
Asthmamittel
Antibiotika
Virustatika
antiparasitäre Mittel
Antimykotika Antihistaminika
andere Wirkstoffe
Nr. 1 / 2013
unterschiedliche Medikamentengruppen sind betroffen. Nur zum Teil liegt ein Klasseneffekt vor;
oft sind es nur einzelne Vertreter einer Medikamentenklasse, die klinisch zu einer QT-Intervall-Verlängerung führen können. Für den verschreibenden
Arzt ist es nicht einfach, eine aktuelle Übersicht
über Präparate, die das QT-Intervall verlängern
können, zu erhalten. Die nachstehende Liste führt
auffällig viele Neuroleptika auf. Dies ist kein Zufall,
da ein großer Teil dieser Wirkstoffe mit dem Risiko
der QT-Verlängerung behaftet ist. Patienten mit
Neuroleptika sollten also diesbezüglich besonders
überwacht werden.
Hinweis: Das Risiko steigt bei Vorhandensein
von Multimedikation. Frauen neigen eher zu QTVerlängerung. Vorhandene Therapien überprüfen,
bei Patienten mit diesen Wirkstoffen ein EKG veranlassen. Patienten mit einer bereits verlängerten
QT-Zeit sowie Patienten mit Elektrolytstörungen
sollten diese Medikamente nicht erhalten. Der
Erstverordner von problematischen Medikamenten sollte ein EKG veranlassen und Nachverordner
darauf hinweisen.
Tipp: Eine nützliche Quelle für Informationen
über die Wirkung neuer und alter Medikamente
auf das QT-Intervall ist im Internet unter http://
www.azcert.org zu finden. Besondere Beachtung
ist hierbei den Interaktionen zu schenken, da die
toxischen Spiegel oft erst unter Komedikation
erreicht werden (z. B. Terfenadin zusammen mit
Makroliden). Die systematische Dokumentation
der frequenzkorrigierten QT-Zeit (QTc) bei der
Befundung eines EKG sollte in der Praxis als Hilfe
für das rechtzeitigen Erkennen von kardialen Nebenwirkungen eingeführt werden.
Wirkstoffe (Beispiele) Amitriptylin, Chloralhydrat, Citalopram, Escitalopram, Chlorpromazin, Clomipramin, Doxepin,
Felbamat, Fluoxetin, Flupentixol, Haloperidol, Imipramin, Levomepromazin, Lithium,
Methadon, Methylphenidat, Nortriptylin, Olanzapin, Paroxetin, Quetiapin, Risperidon,
Sertindol, Sertralin, Thioridazin, Tizanidin, Trimipramin, Venlafaxin Granisetron, Octreotid, Ondansetron
Salbutamol, Salmeterol, Terbutalin
Azithromycin, Clarithromycin, Erythromycin, Ciprofloxacin, Levofloxacin, Moxifloxacin,
Ofloxacin, Trimethoprim-Sulfamethoxazol
Amantadin, Foscarnet
Chinidin, Chloroquin, Mefloquin, Pentamidin
Fluconazol, Itraconazol, Ketoconazol, Voriconazol
Terfenadin
Alfuzosin, Phenylephrin, Pseudoephedrin, Tacrolimus, Tamoxifen, Vardenafil Ausgewählte Pharmaka mit nicht-kardialer Indikation, die eine Verlängerung der QT-Zeit bewirken können (nach [4]). Siehe auch: http://www.azcert.org
Nr. 1 / 2013
KVH • aktuell
Überprüfen der Dosierung
Bedenken Sie, dass im Alter die Nierenfunktion
deutlich nachlassen kann (ab dem 30. Lebensjahr
jährliche Abnahme der GFR um etwa 1%)! Eine
ärztlich dokumentierte Niereninsuffizienz fand
sich in einer Routinedatenanalyse bei ca. 7% der
60-Jährigen und Älteren, wobei mit zunehmendem
Alter die Prävalenz ansteigt [77]. Schätzungsweise
erfordern 17% der häufig verordneten Arzneimittel
eine Anpassung der Dosierung [18, 39].
Es wird empfohlen zur Überprüfung der Nierenfunktion die z. B. mit der Cockcroft-Gault-Formel
oder der MDRD-Formel errechnete glomeruläre
Filtrationsrate (eGFR) heranzuziehen, da der Kreatininwert im Serum allein von Alter, Geschlecht,
Gewicht und Körperbau abhängig ist und niedrige Werte eine schlechte Nierenfunktion nicht
ausschließen. Labore liefern heute mit für die
hausärztlichen Zwecke ausreichender Genauigkeit
eine eGFR, meist auf der Basis der MDRD-Formel,
bei der kein Gewicht angegeben werden muss.
Auch gibt es bei einigen Medikamenten Vorgaben
zur Dosisanpassung bei > 75-jährigen Patienten
(unabhängig von der aktuellen Nierenfunktion), z.
B. bei Dabigatran und Prasugrel.
Es empfiehlt sich, generell bei Patienten >65 Jahre (und natürlich auch bei jüngeren Patienten) mit
potentiell nierenschädigenden Grunderkrankungen
wie z. B. Diabetes mellitus mindestens einmal jährlich eine Kreatinin-Bestimmung und damit auch
eine Berechnung der eGFR vorzunehmen.
Liegen in Ihren Patientenunterlagen aktuelle
Informationen zur Nierenfunktion des Patienten vor?
Erhält der Patient ein Arzneimittel, bei dem
eine Dosisanpassung notwendig ist?
Wird die maximal zulässige Dosierung eingehalten?
Nicht eingesetzt werden sollten bei einer GFR <60
ml/min: Methotrexat, Enoxaparin (in therapeutischer Dosis), Lithium.
Für einige nierengängige Arzneistoffe gibt es Alternativen, die ggf. erwogen werden können wie z. B.
Digitoxin statt Digoxin
Rivaroxaban statt Dabigatran
Bisoprolol statt Atenolol
Weitere Hinweise hierzu sowie auch zur Reduktion
der Dosierung bei Antidiabetika und Antikoagulanzien bei eingeschränkter Nierenfunktion, finden
sich in Kielstein/Keller [75].
Seite 45
Praxistipps:
Arzneimittel zur Dauertherapie bei älteren Patienten zu Beginn niedrig dosieren: Start low,
go slow [75].
Überprüfung der Dosierung mittels
www.dosing.de. Dieses ist ein einfaches und
übersichtlich gestaltetes Web-Portal mit dem
in wenigen Schritten (Auswahl des Arzneistoffes, Eingabe des Serum-Kreatinin-Wertes und
des Gewichtes) die notwendige bzw. zugelassene Dosis bei Nierenfunktionseinschränkung
ermittelt wird (open source).
Die eGFR nach der MDRD kann vom Labor
automatisch mit dem Kreatinin bestimmt und
mit den Laborwerten in die Karteikarte importiert werden.
Überprüfung der Angemessenheit
der Therapie
Bei zahlreichen Medikamenten ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens – zum Teil gravierender – unerwünschter Arzneimittelwirkungen im Vergleich
zum möglichen Nutzen gerade bei älteren oder
vulnerablen Patienten erheblich. Seit über zwanzig
Jahren wird daher an Listen solcher »potentiell inadäquater Medikation« (PIM) für ältere Patienten
gearbeitet (‚Beers-Liste’ [15, 16, 144]).
Zwei inzwischen erheblich weiterentwickelte
Instrumente sind für die Praxis tauglich:
Die PRISCUS-Liste [67] hat den Vorteil, an deutsche Verordnungsrealitäten angepasst zu sein.
Die sogenannten STOPP-Kriterien (Screening
Tool of Older Persons Potentially inappropriate Prescriptions) [48, 49] sind organsystembezogen geordnet und beschreiben typische
Anwendungssituationen, bei denen an die
Absetzung einer Medikation gedacht werden
sollte. Auf sie wird weiter unten (Schritt 4:
Beenden einer Therapie) eingegangen.
Die PRISCUS Liste umfasst 83 Arzneistoffe des
deutschen Arzneimittelmarktes, die im Expertenkonsens als potentiell inadäquate Medikation (PIM)
bei älteren Patienten eingestuft wurden, da die potenziellen Risiken den Nutzen übersteigen können.
Häufige verordnete PIMs bei Älteren sind [3, 147]:
Amitriptylin
Acetyldigoxin
Diazepam
Doxazosin
Nichtretardiertes Nifedipin
Etoricoxib
Seite 46
KVH • aktuell
Die Liste kann kostenfrei unter http://priscus.net/
download/PRISCUS-Liste_PRISCUS-TP3_2011.pdf
heruntergeladen werden (s. Abschnitt: Multimedikation im Alter).
Die PRISCUS-Liste wurde in einem transparenten
Prozess auf der Grundlage von Evidenzanalysen
und einem Konsensbildungsprozess erstellt und
bietet zu jeder kritisierten Medikation Alternativvorschläge an, deren Angemessenheit vom Verordner
zu prüfen ist. Gegenüber Vorgängerlisten sind in
diesem Sichtungsprozess psychotrope Arzneimittel
noch stärker in den Vordergrund getreten; es darf
angenommen werden, dass in diesem Bereich die
größten Probleme unangemessener Verordnung
liegen. Auch die PRISCUS-Liste ist sehr umfangreich
und birgt die Gefahr der ‚Listenmedizin’, individuelle Therapiesituationen und Risikokonstellationen
nicht ausreichend abbilden zu können.
Obwohl es zahlreiche Erprobungsstudien zu
früheren ‚Listen’ gab (für PRISCUS sind sie noch
nicht abgeschlossen) ist der Nachweis, dass durch
die Vermeidung von PIMs schwere unerwünschte
Ereignisse (z. B. Stürze, Krankenhauseinweisungen)
reduziert werden können, noch nicht generell, sondern nur in Teilbereichen (psychotrope Substanzen)
erbracht worden. Dennoch führt die PRISCUS-Liste
zahlreiche risikobehaftete, teilweise auch obsolete
Therapien auf und kann deswegen als ein wertvoller Ansatzpunkt für die Medikamentenbewertung
in der eigenen Praxis herangezogen werden.
Ein weiteres Instrument zur Arzneimittelbewertung bei geriatrischen Patienten stellt für den
deutschsprachigen Raum das FORTA-Konzept dar
[47]. Grundgedanke ist hier, neben Medikamenten
mit negativer Nutzen-Risiko-Bilanz auch solche mit
unzweifelhaft positiver Bilanz aufzuführen. Auch
hier steht eine Evaluierung noch aus.
Etwa ein Drittel der zuhause lebenden älteren Menschen stürzt einmal pro Jahr. Insbesondere für so
entstandene Femurfrakturen liegt die Letalitätsrate
bei bis zu 25% [28]. Die meisten Sturzereignisse
entstehen multifaktoriell. Alle Sturz begünstigenden Faktoren sollten also nach Möglichkeit präventiv beseitigt werden.
Medikamente zählen zu den gut beeinflussbaren
Nr. 1 / 2013
Sturz auslösenden Faktoren. In einzelnen Studien
[23, 29], vor allem mit Pflegeheimpatienten, konnte
gezeigt werden, dass sich die Sturzhäufigkeit dort
durch Medikationsanpassungen um erhebliche
Anteile reduzieren ließ.
Arzneimittel, die in Verbindung mit Sturzereignissen stehen, werden als FRIDs »fall risk increasing drugs« bezeichnet. Es handelt sich v. a. um
Anxiolytika, Neuroleptika, Antidepressiva und Antihypertensiva [13, 28]. Für alle Medikamente gilt,
dass die Startdosis niedrig und die Dosissteigerung
vorsichtig erfolgen sollte: »Start low, go slow.«
Als besondere Risikogruppe gelten ältere Patienten mit neurologischen Systematrophien wie z. B.
Morbus Parkinson oder Multisystematrophien. Bei
diesen Patienten sollten Antihypertensiva besonders vorsichtig eingesetzt werden [28]. Die nachfolgende Tabelle zeigt eine Liste der Medikamente, die
das Sturzrisiko bei älteren Menschen erhöhen. In
der Regel bekommen ältere Menschen wenigstens
ein Arzneimittel aus diesen Gruppen.
Sturzrisiko fördernde Wirkstoff(gruppen)
(Fall increasing drugs - FRID)
Anxiolytika/Hypnotika/Sedativa
Neuroleptika
Antidepressiva (Trizyklika, SSRI, SSNRI,
MAO-Hemmer)
Antihypertensiva (Diuretika, ß-Blocker,
b-Blocker, Ca-Antagonisten., ACE-Hemmer)
Antiarrhythmika
Nitrate und andere Vasodilatoren
Digoxin
Opioidanalgetika
Anticholinerge Medikamente
Antihistaminika
Antivertiginosa
Orale Antidiabetika
Mod. nach [28]
Eine Patienten-Info, die Ihnen die Prävention erleichtert
Der Wert der Prävention ist für viele Patienten ziemlich abstrakt; folglich fällt es ihnen schwer, bei den präventiven Bemühung bei der Stange zu bleiben. Mit Hilfe des Risiko-Rechners arriba® lässt sich das Risiko ebenso
wie der voraussichtliche Erfolg präventiven Verhaltens gut darstellen. Ohne Erklärung geht aber auch dies
nicht – und deshalb finden Sie auf den beiden folgenden beiden Seiten - zum Kopieren und weitergeben
an Patienten – einige leicht fassbare Informationen, die Ihre Risikopatienten auf arriba® vorbereiten.
DEGAM
Informationen für Patienten
181
Deutsche Gesellschaft für
Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Er hat ein
Diabetike
Frau
Sorge
Frau
47 Jahre alt,
Hausfrau
2 Kinder
181
Sorge
47 Jahre alt,
neigt dazu, recht früh zu komHausfrau
181 Sie
men, damit eine ernste Erkrankung
ausgeschlossen
wird. Dabei möchte
2 Kinder
sie aber Odysseen durch Facharztpraxen
vermeiden.
Mo-einen erhöhten Blutdruck und ist
Er hat
Sie neigt
dazu, Vor einigen
naten hat sie eines dieser Apotheken-Plakate gesehenDiabetiker.
„Lasst
recht früh zu kommen, damit eine ernste
euer Cholesterin messen!”.
Jahre alt,
Erkrankung ausgeschlossen wird. 47
Dabei
Tatsächlich war ihr Cholesterin „hoch”,
ihr wurde geraten,
In seiner Umgebung sind in den letzten
möchte
sie aber
Odysseen durch Hausfrau
den Hausarzt
aufzusuchen.
Monaten mehrere Fälle von Herzinfarkt
Frau
Sorge
Facharztpraxen vermeiden.
2 Kinder
In seiner
Monaten
bzw. KH
„Muss i
Herz neh
Bei Herrn
deutlich h
bzw. KHK mit Angina pectoris aufgetreten.
„Muss ich jetzt Tabletten
181für mein Cholesterin nehVor
einigen Monaten hat sie eines dieser
men?”
neigt dazu, „Muss ich mehr Rücksicht auf mein
Apotheken-Plakate gesehen „LasstSie
euer
recht
früh
zu kommen,
damit
eine ernste Herz nehmen?“
Cholesterin
messen!”.
Bei Frau
Sorge
zeigt
sich mit dem
Kalkulationsprogramm
ausgeschlossen
wird.
Dabei
Tatsächlich
ihrCholesterinwerten
Cholesterin
„hoch”,
dasswar
trotz
umihr
260
mg% in den Er hat einen erhöhten Blutdruck und ist
arriba®,Erkrankung
Bei nur
Herrn Süß stellt sich mit arriba ein
nächsten
10 Jahren
von 100
Frauen
mit gleichem Risiko
wurde
geraten,
den
Hausarzt
aufzusuchen.
möchte
sie aber
Odysseen
durch
Diabetiker.
deutlich
3 einenFacharztpraxen
Herzinfarkt oder Schlaganfall
vermeiden. bekommen – wenn alle höheres Risiko dar:
61 Jahre alt,
100 fürich
10jetzt
JahreTabletten
ein Statin für
einnehmen,
„Muss
mein lässt sich eines der In seiner Umgebung
verheiratet,
sind indrei
den letzten
3 Ereignisse
verhindern
(die Farbe
Orange
der Übersicht
Cholesterin
nehmen?”
Vor einigen
Monaten
hat sie
einesindieser
große
Kinder
zeigt die Ereignisse, die durch die Intervention vermieden Monaten mehrere Fälle von Herzinfarkt
Apotheken-Plakate gesehen „Lasst euer
auspectoris
dem aufgetreten.
bzw. KHK mit (alle
Angina
alt,
werden
können).
Diesich
Zahlen
Frau Sorge.
Bei
FrauCholesterin
Sorge zeigt
mitberuhigen
dem
messen!”.
Haus)
Kalkulationsprogramm
dass trotz
Tatsächlich wararriba,
ihr Cholesterin
„hoch”, ihr
„Muss ich mehr Rücksicht auf mein
Herr
Süß
Cholesterinwerten
um
260mg%
in
denaufzusuchen.Herr Süß ist
als nehmen?“
Außendienstmitarbeiter
wurde geraten, den Hausarzt
Herz
61 Frauen
Jahremit
alt,
nächsten 10 Jahren von 100
einer Firma der Chemiebranche gewohnt,
hr
61 Jahre alt, Aber er s
gleichem Risiko nur 3 einen
Herzinfarkt
verheiratet,
hart zu arbeiten und sich als Ausgleich
„Muss ich jetzt Tabletten für mein
.azu,
verheiratet,
drei
Bei Herrn Süß stellt sich mit
arriba ein
oder Schlaganfall bekommen
wenn alle
mehr als
drei–große
Kinder (alle
aus
Haus)
etwas
zu dem
gönnen.
Reichliche GeschäftsCholesterin nehmen?”
große
Kinder
ernste
deutlich
höheres
Risiko
dar:
100 für 10 Jahre ein Statin
61einnehmen,
Jahre alt, lässt
Schlagan
essen, Rauchen und ausschließliche
(alle
aus
dem
Dabei
sich eines der 3 Ereignisse
verhindern.
Die
verheiratet,
drei
Herr Süß ist als Außendienstmitvermiede
Fortbewegung mit dem PKW gehören dazu.
Bei Frau Sorge
zeigt
mit dem
Haus)
Zahlen beruhigen
Frau Sorge.
großesich
Kinder
arbeiter
einer Firma der Chemie­
Kalkulationsprogramm
dasszutrotz
(alle ausarriba,
dem
branche
gewohnt,
hart
arbeiten
Cholesterinwerten
um
260mg%
in
den
und
sich als Ausgleich etwas zu
Herr Süß ist als Außendienstmitarbeiter
Haus)
tz
nächsten
10
Jahren
von
100
Frauen
mit
gönnen.
Reichliche
Geschäfts­
einer Firma der Chemiebranche gewohnt,
dieser
gleichem
Risiko
nur
3
einen
Herzinfarkt
essen,
Rauchen
und
ausschließliche
Fortbewegung
mit
Herr Süß ist als Außendienstmitarbeiter
hart zu arbeiten und sich als Ausgleich
euer
demFirma
PKW
dazu. Er
hatgewohnt,
einen erhöhten
Blutdruck
odergehören
Schlaganfall
bekommen
– wenn alle
einer
der
Chemiebranche
etwas zu gönnen. Reichliche Geschäftsundzuistarbeiten
Diabetiker.
In
seiner
Umgebung
sind in den
letzten
Aber
er
sieht,
dassRauchen
bei einemund
Rauchstopp
100
für
10
Jahre
ein
Statin
einnehmen,
lässt
hart
und
sich
als
Ausgleich
essen,
ausschließliche
och”, ihr Monaten mehrere Fälle von Herzinfarkt bzw. KHK mit
mehr als 1/3
der
32
Herzinfarkte
bzw.
sich
eines
der
3
Ereignisse
verhindern.
Die
etwas
zu
gönnen.
Reichliche
GeschäftsFortbewegung mit dem
PKW gehören dazu.
suchen.
AnginaZahlen
pectorisberuhigen
aufgetreten.
sst
Schlaganfälle
in
seiner
Risikogruppe
Frau
Sorge.
essen, Rauchen und ausschließliche
e
61 Jahre
vermieden werden könnten …
Fortbewegung mit dem PKW gehören
dazu. alt,
Herr
Süß
e
n
ass trotz
den
mit
nfarkt
nn alle
men, lässt
ern. Die
Herr
Süß
Herr
Süß
Herr
Süß
„Muss ich mehr Rücksicht auf mein
Herz nehmen?“
verheiratet,
drei
große Kinder
Bei Herrn Süß stellt sich mit arriba® ein deutlich höheres
dem
Risiko dar: Aber er sieht, dass bei (alle
einemaus
Rauchstopp
mehr
Haus)
als 1/3 der 32 Herzinfarkte bzw. Schlaganfälle in seiner
Risikogruppe vermieden werden könnten …
Herr Süß ist als Außendienstmitarbeiter
einer Firma der Chemiebranche gewohnt,
hart zu arbeiten und sich als Ausgleich
etwas zu gönnen. Reichliche Geschäftsessen, Rauchen und ausschließliche
Aber er sieht, dass bei einem Rauchstopp
mehr als 1/3 der 32 Herzinfarkte bzw.
Schlaganfälle in seiner Risikogruppe
vermieden werden könnten …
DEGAM
Informationen
für Patienten
XtraDoc Verlag Dr. Wiedemann, Winzerstraße 9, 65207 Wiesbaden
PVSt Deutsche Post AG,
Entgelt bezahlt,
68689
Deutsche Gesellschaft für
Allgemeinmedizin und Familienmedizin
Deutsche Gesellschaft für
Allgemein- und Familienmedizin
Dr. med. Uwe Popert / Abteilung für Allgemeinmedizin,
Präventive und Reha-bilitative Medizin
Die Erstellung der Information erfolgte
unentgeltlich – es bestehen keine Interessenkonflikte.
Diese Information wurde überreicht von
arriba ist ein Programm, mit dem
Hausärzte für Ihre Patienten eine
individuelle Risikoprognose für Herzinfarkt
und Schlaganfall erstellen können.
Auszeich
arriba w
zwei Preis
Merten-Pre
PH863453V
Die Wahrscheinlichkeit für einen Patienten
Gesundhei
einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu
erleiden wird optisch demonstriert, die
Effekte von Verhaltensänderungen oder
medikamentöser Therapien werden
anschaulich dargestellt.
Wie hoch ist mein Herz- und Gefäß-Risiko?
Hausärzte und Patienten können so über
Werde ich einen Herzinfarkt oder Schlaganfall tisch demonstriert, die Effekte von Verhaltensänderungen
eine dem objektiven kardiovaskulären
oder medikamentöser Therapien werden anschaulich darbekommen?
Gesamtrisiko und den subjektiven
gestellt. Hausärzte
und Patienten können so über eine dem
Präferenzen des Patienten gleichermaßen
kardiovaskulären
Gesamtrisiko
und den subjekNatürlich können wir die Zukunft nicht exakt vor- objektiven
Rechnung
tragende Therapie
gemeinsam
tiven
Präferenzen
des
Patienten
gleichermaßen
Rechnung
hersagen – aber inzwischen lässt sich das individuentscheiden.
tragende
Therapie
gemeinsam
entscheiden.
elle Risiko für zukünftige „Gefäßereignisse“ relativ
Ihre Hausa
Entwickelt von den Abteilungen für
gut einschätzen.
Entwickelt
wurde das Programm
von den Abteilungen für
wie diese B
Allgemeinmedizin
der Universitäten
Allgemeinmedizin
der Universitäten
Marburg, Düsseldorf
durchgefüh
Marburg,
Düsseldorf
und
Rostock.
Die meisten Risikofaktoren (Nikotin, Mangel an Be- und Rostock. Gefördert wurde es vom Bundesministerium
Gefördert vom Bundesministerium für
wegung, Cholesterin, Blutdruck, Alter, Vererbung, für Bildung und Forschung.
Bildung und Forschung.
Überreich
Diabetes, …) sind nicht nur bekannt, sondern lassen
sich inzwischen in Formeln als „Gefäßrisiko“ errechnen und darstellen. Und noch mehr: man kann
aus großen Studien auch ableiten, wie gut einzelne
Therapieoptionen schützen können.
180
arriba® ist ein Programm, das auf den gerade
erwähnten Formeln aufbaut. Mit ihm können
individuelle
 ist einHausärzte
Programm,für
mitIhre
demPatienten eine Auszeichnungen
Risikoprognose
für Herzinfarkt und Schlaganfall
rzte für Ihre
Patienten eine
erstellen.
Auszeichnungen
duelle Risikoprognose für Herzinfarkt
arriba wurde
innerhalb kurzer Zeit mit
arriba® wurde innerhalb kurzer Zeit mit zwei Preisen ausgechlaganfall erstellen können.
zwei Preisen ausgezeichnet, dem RichardEine
Patientenin
Die Wahrscheinlichkeit für einen Patienten, einen zeichnet, dem Richard-Merten-Preis 2008- und
dem Berliner
Merten-Preis
2008
und
dem
Berliner
Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, wird op- Gesundheitspreis 2008.
ahrscheinlichkeit
für einen Patienten
Herzinfarkt oder Schlaganfall zu
n wird optisch demonstriert, die
e von Verhaltensänderungen oder
amentöser Therapien werden
ulich dargestellt.
Mein Gefäß
Gesundheitspreis 2008.
Werde ich einen
oder Schlaganfall b
Natürlich können wir a
nicht exakt vorhers
inzwischen lässt sich d
Risiko
für
„Gefäßereignisse“
einschätzen.
rzte und Patienten können so über
em objektiven kardiovaskulären
mtrisiko und den subjektiven
enzen des Patienten gleichermaßen
ung tragende Therapie gemeinsam
eiden. Falls auch Sie Ihr persönliches Herz- und Gefäßrisiko kennen lernen möchten, sprechen Sie uns
darauf an. Wir ermitteln gerne das Risiko mit arriba® und beraten Sie bei den
Konsequenzen,
Die
meisten Risikofak
die Abteilungen
aus dem Ergebnis
des Risiko-Kalkulators
zu ziehen
sind.
so etwas imMangel
Prinzip ablaufen
an Bewegung
Ihre Hausarztpraxis
informiert
SieWie
gerne,
ckelt von den
für
beiden
Beispiele
auf der Rückseite.
wiedie
diese
Beratung
mit arriba
meinmedizin der Universitäten kann, zeigen
Blutdruck,
Alter,
durchgeführt
werden
kann.
rg, Düsseldorf und Rostock.
Diabetes, …) sind nich
dert vom Bundesministerium für
sondern lassen sich
g und Forschung.
Überreicht durch:
Formeln als „Gefäßris
Herunterladen