Deutsches Reich,

Werbung
Deutsches Reich,
amtliche Bezeichnung des deutschen Staates 1871þ1945. Zum Gebiet des Deutschen
Reichs gehörten 1871þ1918 (Kaiserreich) 25 Staaten (vier Königreiche, sechs
Großherzogtümer, fünf Herzogtümer, sieben Fürstentümer und drei Freie Städte) und
das 1871 annektierte Elsass-Lothringen, das direkt vom Reich verwaltet wurde
(»Reichsland«). Der íVersailler Vertrag (28.ÿ6. 1919) gab Elsass-Lothringen an
Frankreich zurück; der größte Teil Westpreußens und die Provinz Posen fielen an
Polen, Danzig unterstand dem Völkerbund. Während der Weimarer Republik
1918/19þ33 umfasste das Deutschen Reich 18 Länder, die formal auch im sogenannten
Dritten Reich 1933þ45 fortbestanden (ídeutsche Geschichte). Die Reichsgründung
verwirklichte die Ziele der deutschen Nationalbewegung, die seit 1848 mehrheitlich
einen »kleindeutschen« Nationalstaat ohne Österreich gefordert hatte. Dennoch lebten
in den Grenzen des Deutschen Reiches bis 1918 große nationale Minderheiten (v.ÿa.
Franzosen, Polen und Dänen). Durch die Gebietsabtretungen von 1919 war die
Weimarer Republik national homogener als das Kaiserreich. Der Nationalsozialismus
ging nicht mehr von einer nationalen, sondern von einer rassischen Grundlage des
Deutschen Reiches aus. Mit der Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1945 endete die
Geschichte des Deutschen Reiches.
Verfassung:
Verfassungsgeschichtlich war das Deutsche Reich nacheinander eine konstitutionelle
Monarchie, eine parlamentarische Monarchie, eine parlamentarische Republik und eine
Diktatur. Der seit 1871 Deutsches Reich genannte Staat war aus einer Erweiterung des
Norddeutschen Bundes (1866/67þ70) hervorgegangen. Durch die Novemberverträge
von 1870 traten die süddeutschen Staaten dem Norddeutschen Bund bei, der sich in
Deutsches Reich umbenannte (19.ÿ12. 1870). Das Deutsche Reich existierte
staatsrechtlich ab 1.ÿ1. 1871 und war eine konstitutionelle Monarchie
(Kaiserproklamation am 18.ÿ1. 1871 in Versailles, früher sogenannter
Reichsgründungstag; Reichsverfassung vom 16.ÿ4. 1871) und ein Bundesstaat. Die
Kompetenzen des Reiches waren in Artikelÿ4 der Reichsverfassung enthalten (v.ÿa.
auswärtige Angelegenheiten, Post, Marine); 1873 fiel das öffentliche Recht in die
Reichszuständigkeit; Reichsgesetze wurden von den Länderverwaltungen umgesetzt.
Es entstand ein kooperativer Föderalismus, der bis heute Bund und Länder politisch
miteinander verflechtet. Die Organe des Deutschen Reiches von 1871 waren der
Bundesrat, das Bundespräsidium und der Reichstag. Im Zentrum der Reichsinstitutionen
stand dabei der Bundesrat; sein Präsidium trug den Titel »Deutscher Kaiser«. Aus der
Geschäftsführung des Bundespräsidiums heraus entwickelte sich die Reichsregierung.
Der Bundesrat setzte sich aus Vertretern der 25 Bundesstaaten zusammen. Obwohl
Preußen zwei Drittel des Reichsgebietes und 60ÿ% der Reichsbevölkerung besaß,
kamen ihm nur 17 von 58 Stimmen zu. Damit war Preußen auf die Zustimmung weiterer
Staaten angewiesen, um die Politik im Reich zu gestalten. Die Souveränitätsfrage ließ
die Reichsverfassung von 1871 offen. Einerseits war das Reich ein »ewiger Bund« der
Fürsten, andererseits verkörperte der in allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen
von allen Männern über 25 Jahren gewählte Reichstag die Volkssouveränität. Beide
Souveränitätsprinzipien konkurrierten bis 1918 miteinander. Das Bundespräsidium war
dem preußischen König als »Deutschem Kaiser« erblich vorbehalten, der u.ÿa. den Bund
völkerrechtlich nach außen vertrat, Krieg erklären und Frieden schließen konnte, die
Streitkräfte befehligte sowie das Recht besaß, Bundesrat und Reichstag einzuberufen
und zu schließen. Auch war der Reichskanzler vom Vertrauen des Kaisers und nicht des
Reichstags abhängig. Erst mit dem Kabinett Prinz Max von Badens wurde das Deutsche
Reich vom 3.ÿ10.þ9.ÿ11. 1918 eine parlamentarische Monarchie.
Nach der Novemberrevolution (1918) wurde das Deutsche Reich eine parlamentarische
Republik (»Weimarer Reichsverfassung« vom 11.ÿ8. 1919, Abkürzung WRV) auf der
Basis der Volkssouveränität. Ihre Organe waren der aus allgemeinen, unmittelbaren,
gleichen und geheimen Wahlen (mit Frauenwahlrecht) hervorgegangene Reichstag, der
Reichsrat als Vertretung der deutschen Länder, der Reichspräsident und die
Reichsregierung. Am 11.ÿ2. 1919 wählte die Nationalversammlung in Weimar den
Sozialdemokraten F.ÿEbert zum ersten Reichspräsidenten. Am 26.ÿ4. 1925 wurde
Generalfeldmarschall P.ÿvon Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt und am 10.ÿ4.
1932 in diesem Amt bestätigt. Die Bedeutung des per Direktwahl durch das Volk
(Amtsdauer 7 Jahre) bestimmten Reichspräsidenten wuchs in der Weimarer Republik;
er übernahm die Funktion eines »Ersatzmonarchen«. Nach außen vertrat er
völkerrechtlich das Reich, im Innern hatte er den Oberbefehl über die Wehrmacht inne
und ernannte und entließ den Reichskanzler. Der Reichskanzler und die Mitglieder der
Reichsregierung bedurften einzeln des Vertrauens des Reichstages. Reichsgesetze
wurden vom Reichstag beschlossen. Die Reichsebene insgesamt war in der Weimarer
Republik stärker ausgeprägt als im Kaiserreich. Der Bundesstaatscharakter des
Deutschen Reiches tratÿþ wenn auch formal weiter gültigÿþ politisch mit der Absetzung
der preußischen Regierung am 20.ÿ7. 1932 (»Preußenschlag«) und dem
nationalsozialistischen »Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich« (31.ÿ3.
1933) zurück. 1933þ45 war das Deutsche Reich ein diktatorisch regierter Einheitsstaat.
Die klassische Legitimitätsgrundlage nationaler Staatlichkeit, die Identität von
Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt (G.ÿJellinek), verschwand nach 1933. Die
Nationalsozialisten ersetzten den Reichspräsidenten durch den »Führer« und das
Staatsgebiet durch das Konzept des »Lebensraumes«. Die Staatlichkeit des Deutschen
Reiches erodierte zum Erfüllungsmechanismus der nationalsozialistischen Rassen- und
Vernichtungspolitik. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands am 7. und 8./9.ÿ5.
1945 bedeutete das Ende der deutschen Nationalstaatlichkeit, wie sie im Reich von
1871 ihre erste politische Form gefunden hatte.
Über das Reichswappen íReichsadler. Über die Reichsflaggen ídeutsche Farben.
Die Verleihung von Orden war während des Kaiserreiches Sache der monarchischen
Bundesstaaten. Die drei Stadtstaaten hatten keine Orden (mit Ausnahme des
Hanseatenkreuzes im Ersten Weltkrieg) und lehnten die Orden der übrigen
Bundesstaaten ab. Während des Ersten Weltkrieges erhielten die preußischen Orden,
besonders das Eiserne Kreuz und der Pour le Mérite, die Stellung allgemeiner deutscher
Orden. Die Weimarer Verfassung verbot die Verleihung von Orden und Ehrenzeichen
durch den Staat und die Annahme ausländischer staatlicher Orden durch Deutsche,
gestattete aber das Tragen der Kriegsauszeichnungen des Ersten Weltkrieges.
Rechtslage 1945þ90:
Aus staats- und völkerrechtlicher Sicht blieb umstritten, ob das Deutsche Reich nach
seinem militärischen Zusammenbruch im April/Mai 1945 als Rechtssubjekt fortbestand.
Die Diskontinuitätstheorien (Untergangstheorien) verneinten dies. Nach ihnen war der
bis 1945 Deutsches Reich genannte Staat untergegangen, Bundesrepublik Deutschland
und DDR waren als Nachfolgestaaten entstanden. Innerhalb dieser Konzeption blieb
strittig, zu welchem Zeitpunkt das Deutsche Reich untergegangen war; zum Teil
(politisch bis 1989 vertreten durch die Ostblockstaaten) wurde der Untergang im Mai
1945 angenommen und mit der Debellation (im Völkerrecht die militärische
Niederringung eines feindlichen Staates) begründet; zum Teil wurde in der
Neugründung von zwei deutschen Staaten, Bundesrepublik Deutschland und DDR, eine
Dismembration (im Völkerrecht die Zergliederung eines Gesamtstaates in unabhängige
Einzelstaaten) gesehen.
Nach den Kontinuitätstheorien (Fortbestandstheorien) dagegen bestand das
Deutsche Reich fort. Ihnen zufolge war die militärische Besetzung Deutschlands als
völkerrechtliche »occupatio bellica« anzusehen; die Übernahme der höchsten Gewalt
durch die Alliierten führte danach nicht den Untergang des Deutschen Reichs herbei,
zumal keine Annexion stattgefunden hatte; nach 1945 war die Mehrzahl der deutschen
Gesetze in Kraft geblieben, neu ernannte Beamte waren als deutsche, nicht als alliierte
Beamte eingesetzt worden; außerdem habe es auch nach dem Mai 1945 ein deutsches
Staatsvolk gegeben.
Die Existenz und Rechtsstellung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR wurden
bis 1989/90 auf dem Boden dieser Theorien unterschiedlich gedeutet: Die
Identitätstheorie nahm die rechtliche Identität eines der beiden neu entstandenen
Staaten mit dem Deutschen Reich an; sie wurde von den Bundesregierungen bis etwa
1969 im Sinne der Identität von Deutschem Reich und Bundesrepublik Deutschland
vertreten. Für die Kernstaatsthese war die Bundesrepublik Deutschland das die
Kontinuität des Deutschen Reichs wahrende Kernstück. Die Dachtheorie (weitgehend
identisch mit der Teilordnungslehre) verstand die Bundesrepublik Deutschland und die
DDR als eigenständige Teilordnungen unter dem fortbestehenden Dach des Deutschen
Reichs. Eine dieser staatlichen Teilordnungen (nach bis 1989 verbreiteter westlicher
Meinung wegen der mangelnden demokratischen Legitimation der DDR nur die
Bundesrepublik Deutschland) trat in einer Art treuhänderischer Wahrnehmung der
Aufgaben und Rechte des über keine besonderen Organe mehr verfügenden
Gesamtstaates (Deutsches Reich) auch und zugleich als Repräsentant des
Gesamtstaates auf.
Das Bundesverfassungsgericht stellte in seiner Entscheidung vom 31.ÿ7. 1973 (zum
Grundvertrag) fest, dass das Grundgesetz vom Fortbestand des Deutschen Reichs
ausgehe und dass auf deutschem Boden zwei Staaten existiertenÿþ die Bundesrepublik
Deutschland und die DDRÿþ, die im Verhältnis zueinander nicht Ausland sind. In den
fortbestehenden Rechten und Verantwortlichkeiten der vier Besatzungsmächte für
»Deutschland als Ganzes« (Viermächtestatus) blieb bis 1990 ein Rest der Existenz des
Deutschen Reichs sichtbar.
Rechtslage nach 1990:
Nach der Wiederherstellung der ídeutschen Einheit durch den Beitritt der DDR zum
Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (3.ÿ10. 1990)
sowie dem Abschluss und der Ratifizierung des Zwei-plus-vier-Vertrags vom 12.ÿ9. 1990
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR einerseits und den vier
Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs andererseits umfasst das vereinigte
Deutschland das Gebiet der früheren Bundesrepublik Deutschland, der ehemaligen
DDR und Berlins. Mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag sowie dem Deutsch-Polnischen
Grenzvertrag vom 14.ÿ11. 1990 (in Kraft seit dem 16.ÿ1. 1992) wurde völkerrechtlich
verbindlich der Anspruch auf die Teile des früheren deutschen Reichsgebietes
(zwischen der Oder-Neiße-Linie im Westen und der Grenze des Deutschen Reiches
vom 31.ÿ12. 1937 im Osten; ehemalige sogenannte deutsche Ostgebiete) aufgegeben;
die Außengrenzen Deutschlands sind danach endgültig. Die vier Mächte beendeten ihre
Rechte und Verantwortlichkeit in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes (2.ÿ10.
1990). Deutschland erlangte damit wieder seine volle Souveränität. Rechtlich ist seitdem
das vereinigte Deutschland als identisch mit dem Deutschen Reich anzusehen.
(c) Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2009
Herunterladen