magazin zum lebenskundlichen unterricht

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Thema
MAGAZIN ZUM LEBENSKUNDLICHEN UNTERRICHT
AUSGABE 1.2014
www.katholische-militaerseelsorge.de
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zum Thema | Ausgabe 1.2014 | 1914 – 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg
zum
Thema
5
– Themenmagazin für Soldatinnen und Soldaten
zum Lebenskundlichen Unterricht
Liebe Soldatinnen,
liebe Soldaten!
I
n diesem Jahr wird auf vielfältige Weise an den Ausbruch des Ersten
Weltkrieges vor 100 Jahren erinnert. Zahlreiche Bücher, vor allem
von Historikern und Politikwissenschaftlern, kommen auf den Markt.
In Tages- und Wochenzeitungen erscheinen immer wieder Beiträge
zu diesem Gedenkjahr. Verschiedene Fernsehsender bringen Dokumentationen auf den Bildschirm. Bildungshäuser haben das Thema
in ihr Programm aufgenommen und öffentliche Veranstaltungen tragen ihren
Teil zur Beschäftigung mit dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie
dieser Weltkrieg einmal genannt wurde, bei. „Es ist doch bereits so lange
her“, werden Sie vielleicht sagen – und haben damit natürlich recht. „Warum
soll man sich also damit noch beschäftigen?“ Genau darauf möchte dieses
Magazin, das Sie gerade in den Händen halten, eine Antwort geben.
Gewiss erkennen Sie als Soldatinnen und Soldaten den Primat der Politik an.
Schließlich ist es die Politik, genauer: das Parlament, das Sie in einen militärischen Einsatz schickt. Aber: Sich von der Politik nur instrumentalisieren und
sich untertänig auf die Schlachtbank des Gefechtsfeldes führen lassen (wie
im Ersten Weltkrieg geschehen) – das wollen Sie gewiss nicht. Insofern sind
Sie nicht „raus aus dem Schneider“, soll heißen: raus aus der eigenen Verantwortung! Als „Staatsbürger in Uniform“ gilt es, politische Entwicklungen in
ihrer Vielfältigkeit und ihren globalen Zusammenhängen gut zu verfolgen,
damit nicht Regierungen wie „Schlafwandler“ (so der Titel eines der meistdiskutierten Bücher zum Ersten Weltkrieg) und eine ganze Staatenwelt wie
in einem scheinbar unaufhaltsamen Automatismus in einen Krieg geraten,
den letztlich niemand will. Und haben nicht gerade in jüngster Zeit namhafte
Sicherheitsexperten bezüglich der Ukraine-Krise davor gewarnt? Deshalb ist
gerade die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges so interessant, weil sich hier
aufgrund der zeitlichen Distanz bzw. des inzwischen faktenreichen Kenntnisstandes gut zeigen lässt, wie sich durch das Zusammenwirken unzähliger
Faktoren über einen langen Zeitraum immer bedrohlicher ein „Gewitter“ –
natürlich durch Menschen verursacht und nicht durch Naturgesetze determiniert – zusammenbraute, für dessen Entladen es dann nur noch eines kleinen
Funkens bedurfte. Aber in der damaligen Gesellschaft haben die Menschen
die drohende Gefahr kaum wahrgenommen, sondern sich am wachsenden
Wohlstand und am Fortschritt der Technik berauscht. Nur „Eingeweihte“,
d. h. Politiker und Militärs, spielten mit dem unheilvollen Gedanken an Krieg.
Und eine Generation später wusste offenbar auch niemand, was der „Führer“ wirklich im Schilde führte, denn kaum jemand hatte sein Buch „Mein
Kampf“ gelesen. Insofern ist jede Gesellschaft zu jeder Zeit aufgerufen,
wachsam zu sein und sich politischer Mitverantwortung bewusst zu bleiben!
2 Editorial
5Einführung
Das Ende einer bürgerlichen Ära
10
8 Auslöser
Ein Attentat mit weitreichenden Folgen
10Julikrise
Ein verflochtenes Ereignis mit Dominoeffekt
14
Pulverfass Balkan
Territoriale Machtspiele und militärische Drohgebärden
18
Die Industrialisierung
Aus Enthusiasmus wird nationales Machtstreben
20
Sorge um die Seelen oder Segen für die Waffen?
Katholische Feldseelsorge im Ersten Weltkrieg
24
„Der meistbeschäftigte Mann an der Front!“
Rupert Mayer – Feldseelsorger im Ersten Weltkrieg
26
Heinrich Manns „Der Untertan“
28
Die Kriegsschuldfrage
Die Diskussion geht weiter
32Glaubensfragen
Weltkrieg als Weltgericht
34Rückblick
Aus der Katastrophe lernen
38Unterrichtsmaterial
40 Sudoku, Vorschau, Impressum
14
In dem vorliegenden Heft geht es nicht um die Geschichte des Ersten Weltkrieges, auch wenn manche Fakten zu ihm nebenbei Erwähnung finden. Vielmehr geht es schwerpunktmäßig um die schon angedeutete Vorgeschichte
dieser ersten Gewaltorgie des 20. Jahrhunderts. Dabei sollte sich die Leserin/
der Leser stets bewusst machen, dass der Zeitgeist damals ein wesentlich
anderer war als heute und dass man insofern mit dem Anlegen heutiger
Maßstäbe vorsichtig sein sollte. Andererseits werden Sie entdecken, dass
manche Parallelen zu unserer Gegenwart unverkennbar sind.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Ihr Manfred Suermann
34
24
Fotos (v. oben n. unten): picture alliance / Isadora / Leemage; Hermann Rex (gest. 1937 in München) Wikimedia Commons; Wikimedia Commons; picture alliance / Everett Collection; Andreas Praefcke / Wikimedia Commons
„Urkatastrophe
des 20. Jahrhunderts“
Titelmotiv: Richard F. Wintle / gettyimages; Foto links: picture-alliance / Mary Evans/Robert Hunt Collection
Ausgabe 1.2014
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zum Thema | Ausgabe 1.2014 | 1914 – 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg begann als ein Krieg des 19. Jahrhunderts, und nach menschlichem Ermessen hätte er nach
Einführung
wenigen Monaten eigentlich vorbei sein müssen. Ende
1914 waren die Munitionsvorräte verschossen, die Soldaten desillusioniert und Politiker wie Militärs am Ende
ihres Lateins. Niemand hatte ein Konzept, wie der Sieg
errungen werden könnte. Hätten sich die Monarchen wie
DAS ENDE EINER
BÜRGERLICHEN ÄRA
in früheren Jahrhunderten auf ein Unentschieden geeinigt
und den Status quo ante bekräftigt, die Büchse der Pandora wäre nicht geöffnet worden.
Von Manfred Suermann
E
Foto: picture alliance / Isadora / Leemage
s begann – wie allgemein bekannt – im Jahre 1914 mit dem
Attentat von Sarajevo. Aus dem Recht auf Vergeltung, das man
der Monarchie Österreich-Ungarn gegenüber Serbien zugestanden hatte, wurde ein Krieg ungeahnten Ausmaßes. Hochgerüstete Industrienationen, die inzwischen die Fähigkeit zur
industriellen Massenproduktion von Waffen erlangt hatten,
schickten sich an, ihre Gegner mit einem Meer aus Waffen und Soldaten zu
erdrücken. Sie hinterließen ein „Menschenschlachthaus“, in dem bis zu 17
Millionen Menschen ihr Leben verloren (die vorfindlichen Angaben hierzu
schwanken). Weite Landstriche nicht nur in Europa, sondern auch in Asien
und Afrika wurden verwüstet zurückgelassen. Und doch löste dieser Weltkrieg keines der Probleme, derentwegen die verantwortlichen Monarchen
und Politiker ihn initiiert hatten und die Heere in den heißen Sommermonaten in die Schlacht gezogen waren.
Auftakt zum Nationalsozialismus
Im Gegenteil, als die Waffen endlich schwiegen, saß der Hass der Völker und
Nationen aufeinander noch tiefer. Die Verlierer sannen auf Rache und manche Gewinner glaubten, nicht genug erreicht zu haben. Auf der Welt kehrte
keine Ruhe ein. Revolutionen brachen aus und Monarchien wurden gestürzt,
Grenzen wurden neu gezogen und neu gegründete Republiken rangen um
Stabilität. Überall waren extremistische Kräfte am Werk, die die Machtverhältnisse umkrempeln wollten. Der Große Krieg bildete den Auftakt zum
Sowjetkommunismus bzw. Stalinismus, zum Faschismus und zum Nationalsozialismus und führte letztendlich zum Zweiten Weltkrieg.
Sehnsucht nach einem Generationenerlebnis
Mit diesem Ersten Weltkrieg ging, wie z. B. Kurt Tucholsky und andere meinten, eine „bürgerliche“ Epoche zu Ende. Sie meinten damit das 19. Jahrhundert, in dem die Wertmaßstäbe des gebildeten Bürgertums den Ton angaben,
und sahen darin eine Zeit der Hochschätzung von Individualität und persönlicher Leistung, von rationaler Wissenschaft, gepflegter Geselligkeit und familiärer Intimität. Es war eine Zeit, die stark von der Romantik geprägt war, in
der die Welt der Gefühle besondere Betonung fand und sich nicht nur z. B. in
der Musik, sondern auch in der Religion niedergeschlagen hatte. Der Rede
vom Ende einer bürgerlichen Epoche widerspricht nicht, dass das 19. Jahrhundert auch seine Schattenseiten hatte: die sozialen Ungleichheiten einer
sich etablierenden kapitalistischen Klassengesellschaft, die Diskriminierung
von Frauen, den Antisemitismus, autoritäre Regierungssysteme, Kolonialismus. Und natürlich wurden auch Kriege geführt, häufig aus machtpolitischem
Kalkül heraus angezettelt. Aber dennoch überwog der Eindruck einer fortschrittlichen Entwicklung. Die Wirtschaft boomte, der gesamtgesellschaftliche
Wohlstand wuchs, krasse Not wurde abgebaut, sozialpolitische Maßnahmen
dämpften den Klassenkonflikt, rasante technische Innovationen erleichterten
das Leben. Zur Jahrhundertwende hatten die Menschen noch hoffnungsvoll
in die Zukunft geschaut. Europa erlebte in der Hochphase der ersten Globalisierung einen ungeahnten ökonomischen Wohlstand. Eher hätte man auf
ein kommendes Zeitalter von Wirtschaftskriegen getippt, die sich wahrscheinlich am Kampf um koloniale Ressourcen entzündet hätten. Doch der Weltkrieg zerstörte all diesen Optimismus. Allerdings nicht von Beginn an. Denn
eine gewisse Bereitschaft zum Krieg war da, wenn auch nicht bei den Alten, 
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zum Thema | Ausgabe 1.2014 | 1914 – 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg
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„Die Götterdämmerung
der bürgerlichen Welt
ist im Anzuge ...“
Hoffnung auf einen kurzen Krieg
40 Staaten beteiligten sich an diesem bis dahin umfassendsten Krieg der
Geschichte; insgesamt standen weit mehr als 20 Millionen Menschen unter
Waffen. Allein die deutsche Armee war 1916 bis auf 8,2 Millionen Soldaten
angewachsen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hatte gegenüber Österreich
angekündigt: In sechs bis acht Wochen würde Frankreich besiegt sein, dann
gehe es gemeinsam gegen die Russen, und zu Weihnachten würden alle
wieder daheim sein. War dies pure Naivität, unreflektierte Überheblichkeit oder einfach nur die unerschütterliche Hoffnung,
Deutschland durch diesen Krieg aus der Isolierung herausführen
und zur dominanten Weltmacht machen zu können? Es konnte sich
offenbar niemand vorstellen, wozu die Länder fähig sein würden. Man darf
davon ausgehen, dass die verantwortlichen Politiker wie der deutsche Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der französische Präsident Raymond
Poincaré, der russische Außenminister Sergej Sasonow oder der britische
Schatzkanzler und spätere Premierminister David Lloyd George sicher mehr
getan hätten, um diesen Krieg mit seinen vielen Millionen Toten und seiner
unsäglichen Zerstörungskraft zu vermeiden. Denn die Auffassung, dass der
Krieg kurz zu halten sei, er also nicht ausufern dürfe, um Europas Wirtschaft
nicht übermäßig zu strapazieren, war allgemein verbreitet.
Auflagen für die Verlierer des Krieges gestritten, bis schließlich die deutschen
Abgesandten am 7. Mai 1919 aufgefordert wurden, den Vertragsentwurf der
Alliierten entgegenzunehmen. Der Vertrag enthielt 15 Teile mit 440 Artikeln.
Als die einzelnen Bestimmungen in Deutschland bekannt wurden, waren Vertreter aller Parteien entsetzt.
Der Versailler Vertrag und seine Folgen
In diesem Vertrag wurden u. a. die Grenzen des Deutschen Reiches neu festgelegt und bestimmt, wer politisch über die Gebiete zu regieren hatte, die
Deutschland abtreten musste. Deutschland hatte Gebietsverluste von 70.000
Quadratkilometern hinzunehmen, so z. B. Elsass-Lothringen an Frankreich,
Posen und Westpreußen an Polen; das Memelgebiet geriet unter die Kontrolle der Alliierten, Danzig wurde dem Völkerbund unterstellt. In verschiedenen
Grenzgebieten sollten Wahlen über die Zugehörigkeit entscheiden. Darüber
hinaus musste Deutschland alle Kolonien abtreten. Das Militär wurde stark
beschnitten, die Wehrpflicht, der Generalstab und die Kriegsakademie wurden abgeschafft, was fast einer Entwaffnung gleichkam. Schließlich wurde in
diesem Vertrag die alleinige deutsche Kriegsschuld festgeschrieben. Deshalb
wurde Deutschland verpflichtet, Reparationen als Wiedergutmachung für die
Verluste und Schäden aufseiten der Siegermächte zu zahlen. Der diesbezügliche Kriegsschuldartikel, Artikel 231, lautete: „Die alliierten und assoziierten
Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und
seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich
sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und sei-
Und das Ende?
Völkerrechtlich beendet wurde der Erste Weltkrieg mit dem sogenannten Versailler Vertrag. Versailles ist ein Vorort südwestlich von Paris und vor allem
durch sein Schloss berühmt. Von 1682 bis 1789 residierten hier die französischen Könige. Mit seinen Gärten und Lustschlössern ist es die größte
Schlossanlage Europas. Am 18. Januar 1919 wurde im Spiegelsaal von Versailles die Friedenskonferenz eröffnet. Mit Ausnahme von Russland waren 32
Staaten vertreten. Den Vorsitz hatte der französische Ministerpräsident Clemenceau. Vertreter der ehemaligen Feindmächte, also aus Deutschland oder
Österreich, waren nicht zugelassen. Federführend bei den Verhandlungen
waren die Amerikaner, Briten, Franzosen und Italiener. Heftig wurde über die
Franz Ferdinand beim Verlassen
des Rathauses in Sarajevo
kurz vor der Ermordung.
Karte: Wikipedia, Foto (re): picture-alliance / akg-images
sondern bei den Jungen. Sie zogen mit
Begeisterung, unter dem Jubel der BevölAUGUST BEBEL
kerung und dem Geläut der Glocken an
die Front, nicht ahnend, was sie dort
erwarten sollte. Sie sehnten sich nach einem Generationenerlebnis, nach
Bewährung und Veränderung. Sie fühlten sich der Ordnung, die die Alten auf
ihren Kongressen im 19. Jahrhundert zurechtgezimmert hatten, immer weniger verpflichtet. Selbst der als Pazifist bekannte österreichische Schriftsteller
Stefan Zweig schrieb rückblickend: „Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß
ich bekennen, daß in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges,
Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen
konnte. […] Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen,
was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten.“
Und bereits 1911 hatte August Bebel in einer Reichstagsrede gesagt: „Die
Götterdämmerung der bürgerlichen Welt ist im Anzuge …“ Doch Konservative und Nationalisten reagierten damals mit Gelächter und meinten, dass
nach einem Kriege alles besser werde.
Foto: picture alliance / AP Photo
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Friedensvertrag von Versailles
Unterzeichnung am 28. Juni 1919
(Schulwandbild)
ner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben.“ Die – aus heutiger
Sicht unberechtigte – Zuweisung der alleinigen Kriegsschuld an Deutschland
mit all den vertraglich festgelegten Folgen sollte – für die damaligen Akteure
anscheinend unvorhersehbar – weitreichende Konsequenzen für die weitere
Entwicklung vor allem in Deutschland haben. Im Lazarett der pommerschen
Kleinstadt Pasewalk liegt im November 1918 ein Soldat, der bei einem britischen Gasangriff vorübergehend erblindet ist. Er wird später schreiben, dass
er am Tag des Waffenstillstands beschloss, „Politiker zu werden“, um Rache
zu nehmen für den verlorenen Krieg. Sein Name: Adolf Hitler. Doch dazu an
anderer Stelle mehr. n
Gebietsveränderungen
des Versailler Vertrags
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Foto: picture alliance / AP Photo
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Auslöser
EIN ATTENTAT MIT WEITREICHENDEN FOLGEN
Der Auslöser für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist
leicht auszumachen und gilt als allgemein bekannt. Weniger
bekannt dagegen sind die politischen Hintergründe.
Von Manfred Suermann
E
s war der 28. Juni 1914, als in Sarajevo, der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, zwei Schüsse fielen, die die
Welt, vor allem aber Europa grundlegend verändern sollten. Gavrilo Princip, ein Mitglied der proserbischen
bosnischen Jugendorganisation Mlada Bosna, gab
diese zwei Schüsse auf Erzherzog Franz Ferdinand,
den Thronfolger der österreichisch-ungarischen Monarchie, und dessen Gemahlin Sophie Chotek, die
Herzogin von Hohenberg, ab, die beide tödlich
getroffen wurden.
Zufall oder Provokation?
Der Besuch war lange geplant, das Attentat auch,
denn Zeitungen hatten den Besuch lange angekündigt, wenn auch zunächst ohne genaue Datumsangabe. Franz Ferdinand wollte in seiner Funktion als
Generalinspektor, die er seit 1909 innehatte, dem
Abschluss eines Manövers der in Bosnien-Herzegowina stationierten kaiserlichen und königlichen
(k. u. k.) Truppen beiwohnen. Der Besuchstermin
wurde schließlich auf den 28. Juni festgelegt. War
dies nur Zufall oder eine bewusste Provokation?
Unruheherd der Region
An diesem Tag nämlich beging das Königreich
Serbien mit umfangreichen Veranstaltungen den
525. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld –
ein bedeutungsvolles Ereignis für alle Serben, das
nicht zuletzt auch im Kosovo-Konflikt in den
1990er-Jahren eine wichtige Rolle spielte. Bosnien
und die Herzegowina waren 1878 unter österreichische Verwaltung gestellt worden. Im Jahr 1908
dann hatte Österreich-Ungarn das Land annektiert. Seitdem war es der Unruheherd der Region.
Rund 40 Prozent der in Bosnien lebenden Menschen waren Serben. Diese größte Bevölkerungsgruppe im Land wollte die Vereinigung mit dem
„Mutterland“, dem Königreich Serbien. Dieses
schürte die Anschlussbestrebungen nach Kräften,
was in Wien als Hochverrat angesehen wurde und
zu permanenten Spannungen zwischen der
Donaumonarchie und Belgrad führte. Zentrum der
großserbischen Agitation war der Geheimbund
„Schwarze Hand“, der auch Urheber der Attentatspläne war. Mit dem Besuch des Erzherzogs
sollte das Ansehen der Donaumonarchie in der
krisengeschüttelten Region gepflegt werden.
Denn Serbien hing der Idee eines großserbischen
Reiches an, in dem alle Serben vereint leben
sollten, und versuchte somit alles, um die Befreiung Bosnien-Herzegowinas von der österreichisch-ungarischen Herrschaft voranzutreiben.
Bereits in den Jahren zuvor gab es Attentatsversuche gegen Repräsentanten des Kaiserreiches,
doch waren diese fehlgeschlagen.
Ein folgenschwerer Anschlag
Es hatte Warnungen vor Anschlagsplänen gegeben,
selbst von serbischer Seite; doch blieben diese nur
vage. So ließ der serbische Premierminister, als er von
dem Mordplan erfuhr, in Wien nur über Mittelsmänner
halbherzige Andeutungen verlauten. Denn er steckte
in einem Dilemma: Einerseits wollte er nicht als Verräter der serbischen Sache dastehen, andererseits wollte
er auch eine militärische Auseinandersetzung mit dem
Großreich vermeiden. Und hätte der Anschlag überhaupt verhindert werden können? Das wird heute von
der Wissenschaft bezweifelt. Der Erzherzog schlug
alle Warnungen in den Wind und meinte bloß: „In
Lebensgefahr sind wir immer. Man muss nur auf
Gott vertrauen.“ So stattete er nicht nur seinen
Truppen einen Besuch ab, sondern bestand auch
auf seinem Besuch in Sarajevo. Der Chef des serbischen militärischen Geheimdienstes war der
wichtigste Kopf hinter der Verschwörung zur
Ermordung des Thronfolgers. Von ihm ging die
Rekrutierung mehrerer bosnischer Jugendlichen
aus, die am 28. Juni an verschiedenen Stellen
postiert waren. In Wien wurde hinter dem
Anschlag folgerichtig die serbische Regierung vermutet. Und so fand man schnell zu dem Entschluss, militärisch gegen Serbien vorzugehen.
Dies sollte ursprünglich regional begrenzt bleiben.
Doch die Julikrise machte diesem Vorhaben einen
Strich durch die Rechnung. n
Sarajevo: Festnahme und
Abführung von Gavrilo Princip,
Mörder des österreichischen
Thronfolgers Erzherzog Franz
Ferdinand und seiner Frau
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Berlin 1914, Mobilmachung:
Hüte schwenkende Reservisten
auf Lastkraftwagen
Julikrise
EIN VERFLOCHTENES EREIGNIS
MIT DOMINOEFFEKT
Führt man sich die Ereignisse im Juli des Jahres 1914 vor Augen, wird verstehbar, warum der australische Historiker Christopher Clark in einem Interview
meinte, die Julikrise des Jahres 1914 sei das komplexeste Ereignis der Moderne gewesen. Und er fährt fort: „Sie müssen sehen, wie alles ineinandergreift,
Kaiser Wilhelm II. von Deutschland (l.) in russischer
Uniform, und Zar Nikolaus II. von Russland in
preußischer Uniform ca. 1905/1910
wie sich das gegenseitig hochschaukelt.“ Aber der Reihe nach.
Von Manfred Suermann
A
ls Julikrise wird die Zuspitzung der Konfliktlage zwischen den
fünf europäischen Großmächten Deutschland, ÖsterreichUngarn, Russland, Frankreich und Großbritannien sowie
Serbien bezeichnet, die durch das Attentat von Sarajevo am
28. Juni bedingt war. Dabei standen sich die Mittelmächte
Deutschland und Österreich-Ungarn auf der einen Seite und
die „Triple-Entente“ Großbritannien – Frankreich – Russland auf der anderen
Seite gegenüber.
„Blankoscheck“ des deutschen Kaisers
Ab dem 3. Juli war – nach heutigem Wissen – der österreichische Kaiser Franz
Joseph I. zum Krieg gegen Serbien entschlossen. Da er befürchtete, dass er mit
diesem Feldzug möglicherweise Russland herausfordern würde, suchte und
fand er die Unterstützung Deutschlands: Am 5. Juli stellte der deutsche Kaiser
Wilhelm II. Österreich-Ungarn den sogenannten Blankoscheck aus. Damit
sicherte er der Wiener Monarchie im Falle eines Vorgehens gegen Serbien die
volle und bedingungslose Unterstützung des Deutschen Reiches zu, was am 6.
Juli in einem Telegramm der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann
„Mit den Serben muss
aufgeräumt werden,
und zwar bald“
Hollweg nach Wien bestätigte. Der deutsche Kaiser sah eine tiefe Bedrohung
des monarchischen Systems durch die „Revolution“ (sprich: das Attentat) und
schrieb an den Rand einer Depesche des deutschen Botschafters aus Wien:
„Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald.“ Der eindeutigste
Kriegstreiber in Wien war der Außenminister der Doppelmonarchie und Minister des k. u. k. Hauses, Leopold Graf Berchtold. Er kämpfte für einen Krieg
ohne Kriegserklärung. Dem stellte sich der ungarische Ministerpräsident István
Graf Tisza entgegen: Man müsse Belgrad wenigstens ein Ultimatum stellen,
und erst wenn dieses abgewiesen werde, könne man mobilisieren. Und so
beschloss der Ministerrat als das für die Außenpolitik zuständige Regierungsorgan, das Ultimatum so abzufassen, dass die Ablehnung durch Serbien sicher
sei. Graf Tisza, dem diese Absicht fernlag, musste sich fügen.
Ein „übles Schriftstück“
Am 14. Juli wurde dem Kaiser mitgeteilt, das Ultimatum sei fertig. Aber die
Übergabe in Belgrad wurde zurückgestellt, denn vom 20. bis 23. Juli fand ein
französischer Staatsbesuch in St. Petersburg statt, bei dem Frankreich Russland
für den Kriegsfall mit Deutschland seine Unterstützung zusicherte. Man wollte
KAISER WILHELM II.
verhindern, dass sich beide Regierungen im persönlichen Gespräch
über die neue internationale Lage hätten austauschen können. Am 23. Juli
schließlich stellte Österreich-Ungarn Serbien ein auf 48 Stunden befristetes
Ultimatum, das der britische Außenminister Sir Edward Grey später als „das
übelste Schriftstück, das je von einem Staat an einen anderen gerichtet wurde“,
bezeichnete. Es enthielt zehn Forderungen, u. a. die Festnahme einzelner Personen, die Auflösung bestimmter Organisationen und Vereine, die Verhinderung
aller antiösterreichischen Publikationen sowie die Entlassung aller der antiösterreichischen Propaganda schuldigen Lehrer, Offiziere und Beamte.
Kriegseröffnung statt Kriegsverhütung
Am brisantesten waren aber die Punkte 5 und 6. Sie forderten, „5. einzuwilligen, daß in Serbien Organe der k. u. k. Regierung bei der Unterdrückung der
gegen die territoriale Integrität der Monarchie gerichteten subversiven Bewegung mitwirken; 6. eine gerichtliche Untersuchung gegen jene Teilnehmer des
Komplottes vom 28. Juni einzuleiten, die sich auf serbischem Territorium befinden; von der k. u. k. Regierung hierzu delegierte Organe werden an den dies- 
Fotos: Bundesarchiv, Bild 183-R43302 / CC-BY-SA, Bild 183-R22572 / Wikimedia Commons
10
nd
Calais
Antwerpen
Gent
ern
BRÜSSEL
Löwen
Neuve-Chapelle
Festubert
Montreuil
Arras
Saint-Quentin
Roye
Cantigny
Montdidier
Beauvais
Guise
Ham
Soissons
Épernay
Montmirail
Meaux
4. ARMEE
el Bad Kreuznach
os
M
Trier
Sainte-Menehould
Étain
Verdun
Worms
Mannheim
Kaiserslautern
6. ARMEE
ar Saarlouis
Saarbrücken
Metz
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Fontainebleau
Châteaudun
Saint-Dizier
Nogent
Pithiviers
Neufchâteau
Bar-sur-Aube
Troyes
Sens
FRANKREICH
Auxerre
Saarburg
Straßburg
Lunéville
ss
Arcis-sur-Aube
Nancy
Charmes
St-Dié
Mirecourt
Épinal
Chaumont
Châtillon
Colmar
Stoßrichtungen der Armeen
Festungsanlagen in
Frankreich und Belgien
Foto: Hermann Rex (gest. 1937 in München) Wikimedia Commons
Offizielle Erklärung des Kriegszustandes
an die Bevölkerung von Berlin am 31. Juli
1914 durch Oberleutnant Max von Viebahn,
begleitet von einer Abteilung Soldaten des
Kaiser-Alexander-Garde-Grenadier-Regiments
Russlands Appell
Wilhelm II. und Zar Nikolaus II. waren Vettern, sie standen in persönlicher Korrespondenz und nannten sich darin „Nicky“ und „Willy“. Zwei Jahre zuvor hatte der
Deutsche seinen Vetter mit seiner kaiserlichen Jacht „Hohenzollern“ besucht. Mehr
als hundert Jahre hatten Deutsche und Russen keinen Krieg mehr gegeneinander
geführt, gemeinsam hatten sie gegen Napoleon gekämpft. Doch jetzt drohten sie,
zu Gegnern zu werden. Der Zar richtete deshalb einen persönlichen Appell an den
Kaiser: „In diesem äußerst ernsten Augenblick wende ich mich an Dich um Hilfe. Ein
unwürdiger Krieg ist an ein schwaches Land erklärt worden. Die Entrüstung in
Russland ist ungeheuer. Ich sehe voraus, dass ich sehr bald dem auf mich ausgeübten Druck erliegen und gezwungen sein werde, äußerste Maßnahmen zu
ergreifen, die zum Kriege führen werden.“ Und er forderte seinen Vetter dazu auf,
Österreich davon abzuhalten, zu weit zu gehen. Hätte es hier eine Chance gegeben,
den weiteren Verlauf anzuhalten? Möglicherweise, aber dann hätte Wilhelm II. einschränkende Bedingungen einer deutschen Unterstützung an Österreich stellen
müssen und keinen „Blankoscheck“ ausstellen dürfen. Wilhelm II. riet in seiner
Antwort, Russland möge in der Rolle des Zuschauers verharren, „ohne Europa in
den entsetzlichsten Krieg zu verwickeln, den es je gesehen hat“. Doch das war für
Freiburg
Langres
Mülhausen
Schlieffen-Plan aus dem Jahr 1905
bezüglichen Erhebungen teilnehmen“. Diese bewusst gegen die Souveränität
Serbiens gerichteten Forderungen waren aber für das Land unannehmbar. Zweck
dieses Papiers war nicht die Kriegsverhütung, sondern die Kriegseröffnung. Am
24. Juli signalisierte Russland Serbien seine Unterstützung und kündigte eine
Teilmobilmachung an. Am 25. Juli, noch vor Ablauf des Ultimatums, wurde im
Wiener Außenministerium eine ablehnende Antwort auf die (noch nicht vorliegende) Reaktion Serbiens erarbeitet. Am selben Tage begann Serbien mit der
Generalmobilmachung seiner Armee. Ebenso ordnete Österreich-Ungarn die Teilmobilmachung an. Am 28. Juli erhielt der deutsche Kaiser Wilhelm II. den Text
der serbischen Antwort. „Das ist mehr, als man erwarten konnte! Damit fällt jeder
Kriegsgrund fort“, soll er reagiert haben. Doch es war zu spät, denn am selben
Tag erklärte Österreich-Ungarn – ausgestattet mit dem deutschen „Blankoscheck“ – Serbien den Krieg und eröffnete ihn am 29. Juli mit der Beschießung
Belgrads von der Donau aus durch Flusskampfschiffe.
Elsa
Melun
Chartres
Karlsruhe
Zabern
Dieuze
Toul
Weißenburg
8. ARMEE
Saint-Mihiel
Commercy
Germersheim
7. ARMEE
Marieulles
Bar-le-Duc
Provins
Speyer
Sa
Diedenhofen
Conflans
Mainz
Oppenheim
5. ARMEE
Luxemburg
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PARIS
Wiltz
Diekirch
Longwy
Reims
Château-Thierry
Frankfurt
Bitburg
Arlon
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Barcy
Lahn
Saarburg
Chantilly
Pontoise
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Mézières
Koblenz
3. ARMEE
nn
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Compiègne
Gießen
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Bastogne
Fumay
Vervins
La Fère
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2. ARMEE
Dinant
Avesnes
Péronne
Provars
Amiens
Villers-Bretonneux
Rouen
Florennes
Le Cateau
Albert
Siegen
Aachen
Huy
Aulnoye
Cambrai
Douliens
Köln
13
Verviers
Charleroi
Maubeuge
DEUTSCHLAND
Maastricht
Lüttich
Namur
Mons
Douai
Vimy
Abbeville
Tongeren
Gembloux
Lens
1. ARMEE
Hasselt
Passchenendaele
Saint-Omer
Ypern
Hazebrouck
Boulogne-sur-mer
Lille
Düsseldorf
Roermond
BELGIEN
Festungen in
Deutschland
Vesoul
Belfort
Basel
den Vetter unannehmbar. Am 30. Juli billigte Zar Nikolaus II. die Generalmobilmachung der russischen Armee. Mit diesem Schritt kam er den anderen Großmächten
zuvor, was die deutsche Diplomatie dazu bewog, Russland die Kriegsschuld zuzuschieben. Am 31. Juli startete dann in Österreich-Ungarn die Generalmobilmachung.
Und am 1. August gab Kaiser Wilhelm II. den Mobilmachungsbefehl und erklärte
Russland den Krieg. Ebenfalls am 1. August erließ das mit Russland verbündete
Frankreich den Mobilmachungsbefehl.
Völkerrechtswidriger Durchmarsch
Am 2. August besetzten deutsche Truppen Luxemburg. Noch am selben Tag
wurde Belgien aufgefordert, neutral zu bleiben und eine Erklärung abzugeben,
dass sich die belgische Armee gegenüber einem Durchmarsch deutscher Truppen passiv verhalten werde; dies wurde am Morgen darauf abgelehnt. Am 3.
August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg. Italien, das bisher mit den
Mittelmächten verbunden war, gab eine Neutralitätserklärung ab. Ebenfalls am
3. August überschritten deutsche Patrouillen die belgische Grenze. Am 4.
August schließlich fielen reguläre deutsche Truppen völkerrechtswidrig und
ohne Kriegserklärung in das neutrale Belgien ein. Hintergrund dieses Angriffs
war eine Strategie, die auf dem sogenannten Schlieffenplan fußte; dieser sah
vor, Frankreich von Norden her anzugreifen und die französische Armee einzukreisen. Dazu war aber der Durchmarsch durch Belgien erforderlich. Mit der
Eroberung Belgiens aber verletzte das Deutsche Reich den Londoner Vertrag
aus dem Jahr 1839, in dem die europäischen Großmächte die belgische Neutralität garantiert hatten. Ebenfalls am 4. August erklärte deshalb Großbritannien
Deutschland den Krieg, weil es sich als Schutzmacht Belgiens verstand und
eigene Sicherheitsinteressen gefährdet sah.
Am 6. August schließlich erklärte Österreich-Ungarn Russland den Krieg und
am 8. August folgte die Kriegserklärung Großbritanniens an Österreich-Ungarn.
Innerhalb von fünf Wochen gerieten so alle europäischen Großmächte in einen
Krieg, der sich nicht auf Europa beschränken, sondern zu einem Weltbrand
werden sollte. n
Karte: Wikipedia
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Brügge
Dixmuide
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Dünkirchen
Rhein
Ostende
Dover
Maas
GROSSBRITANNIEN
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Schlieffenplan
aus dem Jahr 1905
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PULVERFASS
BALKAN
TERRITORIALE MACHTSPIELE
UND MILITÄRISCHE DROHGEBÄRDEN
Von Manfred Suermann
A
ls im Jahr 1989 in Berlin die Mauer
fiel und der Kalte Krieg Geschichte
wurde, schien für Europa ein Zeitalter ewigen Friedens anzubrechen. Doch nach nur wenigen
Jahren stellte sich diese „Gewissheit“ als Trugschluss heraus: Auf dem Balkan kam es
zum Krieg gegen Serbien, Näheres dazu kann hier als
bekannt vorausgesetzt werden. Auch zu Beginn des
20. Jahrhunderts war der Balkan ein Pulverfass, das
schließlich mit dem Attentat von Sarajevo 1914
explodierte und den Ersten Weltkrieg entfachte. Insofern lohnt sich ein Blick auf die Vorgeschichte in dieser Region, um den Weg in die „Urkatastrophe des
20. Jahrhunderts“ besser verstehen zu können.
Serbien als Spielball europäischer Großmächte
Rund vierhundert Jahre, nämlich vom 15. bis zum 19.
Jahrhundert, war das Osmanische Reich die beherrschende Macht auf dem Balkan. Bekanntermaßen
gelangte das Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht
sogar bis vor die Tore Wiens. Zu seinem Territorium
gehörte bis 1804 auch Serbien. Danach wurde
Serbien teilweise ein autonomes Fürstentum, blieb
aber unter osmanischer Oberhoheit. Erst 1878 wurde
auf dem Berliner Kongress, auf dem für die unruhige
Balkanregion eine Friedensordnung gefunden werden sollte, die Unabhängigkeit Serbiens anerkannt.
Schon auf dieser Konferenz zeigte sich, dass der Balkan zum Spielball der Interessen der europäischen
Großmächte geworden war, die dann auch alleine
das Geschehen bestimmten und kleineren Ländern
das Stimmrecht versagten. Grenzen wurden neu
gezogen, Einflussbereiche untereinander aufgeteilt,
und manche Zustimmung zum Vertrag wurde mit
großzügigen Kompensationen belohnt; so durfte beispielsweise Frankreich dafür Tunesien besetzen. Für
den Balkan sollte sich als zukunftsweisend herausstellen, dass Österreich-Ungarn das Recht erhielt,
Bosnien und die Herzegowina zu besetzen, Terretorien, die eine Mischbevölkerung aus orthodoxen
Serben, katholischen Kroaten und Muslimen aufwiesen. Deutlich wurde auch das Bestreben der Großmächte, den Einfluss Russlands, das der Idee des
Panslawismus, also der Einheit aller slawischen Völker Europas, anhing, in dieser Region zu begrenzen;
Russlands, das sich als Machtzentrum eines zukünftigen allslawischen Reiches sah, war aufgrund dieser
Idee ein natürlicher Verbündeter Serbiens.
Rivalitäten und Bündnisse
In der Folgezeit vertiefte sich nicht nur die Rivalität
zwischen Österreich-Ungarn und Russland, sondern
auch das deutsch-russische Verhältnis verschlechterte sich, da Russland das in seinen Augen unbefriedigende Ergebnis des Berliner Kongresses dem
deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck anlastete. So suchte Russland die Annäherung an Frankreich, wodurch Deutschland sich zunehmend
eingekreist sah. Um nicht ganz isoliert zu sein,
schloss es mit Wien ein Zweibund-Abkommen.
Die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch
Österreich-Ungarn
Die Empörung der Serben über die Besetzung
Bosnien-Herzegowinas war groß. Und sie sollte
sich noch steigern, als die Donaumonarchie 1908
Bosnien-Herzegowina, das staatsrechtlich immer
noch als Provinz des Osmanischen Reiches
gegolten hatte, annektierte. Für Serbien, das ein
großserbisches Reich anstrebte, war dies unannehmbar. Und dass Slawen nunmehr unter österreichischer Herrschaft standen, war auch für
Russland ein Stein des Anstoßes. Im selben Jahr
hatte sich auch Bulgarien von der Herrschaft des
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14
„Le Petit Journal“-Titel: Oktober 1908,
Sultan Abdülhamid II. sieht auf dieser
Karikatur hilflos zu, wie Kaiser Franz Joseph
Bosnien-Herzegowina und Zar Ferdinand
Bulgarien aus dem Osmanischen Reich
herausreißen
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Osmanischen Reiches befreit und sich zu einem
selbstständigen Königreich erklärt.
Allianzen und Gegengewichte
Da Russland seinerseits den Einflussbereich Österreich-Ungarns begrenzen wollte, konnte es 1912
Serbien und Bulgarien dazu bewegen, eine Allianz zu
bilden. Das Ziel Serbiens war es dabei, ein Bollwerk
gegen Österreich-Ungarn zu errichten. Ein geheimes
Beiblatt des Vertrages sah vor, dass im Falle eines
gemeinsamen Sieges der beiden Staaten über die
Türkei Serbien ein Teil von Nordmakedonien zugeteilt
werden und Bulgarien einen Großteil des Restes der
Provinz Makedonien erhalten sollte. Eine eventuelle
Eroberung Mazedoniens, das den nördlichen Teil des
heutigen Griechenlands einschloss, würde über den
Hafen von Saloniki Kontakt mit den Handelszentren
der Ägäis und des gesamten Mittelmeers mit sich
bringen, was ein durchaus lohnenswertes Ziel darstellte. Für die Bulgaren war der Vertrag jedoch einzig
und allein gegen die Türken gerichtet, träumte doch
König Ferdinand von einem triumphalen Einzug in
Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Russlands
Intention war es allerdings, das Osmanische Reich
nicht zu schwächen, um es als Gegengewicht zum
Habsburger Reich zu erhalten.
Der Erste Balkankrieg
Diese Allianz erweiterte sich durch den Beitritt Griechenlands und Montenegros zum Balkanbund. Die
Unterstützung eines Aufstandes in Nordalbanien
durch Montenegro führte schließlich am 6. Oktober
1912 zur Kriegserklärung an die Türkei. Ein weiterer
Kriegsgrund für Montenegro war der Versuch König
Nikolas’, das Prestige seiner Dynastie zu vergrößern
und als natürlicher Führer der südslawischen Bevölkerung Serbien zu ersetzen. Wenige Tage später
schlossen sich die anderen Balkanstaaten an. Es kam
zum Ersten Balkankrieg, in dessen Verlauf es vor
allem in Mazedonien zu gewaltigen Gräueltaten an
der Zivilbevölkerung kam, woraufhin Zehntausende
Türken in Richtung Konstantinopel flohen. Hauptkriegsschauplätze waren Albanien, das Kosovo,
Makedonien und Thrakien, eine Landschaft, die sich
heute Bulgarien, Griechenland und die Türkei teilen.
Machtvakuum in Südeuropa
Das Waffenstillstandsabkommen mit der Balkanallianz am 13. April 1913 hatte zur Folge, dass die
Türkei erfolgreich aus Europa verdrängt wurde.
Der Friede von London wurde am 30. Mai unterzeichnet und beschränkte die europäischen Besitzungen der Türkei auf einen kleinen Landstreifen
vor Konstantinopel. Für die europäischen Großmächte entstand dadurch in Südosteuropa ein
Machtvakuum. Wien befürchtete in erster Linie,
dass mit der Vergrößerung Serbiens Russland auf
dem Balkan eine stärkere Position einnehmen
könnte, und wollte unter allen Umständen verhindern, dass Serbien einen Korridor zum Mittelmeer
und infolgedessen einen Hafen an der Adriaküste
bekäme. Dieser hätte sogar von Russland als Basis
benutzt werden können, um die Adria für österreichische Schiffe unbefahrbar zu machen.
Taktische Machtspiele
In London einigte man sich darauf, einen unabhängigen albanischen Staat zu schaffen, was den
Interessen Italiens widersprach, das Albanien als
neue Kolonie erwerben wollte. Das Kosovo wurde
Serbien zugesprochen, obwohl es überwiegend
albanisch besiedelt war; damit war ein neuer Konflikt für die Zukunft vorprogrammiert. Ein Drittel
aller Albaner lebte außerhalb des neuen Staatsgebildes. Insgesamt versuchten bei der Gebietszuweisung die Großmächte Reibungsflächen
zwischen den kleinen Völkern zu schaffen und sie
gegeneinander auszuspielen, um die eigene Vormachtstellung zu erhalten, getreu dem Leitsatz
„divide et impera“ („teile und herrsche“).
Der Zweite Balkankrieg
Der Balkan sollte nicht zur Ruhe kommen. Nun trat
Rumänien, das bisher keine Rolle gespielt hatte, auf
den Plan und stellte Gebietsforderungen an Bulgarien. Serbien fürchtete, Bulgarien beabsichtige,
einen Großteil Makedoniens zu okkupieren, und
schließlich stritten Bulgarien und Griechenland um
den Besitz Salonikis. Serbien und Griechenland verbündeten sich gegen Bulgarien und schlossen am
1. Juni 1913 einen Vertrag, worin die Grenzen fest-
Flucht der Türken 1912
(aus „Le Petit Journal“)
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gelegt wurden, die beide Staaten im Falle eines
Sieges über Bulgarien fordern würden. Bulgarien
hingegen, außenpolitisch isoliert und durch die
Feindschaft der Nachbarländer bedroht, entschloss
sich zum Krieg. Geplant war die rasche Inbesitznahme Makedoniens mittels eines gleichzeitigen Aufmarsches gegen die Serben und Griechen. In der
Nacht vom 29. auf den 30. Juni begann der sogenannte Zweite Balkankrieg durch einen Überraschungsangriff gegen die Serben. Doch bereits am
10. August 1913 wurde durch den Vertrag von
Bukarest auch dieser Krieg beendet. Bulgarien
musste an alle Gegner Gebiete abtreten. Serbien
dagegen konnte sein Staatsgebiet fast verdoppeln;
es erhielt Teile von Makedonien mit der Stadt
Skopje. Griechenland erhielt die Küstenregion von
Makedonien mit der Stadt Saloniki.
Wettrüsten
Durch seinen Machtzuwachs sah sich Serbien nun in
der Lage, sich dem Druck Österreich-Ungarns immer
erfolgreicher zu widersetzen. Und die Donaumonarchie versuchte vergebens, Allianzen gegen Serbien zu
schmieden. So verschärfte sich die Feindschaft zwischen beiden Ländern zusehends, zumal Serbien
schon seit Längerem begonnen hatte, die im annektierten Bosnien-Herzegowina lebenden Serben zum
Widerstand aufzuwiegeln und zu Anschlägen zu
motivieren. Die europäische Mächtekonstellation mit
Deutschland, Österreich-Ungarn und Bulgarien auf
der einen und Großbritannien, Frankreich und Russland auf der anderen Seite konzentrierte sich auf
dem Balkan zu einem Konfliktherd mit großem
Potenzial. Die Spannungen verschärften sich noch
dadurch, dass infolge der Balkankriege in ganz Europa die Aufrüstung, die ohnehin seit einigen Jahren im
Gange war, massiv forciert wurde. 1912/1913 kam
es zu einem regelrechten Wettrüsten zwischen
Deutschland und Frankreich. Auf beiden Seiten
herrschte die Überzeugung, der Gegner dränge zum
Krieg und wolle bald losschlagen. Kaum eine Region
in Europa war so konfliktgeladen wie der Balkan.
Zumindest im Nachhinein verwundert es somit nicht,
dass dort die Lunte zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gelegt wurde.n
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Mobilmachung im August 1914:
Truppentransport kurz vor der Abfahrt an die
Westfront auf einem Berliner Bahnhof,
ein Waggon wird mit Siegesparolen bemalt
DIE
INDUSTRIALISIERUNG
Von Manfred Suermann
AUS ENTHUSIASMUS WIRD
NATIONALES MACHTSTREBEN
D
ie Jahre nach der Wende zum 20. Jahrhundert werden gerne
als „goldene Zeiten“ beschrieben, in denen – aus damaliger
Sicht – Ungeheures, ja geradezu Atemberaubendes geschah.
Die Menschen erlebten eine rasante technische Entwicklung,
die vor nichts haltzumachen schien. Geradezu eine Euphorie
über die neuen Errungenschaften machte sich breit. Die ständig wachsende Geschwindigkeit der Züge, mit denen man immer schneller
auch große Entfernungen überbrücken konnte, entfachte Begeisterung. Mit
dem Zeitalter des Autos begann und entwickelte sich nicht nur der Individualverkehr, mit ihm ließen sich auch immer mehr Waren immer zeitsparender
transportieren, was dem Handel zugutekam. Das wiederum führte vielerorts
zu einem stetig wachsenden Wohlstand für immer breitere Bevölkerungsschichten. Mit dem gleichen Ergebnis wuchs die industrielle Produktion. Die
Erfindung des Telefons wurde als ein Wunder erlebt. Die Entdeckungen in
Chemie und Physik galten vielen als pure Zauberei. Und die Verbreitung des
elektrischen Lichts befreite alles im Haus von Düsternis und Enge. In den
europäischen Großstädten vibrierte das Leben vor Optimismus und Vitalität.
Wer hätte in einem solchen Umfeld je daran gedacht, dass zwischen derart
gesegneten und zivilisierten Nationen je ein Krieg möglich sein könnte?!
Nationalismus
Im Hintergrund all dieser positiven Entwicklungen, die das Leben der Menschen in den jeweiligen Gesellschaften betrafen, machten sich aber, vielleicht
den meisten unbewusst, Strömungen breit, die ebenfalls als den Zeitgeist
prägend angesehen werden müssen. Als Erste dieser Strömungen wäre hier
der Nationalismus zu nennen. Kaum waren im Laufe des 19. Jahrhunderts die
Wünsche vieler Völker nach nationaler Einheit und Unabhängigkeit in Erfüllung gegangen, gerieten die alten und neuen Nationalstaaten in einen Sog
nationaler Rivalität und wirtschaftlicher Konkurrenz. Entsprechende Parolen
der Außenpolitik fanden immer mehr Anklang. Erbfeindschaften entwickelten
sich – Deutsche und Franzosen, Russen und Polen, Italiener und Österreicher
– und wurden beschworen. Das Nachbarvolk wurde als Feind von morgen
verdächtigt und nationale Vorurteile etablierten sich. Diese hatten nicht
zuletzt die Funktion, die eigene „Vortrefflichkeit“ umso deutlicher hervortreten zu lassen. Die Deutschen wurden so zum „Volk der Dichter und Denker“.
Mit der Zeit entwickelte sich der Nationalismus zu einer Ideologie. Die bestehende Ordnung musste um jeden Preis erhalten bleiben; Kritik und innerstaatliche Opposition wurden als ein Übel angesehen, das für den nationalen
Machtstaat lebensbedrohlich sei. So nahm dieser autoritäre, undemokratische Züge an. In konservativer Weise wurden die gegebenen innenpolitischen Machtverhältnisse festgeschrieben, was ganz den Interessen der
herrschenden Schichten entsprach. Dies rief gegen Ende des 19. Jahrhunderts
– auf dem Hintergrund der wachsenden Industrialisierung – die stärker werdenden Arbeiterparteien auf den Plan; da diese sich für ihre Anhänger keine
Verbesserung der Lage versprachen, entwickelten sie eine zunehmend antinationale Einstellung.
Antisemitismus und Rassismus
Die Verlierer in dieser fest gefügten und um jeden Preis verteidigten Herrschaftsordnung, vor allem diejenigen, die von der anfangs beschriebenen
sozialökonomischen Entwicklung abgekoppelt waren bzw. von ihr überrollt
wurden, suchten nach geeigneten Sündenböcken – und fanden sie bei den
Juden. Weil es diesen zumeist untersagt war, Grund und Boden zu erwerben,
waren sie u. a. Händler, die über die Preise verfügten. Das machte sie unbeliebt. Im Kleinen wie im Großen wurden nun Juden verdächtigt, an sämtlichen
Missständen schuld zu sein. Sozialneid stellte die Juden zunehmend als Fremde hin, die den Zusammenhalt der Nation gefährdeten. Die völkische Ideologie steuerte den Gedanken bei, Fortbestand und Aufstieg der eigenen Nation
könnten nur gesichert werden, wenn alle Kräfte des eigenen Volkes gebündelt würden. Auf diesem Hintergrund entwickelten sich rassistische Theorien,
die schnell Einlass in große Teile der Gesellschaft fanden. Behauptet wurde,
Unterschiede zwischen Völkern und Kulturen beruhten auf biologisch-rassischen Wesensverschiedenheiten, seien also naturgegeben und könnten
auch durch politische Verständigung nicht überbrückt werden. Und wolle ein
Volk nicht untergehen, müsse es um seinen Platz in der Welt kämpfen. Wie
in der Tierwelt überlebe auch bei den Menschen einzig der Stärkere.
Militarismus
Einhergehend mit dem wachsenden Nationalismus entwickelte sich ein
zunehmender Militarismus. Nicht nur als Zeichen ihrer Souveränität und Stärke, sondern auch ihres Selbstbehauptungswillens war es den Nationalstaaten
eigen, dem Militär einen hohen gesellschaftlichen Rang einzuräumen und
ständige Kampf- und Kriegsbereitschaft zu demonstrieren. Dies führte zu
einer Militarisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens und setzte
einen verbissen geführten Rüstungswettlauf in Gang, der wertvolle Ressourcen verschlang und bald eine gewisse Eigendynamik gewann. Weil man seinen Nachbarn immer weniger traute und auch diese aufrüsteten, wurden die
Anforderungen an die eigene militärische Sicherheit immer größer. „Der Krieg
ist der Vater aller Dinge“ – dieses aus der Antike herrührende Zitat könnte
auch so verstanden werden: Der Krieg bricht verkrustete Strukturen auf und
schafft so die Chance für etwas Neues. Die Bilder jubelnder, begeisterter,
Fähnchen schwingender junger Männer, die in den Krieg 1914 gezogen sind,
belegen nicht nur eine fatalistische Bejahung des Krieges, die jahrelang
gewachsen war, sondern vielleicht auch die Hoffnung, der Krieg möge die
verkrusteten politischen Strukturen beseitigen.
Imperialismus und Kolonialismus
Eine weitere zentrale Strömung der Vorkriegszeit stellt der Imperialismus bzw.
Kolonialismus dar. Alle großen Staaten hatten sich im 19. Jahrhundert ihm
zugewandt, indem sie ihre Machtsphäre über ihre eigenen Grenzen hinweg
auszuweiten suchten. Es ging somit nicht darum, neue Länder und neue Kulturen kennenzulernen und zu erforschen, sondern um handfeste nationale,
ökonomische Interessen. Man intendierte u. a.
• die Erschließung und Sicherung neuer Rohstoffgebiete zur krisenunabhängigen, kontinuierlichen und preisgünstigen Versorgung der inländischen Verarbeitungsindustrie;
• die Öffnung neuer Märkte zum profitablen Absatz des eigenen Produktionsüberschusses und zur Vorbeugung gegen Überproduktionskrisen;
• die Sicherung von Faustpfändern, Tauschobjekten und Machtbasen im
Kampf um die weltpolitische Führungsstellung.
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Nicht zuletzt spielte nationalistischer Ehrgeiz eine Rolle, dessen Energien
nach emotionaler Befriedigung und kollektiver Selbstbestätigung im Überlegenheitsgefühl großer über kleine, „zivilisierter“ über „primitive“ Völker
verlangten.
Seit den 1880er-Jahren hatte vor
allem in Afrika und Asien ein Wett„Der Krieg ist der Vater
lauf um die Verteilung der noch
aller Dinge“
nicht kolonialisierten Länder begonnen. 1914, im Jahr des Kriegsbeginns, kontrollierten die europäischen Staaten und die USA 84 Prozent der bewohnten Erdoberfläche.
Diese ungeheure Machtausdehnung basierte auf technischer und militärischer Überlegenheit. Die Kolonien erfüllten verschiedene Zwecke, vor allem
dienten sie als Rohstofflieferanten, als Flottenstützpunkte, als Handelszentren und nicht zuletzt als Einnahmequellen. Im Ersten Weltkrieg schließlich
mussten viele Kolonien Soldaten stellen und Zwangsarbeiter ins Mutterland
schicken. Aufs Ganze gesehen entpuppte sich der Imperialismus der europäischen Großmächte als eine Fortsetzung ihrer Rivalität untereinander, der
bezwecken sollte, die Mutterländer in Europa stark und unangreifbar zu
machen. Dennoch blieb Europa das Machtzentrum, in dem sich die politische
Auseinandersetzung abspielte.
Die oben beschriebenen Strömungen trugen ganz wesentlich zum Ausbruch
des Ersten Weltkrieges bei. Die Darstellung soll auch zum Nachdenken
anregen, ob und inwiefern es Kontinuitäten gibt, die noch heute eine Rolle
spielen. n
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Sorge um die
Seelen oder
Segen für die
Waffen?
Feldgottesdienst in einem Unterstand in Frankreich
KATHOLISCHE FELDSEELSORGE
IM ERSTEN WELTKRIEG
Von Dr. Markus Seemann
Leiter des Archivs des Katholischen Militärbischofs
Feldgottesdienst im Ersten Weltkrieg (Postkarte)
E
ine Infanteriestellung der österreichisch-ungarischen Armee an
der Ostfront, dreihundert Schritte vom Feind entfernt. Der Militärpfarrer erscheint mit den Worten: „Gott grüße euch, ihr Braven! Gott segne eure Waffen! Feuerts tüchtig eini in die Feind?“
Der diensthabende Offizier freut sich, dass der Herr Feldkurat so
unerschrocken ist, sich auch unter drohender Gefahr der Feuerstellung zu nähern, um auch mal „a wengerl schießen“ zu dürfen. „Hoffentlich treffen Sie einige Russen“, meint er, während der Priester unter dem
Ausruf „Bumsti!“ mit dem Geschütz in die feindlichen Linien feuert. Der
Schuss wird mit großem Bravo der Soldaten quittiert. „Jetzt erst, da Hochwürden geschossen hat“, meint der Offizier, „sind unsere Waffen gesegnet!“
Diese leicht bizarre Szene entstammt dem Drama „Die letzten Tage der
Menschheit“, das der österreichische Schriftsteller Karl Kraus in den Jahren
1915-1922 verfasst hat. In über 200 Einzelszenen wie dieser führt er die
Absurdität des Geschehens im Ersten Weltkrieg eindrücklich vor Augen –
überspitzt, aber doch nahe am tatsächlich Erlebten, Gehörten und Erfahrenen. Wie stand es nun damals um die Militärseelsorge? Beteiligten sich
Priester aktiv an den Kampfhandlungen? Segneten sie vor der Schlacht die
Waffen, damit möglichst viele Feinde getötet würden? Wurde das christliche
Gebot der Nächsten- und Feindesliebe – salopp gesagt – einfach mal über
den Haufen geschossen?
21
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Fotos: AKMB
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Die Realität der Feldseelsorge ist mit Sicherheit differenzierter zu betrachten Herrgott darzubringen „zur Sühne für eure und des Volkes Sünden“, so eine
als das von Kraus gezeichnete Zerrbild. Um es zu begreifen, muss man sich Formulierung in einem Hirtenbrief des preußischen Feldpropsts Heinrich Joepdie ideologischen Grundlagen des Ersten Weltkriegs vor Augen führen. Der pen vom 2. Februar 1915. Eine theologische Rechtfertigung kriegerischer
Krieg hatte einen machtpolitischen und einen nationalistischen Hintergrund. Gewalt war im Ersten Weltkrieg bei Weitem kein neues Phänomen. Schon der
Kirchenlehrer Augustinus war im Jahr 420 davon überzeugt,
Aber – und das unterscheidet den Ersten
deutlich vom Zweiten Weltkrieg – dahinter
dass niemand die Berechtigung eines Krieges bezweifeln
stand keine rassistische Ideologie, kein
dürfe, der in Gottes Namen befohlen werde: „Was, in der Tat,
„Gott will es!“
ist denn überhaupt so falsch am Krieg? Dass Menschen stergenuiner Hass auf die benachbarte Nation.
MÜNCHNER KIRCHENZEITUNG, 1914
ben, die ohnehin irgendwann sterben werden, damit jene, die
Legitimiert wurde der Krieg von Theologen
überleben, Frieden finden können? Ein Feigling mag darüber
vor allem unter zwei Prämissen: 1. Der Krieg
ist gerecht. 2. Der Krieg ist von Gott gewollt. Gerecht, weil das eigene Volk jammern, aber gläubige Menschen nicht […]. Gott befiehlt Krieg, um den Stolz
angegriffen worden war, weil man sich subjektiv – egal ob als Deutscher, der Sterblichen auszutreiben, zu zerschmettern und zu unterwerfen.“
Österreicher oder Franzose – in einem Verteidigungskrieg befand. Allein dieser Grundgedanke machte es möglich, dass sich Katholiken – analog dazu Die Theologie des Krieges, wie sie noch vor hundert Jahren von den Kanzeln
auch Sozialdemokraten – trotz ihres internationalen Selbstverständnisses für und in den Schützengräben verkündet wurde, war eine Theologie, in der viel
einen Kampf gegen die eigenen Glaubens- bzw. Gesinnungsgenossen im von Pflichterfüllung, von Vaterlandsliebe und Aufopferung die Rede war.
Gegen den Krieg zu sein, wäre als Verrat aufgefasst worden. Als Verrat an all
Nachbarland gewinnen ließen.
dem, was das gesellschaftliche Zusammenleben in einem Staat ausmachte,
Wie stand es um die zweite Prämisse? „Gott will es!“, stand unzweideutig der – betrachten wir einmal näher das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm
anlässlich der Mobilmachung 1914 beispielsweise auf der Titelseite der Münch- II. – zwar keine Diktatur und eindeutig ein Rechtsstaat nach modernen
ner Kirchenzeitung. Ganz Gesichtspunkten, aber doch gesellschaftlich ein Obrigkeitsstaat war. Wie
bewusst war eine Losung konnte nun die überwiegend christliche Bevölkerung auf den Krieg eingegewählt worden, mit der im stimmt werden? Er sei eine „Hoch-Zeit der Liebe“, verkündete der spätere
Mittelalter die Kreuzritter ins Kardinal Michael von Faulhaber, damals Bischof von Speyer und stellvertreHeilige Land gezogen waren. tender Feldpropst der Königlich Bayerischen Armee, in einer seiner berühmDie Vorstellung eines von Gott testen Kriegspredigten unmittelbar nach Kriegsausbruch. Er sah im Krieg eine
gewollten Krieges basierte the- Zeit, in der Bruderliebe innerhalb des Volkes den Hader zwischen Parteien,
ologisch auf einem tradierten Ideologien und Gesellschaftsschichten beseitigen solle. Auch das Gebet in der
Weltbild, das danach trachtete, Heimat sollte indirekt als Schutz und Waffe dienen: „Jedes Vaterunser, jede
im Lauf der Geschichte das Kommunion, jeder Rosenkranz erreicht unsere Lieben im Felde und kommt
unmittelbare Eingreifen des ihnen so oder so zu Gute, als Schutz in Gefahren, als Trost in der Not, als
Allmächtigen zu erkennen. Reuegnade im Tode. Der Krieg singt das hohe Lied der betenden Liebe.“
Häufig findet sich in den zeit- Überhaupt war die Liebe 1914 in aller Munde. Als eine der wichtigsten Aufgenössischen Kriegspredigten gaben an der „Heimatfront“ wurde es angesehen, sogenannte Liebesgaben
die Vorstellung vom Krieg als für die im Felde stehenden Soldaten zu sammeln. Man verstand darunter
einer von Gott auferlegten anonyme Spenden von Naturalien, zumeist Wäsche und Lebensmittel aller
Buße für die Menschheit. Die Art, insbesondere Süßigkeiten, aber auch Tabak und andere Gegenstände des
physischen Leiden des Solda- täglichen Bedarfs, an denen es im Feld häufig mangelte – ob Seife, Zahnbürsten im Schützengraben wurden ten oder Briefpapier. Oftmals waren es Feldgeistliche, die die Aufgabe hatten,
als Opfer für das Vaterland diese Gaben an die Soldaten zu verteilen.
gedeutet, darüber hinaus aber
auch als Bußleistung gegen- Doch wie stand es um die Liebe gegenüber demjenigen, der auf der anderen
über Gott. Die Soldaten wur- Seite der Front stand? In aller Regel war der feindliche Soldat auch Christ –
den aufgefordert, ihr Leid dem die muslimischen Türken nahmen als Verbündete Deutschlands am Krieg teil. 
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Musste für den Gegner nicht auch das christliche Gebot der Nächstenliebe
gelten? Relativ selten wird in den Kriegspredigten auf die Haltung gegenüber
dem Feind, den man als Soldat zu töten hatte, eingegangen. Wenn, dann
findet sich aber häufig der Hinweis, dass es legitim sei, die Nächstenliebe
zuerst dem Angehörigen des eigenen Volkes angedeihen zu lassen. Als
Kriegsgefangener hatte freilich auch der Gegner einen Anspruch auf menschliche Behandlung, auf ärztliche Versorgung und seelischen Zuspruch – das
sah das internationale Kriegsvölkerrecht ebenso wie die katholische Kirche.
Die Praxis war freilich nicht immer so. Aus dem Tagebuch eines bayerischen
Sanitätsoffiziers geht beispielsweise hervor, dass eine ganze Gruppe französischer Kriegsgefangener erschossen wurde, ohne dass dies größeres Aufsehen erregt hätte. Es handelte sich um Angehörige von in Europa eingesetzten
Kolonialtruppen mit dunkler Hautfarbe.
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auch der Soldat sein Opfer in der Schlacht bringen, um auf diesem Weg
Christus nachzufolgen und im Ernstfall sein Leben für die Sünden des eigenen (oder auch des gegnerischen Volkes) zu opfern. Dass diese Ineinssetzung
von Jesu Opfer, Martyrium und Soldatentod heute theologisch höchst fragwürdig erscheint, ist erst auf eine im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils
reformierte katholische Theologie zurückzuführen.
Die katholische Militärseelsorge im Ersten Weltkrieg war auf deutscher Seite
keineswegs einheitlich organisiert. Als zentrale Einrichtung, die in etwa mit
dem heutigen Katholischen Militärbischofsamt zu vergleichen wäre, könnte
man am ehesten die Preußische Katholische Feldpropstei ansehen, an deren
Spitze der oben genannte Heinrich Joeppen, Titularbischof von Cisamus
(einem antiken Bischofssitz auf der Insel Kreta),
stand. Doch hatten bis zum Ende des Krieges die
deutschen Bundesstaaten Bayern, Württemberg
und Sachsen noch eine eigenständige Militärseelsorge, die nebenamtlich von den in München,
Rottenburg und Bautzen sitzenden Bischöfen
geleitet wurde. In erster Linie handelte es sich
dabei um eine Feldseelsorge, die in Friedenszeiten
auf einem sehr niedrigen personellen Niveau
gehalten wurde und erst während des Krieges
expandierte. So amtierten in Preußen im August
1914 83 katholische Heeres- und Marinegeistliche
– 1918 waren es 1.441.
AKMB, Historische Dienstbibliothek
22
Einen Aufruf zum offenen Hass gegenüber
anderen Völkern und Rassen, eine Legitimation
solcher Taten, wird man in den Äußerungen
kirchlicherseits kaum finden. Die katholische
Kirche war und ist dafür zu international, und
die deutsch-nationalistischen Abirrungen
innerhalb des Protestantismus waren bei Weitem noch nicht so ausgeprägt wie später unter
den „Deutschen Christen“ im „Dritten Reich“.
Dennoch scheuten auch (Militär-)Geistliche
nicht davor zurück, die angeblich negativen
Eigenschaften der Nachbar- und im christlichen
Sinne immer noch Brudervölker herauszustelIn Österreich-Ungarn gab es ein katholisches Feldlen, um den Krieg gegen sie zu legitimieren.
vikariat, dem auch die zahlenmäßig niedrigeren
Die Engländer seien vom „Krämergeist“
anderen christlichen Konfessionen unterstellt
beseelt, die Russen Schismatiker. Das einstmals
waren. Das waren Protestanten, Altkatholiken und
tiefkatholische Frankreich sei durch Revolution,
Orthodoxe. Ebenso war es in Deutschland wie in
Säkularisierung und Laizismus vom Glauben
Österreich selbstverständlich, dass auch Anhänger
abgefallen. In den Augen von Bischof Faulhades Judentums ihre eigenen Feldrabbiner hatten.
ber war Paris zum „Babylon des Westens“
In der Donaumonarchie taten zudem einige weni„Mit Gott für König und Vaterland“,
herabgesunken. Dürfe Gott also die Gebete der
ge muslimische Feldimame ihren Dienst. Neben
Titelseite eines Kriegsgebetbuchs von 1914
Franzosen weniger erhören? Nein, so die
den Unterschieden in den seelsorglichen HandlunAnsicht eines deutschen katholischen Predigen gab es in der Deutung des Krieges, im Stil der
gers, aber nur, wenn die Franzosen die „richtigen“ Gebete sprächen, etwa darum, Predigten, in der theologischen Ausformulierung verschiedene Nuancen. So
den Unglauben in den eigenen Reihen zu besiegen. Es sollten also sowohl die tendierten protestantische Prediger eher als Katholiken dazu, dem Staat eine
eigene Gesellschaft als auch die gegnerischen Völker durch den Krieg gereinigt, sakrale Bedeutung beizumessen und Gott zu einem „deutschen“ Gott zu
gesühnt, erneuert werden. Je nach Datum im Kirchenjahr ließ sich der Weltkrieg machen. Französische Kirchenvertreter beider Konfessionen behaupteten im
als „Bußzeit“, als „vaterländische Karwoche“ oder als „nationales Pfingsten“ Gegenzug, dass die Deutschen einen falschen Gott verehrten, den man in
Frankreich verabscheue und mit dem man nichts zu tun haben wolle. Der
interpretieren.
Feldgeistliche Benedict Kreutz aus dem Erzbistum Freiburg, dessen KriegstaIm Umkehrschluss wurde ebenso die biblische Heilsgeschichte in das Voka- gebücher überliefert sind, kritisierte offen trotz deutschnationaler Gesinnung
bular des Krieges gepackt. Ein Kriegspfarrer schilderte das Leben Jesu gegen- die sichtbaren Tendenzen einer unseligen Vermischung von Christentum und
über den ihm anvertrauten Soldaten mit folgenden Worten: „Aus der ewigen Deutschtum hin zu einer „deutschen Religion“.
Heimat brach er (Jesus Christus) auf zur Mobilmachung und zog die Uniform
der menschlichen Natur an, nahm das erste Quartier im Schoß Mariens, das Die deutschen Katholiken waren noch gut eine Generation vor Kriegsauszweite sehr feldmäßige in Bethlehem … bis mit
bruch im Kulturkampf insbesondere vom preußischen
seinem 30. Lebensjahr das Biwakieren begann
Staat als national unzuverlässig und tendenziell staatsund er nach der Schlacht auf Golgatha sein jetfeindlich gesinnt angesehen worden. In den Jahren
„Erhöre unsere Bitte,
danach war ihre Tendenz umso stärker, die Treue
ziges Quartier im Himmel, im Tabernakel und im
segne
unsere
Waffen
und
Menschenherzen hat.“ Aus der Vorstellung eines
gegenüber dem protestantisch dominierten deutschen
soldatischen Jesus von Nazareth ließ sich wiedeNationalstaat zu betonen. Unter diesem Aspekt ververleih’ uns den Sieg!“
rum eine konkrete Forderung an die Soldaten
wundert es nicht, dass etwa Bischof Faulhaber in PreFELDBISCHOF EMERICH BIELIK IN SEINEM HIRTENBRIEF
ableiten, die im Zweiten Weltkrieg noch gesteidigten überschwängliche Lobeshymnen auf den
ANLÄSSLICH DER KRIEGSERKLÄRUNG 1914
gert wurde: So, wie Jesus sich am Kreuz für die
evangelischen Kaiser anstimmte. Wenn er dabei einen
Sünden der Menschen geopfert habe, müsse
bayerischen Jesuitenpater zitierte, der Wilhelm II. als
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lischen Feldgeistlichen des preußischen Heeres ist vom „Diakonat der Todesbereitschaft“ die Rede. Das verweist auf die Tatsache, dass sie sich dabei
selbst vielfach in Todesgefahr brachten, dass sie selbst die Leiden des Krieges
erfuhren, von denen wir uns heute kaum eine Vorstellung machen können.
Als Militärbeamte im Offiziersrang hatten sie den Weisungen ihres militärischen Dienstherrn Folge zu leisten. An keiner Stelle der entsprechenden
Im Wesentlichen war man sich unter den Theologen verschiedener Couleur Weisungen, weder von staatlicher noch von kirchlicher Seite, erhielten sie den
während des Ersten Weltkriegs in seiner Haltung gegenüber der gottgewollten Auftrag, Gewehre, Kanonen oder Panzer zu segnen. Ihnen hätte auch keine
Notwendigkeit von Krieg und monarchischem Staat einig. Die Feldgeistlichen kirchliche Segensformel dafür zur Verfügung gestanden. Und es gibt keinen
kamen im Allgemeinen gut miteiHinweis, dass irgendein katholischer
nander aus. Fotos, auf denen
Feldseelsorger im Ersten Weltkrieg tatFeldgeistliche verschiedener Konsächlich Waffen gesegnet hätte oder
dass dies von ihm verlangt worden
fessionen und Religionen einträchtig beieinanderstehen oder
wäre. Er selbst durfte auch gemäß intermiteinander freundlichen Ausnationalem Kriegsrecht nur zum Selbsttausch pflegen, bestärken diesen
schutz eine Waffe verwenden und
auch in schriftlichen Quellen
keinesfalls einfach so ein Geschütz ausmehrfach bezeugten Eindruck.
probieren. Und dennoch kommt der
Neben der gemeinsamen AufgaVorwurf des Waffensegens, wie ihn Karl
be und dem gleichen Status
Kraus in der eingangs geschilderten
innerhalb der militärischen HieSzene aufgreift und wie er bis heute
immer wieder kolportiert wird, nicht
rarchie war es nicht zuletzt die
Not, die zusammenschweißte
von ungefähr. Denn in der Kriegsrhetound in einer Zeit, als Ökumene
rik des Ersten Weltkriegs war nicht selund interreligiöser Dialog noch
ten von der „Waffenweihe“ oder vom
Fremdwörter waren, die starren
„himmlischen Waffensegen“ die Rede.
Grenzen zwischen den Glaubens„Erhöre unsere Bitte, segne unsere Wafüberzeugungen aufweichte. Im
fen und verleih’ uns den Sieg!“, schrieb
Frontgebiet kam es nun verstärkt
der österreichische Feldbischof Emerich
vor, dass gemeinsame GottesBielik in seinem Hirtenbrief anlässlich
der Kriegserklärung 1914. Einen ähndienste gehalten wurden. Seelsorger kümmerten sich um
lichen Tenor schlug ein 1917 in WürzVerwundete und Sterbende auch
burg erschienener Prunkband an mit
anderer Konfessionen. Kathodem Titel „Sankt Michael. Ein Buch aus
lische Soldaten besuchten noteherner Kriegszeit zur Erinnerung,
Erbauung und Tröstung für die Kathofalls evangelische Feldgottesdienste und umgekehrt.
liken deutscher Zunge“. Das darin entDenn freilich war nicht überall ein
haltene, von einem Benediktinerpater
verfasste Kapitel „Waffensegen“ stellt
Geistlicher des gleichen Glaubens
in greifbarer Nähe. Innerhalb der
basierend auf der Liturgie der „Kriegskirchlichen Bürokratien, ganz
messe“ den Versuch einer theologleich ob in Wien, Berlin oder
gischen Rechtfertigung von Krieg und
Felddivisionspfarrer Dr. Julius Langhaeuser im Jahr 1914
München, waren solche ÜberKampf dar. Demnach stehe jeder Krieg
schreitungen der Konfessions„in einem geheimnisvollen Zusammengrenzen allerdings nicht gern gesehen. Man wachte mitunter eifersüchtig über hange mit dem blutigen Drama auf Golgatha“. Er sei eine Fortsetzung des
den eigenen Status und die Zuständigkeit für „seine“ Soldaten. So sprach man Kampfes, den Christus geführt habe. Einen expliziten Bezug zu militärischen
sich in Wien hartnäckig dagegen aus, katholische und nichtkatholische Gottes- Gerätschaften oder an ihnen vollzogenen Segenshandlungen sucht man in
dienste im selben Kirchengebäude stattfinden zu lassen. In der preußischen solchen Text aber vergebens.
Feldseelsorge war es katholischen Pfarrern zwar gestattet, ihre Kirchen aufgrund einer gütlichen freiwilligen Vereinbarung für einen evangelischen Gottes- Militärseelsorge war auch im Ersten Weltkrieg immer in erster Linie ein Dienst
dienst zur Verfügung zu stellen, nicht jedoch, selbst ein evangelisches an den Menschen, die zum Waffendienst verpflichtet waren. Begleitet war
Gotteshaus für die heilige Messe zu nutzen. Die langfristigen Wirkungen der dieser Dienst der Kirche allerdings von einer martialischen Sprache, die ganz
Feldseelsorge in Richtung eines ökumenischen Miteinanders werden daher von dem Geist der Zeit entsprach. Dass zur selben Zeit, insbesondere in seinem
Kirchenhistorikern als eher gering eingestuft. Skepsis auf der Leitungsebene Mahnschreiben vom 28. Juli 1915, Papst Benedikt XV. den Krieg als „entsetzund die Beharrungskräfte der konfessionellen Milieus waren dafür zu Beginn liches Blutbad“ brandmarkte und die verfeindeten Parteien inständig zu
des 20. Jahrhunderts zu groß.
einem raschen Ende der Kampfhandlungen aufrief, verhallte nahezu im Donnerklang einer sakralen Verklärung des Völkerringens, an der auch die damaDie Aufgaben der Feldgeistlichen waren klar definiert in der Sorge um die lige katholische Feldseelsorge ihren Anteil hatte. Die am lautesten den Krieg
Kämpfenden, die Verwundeten und die Toten. Im Handbuch für die katho- bejubelten, waren freilich zumeist jene, die weit weg von der Front waren. n
„treuen Führer, den die Vorsehung uns gab“, und als „liebenswürdiges
Abbild des göttlichen Herrscherwillens“ bezeichnete, dann weist diese Charakterisierung schon auf die Art und Weise hin, mit der später einem Adolf
Hitler auch von nicht wenigen Kirchenvertretern quasi messianische Bedeutung beigemessen wurde.
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Büste in der Unterkirche
der Bürgersaalkirche in München
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RUPERT MAYER – FELDSEELSORGER
IM ERSTEN WELTKRIEG
Von Frank-Peter Bitter
M
ayer wurde 1876 in Stuttgart geboren und wuchs dort
auf. Er studierte Philosophie in München und anschließend Theologie in Fribourg (Schweiz), München und
Tübingen. 1899 wurde er in Rottenburg zum Priester
geweiht. 1900 schloss er sich dem Jesuitenorden an.
Da es diesem seit dem Kulturkampf verboten war, sich
auf deutschem Reichsgebiet niederzulassen, betätigte Pater Mayer sich als
Volksmissionar unter anderem in den Niederlanden, Österreich und in der
Schweiz. Nach und nach wurde das Niederlassungsverbot für den Jesuitenorden wieder aufgehoben. So konnte der Jesuit Mayer auf Wunsch des
Münchner Erzbischofs Kardinal von Bettinger ab 1906 in München seine
Tätigkeit als Großstadtseelsorger aufnehmen. Schwerpunkte seines pastoralen Wirkens waren die Seelsorge für Zuwanderer und die Familienseelsorge.
Rehabilitierung des Jesuitenordens
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der damit verbundenen Mobilmachung am 1. August 1914 meldete Mayer sich freiwillig zur Feldseelsorge. In
seinem erst später verfassten Lebenslauf leitete er seinen Bericht über die
Kriegsjahre mit folgenden Worten ein: „Nach Ausbruch des Weltkrieges
drängte ich, ins Feld zu kommen.“ Für Pater Mayer war vaterländische
Pflichterfüllung ein selbstverständliches Anliegen. Seiner Bitte, als Feldseelsorger tätig zu werden, wurde schnell entsprochen. Neben ihm meldeten sich
weitere 95 Mitglieder aus seinem Orden zum Dienst in der Truppe. Dies führte
in der anfänglichen patriotischen Aufbruchsstimmung und Kriegsbegeisterung sowohl zu einer positiven Aufwertung als auch zu einer grundsätzlichen
Rehabilitierung des Jesuitenordens im deutschen Kaiserreich.
In den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges
auch durch katholische Militärseelsorger begleitet. Einer der prominentesten war der 1987 seliggesprochene Jesuitenpater Rupert Mayer.
„DER MEISTBESCHÄFTIGTE
MANN AN DER FRONT!“
Fotos: Richard Huber / Wikimedia Commons (l.), Andreas Praefcke / Wikimedia Commons (r.)
wurden die deutschen Soldaten unter anderem
Hochdekoriert und hochgeachtet
Zunächst versah P. Rupert Mayer seinen seelsorgerlichen Dienst im Feldlazarett 2 des I. Bayerischen Armeekorps. Allerdings hoffte Mayer, aus der Etappe
des Feldlazaretts an die Front zu den Soldaten zu kommen. Wieder war es
Erzbischof Kardinal von Bettinger, zugleich Feldpropst der bayerischen Militärseelsorge, der erwirkte, dass Pater Mayer an die Front versetzt wurde. So
betreute er als Divisionspfarrer das 18. und 19. Königlich Bayerische Reserve-Infanterie-Regiment und kam bereits nach kurzer Zeit an die vordersten
Linien der Front. Seine Art, mit den Soldaten in Kontakt zu treten, sein unablässiges Mühen, den Soldaten Trost zu spenden und sie im Todeskampf zu
begleiten, machten ihn in der 8. Division sehr bekannt und vor allem beliebt.
So erhielt er im Dezember 1915 seine erste militärische Auszeichnung: das
Eiserne Kreuz I. Klasse. Im Laufe der kommenden Jahre erhielt er weitere
Orden und Auszeichnungen. Dass ihm als katholischem Priester – zumal als
einem Jesuiten – diese Auszeichnungen staatlicherseits zuerkannt wurden,
belegt die Hochachtung des Militärs gegenüber diesem außergewöhnlichen
Mann. Neben der Westfront in Frankreich war seine Einheit auch an der Ost-
front in den rumänischen Karpaten eingesetzt. Hier wurde der Divisionsgeistliche Mayer am 30. Dezember 1916 schwer verwundet, was zur Folge hatte,
dass er seinen linken Unterschenkel bis hin zum Knie verlor. Nach zwei Amputationen, einem langwierigen Heilungsprozess und Rehabilitationsmaßnahmen kehrte er im November 1917 hochdekoriert nach München zurück.
Ablehnung des NS-Regimes
„In einer Übersicht verweist Pater Mayer auf einzelne äußere und innere
Eigenschaften, die dem Feldgeistlichen bei der Erfüllung seines priesterlichen
Auftrags hilfreich sein können. Er nennt dabei unter anderem ein mittleres
Alter, Weltgewandtheit, ohne aber ein ‚Salonpfarrer‘ zu werden … Er muß
ein Zeitjäger sein, sonst kann er seinen vielseitigen Pflichten nie und nimmer
gerecht werden. Wenn er seinem Beruf in richtiger Weise nachkommen, wenn
er also Einzelseelsorge, was die Quintessenz der Feldseelsorge ist, treiben
will, so ist er der meistbeschäftigte Mann an der Front …“ (zitiert nach
Wilhelm Sandfuchs: Pater Rupert Mayer. Verteidiger der Wahrheit, Apostel der
Nächstenliebe, Wegbereiter moderner Seelsorge. Würzburg 1981, S. 68)
Ob sein Dienst als Feldseelsorger im Ersten Weltkrieg und seine Erfahrungen
während dieser Zeit ursächlich dafür waren, dass er später – ähnlich wie
evangelischerseits der Kriegsteilnehmer Pastor Martin Niemöller – gegenüber den Nationalsozialisten zu einer klaren, nämlich ablehnenden Haltung
fand, darf man wohl annehmen. Beide traten öffentlich gegen das NS-Regime
auf und nahmen dafür Haft, Konzentrationslager und Hausarrest in Kauf. n
Eisernes Kreuz Rupert Mayers aus dem Ersten Weltkrieg,
ausgestellt in der Unterkirche der Bürgersaalkirche
in München
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HEINRICH MANNS
„DER UNTERTAN“
Ein Roman, der hilft, den Zeitgeist besser zu ver-
Von Manfred Suermann
stehen: In einer bitteren Satire erzählt Heinrich
Mann über die wilhelminische Epoche und ana-
D
lysiert die Situation der Vorkriegszeit.
er Untertan“ – das ist die Geschichte des Diederich Heßling,
eines erfolgreichen Machtmenschen, der extrem anpassungsfähig ist und der nach oben buckelt und nach unten
tritt. Er wird in diesem Roman als eine typisch deutsche Figur
der damaligen Zeit beschrieben, mit der die herrschende
Doppelmoral und Heuchelei der bürgerlichen „besseren
Gesellschaft“ entlarvt wird.
Spiegelbild der wilhelminischen Gesellschaft
Er ist verzagt und ängstlich, solange es um seine Sache schlecht steht, und
trumpft umso gnadenloser auf, sobald er sich auf der Seite des Stärkeren
weiß. Er liebt die markigen Worte, für die er mit Taten niemals einsteht. Sein
schwaches Ich richtet er am hohlen Idealismus auf, in den die Macht sich
kleidet – in diesem Fall am Nationalismus. Minderwertigkeitskomplexe und
Größenwahn gehen bei ihm Hand in Hand. Ehre, Treue und Anstand, die er
gern im Mund führt, paaren sich bei ihm mit Verrat und Denunziation. Heßling ist das glatte Dementi des liberalen, selbstbewussten, verantwortungsvollen Bürgers und ist und bleibt somit für alle Zeiten: „Der Untertan“! Er
spiegelt – zumindest in der Intention des Schriftstellers – die Wirklichkeit des
preußisch-deutschen Kaiserreichs unter Wilhelm II. wider.
Motivgrundlage: Bundesarchiv, Bild 146-1991-076-14A / E. Bieber/CC-BY-SA/Wikimedia Commons
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„wollte“. Andererseits lässt die Studentenverbindung ihre Beziehungen spielen und erreicht, dass Diederich von den Lasten des Militärdienstes befreit
wird. Das hindert ihn aber nicht daran, zeitlebens das Militär als nationale
Institution nachhaltig zu loben.
Tyrann und Intrigant
In dieser Zeit auch verführt er die Tochter eines Geschäftspartners seines
Vaters, weist sie dann aber mit der Begründung zurück, dass sie nicht mehr
ihre „Reinheit“ in die Ehe einbringe. Nach seinem Studium kehrt er in seine
Heimatstadt zurück und übernimmt die Fabrik des inzwischen verstorbenen
Vaters. Dort entpuppt er sich als Agitator am Stammtisch, als Tyrann über
seine Arbeiter und die eigene Familie, als Eiferer gegen das Proletariat, der
selbst die Erschießung eines Demonstranten begrüßt. Er, der selber bis in die
Fingerspitzen kaisertreu ist, tritt auch als Zeuge im Prozess gegen einen
jüdischen Mitbürger wegen Majestätsbeleidigung auf und intrigiert als Stadtverordneter erfolgreich gegen den Sozialdemokraten Napoleon Fischer.
Ambivalente Machtspiele
Heßlings Kindheit war von der Angst vor dem überaus strengen und autoritären Vater, einem Papierfabrikanten, und der noch strengeren Schule, die zu
widerspruchsfreiem Gehorsam erzieht, gekennzeichnet. Doch er zerbricht
nicht an der erlittenen Gewalt, sondern bejaht die dadurch erlebte Macht und
gibt diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit an Schwächere weiter, z. B.
an die jüngeren Schwestern, die nach seinem Diktat schreiben und dabei
künstlich Fehler machen müssen, für die er sie anschließend bestraft. Er verehrt die Macht; er leidet einerseits unter ihr, aber zugleich will er an ihr teilhaben und übt sie aus, wo er kann. Er scheut sich auch nicht, seine Mutter,
die gefühlvoll und weich ist wie er, bei seinem Vater anzuschwärzen, da weiche Züge – wie bei ihm selbst – unterdrückt werden müssen.
Privates Prestige und Scheinmoral
Die Hochzeit mit dem geldschweren Mädchen Guste Daimchen ist keine
Liebes-, sondern eine Zweckheirat, welche die gesellschaftliche Stellung
sichern und erweitern soll. Seine sadomasochistische Disposition, die sich
durch seine Sozialisation herausgebildet hat, zeigt sich unter anderem auch
daran, dass er im ehelichen Intimleben masochistische Wünsche an seine
Ehefrau heranträgt; sie soll ihn hier als Untertan behandeln. Ansonsten spielt
er sich als sadistisches Familienoberhaupt auf. Dem entspricht die Rolle der
Frau in dieser Zeit, wie sie in dem Buch deutlich wird: Der herrschenden
Klasse lag viel daran, die weibliche Bevölkerung in einem Zustand der
Unmündigkeit zu erhalten. Das Wahlrecht und die Mitgliedschaft in politischen Organisationen blieben den Frauen verwehrt. Das Ideal war die Ehefrau, die ihrem Mann eine hübsche Häuslichkeit verschafft, sowie die treu
sorgende Mutter. Während der Ehemann sich durchaus mit Prostituierten
oder der kleinen Freundin aus der Unterschicht amüsieren durfte, wurde die
Untreue der Frau als unverzeihliches Vergehen geahndet.
Integration durch Anpassung
Während seines naturwissenschaftlichen Studiums in Berlin wird Diederich
Mitglied einer national gesinnten Studentenverbindung, deren rauen Sitten
er sich widerstandslos anpasst und wo er die Stärke in der Gruppe lernt.
Seine Integration durch Anpassung geht sogar so weit, dass er als Individuum
in dieser Körperschaft untergeht und die Gruppe für ihn „dachte“ und
Dass der Roman darüber hinaus auch den damaligen Konflikt zwischen den
konservativen, kaisertreuen und den sozialdemokratischen, liberalen Kräften im
Deutschen Reich widerspiegelt, sei hier nur am Rande erwähnt. An dieser Stelle ging es in erster Linie darum, skizzenhaft bestimmte Wesenszüge eines zur
damaligen Oberschicht gehörenden Menschen aufzuzeigen, die offenbar recht
weit verbreitet waren. n
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DIE KRIEGSSCHULDFRAGE
DIE DISKUSSION GEHT WEITER
Foto: picture alliance / ZB
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Reparationsleistungen nach den militärischen Bestimmungen
des Friedensvertrages von Versailles: Musterung der an
die Sioegermächte auszuliefernden Pferde in Berlin
Von Manfred Suermann
M
itten im Frieden überfällt uns der Feind!“, verkündete
der deutsche Kaiser Wilhelm II., als deutsche Truppen
nach Belgien einmarschierten. So verquer dieser Satz
im Lichte der Tatsachen auch erscheinen mag, so sollte
er vor allem eines bezwecken: die Schuldfrage klären!
Denn die Kriegsschulddebatte hatte begonnen, schon
bevor die ersten Schüsse gefallen waren. In den Hauptstädten Europas war
man sich im Vorfeld durchaus darüber im Klaren, dass ein moderner Krieg mit
Millionenheeren nur dann erfolgreich geführt werden konnte, wenn die
Bevölkerung davon überzeugt war, dass es sich um einen „gerechten Krieg“
handelte. Das bedeutete, dass man in jedem Fall als Angegriffener dazustehen hatte, der legitim zu den Waffen griff, um sich zu verteidigen. Entsprechend wurde das „offizielle“ Vokabular gewählt. Weil Russland als erste
Großmacht am 30. Juli die Mobilmachung angeordnet hatte, war zunächst
das deutsche Bemühen erfolgreich, Russland in der Öffentlichkeit als den
Schuldigen am Ausbruch des Krieges anprangern zu können.
Doch der Vertrag von Versailles machte dieser Sichtweise einen Strich durch
die Rechnung: Deutschland wurde die Alleinschuld aufgebürdet und mit der
Strafe belegt, unermessliche Reparationszahlungen zu leisten. Dieser historische Schuldspruch bestimmte für etliche Jahrzehnte die Schulddebatte. Gab
es für die These von Deutschlands Alleinschuld handfeste Indizien?
Deutschland im absehbaren Zweifrontenkrieg
In der Vorkriegszeit war Deutschland in vielerlei Hinsicht ein blühendes
Land, das auch im Konzert der Kolonialmächte einen ihm gebührenden
Platz suchte. Zugleich aber fühlte es sich mehr und mehr isoliert und
durch die Abkommen zwischen Großbritannien, Frankreich und Russland
eingekreist. Ab 1912 verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den
Großmächten und es kam zu einem Wettrüsten vor allem zwischen Frankreich und Deutschland. Auf beiden Seiten herrschte die Überzeugung, der
Gegner dränge zum Krieg und wolle bald losschlagen. Auch die Beziehungen zu Russland verschlechterten sich zusehends, weswegen man sich
aufgrund des Allianzvertrages zwischen Frankreich und Russland der Notwendigkeit eines Zweifrontenkrieges gegenübersah. Dementsprechend
hatten der Generalstabschef Helmuth von Moltke und andere dafür plädiert, dem für 1916 zu erwartenden Krieg zuvorzukommen, um die Chance zu wahren, siegreich aus ihm hervorzugehen. Diese Meinung hat wohl
auch der deutsche Kaiser vertreten: In einem Gespräch mit dem Hamburger Bankier und engen Vertrauten Max Warburg am 21. Juni 1914 hatte
er sich über die russische Rüstung sehr besorgt gezeigt und einen Vorwand zum Losschlagen gesucht, damit in zwei Jahren nicht alles zu spät
sei. Eine allgemeine Bereitschaft zum Krieg wird man Deutschland also
wohl unterstellen dürfen und es war durch den sogenannten Schlieffenplan, der eine schnelle Eroberung bzw. Niederwerfung Frankreichs vorsah, anscheinend bestens vorbereitet.
Die andere Seite des deutschen Kaisers
Hatte der Kaiser aber nicht auch zum Frieden bzw. zur Zurückhaltung
gemahnt, als er Österreich-Ungarn ausrichten ließ, dass aufgrund der
serbischen Antwort auf das Ultimatum der Donaumonarchie jeglicher
Kriegsgrund entfallen sei? Sein eigener Kanzler Theobald von Bethmann
Hollweg hintertrieb jedoch die Friedensbemühungen, indem er Wilhelms
Reaktion nur stark verstümmelt an Österreich weiterleitete. Wilhelms tatsächliche Meinung, Österreich dürfe jetzt keinen Krieg beginnen, kam in
Wien nie an. Wilhelm unternahm noch einen weiteren Anlauf, um die
Katastrophe in letzter Minute abzuwenden: Am 1. August befahl er nach
ermutigenden Nachrichten aus London, dass Großbritannien keinen
Kriegseintritt plane, die Armee kurz vor Überschreitung der luxemburgischen Grenze anzuhalten – gegen schärfste Proteste des Generalstabschefs Helmuth von Moltke. Erst als sich die Informationen als falsch
erwiesen, gab Wilhelm dem Druck der Militärs nach und sagte zu Moltke:
„Nun können Sie machen, was Sie wollen.“
Die Kriegsschulddebatte in der Nachkriegszeit
Die grundsätzliche Bereitschaft zum Krieg war aber nicht nur in Deutschland gegeben. So wirkte im Sommer 1914 der französische Präsident
Poincaré stark auf die Russen ein, gegen Österreich-Ungarn zu mobilisieren. Auch in St. Petersburg gab es wichtige Leute, die auf einen Krieg
drängten, z. B. General Wladimir Suchomlinow, den Kriegsminister. Nach
dem Ersten Weltkrieg kam der französische Historiker und Pädagoge Jules
Isaac zu folgendem Urteil: Der Krieg sei gekommen, weil für keine der
beteiligten Nationen der Frieden das höchste Gut gewesen sei! Hinter
dieser lakonischen Feststellung dürfte sich die Einsicht verbergen, dass
den Politikern von 1914 ein – zeitlich wie räumlich begrenzter – europäischer Krieg als durchaus machbar und nicht so verheerend erschienen
war. Man hatte vom Gaskrieg keine Vorstellung, genauso wenig von flächendeckender schwerer Artillerie und von Tanks oder Bomben werfenden
Flugzeugen. Der Krieg, wie er 1914 begann, hatte mit dem von 1916 bis
1918 so gut wie nichts mehr zu tun. Ziel der offiziellen Geschichtsschreibung der 1920er-Jahre wie auch der Weimarer Regierungen war die Revision des Versailler Vertrages bzw. die Widerlegung der „Kriegsschuldlüge“. 
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Vernichtung von Kriegsmaterial nach den militärischen
Bestimmungen des Friedensvertrages von Versailles 1919:
Ein Mann zerstört mit einer Spitzhacke deutsche Stahlhelme
„Was wir verlieren sollen!“ (Plakat zu den im Versailler Vertrag
festgelegten Gebietsabtretungen und Reparationen Deutschlands, 1919)
In den 1930er-Jahren begann sich im Ausland langsam eine neue Sicht
durchzusetzen. So schrieb der ehemalige britische Premierminister David
Lloyd George in seinen Memoiren, Europa sei 1914 in den Krieg „hineingeschlittert“. 1927 lehnte Reichspräsident Paul von Hindenburg alle
Schuldzuweisungen an Deutschland ab und forderte die Revision des Versailler Vertrages. Zehn Jahre später erklärte Hitler, die Kriegsschuldfrage sei
gelöst, und zog „die deutsche Unterschrift feierlichst zurück“.
In den 1960er-Jahren erregte der Historiker Fritz Fischer mit seinen Büchern
Aufmerksamkeit. Darin machte er die Reichsregierung für den Ersten Weltkrieg wesentlich mitverantwortlich. Er interpretierte die vorbehaltlose
Rückendeckung für die Regierung Österreich-Ungarns am 5. Juli 1914 als
„Blankovollmacht“ für deren Vorgehen gegen Serbien. Anhand von Dokumenten und Zitaten belegte Fischer, das Attentat von Sarajevo vom 28.
Juni 1914 sei für die deutsche Reichsleitung der willkommene Anlass zur
Verwirklichung ihrer weitreichenden Ziele gewesen, nämlich die Hegemonie
in Europa zu erlangen und sich als Weltmacht zu etablieren. Deutschland
habe den österreichisch-serbischen Krieg gewollt und – im Vertrauen auf
seine militärische Überlegenheit – es bewusst auf einen Konflikt mit Frankreich und Russland ankommen lassen. Fritz Fischer sorgte mit seinen Forschungen und Thesen für eine in der Geschichtswissenschaft bis in die
1990er-Jahre andauernde Kontroverse.
Christopher M. Clark,
Frankfurter Buchmesse 2013
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Die gegenwärtige Debatte
Neu belebt wurde die Diskussion über den Ersten Weltkrieg und die Schuldfrage
erst, als der 100. Jahrestag des Kriegsausbruches nahte. Für Aufsehen sorgte diesmal der in England lebende australische Historiker Christopher Clark mit seinem
Buch „Die Schlafwandler“. Sein Statement, die Suche nach einem Schuldigen sei
unnötig und sinnlos, weil Historiker nicht über die Handelnden der Vergangenheit
richten, sondern Handlungen in ihrer Entstehungsgeschichte verständlich machen
sollten, führte zu einigen Kontroversen. Clark stellt dementsprechend die These von
der besonderen Kriegsschuld des deutschen Kaiserreichs infrage, zeichnet die
Mechanismen nach, die zum Ausbruch des Krieges führten, und zeigt so, wie alle
beteiligten Handelnden Mitverursacher waren. „So gesehen war der Kriegsausbruch
eine Tragödie, kein Verbrechen“, schreibt er. „Die Krise, die im Jahre 1914 zum Krieg
führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur: Aber sie war darüber
hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv – genau das macht sie zu dem komplexesten Ereignis der Moderne, und eben deshalb geht die Diskussion um den
Ursprung des Ersten Weltkriegs weiter, selbst ein Jahrhundert nach den tödlichen
Schüssen Gavrilo Princips an der Franz-Joseph-Straße.“ Die Kriegsursache sieht
Clark in der Entwicklung Europas von einem vielstimmigen politischen Ökosystem
hin zur Konfrontation starrer Blöcke, die dann ihre innere Logik entwickelte. Diese
griff schließlich nach dem Mord in Sarajevo mit aller Konsequenz in das Geschehen
ein. Der Krieg sei aber keineswegs unausweichlich gewesen, die Risiken allerdings
hätten die Regierungen der beteiligten Länder nicht abgewogen oder falsch eingeschätzt. Auch Herfried Münkler bestreitet in seinem Buch „Der Große Krieg“ die
alleinige Kriegsschuld Deutschlands. „Zweifellos war Deutschland im Sommer 1914
einer der maßgeblichen Akteure, die für den Kriegsausbruch verantwortlich waren
– aber es trug diese Verantwortung keineswegs allein.“ Münkler untersucht in
seiner Arbeit auch die Rolle des Militarismus, der ja im Verdacht steht, eine strukturelle Ursache für Deutschlands angebliche Kriegslüsternheit gewesen zu sein. Er
kommt zu dem Schluss, dass dem militaristischen Image des Reiches keine relevanten Tatsachen entsprochen hätten. Bei Kriegsausbruch hatte man, schreibt
Münkler, „keine hinreichenden Munitionsvorräte angelegt, geschweige denn für
eine entsprechende Bevorratung mit Rohstoffen und Lebensmitteln gesorgt, und es
standen auch nicht genügend Truppen zur Verfügung, um eine großangelegte
Offensive erfolgreich durchführen zu können“.
Resümee
Hier kann nicht der Ort sein, eine detaillierte Darstellung der Diskussion über
die Kriegsschuld Deutschlands zu bieten. Stichworte mussten genügen. Es
hat sich aber gezeigt, dass die Historiker in dieser Frage zu neuen Erkenntnissen gekommen sind, wodurch die Kriegsschuldfrage in neuem Licht
erscheint. Wahrscheinlich ist hier das letzte Wort noch nicht gesprochen und
die Diskussion dürfte weitergehen, auch wenn sie nach Ablauf dieses
Gedenkjahres möglicherweise abnehmen wird. n
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Glaubensfragen
WELTKRIEG ALS WELTGERICHT
Grundsätzlich gibt es in Religionen eine Neigung, weltliche Ereignisse bzw. das
weltliche Geschehen insgesamt als Ausdruck göttlichen Willens zu deuten oder
zumindest mit Gott in Verbindung zu bringen. Dies resultiert aus dem Glauben,
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Karikatur „Das Problem der Wiederbelebung“, 1914:
Papst Benedikt XV., der eine tote Friedenstaube am Bein kopfüber in die Luft hält,
sagt: „Zu diesem Zeitpunkt scheint es zwecklos, für ihre Auferstehung zu beten
– dennoch gehören Wunder (jeglicher Art) zu unserem Berufsfeld“.
dass Gott die Welt erschaffen hat, Er der Herr allen Geschehens auf der Welt
ist und insofern nichts ohne seinen Willen geschieht.
Von Manfred Suermann
W
ie äußerten sich Geistliche zum Krieg? Wie erklärten
sie ihn? Welchen Sinn verliehen sie ihm? Und wie
gingen die Gläubigen damit um? Wie reagierten sie
auf den Kriegsausbruch? Einige Hinweise dazu sollen
einen Einblick in die damalige kirchlich-religiöse Stimmungslage vermitteln.
Vorab sei aber noch auf etwas Wichtiges hingewiesen: Man wird zurückliegenden Ereignissen und den in ihr wirkenden Menschen mit ihrem Verhalten
und Denken nicht gerecht, wenn man sie aus heutiger Sicht und mit heutigen
Maßstäben beurteilt. Jede Gegenwart hält sich in der Regel für aufgeklärter,
fortschrittlicher, klüger und bewusster als die Vergangenheit. Damit wird aber
aus dem Beurteilen schnell ein Verurteilen; Klischees und Vorurteile, Kopfschütteln und Verständnislosigkeit sind oft die Folge. Aus der Geschichte lernen heißt
aber nicht nur den Balken im Auge der anderen sehen, sondern auch den Balken im eigenen Auge erkennen.
Weg aus der gesellschaftlichen Isolation
Als Folge des Kulturkampfes (1871-1878), also des Konflikts zwischen dem
Königreich Preußen und der katholischen Kirche, in dem es um die Neuordnung
des Staat-Kirche-Verhältnisses ging, waren in der preußisch-protestantischen
Monarchie die katholischen Christen weitreichend benachteiligt und gesellschaftlich ausgegrenzt. Und da sie nicht so sehr auf den deutschen Kaiser,
sondern auf den Papst hin orientiert waren und damit einem übernationalen
Prinzip folgten, galten sie nicht selten als „vaterlandslose Gesellen“. Als der
Kriegsausbruch mit Hurra einsetzte, sah die katholische Kirche die Chance, den
Anschluss an die nationale Gemeinschaft wiederzugewinnen, indem sie sich
auf diesen Krieg verpflichtete. So übernahm sie ohne Zögern in ihren Verlautbarungen und Predigten die kaiserliche Botschaft „Zahlreich sind die Feinde,
die uns umgeben“. Gegen diese gelte es, sich zu verteidigen. Dieser Krieg
wurde von allen als aufgezwungen erlebt, und es herrschte die Überzeugung,
vor Gott rechtmäßig zu handeln, also einen „gerechten Krieg“ zu führen. Durch
diese politische Argumentation wollte sich die katholische Kirche aus der
gesellschaftlichen Isolation befreien.
Theologische Argumentation
Traditionell gilt ein Krieg als Gottes Strafe für die Sünden und Verfehlungen
eines Volkes oder einer Nation. Von Bedeutung war deshalb die theologische
Sinngebung des Krieges: Da war vom „Fingerzeig Gottes“ die Rede, durch den
die Deutschen der Dekadenz der Vorkriegszeit abschwören und zu einem gläubigen Lebenswandel zurückkehren sollten. Andere sprachen von einem „Strafgericht Gottes“ über die sündige Menschheit, verbunden mit einem Appell zu
Buße und Umkehr und der Aufforderung, die Tugenden des Christseins zu
bewahren und zu stärken. Der Grundtenor der Verkündigung zu Kriegsbeginn
lautete, dieser Krieg entspreche nicht dem Willen Gottes und er sei kein Mittel
zur Durchsetzung seines Heilplans; aber Gott habe diesen Krieg zugelassen.
Halten wir kurz inne und fragen uns: Was hätte die Kirche sagen sollen angesichts der Prämisse, Gott habe die Welt erschaffen habe und sei der Herr der
Welt? Welchen Sinn verbindet Gott selber mit diesem Krieg?
Geistliche Unterstützung
Wenige Wochen nach Kriegsbeginn, als die ersten Toten zurück in die Heimat
gebracht wurden und die Lazarette sich füllten, verschloss sich die Kirche diesem Leid keineswegs. Die Geistlichen haben nicht geschwiegen, wie man spontan meinen könnte, sondern benannten ohne Beschönigung das Morden auf
dem Schlachtfeld und die Entbehrungen und das einsetzende Elend zu Hause.
Trotz des Glaubens an den gerechten Krieg sahen die Bischöfe also von Anfang
an dessen Grausamkeiten und wendeten ihren Blick den Einzelnen zu. Ihre
Pfarrer wiesen sie an, mit Gottesdiensten, Predigten und den vielfältigsten seelsorgerischen Aktivitäten Trost zu spenden, Beistand zu leisten, die Menschen
im Glauben zu bestärken, Sakramente zu spenden und Sinn zu vermitteln. Der
Krieg wurde gedeutet mit biblischen Zitaten, Vergleiche mit dem Jüngsten
Gericht wurden angestellt und Bezüge zur Leidensgeschichte Christi hergestellt:
Wie Jesus das Kreuz, so müsse der Mensch das Leid des Krieges geduldig tragen; denn nur über den Weg der Erduldung sei Erlösung zu erreichen. Mit
religiösen Sinnangeboten dieser Art versuchten die Geistlichen, den Einzelnen
bei der Bewältigung des Kriegsgeschehens zu helfen.
Zufluchtsort Kirche
In den Tagen von der Mobilmachung bis zu den ersten Kriegswochen waren die
Kirchen voll. Ein regelrechter Ansturm auf die Gottesdienste fand statt. In den
Wirren und Unsicherheiten, die über die Menschen hereinbrachen, suchten sie
Halt und einen Ort, wo sie in Gemeinschaft Geborgenheit erleben konnten. Selbst
Soldaten bevölkerten zu Tausenden die heilige Messe und empfingen die Sakramente. In der emotionalen Aufwallung war so etwas wie eine neue Religiosität
entstanden. Doch nur wenige Monate später, als sich Europa in ein verwüstetes
Schlachtfeld zu verwandeln begann, hatte sich das Blatt gewendet: Die Predigten
überzeugten nicht mehr, bei den Verwundeten stieß der Bezug zum Leiden Christi
auf Unverständnis, der Trost reichte nicht mehr, die Bestärkung im Glauben oder
gar die Vertiefung des Glaubens, wie von vielen erhofft, blieben aus, und auch die
Soldaten kamen nicht mehr in die Kirche. Der Krieg und seine sinnlosen Grausamkeiten waren alltäglich geworden, was wohl dazu geführt hatte, dass die Menschen den Gottesdiensten fernblieben. Auch hatten die Seelsorger gehofft, die
Gläubigen würden ihr Leben wieder mehr nach den Grundsätzen und Vorschriften
der kirchlichen Moral und Lehre ausrichten, doch auch darin wurden sie enttäuscht. Schlimmer noch: Man bemerkte sogar, dass selbst verheiratete Soldaten
sich an junge Frauen heranmachten oder Kriegsgefangene welcher Nationalität
auch immer, wenn sie denn in Deutschland zur Arbeit eingeteilt waren, mit deutschen Frauen Kontakte knüpften. So wandelte sich auch das Verständnis vom
Krieg bei der Kirche: Sah man ihn zu Beginn als eine Art reinigendes Gewitter, um
sich vom Schmutz der Vorkriegszeit zu befreien, so wurde der Krieg nun verantwortlich gemacht für moralische Verwahrlosung.
Fehlender Widerstand
Die Kirchen und die große Mehrheit der Christen sahen sich nicht nur als Verteidiger des deutschen Vaterlandes, sondern darüber hinaus auch als Verteidiger der
Kultur und des Christentums insgesamt. Für sie war es ein „heiliger Krieg“, ein
Kreuzzug gegen das Böse, das Niedrige und Gottlose beim Feind. Und selbstverständlich sahen sie Gott als Kombattanten, als Mitstreiter im eigenen Lager. Mit
Blick auf mögliche Lehren, die zu ziehen wären, sollte nicht unerwähnt bleiben,
dass im Ersten Weltkrieg in Deutschland Christentum und Nationalismus eine
enge Verbindung eingegangen waren, die gerade den Katholiken den Blick dafür
trübte, dass der damalige Papst Benedikt XV. den Krieg verurteilte und sich unermüdlich dort, wo es ihm möglich war, für den Frieden einsetzte, wenngleich ihm
ein politischer Erfolg nicht vergönnt war. Aufgrund seiner Bemühungen um Frieden und humanitäre Hilfen während des Ersten Weltkriegs steht noch heute in
einem Istanbuler Stadtteil ein Denkmal für ihn. Auch gibt zu denken, dass sich die
europäische Christenheit, sei sie nun orthodox, protestantisch oder katholisch,
nicht in der Lage sah bzw. keine Anstrengungen unternahm, diesen Krieg zu
verhindern oder ihn wenigstens zu begrenzen.
Richtungsweisende Erfahrungen
Indem die Kirche die kaiserliche Botschaft vom Verteidigungskrieg nahtlos übernahm, vernachlässigte sie – aus heutiger Sicht – eine wichtige Aufgabe, nämlich
Entwicklungen in Politik und Gesellschaft kritisch zu begleiten und gegebenenfalls warnend ihre Stimme zu erheben; auch damit hätte sie zur Gewissensbildung
der Gläubigen beizutragen. Dies dürfte eine der Lehren sein, die aus der Erfahrung der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ zu ziehen sind. n
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zum Thema | Ausgabe 1.2014 | 1914 – 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg
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Nachdem am 1. August 1914 durch Kaiser Wilhelm II. die
allgemeine Mobilmachung verkündet wurde, ziehen
deutsche Soldaten in den Krieg (Aufnahme vom August 1914).
Ypern in der Provinz Westflandern/Belgien
Von Manfred Suermann
Rückblick
A
Im folgenden Rückblick soll nicht – wie schon zu Anfang dieses Heftes
betont – die ganze Geschichte des Ersten Weltkrieges beleuchtet werden.
Vielmehr sollen einige grundlegende Phänomene und damit zusammenhängende Erkenntnisse beschrieben werden, die für diese „Urkatastrophe“
kennzeichnend waren und die für die weitere Entwicklung über den Zweiten
Weltkrieg hinaus bis in unsere Zeit von Bedeutung sind.
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AUS DER KATASTROPHE LERNEN
m Ende des Ersten Weltkrieges war Europa ausgeblutet,
weite Teile lagen in Trümmern, ganze Landstriche waren verwüstet und zu einem riesigen Friedhof geworden. Die staatlichen Verhältnisse hatten sich erheblich verändert. Die
Monarchien in Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland
waren verschwunden, das Osmanische Reich brach auseinander. Innerstaatliche Spannungen nahmen revolutionäre Züge an. Mit der russischen Revolution begann die Entwicklung zu diktatorischen Regimes, die
– national wie international – weiteres verheerendes Unheil über die Menschheit bringen sollten. Der Friedensvertrag von Versailles konnte das kriegerische
Zeitalter, das 1914 begonnen hatte, nur für kurze Zeit unterbrechen. Die Zwischenkriegszeit wurde nicht dazu genutzt, eine stabile Friedensordnung zu
schaffen. Die einstigen Verlierer sannen auf Rache und strebten eine Rücknahme der Deutschland auferlegten Bedingungen an; den Siegern gelang es nicht,
ihre Vorherrschaft dauerhaft zu sichern und gefährlichen Entwicklungen Einhalt
zu gebieten: Nicht nur die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935
durch Hitler, sondern auch die Besetzung des Sudetenlandes 1938 durch das
nationalsozialistische Deutschland wurde von den Westmächten widerstandslos hingenommen. Die ersten Warnzeichen einer erneut heraufziehenden Katastrophe wurden offenbar nicht erkannt.
Der Erste Weltkrieg: ein Laboratorium der Gewalt
Als 1914 die jungen Männer jubelnd und voll Euphorie an die Front zogen,
ahnten sie nicht, welch gnadenloser Gewalt sie ausgesetzt sein würden. Am Ende
stellte dieser Waffengang alle bisherigen kriegerischen Auseinandersetzungen in
den Schatten. Über 60 Millionen Soldaten wurden im Verlauf dieses Krieges
mobilisiert. Allein das Deutsche Reich zog mehr als 13,3 Millionen Männer zum
Kriegsdienst heran; das waren 81 Prozent aller dienstfähigen Männer. Auch die
anderen Nationen schickten immer mehr Soldaten in den Krieg. Zwischen 1914
und 1918 mobilisierten Österreich-Ungarn acht Millionen, Russland 15 Millionen,
Frankreich einschließlich der Kolonialtruppen 8,3 Millionen, Großbritannien und
das British Empire neun Millionen Männer. Diese Zahlen sind beispiellos in der
Geschichte. Diese Massenheere waren den neu entwickelten Vernichtungswaffen
Russische Soldaten während eines Gasangriffs
schutzlos ausgeliefert. Selbst die eigens ausgehobenen Schützengräben an der
Westfront boten keinen Schutz vor diesen Waffen, sondern wurden letztlich zum
Massengrab – dank gewaltiger Artilleriegeschosse. Insgesamt über zehn Millionen Soldaten fanden den Tod, die Zahl der Verwundeten und Kriegsversehrten lag
um ein Mehrfaches höher. Allein Deutschland hatte rund zwei Millionen tote und
4,8 Millionen verwundete Soldaten zu beklagen.
Die Massenproduktion von Vernichtungswaffen
Entscheidend neu am Ersten Weltkrieg war die Massenproduktion von Vernichtungswaffen aller Art. Erst mit Beginn des Krieges im Jahre 1914 wurde
die Produktion von Rüstungsgütern auf Fließbandverfahren umgestellt. Während in den ersten Monaten der Mobilmachung 200 Maschinengewehre pro
Monat in Deutschland gefertigt wurden, konnte diese Quote bereits 1915
vervierfacht werden. Im Jahr 1916 gelang es, die Produktion auf 2.300
Maschinengewehre pro Monat zu erhöhen, ab dem Herbst 1917 betrug die
monatliche Stückzahl sogar 14.400.
Aber auch die rasant wachsende Zahl von Geschützen aller Art, ihre technische Weiterentwicklung und ihr immer breiterer Einsatz in den Materialschlachten trugen maßgeblich zur Brutalisierung des Krieges bei. Waren es
1916 in Verdun lediglich 1.000 „Rohre“, so kamen ein Jahr später bereits
3.000 Geschütze zum Einsatz. So konnten Orte aus einer Entfernung von bis
zu 13 Kilometern dem Erdboden gleichgemacht werden. Mithin fielen die
meisten Soldaten und Zivilisten nicht dem Nahkampf oder dem Gaskrieg,
sondern dem Artilleriebeschuss zum Opfer. Der Krieg wurde so zu einem
industrialisierten Volkskrieg. In den Fabriken produzierten zumeist Arbeiterfrauen und Kriegsgefangene, aber auch verschleppte zivile Zwangsarbeiter
aus dem Ausland Tag und Nacht für den totalen Krieg. Die Herstellung von
Gegenständen für den täglichen Bedarf trat dadurch ganz zurück. Die Heimatfront wurde völlig in den Dienst des Krieges gestellt. Mitgetragen wurde
dies durch die weitverbreitete Auffassung, der Krieg sei dem Reich aufgezwungen worden. Aus missbrauchtem Patriotismus nahmen die meisten

Deutschen die Bürde in Kauf.
zum Thema | Ausgabe 1.2014 | 1914 – 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg
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Amerikanischer, britischer, französischer
und deutscher Soldat mit Gasmaske, 1917/18
Munitionsfabrik in Großbritannien
Die Leiden der Zivilbevölkerung
Zu den Schrecken des Ersten Weltkrieges gehörten auch die Massaker bzw.
Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung. Die da so fröhlich in den Krieg
gezogen waren, wurden wenige Wochen später zu Mördern an Unschuldigen.
Beim Einmarsch nach Belgien und Nordfrankreich im August und September
1914 töteten deutsche Soldaten rund 6.400 Belgier und Franzosen. Ausgelöst durch eine Spionage- und Partisanenpsychose der unerfahrenen Truppen,
die überall Hinterhalte witterten, kam es stellenweise zu wahren Gewaltorgien. Beim Einmarsch russischer Truppen nach Ostpreußen wurden rund
6.000 deutsche Zivilisten getötet. Ebenso exekutierten die österreichischungarischen Einheiten in der Ukraine, in Galizien und auf dem Balkan Tausende von Zivilisten und vernichteten ganze Dörfer als „präventive
Disziplinierungsmaßnahme“. Jene Verbrechen und die Verachtung, die der oft
ärmlichen Bevölkerung, insbesondere den sogenannten Ostjuden, entgegengebracht wurde, waren deutliche Schritte hin zur Akzeptanz der nationalsozialistischen Ideologie vom „slawischen Untermenschen“ und zum späteren
Vernichtungskrieg.
Sowohl der Luftkrieg, in dem englische und französische Städte durch deutsche
Zeppeline bombardiert wurden, als auch der hemmungslose U-Boot-Krieg
gegen die zivile Handelsschifffahrt, der den Kriegseintritt der USA provozierte,
richteten sich gegen Zivilisten und trugen zur Gewalteskalation bei. Nicht
zuletzt ist auch der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich zu nennen – ein Verbrechen, das bis heute nachwirkt. Völkerrechtliche Bedenken
spielten bei all dem offenbar keine Rolle. Rund 40 Prozent aller Kriegstoten
waren Zivilisten. Gewalt, Flucht, Vertreibung und Hunger erreichten in diesem
Krieg neue und bisher unvorstellbare Dimensionen. Die Überzeugung, dass sich
die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten überlebt
habe, ja dass die Völker das eigentliche Ziel seien, war vielleicht die wirkungsmächtigste Folge des Ersten Weltkrieges, die auch über 1945 hinausreichte.
Insofern war er in der Tat die viel zitierte „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“.
Der Gaskrieg
Eine neue Dimension der Kriegsgrausamkeiten und damit der Gewalteskalation
stellte der Einsatz chemischer Waffen dar. Bereits im August 1914 verwendete
die französische Armee versuchsweise Tränengas. Die Deutschen verschossen
im Oktober 1914 an der West- und im Januar 1915 an der Ostfront in größerem Umfang Gasgranaten, die aber wirkungslos waren. Schließlich brachten sie
am 22. April 1915 bei Ypern (Belgien) zum ersten Mal das tödliche Chlorgas
zum Einsatz. Die Westmächte reagierten rasch, und fortan gab es einen Wettlauf um das giftigste Kampfgas. Allein an der Westfront forderte der Gaskrieg
etwa 20.000 Tote und 500.000 Verwundete. Obwohl die Enthemmung der
Gewalt, die im Ersten Weltkrieg begonnen hatte, im Zweiten Weltkrieg dann bis
zum Exzess getrieben wurde, kamen bemerkenswerterweise chemische Waffen
im Zeitraum 1939-1945 nicht wieder zum Einsatz.
Auswirkungen
Geführt und erlitten wurde der Erste Weltkrieg maßgeblich von den Jahrgängen, die vor 1900 geboren worden waren, als das Kaiserreich seine Glanzzeit
erlebte. Diese ehemals jungen Soldaten und Offiziere von 1914 entwickelten
extrem nationalistische Deutungen über den Ersten Weltkrieg und damit die
Vorstellung, dass er nicht radikal genug geführt worden sei. Die Träger solcher
Interpretationen waren die Frontkämpfer, und aus dieser Kohorte rekrutierte
sich der Kern der NS-Bewegung. Als Politiker, Militärs und Verwaltungsbeamte
führten diese Männer wenige Jahre später ihren Krieg mit einer ganz anderen
Radikalität und um ungleich radikalere Ziele. Des Kaisers junge Stabsoffiziere
wurden nun vielfach die Generäle des „Führers“. Ihre Söhne wiederum wurden
nun wieder auf dem Schlachtfeld geopfert. Symptomatisch dafür ist die fast
völlige Auslöschung des Geburtsjahrgangs 1922. Nationalismus und Patriotismus blieben in der Nachkriegszeit dominant. Aus dem „Mit Gott für Kaiser
und Vaterland“ wurde zwanzig Jahre später das „Für Führer, Volk und Vater-
Französischer Panzer, Nordfrankreich im August 1918
Fotos (v. l.): picture alliance / empics, picture alliance / Everett Collection, picture alliance / Mary Evans Picture Library
Das Schicksal der Kriegsgefangenen
Laut Haager Landkriegsordnung von 1907 hatten die Kriegsparteien ihre
Gefangenen „menschlich“ zu behandeln. Wenige Jahre später schien dies
vergessen. Zwischen 1914 und 1918 gerieten annähernd acht Millionen Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Keine Nation war auf ein solches Massenphänomen vorbereitet, vor allem Russland und die Mittelmächte konnten ihre
Gefangenenheere aufgrund der mangelhaften Versorgungslage kaum ernähren. So starben allein in diesen Ländern weit über eine Million Menschen.
land“. Und welche Rolle spielt Nationalismus heute – in den einzelnen Ländern Europas oder in der Eurokrise und bei den Stimmen für einen Austritt
aus dem Euroraum? Und wie steht es mit den heutigen russischen Träumen
von einer großen, mystischen Nation? Auch der Militarismus blieb erhalten.
Die Uniform war in der Zwischenkriegszeit das beliebteste Kleidungsstück. Welche Anerkennung und Macht ihr zukam, das kann man nicht zuletzt an der
Geschichte vom „Hauptmann von Köpenick“ ablesen. Unter den Nationalsozialisten wurde die Militarisierung der Deutschen ab 1933 auf einen neuen
Höhepunkt geführt. Ebenso wenig konnten in der Nachkriegszeit der schwelende Antisemitismus und der Rassismus, der sich in erster Linie gegen die
slawischen Völker richtete, überwunden werden. Welche grausamen Steigerungen diese beiden Strömungen im Nationalsozialismus erfahren sollten, darf
als bekannt vorausgesetzt werden.
Der Erste Weltkrieg war Katalysator zahlreicher Entwicklungen: Monarchien
wurden abgelöst, neue Gesellschaftsmodelle etablierten sich. Neue Staaten
entstanden im Baltikum, auf dem Balkan, in Zentraleuropa und im Nahen
Osten. Er führte zum Übergang von einer Klassen- in eine Massengesellschaft
und war der Anfang vom Ende des Kolonialismus. Nicht zuletzt öffnete er das
Tor zur Begründung kollektiver Sicherheitsstrukturen und führte 1920 zur
Gründung des Völkerbunds, des Vorgängers der Vereinten Nationen.
Und die Moral von der Geschicht’?
Kaum war die Militärmaschinerie in Gang gesetzt, hatte die Politik immer
weniger zu sagen. Schon der russische Zar hatte unter äußerstem Druck seiner
Generäle die Mobilmachung unterschrieben. Und auch der deutsche Kaiser
war bald entmachtet und erfuhr erst im Nachhinein von den Entscheidungen
der Generalität. So wurde der politische Entscheidungsprozess von einem
anderen Kraftfeld übernommen, von einem System mit vollkommen anderen
Prioritäten, anderen Werten und einem anderen Kalkül. Unlängst haben wir
so etwas im Rahmen der Eurokrise erlebt: Auf einmal bestimmten die Gesetze
der Finanzmärkte die europäische Politik, und noch heute sind wir damit
beschäftigt, die Geister wieder in die Flasche zu zwingen, der sie entwischt
waren. Mit anderen Worten: Der Primat bzw. die Macht der Politik muss – egal
in welchem Bereich – immer gewährleistet sein und bleiben.
Der Erste Weltkrieg ist auch eine bis dahin beispiellose Geschichte der Kriegsverbrechen und des Bruchs aller bisherigen Regeln des Völkerrechts. Er wurde
allerdings dann vom Zweiten. Weltkrieg noch übertroffen. Der ungehemmte
Gaskrieg, der skrupellose Krieg gegen die zivile Handelsschifffahrt sowie die
Bombardierung der Zivilbevölkerung sollen als Stichworte dafür genügen. Mit
der Gründung der Vereinten Nationen und der Unterzeichnung der Genfer Konventionen hatte sich die Weltgemeinschaft ein internationales Rechtssystem
gegeben, gegen das allerdings immer wieder verstoßen wurde, z. B. im Vietnamkrieg, im Irak und in Syrien. Der Erste Weltkrieg lehrt auch, dass der diplomatische Gesprächsfaden nie abreißen darf, auch wenn dies nicht immer zu
dem gewünschten Erfolg führt, wie die Ukraine-Krise uns dieser Tage vor Augen
führt. Die Erbfeinde von einst sind heute freundschaftlich und partnerschaftlich
verbunden. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass es dazu
tatsächlich noch des Zweiten Weltkrieges bedurft hat; zumindest legt dies der
Gang der Geschichte nahe. Die Europäische Union ist Zeugnis dafür, dass Frieden und Versöhnung möglich sind. Diese Errungenschaft sollte man auch gegen
immer wieder aufflammende Nationalismen engagiert verteidigen. n
zum Thema | Ausgabe 1.2014 | 1914 – 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg | Unterrichtsmaterial
www.katholische-militaerseelsorge.de
Materialteil zum
Lebenskundlichen Unterricht
„zum Thema“, Ausgabe 1.2014:
Erster Weltkrieg
www.katholische-militaerseelsorge.de
zum Thema | Ausgabe 1.2043 | 1914 – 2014: 100 Jahre Erster Weltkrieg | Unterrichtsmaterial
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Die Vorkriegszeit war geprägt von folgenden Strömungen:
Nationalismus – Patriotismus – Imperialismus – Militarismus – Antisemitismus – Rassismus
Vergegenwärtigen Sie sich die aktuellen Krisenherde weltweit und überlegen Sie, welche
der genannten Strömungen dort eine Rolle spielen bzw. als Ursache der Krisen angesehen
werden können!
Heinrich Manns „Der Untertan“
Lesen Sie den Artikel „Heinrich Manns ,Der Untertan‘“ und überlegen Sie, welche Wesenszüge,
Charaktereigenschaften und Grundeinstellungen des Diederich Heßling in der Zeit nach dem
Ersten Weltkrieg bei vielen Menschen erhalten blieben und mitursächlich waren für die Akzeptanz der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Ideologie!
UNTERRICHTSMATERIAL 1.2014
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SUDOKU
So geht's: Füllen Sie die leeren Felder des Sudokus mit Zahlen.
Dabei müssen in jeder Zeile, in jeder Spalte und in jedem der
quadratischen Neuner-Blocks aus 3 x 3 Kästchen alle Zahlen von
1 bis 9 stehen. Keine Zahl darf also in einer Zeile, einer Spalte
oder einem Block doppelt vorkommen.
Viel Spaß beim Lösen!
Impressum
zum Thema – Themenmagazin für
Soldatinnen und Soldaten zum
Lebenskundlichen Unterricht
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Manfred Suermann
Schlusslektorat
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