Foto: René Berner Das Kraut Beifuss ist für Schamanen die wichtigste Ritualpflanze der Welt. Doch Beifuss ist mehr als nur ein Zauberkraut. In Asien wird die Pflanze immer wichtiger im Kampf gegen die lebensbedrohliche Malaria. Text: Marion Kaden Chrüteregge GESUNDHEIT der Zauberer D as Kraut ist eine der wichtigsten Ritualpflanzen der Welt: Kein Schamane oder Heiler auf der nördlichen Halbkugel kommt ohne sie aus. Beifuss ist ebenso eine uralte Heilpflanze. Doch während sie heute in Europa rituell wie medizinisch praktisch bedeutungslos ist, erfährt sie in Asien noch eine hohe Wertschätzung. Dort ist sie wesentlicher Teil der Moxa-Behandlung (Seite 42). Und in Zukunft könnten Beifuss-Extrakte im Kampf gegen Malaria helfen. Beifuss (Artemisia vulgaris) ist eine unscheinbare Heilpflanze. Obwohl sie auf allen nährstoffreichen Böden wuchert, Wegränder oder unbebaute Plätze belebt, bleibt sie dennoch oft unbeachtet. Die meisten Menschen betrachten Beifuss als Unkraut und das mag auch mit ihrem Erscheinungsbild zu tun haben. Sie macht auf den ersten Blick einen unattraktiven Eindruck: Ihre Blätter sind tief gesägt und von dunkelgrün-grauer Farbe. Selbst die Blüten sind kaum als solche erkennbar, denn sie sind unauffällig und fast farblos. Für unsere Vorfahren hatte sie aber eine geradezu sagenhafte Bedeutung. Die Sachsen, ein westgermanischer Stamm, verehrten Beifuss beispielsweise als heilige, schützende Pflanze des Wotan. Römer bauten sie entlang ihrer Heerstrasse an, um Soldaten und Reisenden eine leicht greifbare Heilanwendung zu ermöglichen: Sie wurde um die Füsse gebunden und half gegen Erschöpfung und müde Füsse. Zauberkraft gegen Gift und Teufel Welche Bedeutung Beifuss als magischer Pflanze beigemessen wurde, lässt sich an diesem angelsächsischen Zaubersegen erkennen: «Erinnere dich, Beifuss, was du verkündest, was du anordnetest in feierlicher Kundgebung. Una heisst du, das älteste der Kräuter; Du hast Macht gegen drei und gegen dreissig, Du hast Macht gegen Gift und Ansteckung, Du hast Macht gegen das Übel, das über das Land dahinfährt.» Das Kraut wurde nicht nur bei Vergiftungen oder Bissen von Tieren aller Art eingesetzt, sondern auch vorbeugend gegen wilde Tiere, Sonnenstich oder sogar zum Schutz gegen den Teufel selbst verwandt. Denn wer «byfuss in synem huss hait, dem mag der tuffel keyn schaden zu fugen». Das machtvolle Kraut wurde deshalb auch zur Abwendung von Unheil oder dem bösen Blick über der Eingangstür aufgehängt. Am Johannistag umgürteten sich Menschen mit Beifuss und warfen ihn in der Nacht in ein Feuer – eine vorbeugende Massnahme, um ein Jahr lang vor Krankheiten geschützt zu sein. Heilsam bei Frauenbeschwerden Der Name des Krauts lässt sich auf die griechische Göttin der Jagd Artemis (lat. Diana) zurückführen, unter deren besonderem Schutz die Heilpflanze stand. In Ägypten war sie der Isis geweiht. Beifuss galt als besonders wirksam bei FrauenErkrankungen oder -Beschwerden. Hippokrates (ca. 460 bis 370 v. Chr.) beispielsweise beschrieb die Pflanze als menstruationsfördernd, der deutsche Kräuterforscher Adamus Lonicerus (1527 bis 1586) als erleichternd für die Geburt und die Nachgeburtsphase. Beifuss wurde zudem auch als Wurmmittel verwendet. Diese Einsatzmöglichkeit wird von Dioskurides ausführlich dokumentiert. Der griechische Arzt beschreibt die Pflanze in seiner Arzneimittellehre aus dem ersten Jahrhundert nach Christi genau und unterscheidet zwischen Wermut, dem See- und Santoninbeifuss: «Der Seebeifuss – einige nennen ihn auch Seriphon – ist voll von kleinen Samen, etwas bitter, dem Magen nicht bekömmlich, von durchdringendem Geruch und mit einer gewissen Wärme adstringierend. Dieser tödtet Askariden und runde Würmer und treibt sie leicht aus.» Auch der Santoninbeifuss wird von Dioskurides mit ähnlicher Wirkung beschrieben. Von Mundgeruch und Gänsebraten In der Humoralpathologie wurde Beifuss als trocken, warm und zusammenziehend (adstringierend) eingeordnet. Deshalb wurden seine «erwärmenden» Fähigkeiten bei «kaltem» und «schlecht verdauendem Magen» oder bei Erkältungskrankheiten mit «kaltem, zähem Schleim» als Gegenmassnahme empfohlen. Schamanen, Götter und Dämonen So alt wie die magische Praxis des Entzündens von Räucherwerk ist, so alt ist die Verwendung von Beifuss bei Ritualen, wie sie alle nördlichen Schamanen und Heiler durchführen – und das nachweisbar seit zehntausenden von Jahren. Modernen Drogenforschern oder Pharmazeuten bleibt völlig unklar, warum unsere Vorfahren eine Pflanze ins Zentrum ihrer schamanischen Ritualpraktiken wählten, die nicht nur unscheinbar aussieht, sondern auch keinerlei nachweisbar psychotrope oder halluzinogene Wirkung hat. Doch die Verwendung von Beifuss hat für Heiler und Schamanen einen anderen Zweck, nicht den des «Rausches». Es findet als wichtiges «Reisekraut» Verwendung, wenn bei schamanischen Ritualen Verbindung mit der jenseitigen Ahnen- oder Götterwelt aufgenommen werden soll. Und es gilt als Dämonen vertreibend, Zauber abwehrend oder reinigend. Der «Verlust» von Beifuss als Ritualpflanze im christlichen Abendland – zugunsten halluzinogener Weihrauche – ist historisch gesehen erfolgreich. Lediglich durch die Weiterverwendung bei der ursprünglich aus dem Schamanismus stammenden Behandlungstechnik der Moxibustion (siehe Seite 42) kommt Beifuss noch zu vollen magischen Ehren. Natürlich | 8-2007 41 GESUNDHEIT Chrüteregge Auch als Wärme zuführendes Zusatzmittel wie zum Beispiel zu Salben oder Pflastern ist Beifuss bekannt. Sie wurden in Form von Wickeln, Auflagen oder Kompressen bei Rheumaerkrankungen auf die schmerzenden Gelenke oder bei Rückenschmerzen verwendet. Der Pflanze kam auch eine reinigende Wirkung zu: Magenund Darmstörungen einhergehend mit Mundgeruch oder übel riechenden Durchfällen wurden mit Beifuss behandelt. Traditionell kam auch die Wurzel zum Einsatz. Sie galt als Mittel gegen Angst- und Schwächezustände, Depression, allgemeine Reizbarkeit und Unruhe wie auch Psychoneurosen oder Schlafstörungen. Beifuss, der in der Literatur oft als «kleiner Bruder des Wermuts» bezeichnet wird, wirkt schwächer als Wermut und ist auch nicht so bitter. Seine verdauungsfördernde Wirkung ist nicht vergessen: Der aromatisch bittere Geschmack des Krauts und die süsslich-scharf schmeckende Wurzel werden immer noch geschätzt. Und so findet Beifuss bei traditionellen, schweren Gerichten wie zum Beispiel Gänsebraten als Gewürz zur «Unterstützung der Verdauung» Verwendung. Im Kampf gegen Malaria Beifuss enthält Öle wie Cineol, Thujon oder Kampfer sowie Bitterstoffe (Sesquiterpenlactone) und Gerbstoffe. In einjährigem Beifuss ist auch Artemisinin (0,1–0,09 Prozent), ein Sequiterpenlacton-Endoperoxid, enthalten. Dieser Wirkstoff und seine Auch ein Beifussgewächs: Ambrosiapflanze vor dem Blühen Anti-Malariawirkung beschäftigt Forscher in aller Welt, vor allem in China. Malaria ist eine in den Tropen und Subtropen weitverbreitete Erkrankung: Etwa 100 Millionen erkranken alljährlich neu an durch Moskitos übertragener Malaria, etwa eine Million Menschen stirbt daran. Die Erkrankung ist durch die weltweit zunehmenden Resistenzbildungen der Erreger (Plasmodien) gegen Chinin und andere herkömmliche Antimalariamittel besonders bedrohlich und verschlechtert die Situation in den Endemiegebieten sehr. Artemisinin und einige halbsynthetische Derivate werden deshalb schon heute sehr erfolgreich in Süd-Ost-Asien und teilweise in Afrika bei unkomplizierten Ma- laria-falciparum-Erkrankungen eingesetzt. Im Gegensatz zu den klassischen Malariamitteln wurden bisher kaum Resistenzen beobachtet. Es wird angenommen, dass Artemisinin-Wirkstoffe sich in von Malariaerregern befallenen roten Blutkörperchen (Erythrozyten) anreichern. Durch Abtötung früher Entwicklungsstufen der Malariaerreger (Schizonten) wird dann die Weiterentwicklung und Ausbreitung der Erreger über das Blut blockiert. Mit Nadeln und Glut Dass asiatische Wissenschaftler sich besonders mit dem Beifuss beschäftigen, hat spezielle Hintergründe: In China, Tibet, Mongolei, Japan, Korea und Vietnam ist In China wurde Beifuss auch als «Medizinkraut» bezeichnet. Seine Blätter waren Bestandteil eines stärkenden Tonikums. Es wurde als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden verwendet, die Asche gegen Nasenbluten und die Samen als Tee gegen Husten verordnet. Chinesische Ärzte setzten Moxa-Behandlungen bei Kindern, älteren oder geschwächten Personen ein, weil sie als nicht so anstrengend wie die Akupunktur galt. Moxa-Behandlungen an bestimmten Akupunkturpunkten hatten schützenden Charakter. Der in China berühmte Pflanzenheilkundler Sun Simiao (581 bis 681) verweist darauf, dass Beifuss auf den Akupunkturpunkten «San li» vor drei Erkrankungen schützt: Malaria, Pest und Geschwüre. Deshalb unterzogen sich kaiserliche Beamte, die Reisen in die südlichen Regionen vornehmen mussten oder dorthin versetzt wurden, vor der Reise einer Moxa-Behandlung, um die Lebensenergie anzuregen. Bemerkenswert ist zudem, dass auch in diesem Kulturkreis die Zahl drei (san), genau wie beim Zauberspruch der Germanen, auftaucht. Den 42 Natürlich | 8-2007 Foto: zVg Drei – die magische Zahl magischen Kräften der Pflanze bedienten sich die Taoisten: Sie nutzten das Kraut, um sich ein langes Leben zu sichern oder versuchten damit Unsterblichkeit zu erlangen. Fotos: René Berner Chrüteregge GESUNDHEIT Tief gezahnt: Die Blätter des gewöhnlichen Beifuss das Kraut auch heute noch wichtiger Therapie-Bestandteil traditioneller Medizinsysteme. Während die Akupunktur als alternative Behandlungsmethode in Europa viele Anhänger hat, ist die sogenannte MoxaBehandlung eher eine exotische Therapieanwendung. Bei der Moxa-Behandlung wird getrockneter Beifuss zu einer Art Zigarre – dem Moxa-Kegel – gerollt und langsam verbrannt. Dabei wird zwischen direkter und indirekter Therapie unterschieden: Bei der direkten Moxa-Behandlung werden glimmende Moxa-Kegel direkt auf die Haut gebracht, wo sie langsam bis auf zwei Drittel ihrer Ausgangsgrösse, herunterbrennen. Oft werden dabei auch Ingwer- oder Knoblauchscheibchen zwischen Kegel und Haut gelegt oder sogenannte Moxa-Boxen verwendet. Dies sind kleine Kästchen, in denen sich ein metallenes Gitter befindet. Auf diesem wird der Moxa-Kegel abgebrannt. Um Verbrennungen zu vermeiden, müssen die Therapeuten vorsichtig und umsichtig arbeiten. Selbstheilung – aber keine Selbsttherapie Beifusskegel werden häufig in Kombination mit Akupunkturnadeln als indirekte Therapie verwandt: Auf speziellen Nadeln sind dazu Moxa-Kegel angebracht, deren in das Gewebe weitergeleitete Verbrennungswärme zusätzliche Stimulation der Akupunkturpunkte im Sinne der Traditionellen Chinesischen Medizin bewirken soll. Selbstbehandlungen sind wegen der Verbrennungsgefahr nicht ratsam. Aus- Unscheinbar: Die glockenförmigen Beifuss-Blüten serdem sind für diese Therapieform umfassende Kenntnisse über die Akupunkturpunkte notwendig, da die Kegel immer gezielt nach individueller Diagnostik auf ausgewählten Punkten aufgestellt werden. Nach den Vorstellungen traditioneller chinesischer Mediziner wird durch MoxaBehandlung Wärme zugeführt und damit fehlende Lebensenergie (Qi) ausgeglichen. Eintritts- beziehungsweise Austrittspunkte für die Lebensenergie sind Akupunkturpunkte, die wiederum den Meridianen, einem komplexen Qi-Leitsystem, zugeordnet werden. Diesem System sind verschiedene Funktionskreise, Gefühlsqualitäten oder Umwelteinflüsse zugeordnet. Über die Behandlung von Akupunkturpunkten können Therapeu- ten den gestörten Energiefluss in den zwölf Haupt- und den zwei Sondermeridianen verändern und damit zur Selbstheilung des Organismus beitragen. ■ I N F O B OX Literatur zum Thema: • Wichtl: «Teedrogen und Phytopharmaka», Wiss. Verlagsgesellschaft 2002, Fr. 188.80 • Müller-Ebeling/Rätsch/Storl: «Hexenmedizin», AT Verlag 2005, Fr. 54.– • Cowan: «Schamanismus», Rowohlt Taschenbuch 2003, Fr. 16.70 Internet • www.botanikus.de (Suchen unter «Heilkräuter») • www.bachbluetenhaus.ch (Suchen unter «38 Blütenessenzen») Beifuss und die Botanik Die Pflanze gehört zur Familie der Korbblütler (Asteraceae). Sie wird bis zu 1,50 Meter hoch. Die Stängel sind aufrecht, derb und kantig. Sie sind ausserdem rispig verzweigt angeordnet, flaumig und behaart. Die Blätter sind fünf bis zehn Zentimeter lang, derb, an der Oberseite von dunkelgrüner Farbe und meist unbehaart. Die Unterseite ist weiss und filzig. Beifuss hat unten sitzende rosettenständig angeordnete kurzgestielte Blätter mit darunter sitzenden ein bis zwei Paaren kleiner Seitenblättchen. Die übrigen Blätter sitzen fast stillos am Stängel und sind einfach lanzettlich, ganzrandig mit Zähnen versehen, die drei bis sechs Millimeter tief ins Blatt eingeschnitten sind. Die Blüten sind eiförmig und kurz gestielt. Sie können hängen oder aufrecht stehen und sitzen zahlreich in einer reichästig durchblätterten Rispe. Die Hüllblätter der Blüten sind aussen grauweiss, filzig und mit grünem Mittelnerv. Die Blüten haben eine leicht gelbliche oder rotbraune Farbe. Die inneren Blüten sind zwittrig, die äusseren weiblich. Weitere Namen des Beifuss sind: Gewürzbeifuss, Jungfernkraut, Beifusskraut, Weibergürtelkraut, Fliegenkraut, Gänsekraut, Johannishaupt, Johannisgürtelkraut, Sonnenwendkraut, Wilder Wermut, Besenkraut, Werzwisch. Natürlich | 8-2007 43