Religionen unterwegs Nr 1, 2012, 18

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Religionen unterwegs Nr 1, 2012, 18. Jahrgang
Peter Antes
Der Gottesdienst der Muslime ohne Opfer und Priestertum.
Strukturen der Ummah, ihre Ämter und Aufgaben
nach der Gottesordnung der Schari’a
In der Frage nach interner islamischer Hierarchie ist es eine verbreitete Meinung, so etwas gäbe
es nicht im Islam. Dass es aber doch gliedernde Strukturen und Instanzen gibt und was sie
konkret bedeuten, damit befasst sich der folgende Artikel.
Im Islam gibt es keine Hierarchie, die mit christlichen Strukturen und ihren Funktionen unmittelbar
vergleichbar wäre, keine Priester, Bischöfe, Kardinäle oder Päpste. Das wird auch meist pauschal so
dargestellt. 1 Wenn ein Muslim betet, so betet er direkt zu Gott, ohne Mittelsperson. Wenn er Gott
dient, so dient er nicht einer Gemeinde, sondern Ihm, Gott allein. Jeder Mensch ist für seine Taten und
seinen Glauben selbst verantwortlich. Niemand kann ihm diese Verantwortung abnehmen. Das ergibt
eine Unmittelbarkeit, die auffällt.
Es ist muslimische Überzeugung: „Wenn Sie glauben, dass Ihnen jemand etwas befiehlt, von dem sie
[sic] meinen, dass es dem Willen Gottes widerspricht, so ist es Ihre Pflicht, den Befehl zu verweigern
und stattdessen Gott zu gehorchen.“ Das ist das Prinzip der Souveränität Gottes, das sich direkt aus der
shahada ergibt, aus jene bezeugenden Aussage, die den Menschen zu einem Muslim macht, nämlich
dem Bekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Allah, und Muhammad ist der Gesandte Allahs.
Um sich ein gewisses Urteil über die Lehren des Islam zu bilden, ist es hilfreich, diejenigen zu
befragen, die sich mit Quellen der Religion befassen, die Religionswissenschaftler, in Arabisch ulama
ad-din. Diese Wissenschaftler mögen verschiedene Interpretationen und Meinungen anbieten, aber sie
schöpfen alle aus demselben Quellenmaterial. Das führt zu einer anderen Konsequenz im Islam: Es
gibt keine Sekten im Islam, wohl aber verschiedene Interpretationen.
Mit dem Verweis auf die „Religionswissenschaftler“, richtiger, die Religionsgelehrten, wird de facto
die obige Aussage bereits abgeschwächt, wenn nicht sogar grundsätzlich in Frage gestellt. Trotz aller
Gleichheit haben sich im Laufe der Zeit Strukturen innerhalb der verschiedenen Richtungen des Islams
entwickelt, die so etwas wie Ämter ausmachen. Es lässt sich sogar eine Differenzierung viel
grundsätzlicherer Art vornehmen, wenn man – wie Shaykh Gibril F. Haddad vom Sunni Path, der
Online Islamic Academy – zwischen dem Propheten und den anderen, früheren und späteren
Gläubigen oder zwischen Propheten, Rechtgläubigen und Märtyrern unterscheidet.2 Für den
Zusammenhang hier ist jedoch ausreichend, auf die verschiedenen religiösen Amts- und
Funktionsbezeichnungen zu blicken, die in den unterschiedlichen Richtungen des Islams – bei den
Sunniten, den Schiiten, den Sufis und den Aleviten – im westlichen Kontext traditionell als sogenannte
„Geistliche“ bezeichnet werden.3
1. Sunniten und ihre Strukturen
Die überwältigende Mehrheit der Muslime ist sunnitisch und durch die vier unterschiedlichen
Rechtsschulen, die Hanbaliten, Hanafiten, Malikiten, Schafiiten, maßgeblich geprägt. Primärer
Versammlungsort für das Gebet wie für die religiöse Unterweisung ist für sie alle die Moschee. In
Rechtsfragen entscheidet der Kadi, für Grundsatzurteile dagegen ist seit der Abschaffung des Kalifen
durch Atatürk am 3. März 1924 allein der Mufti zuständig. Die theologischen Interpretationen
übernehmen die Ulama.
Funktionen in der Moschee
Die wichtigsten arabischen Begriffe für die Moschee (djâmi’, masdjid) verweisen zugleich auf zentrale
Funktionen der Moschee: djâmi’ betont den Versammlungsaspekt für die religiöse Gemeinde; masdjid
sagt, dass es jener Ort ist, an dem man sich (vor Gott, für das Gebet) niederwirft. All dies findet seinen
wöchentlichen Höhepunkt am Versammlungstag (yaum al-djuma’a), dem Freitag, im
Hauptgottesdienst zur Mittagszeit. Dieser Gottesdienst wird wie alle anderen rituellen Gebete nach
eindeutig festgelegtem Ritus (einschließlich der Gebete und Verbeugungen) abgehalten, indem die
Männer sich in langen Reihen hinter einander mit Blick nach Mekka aufstellen. Wie eine große
Heerschar stehen sie vor Gott und werfen sie sich vor Gott nieder, angeführt von einem Vorbeter, der
vor die erste Reihe tritt und das Gebet leitet, während die Frauen wie in der klassischen Synagoge in
abgetrennten Räumen oder auf Emporen ihrerseits die Gebete mitsprechen und sich vor Gott
niederwerfen. Sind ausschließlich Frauen anwesend, übt eine Frau die Funktion der Gebetsleitung aus.
Vorbeter (Imam) kann im Prinzip jeder erwachsene Muslim – wenn Frauen die Gemeinde der
Betenden bilden, auch jede Muslima – sein. In kleinen Gemeinden wird der Vorbeter bzw. die
Vorbeterin gewählt oder von der Gemeinde aufgefordert, das Gebet zu leiten, was eine große Ehre für
die Betreffenden ist. Eine besondere Ausbildung ist dafür nicht erforderlich. Wichtig ist nur, dass die
aufgeforderte Person in der Lage ist, die Einhaltung der Gebete in ihrer Gesamtheit zu überwachen
und genügend Kenntnisse des Arabischen vorweist, um das korrekte Rezitieren des Korans
sicherzustellen. In den großen Moscheegemeinden hat sich recht bald das Amt des Vorbeters etabliert.
Dieses kann ein eigens dafür angestellter Religionsexperte (in türkischen Moscheegemeinden heute oft
auch Hoca genannt) begleiten, der in vielen Ländern eine gründliche theologische und rechtliche
Ausbildung haben muss und somit auch Funktionen der Leitung der Gemeinde übernehmen kann. In
der Diaspora (d.h. in West-, Mittel- und Nordeuropa sowie in Nordamerika) erwarten viele Muslime
von den Imamen zusätzlich noch eine seelsorgerliche Betreuung, die es ursprünglich weder vom Wort
(Seelsorge) her noch der Sache nach je im muslimischen Kontext gegeben hat und heute eine
gründliche Ausbildung für Imame notwendig macht. 4 Gerade in den Moscheegemeinden der Diaspora
spielt zudem die Politik eine Rolle, da es etwa für die türkischen Muslime einerseits die vom
türkischen Staatsministerium für religiöse Angelegenheiten bezahlten Imame und andererseits in den
übrigen Gemeinden von diesen selbst finanzierte Imame gibt. Ursprünglich sollte nach sunnitischer
Auffassung der oberste Leiter aller Muslime, der Kalif, „Imam“ aller Muslime der ganzen Ummah
sein, doch zeigte es sich recht bald, dass sich die Führung des islamischen Staates so sehr zugunsten
einer sehr weltlichen Herrschaft veränderte, dass die Sunniten lediglich die ersten vier „rechtgeleiteten
Kalifen“ (Abu Bakr, Umar, Uthman, Ali) als „Imame“ anerkannten, die ihre Aufgaben vollkommen
bei der Leitung der Gemeinde erfüllten.
Prediger (Khatib) ist ein weiteres Amt neben dem des Vorbeters, das sich im Laufe der Zeit in den
großen Moscheegemeinden etablierte und eine ehrenhafte Tätigkeit ist. In der überwiegenden Zahl der
Fälle jedoch wird dieses Amt vom Vorbeter in Personalunion wahrgenommen, zumal sich die Kanzel
– sofern es überhaupt eine solche in der Moschee gibt – gleich neben der Gebetsnische (Kiblah), die in
Richtung Mekka weist, steht und vom Prediger nur für die Predigt (meist bis nicht ganz nach oben)
bestiegen wird. Inhalte der Predigt sind Auslegungen des Koran, vielfach aber auch politische
Themen. In der Türkei sowie in den vom türkischen Staat unterhaltenen Moscheegemeinden in der
Diaspora wird der Predigttext vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten an die Moscheen zum
Verlesen – dem sogenannten Hirtenbrief in katholischen Gemeinden vergleichbar – verteilt und von
daher inhaltlich gesteuert.
Der Gebetsrufer (Muezzin) ist ein zusätzliches Amt, das in den großen Moscheegemeinden
eingerichtet wurde, um den pünktlichen Ruf zum Gebet fünfmal am Tage zu gewährleisten.
Historisches Vorbild sollen dafür das Glockengeläute bzw. die Holzklappern christlicher Kirchen und
Klöster gewesen sein. Wichtig für die Ausübung des Amtes ist eine starke, durchdringende Stimme,
eine klare Aussprache des Arabischen und die Fähigkeit, die verschiedenen Melodien, die sich im
Laufe der Zeit für den Gebetsruf herausentwickelt haben, zu intonieren. Als wichtigste Eigenschaft gilt
für den Gebetsrufer die Pünktlichkeit, da der Gebetsruf in früheren Zeiten die einzige Form der
Zeitansage unter islamischer Herrschaft war. Bezahlt wird der Muezzin als Angestellter durch
Zuwendungen aus religiösen Stiftungen. Bevorzugt werden für das Amt des Muezzin Männer mit
Sehschwächen, weil auf diese Weise sichergestellt sein dürfte, dass sie ihre Aussichtsplätze auf den
Minaretten über den Dächern der Wohnhäuser nicht zu unerlaubten Einblicken in die Privatsphäre der
Bewohner nutzen. Heute wird der Ruf des Muezzin oft durch den Einsatz von Lautsprechern verstärkt,
teilweise auch durch die Verwendung von Schallplatten und CDs ersetzt. Der Versuch, den Gebetsruf
außerhalb der arabischen Welt in der jeweiligen Landessprache erklingen zu lassen, hat sich nicht
durchgesetzt.
Funktionen im Bereich des Rechts 5
Der Kadi fungiert als Richter und wird vom Kalifen oder einer lokalen bzw. regionalen
Herrschergestalt ernannt. Er ist für die Angelegenheiten des Rechts zuständig, vornehmlich im Bereich
des Zivilrechts (Ehe- und Erbschaftsangelegenheiten) und teilweise des Strafrechts, meist in jenen
Fällen, die als hadd-Strafen gelten wie das Auspeitschen bei Ehebruch oder Abhacken der Hand oder
des Fußes im Falle von Diebstahl, während zur Aufrechterhaltung der Ordnung in Stadt und Land
gewöhnlich die Polizei zuständig war. Seine Ausbildung erhält der Kadi in der juristischen Abteilung
einer theologischen Hochschule, wo islamisches Recht als theologische Disziplin zum fest etablierten
Lehrangebot gehört. Erst im Zuge der Modernisierung wurden im 19. und 20. Jahrhundert in einigen
Ländern der Welt des Islams juristische Fakultäten nach europäischem Vorbild eingeführt. Ihre
Absolventen sorgten dafür, dass vielfach für den Kadi nur einige Spezialbereiche, darunter vor allem
das Familienrecht, übrig blieben, während alle anderen Bereiche des Rechts (z.B. Handels-, Vertragsund Prozessrecht) der staatlichen, nicht allein aus der Shari’a abgeleiteten Rechtsordnung unterstellt
wurden.
Der Mufti ist ein juristischer Berater des Kadi, der religiösen Lokalgemeinde wie von Einzelpersonen,
die sich über die religiöse Zulässigkeit von Praktiken oder anderen das Recht betreffenden Fragen
Klarheit und Sicherheit verschaffen wollen und sich dafür Rat suchend an eine solche Instanz
wenden. 6 Mufti kann auch eine Frau sowie ein nicht offiziell angestellter Rechtsgelehrter sein.
Voraussetzung für diese Tätigkeit ist eine ausreichende fachliche Qualifikation. Historisch gab es
bisweilen für den Mufti klar festgelegte Jurisdiktionsregionen (z.B. Fes für Marokko, Kairo für
Ägypten, Damaskus für Syrien), in denen er die höchste Entscheidungsinstanz in Grundsatzfragen für
Zulässigkeit oder Unzulässigkeit bestimmter Praktiken von religiöser Kompetenz gewesen ist. Nach
der Abschaffung des Kalifates wurde dieser Mufti regional die höchste richterliche Instanz. Sein
Entscheidungsurteil (fatwa) wird erbeten bzw. ist notwendig, wenn Unsicherheiten über bestimmte
Praktiken auftreten. So gab es z.B. ein fatwa, das die Verwendung von Mikrophonen zur Verstärkung
des Gebetsrufes des Muezzin für zulässig erklärte, ein anderes, das sich mit der Zulässigkeit von
Getränken wie Coca Cola oder Pepsi Cola beschäftigte, wieder ein anderes, das
Hornhauttransplantationen zum Gegenstand hatte und ähnliches. Auch politische Entscheidungen
können Inhalt von fatwas sein wie z.B. die Zulässigkeit der Stationierung amerikanischer Truppen in
Saudi-Arabien während des Golfkrieges von 1991, wobei auch Unterschiede bei der Antwort auftreten
können wie in dem genannten Falle, in dem mit unterschiedlichen Begründungen die Muftis von
Kairo, Mekka und Damaskus sich für die Zulässigkeit einer solchen Stationierung aussprachen,
während der Mufti von Bagdad die Stationierung für unzulässig erklärte. Inzwischen gibt es vielfältige
Erscheinungsformen des Mufti, seit man etwa per Internet fatwas einholen kann, die für Einzelne wie
für Gruppen erstellt werden, um ihnen Rechtssicherheit zu geben, wenn sie sich im Unklaren über
bestimmte Handlungen und deren Zulässigkeit sind.
Die Funktion des Mufti entspricht somit der eines Mudjtahids, der aufgrund religiöser Vorgaben
Forschung (idjtihâd) im Bereich des Rechts und der Religion betreibt, die allerdings seit der
Festetablierung der Rechtsschulen begrenzt ist, weil „das Tor der Forschung“ (bâb al-idjtihâd) als
geschlossen gilt. Reformorientierte Muslime fordern deshalb heute, dass dieses „Tor der Forschung“
wieder geöffnet wird, damit man adäquat auf neue Herausforderungen eingehen kann. Damit würde
dann auch der Mudjtahid wieder an Bedeutung gewinnen.
Funktionen im Bereich der theologischen Interpretation
Als Ulama (sgl. Alim) bezeichnet man in der islamischen Welt die Gelehrten (wörtlich: Wissenden),
die ein Studium der religiösen Wissenschaften wie Koran, Hadith-Studien, Islamisches Recht,
Arabische Sprache u.a. abgeschlossen haben und von daher über ein spezielles Wissen in Fragen der
Religion und religiösen Praxis verfügen. Sie genießen hohes Ansehen, tragen bisweilen sogar eine sie
auszeichnende Bekleidung (z.B. einen Turban) und werden von den Gläubigen vielfach um Rat
gefragt. Sie nehmen auch zu politischen und sozialen Fragen Stellung. Ihre Bedeutung hängt vor allem
von ihrer Argumentation, weniger dagegen von ihrem Amt ab, selbst Ulama ohne formelles Amt
können daher gleichberechtigt mit den Amtsinhabern an der öffentlichen Debatte teilnehmen. Wichtig
sind vor allem ihre Auslegungen des Korans für Fragen des islamischen Rechts wie auch für die
Interpretation von Glaubensaussagen. Besonderer Wertschätzung erfreuen sich die Ulama, die an den
traditionellen Hochburgen islamischer Gelehrsamkeit wie etwa der Azhar-Universität in Kairo tätig
sind. Ihr Einfluss reicht weit über Ägypten hinaus in die gesamte Welt des Islam hinein.
2. Die Strukturen der Schiiten 7
Die Schiiten bilden im Vergleich mit den Sunniten die zweitgrößte Gruppe von Muslimen mit über
200 Millionen Anhängern. Ihre Anfänge reichen in die Frühzeit des Islams zurück, als es nach dem
Tod des Propheten Mohammed (632 n.Chr.) um dessen Nachfolge ging. Damals machten sich einige
Gefolgsleute des Propheten dafür stark, dass jemand aus der Familie des Propheten und nicht nur aus
dessen Stamm Nachfolger (arabisch: khalifa, eingedeutscht: Kalif) werden solle. In Frage dafür kam
nur Ali, ein Vetter des Propheten und der Ehemann Fatimas, der Tochter des Propheten. Die Partei
Alis (arabisch: Schi’at ’Ali, daher: Schiiten) setzte sich anfangs nicht durch, da auf Mohammed
zunächst Abu Bakr (632-634 n.Chr.), dann Umar (634-644 n.Chr.) und Uthman (644-656 n.Chr.) und
erst als vierter Ali (656-661 n.Chr.) nachfolgte. Als es dann nach Ali zur erblichen Dynastie der
Umayyaden kam (661-750 n.Chr.), forderten die Anhänger Alis, die Schiiten, dass die Erbfolge für die
Nachkommen Alis etabliert werde und folglich Alis Sohn Hasan (gest. 669 n.Chr.) und nach dessen
Tod Alis anderer Sohn Husain (gest. 680 n.Chr.) die Führung aller Muslime als „Imam“ übernehmen
sollte. Doch die Umayyaden setzten ihren Kalifen durch, und die Schiiten konnten nur vom
Untergrund aus gegen die etablierte Macht opponieren. Infolgedessen wurden die Schiiten immer
mehr zu einer Oppositionsbewegung innerhalb des Islam, sie nutzten jede Gelegenheit, die sich bot,
um gegen die Herrschaft der Umayyaden wie später gegen die der Abbasiden (750-1258 n.Chr.) zu
kämpfen. Keiner der schiitischen „Imame“ hat je wieder die Herrschaft über alle Muslime errungen,
mehr noch, die Reihe der schiitischen Imame gab ihrerseits Anlass zu internen Spaltungen.
Insbesondere sind diesbezüglich zu nennen: die Spaltungen nach dem 4. Imam Zain al-Abidin (gest.
um 713 n.Chr.), als die einen Zaid und die anderen Muhammad al-Bakir zum Imam erklärten und die
unterlegene Gruppe der Zaiditen sich vom Rest der Schiiten abspaltete und bis heute z.B. im Yemen
fortbesteht.
Die Anhänger von Muhammad al-Bakir erlebten ihrerseits eine Spaltung nach dem Tode des 6. Imam
Dja’far al-Sadik (gest. 765 n.Chr.), als sich einige für Ismail als Imam einsetzten und als Ismailiten
oder Siebenerschiiten bis heute existieren, während die Mehrheit für Musa al-Kazim eintrat und noch
weitere Imame verehrt, bis auch diese Linie mit dem 12. Imam nach 873 n.Chr. zu Ende ging, weil
dieser für seine Anhänger, die Zwölferschiiten, entrückt wurde und im Verborgenen lebt, bis er als
Mahdi wieder kommt. Auf die Rückkehr dieses Mahdi warten die Zwölferschiiten bis heute. Für die
Schiiten sind diese Imame sündenlos und irrtumsfrei, ja in manchen Gruppen werden sie geradezu als
göttlich verehrt.
Während der Abwesenheit des Imam nahm zunächst stellvertretend ein Vertreter die Aufgabe der
Leitung der Zwölferschiiten oder Imamiten wahr. In späterer Zeit entwickelte sich eine Art „Klerus“
heraus, der bis heute die Entscheidungen in wichtigen Fragen der Auslegung des Glaubens und der
religiösen Praxis wahrnimmt. Wie bei den Sunniten die Ulama hat sich auch bei den Schiiten ein
vergleichbarer Stand von Religionsgelehrten herausgebildet, die man gewöhnlich Mullahs - oft auch
Molla ausgesprochen – nennt, eine Verballhornung aus dem arabischen maulâ, „Herr“ oder „Meister“.
Für höherrangige unter ihnen gibt es traditionellerweise noch weitere Ehrenbezeichnungen wie
Hodjat-ol-islam (=Beweis des Islams), Hodjat-ol-islam wal-moslemin (=Beweis des Islams und der
Muslime) oder Ayatollah (=Zeichen Gottes). Obwohl es traditionellerweise weder eine Ernennung
noch eine Wahl für das Amt des obersten Ayatollah gab, setzte sich faktisch immer wieder einer durch
und hatte diese Position inne, die von den anderen anerkannt wurde. Zu einer Wahl kam es nach dem
Tode von Ayatollah Khomeiny (3. Juni 1989), als der Expertenrat den amtierenden Staatspräsidenten
Hodjat-ol-Islam al-Khamenei zum Nachfolger wählte und ihn damit zum Ayatollah machte. 8 Der Iran
ist für die Zwölferschiiten von besonderer Bedeutung, seitdem 1502 dort Shah Ismail II. die
zwölferschiitische Form des Islam zur Staatsreligion machte und damit dem Schiitentum eine
dauerhafte Heimat gab. Ansonsten wurden die Schiiten meist verfolgt und konnten nur selten
schiitische Systeme etablieren wie etwa zeitweise die Karmaten am Kaspischen Meer oder die
Fatimiden in Ägypten.
Die Geschichte des Iran zeigt, dass der schiitische Klerus im Bündnis mit der politischen Macht im
Lande oft nicht davor zurückschreckte, seine Macht gegen die Interessen des Volkes einzusetzen. Von
daher wird verständlich, weshalb im Volk und vor allem bei den Intellektuellen die Bezeichnung
Molla nicht immer respektvolle Assoziationen auslöst, sondern dabei nicht selten auch Verachtung
mitschwingt.
Die Erwartung des Mahdi erweckt oft apokalyptisch-eschatologische Hoffnungen auf die baldige
Errichtung einer Herrschaft für die kleinen Leute, die sich gegen die bestehenden Machtverhältnisse
von Herrschaft und Ungerechtigkeit wehrt und den Usurpatoren der Macht – sprich den herrschenden
Mächtigen – ihre Macht nehmen und sie den bislang Geschundenen und Ausgebeuteten geben wird. In
diesem Zusammenhang wurde in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durch Ali Shari’ati eine
Art „Befreiungstheologie“ entwickelt, die sich Ayatollah Ruhollah Khomeiny zunutze machte, um die
Massen gegen den Schah zu mobilisieren und dessen Sturz sowie die Ausrufung der Islamischen
Republik Iran unter Khomeinys Führung 1979 vorzubereiten. Den Hoffnungen des Volkes, in
Khomeiny sei der erwartete Mahdi gekommen, trat schon 1979 Ayatollah Taleghani mit dem Satz
entgegen: „Der Imam wird kommen, aber nicht mit einer Boeing 707.“
Ein Besonderheit der schiitischen Form des Islam ist die Verpflichtung zur takiyya (persisch: ketmân),
der Verheimlichung des religiösen Bekenntnisses im Falle einer Verfolgung um der Religion willen.
Danach sind die Schiiten verpflichtet, ihren Glauben zu verleugnen, wenn ihnen Gefahr für Leib und
Leben droht. Entscheidend ist dann, dass sie an ihrem Glauben im Herzen festhalten. Da dies auch die
Gegner der Schiiten wissen, gilt das Wort eines Schiiten im islamischen Bereich wenig, ja man hält
Schiiten oft für nicht glaubwürdig und politisch für nicht loyal und begegnet ihnen folglich mit
Skepsis und Zurückhaltung. Historisch war diese Skepsis nicht unbegründet, waren sie doch an vielen
Umsturzversuchen aktiv beteiligt und stellten somit für alle Machthaber ein gewisses
Gefahrenpotential dar.
3. Die Sufis
Neben den offiziellen Richtungen innerhalb des Islam gibt es eine Form religiöser Aktivität, die man
gewöhnlich als mystischen Weg bezeichnet. Damit kann in der Praxis Unterschiedliches gemeint sein.
Zum einen bezeichnet der Ausdruck alle jene, die sich um religiöse Erfahrung, gewissermaßen um die
„Innenseite“ der Religion bemühen. Groben Schätzungen zufolge sind dazu in der einen oder anderen
Weise etwa 90 Prozent aller Muslime zu rechnen und zwar sowohl der Sunniten als auch der Schiiten.
Zum anderen wird in der Fachliteratur zum Islam und speziell zur islamischen Mystik die
Bezeichnung „Mystiker“ auf die Sufis eingeschränkt. Dann sind damit die Anhänger islamischer
Bruderschaften gemeint und somit ein zahlenmäßig kleiner Kreis. In beiden Fällen jedoch herrscht
insofern keine Gleichheit unter den Gläubigen, als eine Rangordnung gegeben ist. Ein erfahrener
spiritueller Führer – oft im Arabischen sheikh/eingedeutscht: Scheich oder im Persischen Pir genannt
– leitet die Versammlungen bzw. berät er die Einzelnen auf ihrem Weg zur religiösen Erfahrung. In
allen Richtungen der islamischen Mystik besteht offenbar eine große Angst, die nach Spiritualität
Suchenden könnten auf Abwege geraten, sie könnten den Einflüsterungen des Teufels erliegen oder
den Neigungen der Triebseele folgen und diese vorschnell und in geistlichen Übungen unerfahren
irrtümlich für Erfahrungen des Göttlichen halten. Um Solches zu vermeiden, bedarf es des spirituell
erfahrenen Scheich. Ihm und seinen Anweisungen ist absoluter Gehorsam von Seiten des Novizen
entgegenzubringen. Als Ideal des Gehorsams gegenüber dem Scheich gilt: „Der Novize muss dem
Toten vor dem Leichenwäscher gleichen.“9
4. Der Dede der Aleviten
Sie sind vor allem in der Türkei und folglich auch unter den Türken im europäischen Ausland
zahlreich vertreten. Ihre Entstehungsgeschichte ist weitgehend unklar. Aller Wahrscheinlichkeit nach
sind sie im 13. oder 14. Jahrhundert in Anatolien als unabhängige Gruppe aus den Schiiten
hervorgegangen. Ihr Name verweist auf eine Abstammung von Ali, dem vierten Kalifen und ersten
Imam der Schiiten. Ob sie überhaupt zum Islam gehören, ist unter ihnen selbst umstritten. So gibt es
die eine Richtung, die sich als eine Gruppe innerhalb des Islams begreift, doch gibt es auch viele
andere, die als eigenständige Religionsgemeinschaft – unabhängig vom Islam – anerkannt sein wollen.
Grund für diese Unsicherheit ist, dass die Aleviten von den fünf Säulen des Islams weder das
fünfmalige tägliche Ritualgebet (Salat) noch die Pflichtabgabe (Zakat) oder das Fasten im Monat
Ramadan praktizieren und auch die Wahllfahrt nach Mekka (Hadj) als Verpflichtung ablehnen.
Zudem haben sie keine Moscheen. Sie versammeln sich zum Gebet und Gottesdienst im
Versammlungshaus (Cemevi, oft nur Cem genannt), wo auch die traditionell muslimische Trennung
von Männern und Frauen nicht existiert. Infolgedessen sind sie für viele Muslime keine wahren
Muslime und sehen es in zunehmendem Maße auch selbst so. Obwohl sie an sich keine Hierarchie
kannten, hat sich bei ihnen eine Art Leitungsperson in Form des Dede, Großvaters, herausgebildet, der
für den ordnungsgemäßen Ablauf der Versammlung (Cem) zuständig ist, bisweilen kann eine solche
Funktion auch von einer älteren Frau mit entsprechender Erfahrung wahrgenommen werden.
Ergebnis
Die vorausgehenden Ausführungen haben gezeigt, dass es zwar offiziell im Islam in all seinen
erwähnten Formen keine Priesterschaft oder Hierarchie gibt, dass es aber überall – bei den Sunniten
wie bei den Schiiten, ja sogar auch bei den Sufis und den Aleviten – im Laufe der Zeit zu einer
internen Differenzierung – zumindest zu einer Leitungsposition – gekommen ist, die – mehr oder
weniger etabliert – Autorität zugesprochen bekam und Weisungsbefugnisse für sich in Anspruch
nehmen konnte. Der Schluss liegt nahe, dass jede größere Gemeinschaft eine solche
Binnendifferenzierung braucht. Dies ist auch in Religionsgemeinschaften der Fall, in denen es weder
Opfer noch Priestertum gibt.
1
http://www.islamic.org.uk/deutsch/nochurch.htm, gesichtet am 6.11.2010
Vgl. http://qa.sunnipath.com/issue_view.asp?HD=I&ID=803&CATE=3, gesichtet am 6.11.2010
3
Vgl. dazu u.a. für den Islam http://de.wikipedia.org./wiki/Liste_religiöser_Amts_und_Funktionsbezeichnungen, gesichtet am 6.11.2010. Für die inhaltliche Erläuterungen der verwendeten
Fachbegriffe vlg. Die entsprechenden Artikel bei Adel Theodor Khoury, Ludwig Hagemann, Peter Heine: IslamLexikon. Geschichte – Ideen – Gestalten, Freiburg-Basel-Wien: Herder, 3 Bde, 1991
4
Zur Ausbildung der Imame vgl. Rauf Ceylan: Die Prediger des Islam. Imame – wer sie sind und was sie
wirklich wollen, Freiburg-Basel-Wien: Herder 2010
5
Vgl. zum Folgenden Mathias Rohe: Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München: C.H. Beck
2009
6
Vgl. dazu Art. Fatwa, in The Encyclopaedia of Islam, second ed., hersg. Von B. Lewis u.a., Leiden: Brill –
London: Luzac Bd. II (1965) S. 866
7
Vgl. zum folgenden Heinz Halm: Der schiitischen Islam. Von der Religion zur Revolution, München: C.H.
Beck 1994 (Reihe: Beck’sche Reihe 1047)
8
Vgl. dazu Dawud Gholamsad: Irans neuer Umbruch. Von der Liebe zum Toten zur Liebe zum Leben,
Hannover: ecce_Verlag 2010 S. 67
9
Vgl. Richard Gramlich: Die schiitischen Derwischorden Persiens. Zweiter Teil: Glaube und Lehre, Wiesbaden
1976 S. 244 (Reihe: Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes XXXVI, 2-4)
2
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