FMH - Quiz Vol. 23 Nr. 5 2012 FMH-Quiz 51 Fallbeschreibung Frage 2 Welche sind die zwei unabdingbaren Untersuchungen bei diesem Kind, um die Diagnose zu präzisieren? Frage 1 Beschreiben Sie bitte das Bild. Der 4-jährige Knabe wird wegen einer Schwellung des rechten Auges und einem febrilen Zustand auf die Notfallstation gebracht. Begonnen hat die Krankheit vor 3–4 Tagen mit Rhinitis, tränenden Augen und Husten. Seit 48 Stunden ist Fieber von maximal 39 °C aufgetreten und zusätzlich die genannte Schwellung des rechten Auges. Frage 3 Was ist Ihre Verdachtsdiagnose? Frage 4 Welches ist Ihre sofortige Behandlung? Nennen Sie bitte den Namen des Medikamentes, den Verabreichungsweg und die Dosierung. Im Status findet sich ein Knabe in gutem Allgemeinzustand, Herz- und Lungenauskultation sind unauffällig. Das rechte Auge ist nicht untersuchbar. Sonst o. B. 42 FMH - Quiz Vol. 23 Nr. 5 2012 Antwort 1 • Verschlossenes Auge bei Lidödem • Ausfluss Lidwinkel (nasal) Antwort 2 • Computertomographie des Gesichtsschädels • Blutkultur • (Ophthalmologische Untersuchung ist auch korrekt) Begründung: In vorliegender Situation ist klinisch die Abgrenzung einer periorbitalen (präseptalen) von einer orbitalen Cellulitis nicht möglich. Antwort 3 • Periorbitale (präseptale) Cellulitis Klinische Zeichen Periorbitale Cellulitis Orbitale Cellulitis Schwellung und Lidödem, ev. Erythem Ja Ja Ausfluss Möglich Möglich Verschlossenes Auge Möglich Möglich Schmerzhaftes/empfindliches Auge Möglich Ja Schmerzhafte Augenbewegungen Nein Ja Protrusio bulbi Nein Häufig, diskret Ophthalmoplegie, ev. Diplopie Nein Ja Sehbeeinträchtigung Nein Möglich Chemosis Selten Möglich Fieber Möglich Meist vorhanden Leukozytose Möglich Möglich Tabelle 1: Antwort 4 • Amoxicillin-Clavulansäure; intravenös; 100 mg/kg KG/d Kommentare des Spezialisten Mustapha Mazouni, Lausanne Übersetzung: Rodo von Vigier, Villarepos Frage 1 Vorliegende Abbildung zeigt ein Ödem vor allem des Ober- aber auch des Unterlides mit minimalem Ausfluss im medialen Augenwinkel. Diese klinische Präsentation ist sowohl bei periorbitaler Cellulitis (POC) als auch bei orbitaler Cellulitis (OC) möglich. Frage 2 Die verfügbaren klinischen Angaben (Lidschluss, minimaler Ausfluss, Fieber ABER guter Allgemeinzustand, unauffällige sonstige klinische Untersuchungsbefunde) deuten eher auf eine POC hin. Die Zusatzuntersuchungen sollen weiter Aufschluss geben. Frage 3 Trotz Hypothese einer POC und unter Berücksichtigung der beschränkten Untersuchungsmöglichkeit des Auges, helfen die Mitbeurteilung durch einen Ophthalmologen und die Bildgebung mittels Computertomographie eine OC auszuschliessen. Frage 4 In vorliegender Situation mit differentialdiagnostischer Möglichkeit einer OC wird eine entsprechende Therapie mit AmoxicillinCalvulansäure intravenös vorgeschlagen. Klinische Merkmale von periorbitaler und orbitaler Cellulitis Bei fehlenden Zeichen einer begleitenden Meningitis ist die vorgeschlagene Dosierung jedoch recht hoch. Die periorbitale (präseptale) Cellulitis im Kindesalter Die periorbitale Cellulitis (POC) ist eine Infektion des vorderen Lidanteiles (vor dem Septum orbitale) ohne Beteiligung der Orbita und der darin gelegenen Strukturen. Die orbitale Cellulitis (OC) betrifft dagegen die Orbita mit deren Fettkörper und den Augenmuskeln, das Auge selbst ist dabei jedoch nicht betroffen. Diese beiden Entitäten sind bisweilen klinisch schwer voneinander abgrenzbar, ihr Verlauf ist dagegen unterschiedlich: Die POC tritt meist vor dem Alter von fünf Jahren auf und verläuft mehrheitlich günstig ohne Auftreten schwerwiegender Komplikationen. Eine OC (gehäuft bei Kindern nach fünf Jahren) stellt dagegen eine schwerwiegende Erkrankung dar, auch aufgrund möglicher ophthalmologischer und neurologischer Komplikationen ist eine notfallmässige Behandlung dringend indiziert1)–3). Drei Punkte betreffend periorbitaler Cellulitis sind hervorzuheben: Der erste Punkt Bei der klinischen Beurteilung (Anamnese und Status) muss eine periorbitale von einer orbitalen Cellulitis (Tabelle 1) abgegrenzt werden1), 2). 43 Gemäss vorliegender Tabelle sind die ersten vier Zeichen den beiden Entitäten gemeinsam. Eine unkomplizierte POC kann oft bei der initialen klinischen Beurteilung diagnostiziert werden, die von einigen Autoren empfohlenen laborchemischen Zusatzuntersuchungen sind dabei meist unergiebig. Der zweite Punkt Die Initialbehandlung ist immer empirisch, basierend auf den üblichen zu erwartenden Erregern und den lokalen epidemiologischen Gegebenheiten: Staphylococcus aureus, Streptococcus pneumoniae, andere Streptokokken, selten Anaerobier. Erkrankungen durch Haemophilus influenzae und Streptococcus pneumoniae sind seit der Einführung der entsprechenden Impfungen drastisch zurückgegangen1)–5). Für Kinder älter als ein Jahr wird eine initial parenterale Therapie unter ambulanten Bedingungen empfohlen, wobei eine enge Überwachung sichergestellt werden muss. Die Umstellung auf eine orale Verabreichung erfolgt gemäss klinischem Verlauf, die empfohlene Therapiedauer beträgt 10 Tage: • Ceftriaxon 50 mg/kg/Dosis, q 12 h, maximal 2000 mg/Tag, anschliessend: • Amoxicillin-Clavulansäure (Trio, 4 : 1) ·< 2 Jahre 15 mg Amoxi/kg/Dosis, q 8 h, per os · ≥ 2 Jahre 20 mg Amoxi/kg/Dosis, q 8 h, per os • Maximaldosis 1500 mg Amoxi/Tag FMH - Quiz Säuglinge im ersten Lebensjahr sind meist schwer erkrankt mit festem Lidschluss und können bei der Untersuchung nicht kooperieren; es wird empfohlen diese Patienten zu hospitalisieren. Die Initialbehandlung ist analog der Therapie bei unkomplizierter orbitaler Cellulitis. Eine multidisziplinäre Betreuung (Pädiatrie, Infektiologie, Ophthalmologie und Neurochirurgie) sowie Bildgebung mit Computertomographie wird in dieser Situation meist empfohlen1)–5). Initialbehandlung: • Amoxicillin-Clavulansäure iv 25–50 mg Amoxi/kg/Dosis ·< 3 Monate q 12 h · ≥ 3 Monate q 6 h • Maximaldosis 2000 mg Amoxi/Tag Die antibiotische Behandlung ist für drei Wochen vorzusehen, nach Ausschluss einer orbitalen Beteiligung kürzer. Die Umstellung auf eine orale Behandlung erfolgt nach klinischem Verlauf und Resultat der Blutkultur: • Amoxicillin-Clavulansäure (Trio, 4 : 1) 15 mg Amoxi/kg/Dosis, q 8 h, per os Bemerkung Zwei besondere Situationen sind zu beachten • POC mit Methicillinresistenten Staph. aureus (MRSA): Diese Situation ist in der Schweiz selten. Zur Behandlung wird Vancomycin iv oder Clindamycin plus Trimethoprim-Sulfamethoxazol per os empfohlen1)–4). • Rezidivierende POC, definiert als drei Episoden innerhalb eines Jahres mit jeweils einem Monat Intervall: Verschiedene Ursachen (Atopie, rezidivierende Sinusitis, Herpes simplex, Kontaktdermatitis (Kosmetika), Systemerkrankungen, Tumor paranasal) sind auszuschliessen1), 3), 6). Der dritte Punkt Die Indikation zur Konsultation weiterer Fachspezialisten und zur Computertomographie1)–4), 7): • Lidödem bzw. -verschluss mit Unmöglichkeit das Auge zu untersuchen. • Zweifel an der Diagnose einer POC. • Verschlechterung des klinischen Zustandes, persistierendes Fieber > 36 Stunden, fehlende klinische Besserung nach 24–48 Stunden trotz adäquater antibiotischer Therapie. Vol. 23 Nr. 5 2012 • Beteiligung des Zentralnervensystemes (fokale Ausfallerscheinung, Krampfanfall, Vigilanzstörung). • Visusprüfung unmöglich, Visusverlust, gestörtes Farbsehen, ausgeprägte Protrusio bulbi, Ophthalmoplegie). Die Computertomographie (axial, sagittal und koronar) mit Verabreichung von Kontrastmittel erlaubt die Unterscheidung einer einfachen POC von einer POC mit Komplikation (Abszessbildung mit Risiko der Ausdehnung in die Orbita oder intrakranial) beziehungsweise einer OC mit oder ohne Komplikation. In dieser Situation ist die notfallmässige Behandlung durch ein interdisziplinäres Team empfohlen. Schlussfolgerung Rasches Erkennen und Diagnosestellung sowie angepasste Behandlung von Patienten mit POC erlaubt schwerere Komplikationen zu vermeiden. Referenzen 1) Gappy C et al. Preseptal cellulitis. www.UpToDate. com (letzter Zugriff 4.7.2012). 2) Gappy C et al. Orbital cellulitis. www.UpToDate.com (letzter Zugriff 4.7.2012). 3) Hauser A. et al. Periorbital and Orbital cellulitis. Pediatrics in Review, 2011, 31: 242–8. 4) Georgakopoulos CD et al. Periorbital and orbital cellulitis: a 10-year review of hospitalised children Eur J Ophtalmol, 2010, 20: 1066–72. 5) Brugha RE et al. Ambulatory intravenous antibiotic therapy for children with preseptal cellulitis. Pediatr Emerg Care, 2012, 28: 226–228. 6) Sorin A et al. Recurrent periorbital cellulitis: an unusual clinical entity. Otorhinolaryngol Head Neck Surg, 2006, 134: 153–6. 7) Rudloe TF et al. Acute periorbital infections: who needs emergent imaging? Pediatrics 2010, 125: e718–e726. Korrespondenzadresse Prof. Hon. Dr. Mustapha Mazouni Route du Pavement 13 1018 Lausanne [email protected] 44