„… Dieses Jahr war nicht verloren“ „... DIESES JAHR WAR NICHT VERLOREN“ Die „Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien“ und ein nicht von Schönberg verfasstes Memorandum WOLFGANG BEHRENS I. Sosehr sich die Musikwissenschaft bemüht, ist es ihr doch nie gänzlich gelungen, den Ruch der Heroengeschichtsschreibung abzuschütteln. Selbst solche Begrifflichkeiten, die – anscheinend personenunabhängig – eine historische Objektivität und Notwendigkeit mit sich führen wie etwa der Adorno’sche „Materialfortschritt“, werden allzu gern an den Neuerungen einiger weniger Komponisten erläutert, so dass der Verdacht nahe liegt, dass das Erklärungsmodell von deren Leistungen abhängt, nicht aber diese Leistungen die Folge eines Objektiven und Notwendigen sind. Es wäre dann nur legitim, auf die Einzigartigkeit der großen Komponisten zu pochen, die nicht als Werkzeuge einer blind voranschreitenden Geschichte sich zeigten, sondern kraft willkürlicher Entscheidungen selbst Geschichte erzeugten.1 Ein derartiger Ansatz müsste die Nähe zur romantischen Genieästhetik aushalten, zumal diese untergründig in fast allen musikwissenschaftlichen Texten wirksam ist. Heroengeschichtsschreibung birgt jedoch, so berechtigt sie im Einzelnen sein mag, eine nicht von der Hand zu weisende Gefahr: In offen, verdeckt oder unbewusst apologetischer Absicht gerät manchem Historiker alles zugängliche 1 Rudolf Stephan machte beim Duisburger Schönberg-Kongress 1993 einen unmissverständlichen Zug in diese Richtung, wenn er etwa zu Schönbergs Zwölftonmethode und ihren Implikationen sagt: „Das alles sind selbstverständlich – wozu ein Künstler alles Recht hat – freie Setzungen (im Rahmen der sich ständig verändernden historischen Möglichkeiten), nicht etwa die zwingenden Konsequenzen einer historischen Notwendigkeit.“ R. Stephan, Arnold Schönbergs Versuch, die Krise der Tonkunst zu überwinden, in: Bericht über den 3. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, hrsg. v. R. Stephan u. S. Wiesmann, Wien 1996, S. 214. 249 Wolfgang Behrens Quellenmaterial in den Sog der großen Persönlichkeit. Eines dieser Gravitationszentren, in deren Bann die musikwissenschaftliche Forschung steht, bildet zweifelsohne Arnold Schönberg. Und das mit Grund, denn kaum ein Komponist des 20. Jahrhunderts legte derart viele Fäden aus, an die sowohl die schöpferischen Musiker als auch die Theoretiker und Wissenschaftler anknüpfen konnten. Schönberg selbst tat zu Lebzeiten bereits das Seinige, um im vollen historischen Glanze dazustehen, wenn er sich etwa durch seine Essays in bestimmte Traditionslinien stellte 2, wenn er Prioritätsansprüche erhob oder wenn er – wie beim Doktor-Faustus-Streit – eifersüchtig über sein geistiges Eigentum wachte. Auch seine Furcht vor vermeintlichen Renegaten (Eisler, Adorno) mag in der Sorge um die Minderung der eigenen historischen Leistungen begründet gewesen sein. Weit davon entfernt, irgendetwas an seinem Schaffen schmälern zu wollen, bemühten sich Freunde, Schüler und Biographen nach Schönbergs Tod um eine angemessene Würdigung von Person und Œuvre, achteten aber gleichzeitig darauf, dass dem Zentralgestirn der Moderne kein Gran seiner Einzigartigkeit weggenommen würde. Letztere Strategie ist bis heute wirksam, vor allem wenn es um den „frühen“ Schönberg geht, in dessen Werken Hinweise auf die spätere Entwicklung aufgespürt werden sollen: Walter Frisch beispielsweise profiliert in seiner ansonsten verdienstvollen Arbeit The early works of Arnold Schoenberg die frühe Produktion Schönbergs auf Kosten des jungen Zemlinsky, dem er jegliche Originalität abspricht: „Zemlinsky’s Heilige Nacht comes across as a pallid imitation of the master [Brahms].“3 Dass aber im Wien der Jahrhundertwende eine ganze Generation, zu der selbstverständlich auch Zemlinsky und Schönberg gehörten, bereitstand, die Suche nach einem neuen nachbrahmsischen und nachwagnerischen Klang in Angriff zu nehmen, gerät leicht aus dem Blick. Paul Stefan, Musikkritiker und scharf beobachtender Chronist dieser Aufbruchstimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, beschrieb sie 1926 so: Krise der romantischen Harmonik – sie war schon im „Tristan“ da, klang jahrzehntelang ab. Nun, um die Jahrhundertwende, ging es mit großen Schritten weiter. Die Harmonie verlor jede bishin geltende Beziehung zu dem angenommenen Grundton. Fremde, zum Teil exotische Skalen kamen auf und aus der Reizsamkeit der Zeit, ein anderes Hören, bloße Relativität der Erscheinungen von Konsonanz und Dissonanz. Heterophonie dringt vor, Quarten türmen sich übereinander, treten horizontal auf, man nähert sich der Polytonalität, 2 Vergleiche hierzu A. Meyer u. U. Scheideler (Hrsg.), Autorschaft als historische Konstruktion: Arnold Schönberg – Vorgänger, Zeitgenossen, Nachfolger und Interpreten, Stuttgart Weimar 2001. 3 W. Frisch, The early works of Arnold Schoenberg, 1893–1908, Berkely Los Angeles London 1993, S. 10. 250 „… Dieses Jahr war nicht verloren“ sogenannt atonalen Bildungen. Gegen den Widerstand einer erregten öffentlichen Meinung, der Schulen, des Publikums geschieht das.4 Es ist auffällig, dass Stefan hier nicht den Namen Schönbergs nennt. Während sich heute die Perspektive zumeist sehr rasch auf Schönberg verengt, meint Stefans Aussparung offenbar, dass eben nicht eine Einzelperson, sondern eine größere Gruppe das damalige Projekt der Moderne trug. Es wäre interessant, den „frühen“ Schönberg einmal als Teil eines solchen Geflechts, eines Netzes zu interpretieren, und nicht als die von Anfang an alle Zeitgenossen um Längen überragende Ausnahmeerscheinung. Der gemeinsame Wille einer jungen Komponistengeneration, zu neuen Ufern zu gelangen, fand 1904 einen nach außen hin sichtbaren Ausdruck in der Gründung eines neuen Vereins – der „Vereinigung der schaffenden Tonkünstler in Wien“. Dieser Verein hat in der Sekundärliteratur nahezu ausschließlich unter dem Aspekt Schönberg Beachtung gefunden, und dies aus drei Gründen: Schönberg gilt neben Zemlinsky als der eigentliche Initiator und fortwährende Motor der Vereinigung, ferner wird ihm üblicherweise die Verfasserschaft des Gründungsmemorandums zugeschrieben, und schließlich wurde im Rahmen eines Vereinskonzertes Schönbergs symphonische Dichtung Pelleas und Melisande op. 5 uraufgeführt. Letzteres ist unbestreitbar. Ob Schönberg jedoch tatsächlich die zentrale Gestalt des Vereins war, erweist sich bei näherer Untersuchung zumindest als fragwürdig. Und die Zuschreibung des Memorandums an Schönberg muss gar als falsch zurückgewiesen werden. Davon wird im Folgenden zu handeln sein. II. Am 1. April 1904 meldete die Wiener Tageszeitung Neue Freie Presse in ihrem Morgenblatt als Aufmacher des Feuilletons den „Versuch einer musikalischen Neugründung“.5 Es heißt dort: Bisher liegt ein Aufruf vor, ein Manifest, in welchem Mitteilung gemacht wird von einem „Beschlusse der Mehrzahl der schaffenden Tonkünstler Wiens, eine Vereinigung zu bilden“. Sie hat den Zweck, „die Künstler in ein unmittelbares Verhältnis zu dem Publikum zu bringen, der Musik der Gegenwart in Wien eine ständige Pflegestätte zu bereiten, das Publikum in fortlaufender Kenntnis über den jeweiligen Stand des musikalischen Schaffens zu halten“. Die zu Grunde liegende Tendenz ist demnach, die produzierenden Kräfte selbständig 4 P. Stefan, Vor fünfundzwanzig Jahren. Musik um die Jahrhundertwende, in: H. Heinsheimer u. P. Stefan (Hrsg.), 25 Jahre neue Musik. Jahrbuch 1926 der Universal-Edition, Wien 1926, S. 212–219. 5 G. Adler, Eine neue musikalische Vereinigung in Wien, in: Neue Freie Presse, Morgenblatt vom 1. 4. 1904, S. 1–3. 251 Wolfgang Behrens zu organisieren. Sie lösen sich los von den jetzt bestehenden Vereinigungen und bilden eine musikalische Sezession, wie dies auf dem Gebiete der bildenden Kunst vor sich gegangen, und wie dies für die Tonkunst bereits in mehreren Städten Deutschlands geschehen ist.6 Der ungewöhnlich umfangreiche Artikel ist von zweifachem Interesse: Zum einen ist er vermutlich die früheste die „Vereinigung schaffender Tonkünstler“ betreffende öffentliche Verlautbarung7; zum anderen ist er nicht von irgendjemandem, sondern von Guido Adler höchstpersönlich verfasst, der seit 1898 als Nachfolger Hanslicks den musikwissenschaftlichen Lehrstuhl an der Wiener Universität innehatte. Die Autorität Adlers verlieh der geplanten Neugründung – sie fand erst gut drei Wochen später statt – schon im Vorhinein einiges Gewicht. Adler argumentiert in dem Artikel sachlich und besonnen, er wägt die Chancen und die – vor allem finanziellen – Risiken ab, doch in erster Linie ist er ungemein wohlwollend: Freunde der Unternehmung sollen gewonnen werden. Allein Freundschaft und Mäzenatentum sind Begriffe, die sich leider nicht immer decken. Zur Gönnerschaft gehört neben der Liebe und Ergebenheit auch noch etwas anderes. Es müssen also Mäzene in des Wortes und des Klanges vollster Bedeutung gewonnen werden. Die Unternehmungen müssen auf eine materielle Basis gestellt werden. Es gibt in Wien nur wenige Freigebige, die ins Volle greifen können, die sich zur höchsten Kunststeuer freiwillig bekennen. Neben solchen sollen auch Subskribenten auf Abonnementskonzerte gewonnen werden. Ich bekenne mich als einer, der, selig im Vertrauen, als gutes Beispiel für Betätigung bester Wünsche vorangeht. Das Gelingen hängt ja nicht nur von den Leistungen ab, sondern auch von der Art der Ausführung des Planes. Talent muß sich auch beim Künstler mit Weltklugheit vereinen. Die moderne realistische Tonkunst muß es auch verstehen, musikalische Realpolitik zu betreiben.8 Adler vermag auch erste Namen anzugeben: Noch sind die Träger dieser Bewegung nicht genannt, der Aufruf ist nicht unterfertigt, er ist nur datiert: „März 1904“. Die „Mehrzahl der schaffenden Künstler Wiens“ wird von einigen angeführt und zu neuen Taten angespornt. Es wurden mir einige genannt: Alexander v. Zemlinsky, Josef v. Woeß, Karl Weigl, Franz Schmidt, Arnold Schönberg, Oskar Posa, 6 Ebenda, S. 1. 7 Durch den frühen Erscheinungstermin scheint der Artikel bislang unbemerkt geblieben zu sein. In zwei der ausführlicheren Publikationen zur „Vereinigung“ wird er zumindest nicht genannt, weder in: W. Pass, Schönberg und die „Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien“, in: Österreichische Musikzeitschrift 29, 1974, S. 298–303, noch im Kapitel „Die Wiener ‚Vereinigung schaffender Tonkünstler‘“ in: M. Thrun, Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933, Bd. 1, Bonn 1995 (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik 75), S. 37–41. 8 G. Adler, Eine neue musikalische Vereinigung in Wien, a. a. O., S. 2. Adler wurde schließlich selbst zur Mitteleinwerbung herangezogen, indem Schönberg ihn bat, bei potentiellen Mäzenen ein gutes Wort einzulegen. Siehe E. M. Ennulat (Hrsg.), Arnold Schoenberg correspondence: a collection of annotated letters exchanged with Guido Adler, Pablo Casals, Emanuel Feuermann and Olin Downes, Metuchen London 1991, S. 62 u. 66. 252 „… Dieses Jahr war nicht verloren“ Gustav Gutheil – Namen, nach dem sezessionistischen Alphabet geordnet; dem größeren Publikum zum Teil noch wenig bekannt, gewinnen sie in Musikerkreisen Ansehen und Anhang.9 Zemlinsky wird hier an erster Stelle genannt, er war noch der Prominenteste unter den Unbekannten. Die weitere Auflistung verläuft alphabetisch im Krebsgang.10 Am Abend desselben 1. April wurde in der Neuen Freien Presse – nunmehr im Abendblatt – auch noch das von Adler mehrfach erwähnte, auf März datierte, aber nicht unterzeichnete Manifest (fast) vollständig abgedruckt.11 Obwohl sich der mitteilungsfreudige Schönberg nie der Verfasserschaft dieses Memorandums rühmte, wurde es ihm doch bald zugeschrieben – Walter Pass etwa benutzt diese Zuschreibung, um seine Argumentation zugunsten Schönbergs als des eigentlichen Gründers der „Vereinigung“ zu untermauern.12 Die Zuschreibung geht wohl auf Willi Reich zurück, der in seiner Schönberg-Biographie als erster das Manifest im vollen Wortlaut wiederabdruckt13 und es als „wahrscheinlich im wesentlichen von Schönberg“14 verfasst bezeichnet. Reich führt weiter aus: Abgesehen von der allgemeinen Bedeutung dieses Zirkulars für die Wiener Kulturgeschichte, verdient es in dreifacher Hinsicht besondere Beachtung: als wahrscheinlich erste öffentliche literarische Kundgebung Schönbergs, als deutliche Vorlage des von Alban Berg 1919 verfaßten Prospektes des von Schönberg im November 1918 in Wien gegründeten „Vereins für musikalische Privataufführungen“ [...] und als überzeitliches, auch heute noch voll gültiges Dokument zur Förderung des zeitgenössischen musikalischen Schaffens.15 Im Katalog der (exzellent bestückten) Schönberg-Ausstellung in Wien 1974 heißt es lapidar, dass man die Autorschaft des Memorandums „mit Recht Schönberg zuschreibt“16, noch bei Thrun ist 1995 zu lesen: „Die Autorschaft Schönbergs ist in der einschlägigen Forschung unbestritten.“17 9 Ebenda. Hervorhebungen sind im Original gesperrt. 10 Die „sezessionistische“ Ordnung erleidet bei Schmidt und Schönberg eine kleine, wohl versehentliche Abweichung: Schönberg steht im Alphabet hinter Schmidt, müsste hier also vor diesem genannt werden. 11 Eine neue musikalische Vereinigung in Wien, in: Neue Freie Presse, Abendblatt vom 1. 4. 1904, S. 2–3. 12 Siehe W. Pass, Schönberg und die „Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien“, a. a. O., S. 301. 13 W. Reich, Arnold Schönberg oder der konservative Revolutionär, Wien 1968, S. 30–34. 14 Ebenda, S. 30. 15 Ebenda, S. 34. 16 E. Hilmar (Hrsg.), Arnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974, Wien 1974, S. 182. 17 M. Thrun, Neue Musik im deutschen Musikleben bis 1933, a. a. O., S. 38. 253 Wolfgang Behrens Die Autorschaft Schönbergs muss jedoch bestritten werden. Es lässt sich hinreichende Evidenz dafür anführen, dass der Verfasser des Zirkulars der ebenfalls in Adlers Artikel erwähnte Oskar C. Posa ist. Oskar C.(arl) Posa18 (1873–1951) war studierter Jurist und hatte sich in Klavierspiel und Komposition von Otto Bach, Ignaz Brüll und Robert Fuchs unterweisen lassen. An die musikalische Öffentlichkeit trat Posa zuerst 1899: Zwei erste Liederhefte wurden bei Simrock gedruckt, etwa zur gleichen Zeit muss Posa einige seiner Lieder dem berühmten holländischen Sänger Johannes Messchaert übersandt haben, der sie wiederum seinem ständigen Liedbegleiter, dem Komponisten und Pianisten Julius Röntgen in Amsterdam zukommen ließ. Röntgen, von der Durchsicht der Lieder begeistert, begann daraufhin auf eigene Initiative einen Briefwechsel mit Posa, der schließlich in eine zeitweilig sehr intensive Freundschaft der beiden Musiker einmündete.19 Im Wiener Konzertleben war Posa zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinigung durch Liederabende von Messchaert und Röntgen eingeführt; beim Heidelberger Tonkünstler-Musikfest 1901 hatte eine Violinsonate dem jungen Komponisten auch schon einen veritablen Misserfolg eingebracht. In dem besagten Briefwechsel Posa – Röntgen findet sich unter dem Datum des 18. April 1904, also noch fünf Tage vor der Konstituierung der „Vereinigung“, ein Brief Posas, in dem es heißt: „Ich sende Dir ferner das von mir verfasste Memorandum einer von Wiener Componisten gebildeten Vereinigung, der ich auch angehöre. Du ersiehst daraus, was im Werke ist.“20 Damit erscheint das Memorandum im neuen Licht. Es ist zwar keineswegs ausgeschlossen, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass Gedanken, vielleicht auch Formulierungen Schönbergs oder anderer Vereinigungs-Mitglieder in den Text mit eingeflossen sind. Dafür spricht allein, dass das Memorandum anonym erschien, also allgemeines Einverständnis von den anderen Mitgliedern vorausgesetzt werden darf. Da es zur Gründung des Vereins vieler Vorgespräche bedurfte, wird der 18 Posa ist ein Künstlername für den ursprünglichen, berufsbezeichnenden Namen Posamentir (soviel wie Borten- oder Bandmacher). Seinen Künstlernamen nahm Posa 1911 auch offiziell an. 19 Der in mancher Hinsicht hoch interessante Briefwechsel kann in großen Teilen zusammengeführt werden aus: A. Röntgen-des Amorie van der Hoeven (Hrsg.), Brieven van Julius Röntgen, Amsterdam 1934, und aus dem Nachlass Röntgens im Gemeentemuseum Den Haag, in dem sich die Briefe Posas weitgehend vollständig erhalten haben. Ich bin dem Gemeentemuseum für die unkomplizierte Verfügbarmachung der Posa-Briefe sowie Simon Koene, Den Haag, für die Vermittlung des Kontaktes zu dem Museum zu Dank verpflichtet. 20 Brief Posas an Röntgen, Wien, 18. 4. 1904. Die Worte „von mir verfasste“ fügte Posa nachträglich ein. 254 „… Dieses Jahr war nicht verloren“ Text des Zirkulars nicht völlig eigenmächtig von Posa verfasst worden sein. Es ist jedoch unzweifelhaft, dass die Hauptlast der Argumentation und der Ausformulierung des Memorandums nicht Schönberg (oder einem anderen) zufällt, sondern Posa. Möglicherweise wurde er nicht zuletzt dieser Leistung wegen später zum Schriftführer der Vereinigung gewählt (obwohl man sich vermutlich auch seiner juristischen Kenntnisse versichern wollte). Für eine nicht nur behauptete Verfasserschaft Posas spricht, dass sich einige Passagen des Memorandums wie komprimierte Neuauflagen der in den Jahren vor der Gründung geschriebenen Briefe Posas an Röntgen lesen. Posa spricht beispielsweise von einer im Manifest explizit „gegen Gutmann gerichteten Stelle“.21 Gemeint ist hier der einflussreiche Konzertagent und „Hofmusikalienhändler“ Albert J. Gutmann.22 Posa hatte in Gutmann ein Feindbild gefunden und ihn geradezu zum Inbegriff des betrügerischen Geschäftsmanns hochstilisiert.23 Eine Attacke Posas gegen das Konzertwesen in den Briefen an Röntgen liest sich so: Ich stehe persönlich auch so ganz ausserhalb des musikalischen Lebens. Hier herrscht auf allen Gebieten das Princip der Geschäftsklugheit und es gehört ein tüchtiges Mass von Zudringlichkeit dazu, in die geschlossenen Kreise einzudringen. Hätte ich selbst einen praktisch-musikalischen Wirkungskreis d.h. würde es die Geschäftsklugheit erfordern, sich mit mir auf guten Fuss zu stellen, dann wäre alles anders. Irgendein sachliches Interesse habe ich niemals bemerkt. Alles läuft auf das System Gutmann hinaus. Man sollte in Wien eine musikalische Zeitung gründen, die unabhängig sachlich sich mit den musikalischen Ereignissen beschäftigt und gegen die bestehende Misswirtschaft scharf polemisiert. Dazu gehört aber natürlich Capital.24 Vergleichbare Abschnitte finden sich im Memorandum: Eine weitere Einschränkung erfuhren die Aufführungsmöglichkeiten moderner Musik noch dadurch, daß auch die in den meisten Fällen zwischen ausübendem Künstler und Publikum stehenden Konzertagenturen und -Unternehmungen in Hinblick auf ihre eigenen finanziellen Vorteile einen möglichst weitgehenden Einfluß auf die Wahl der Programme ausüben und alles auszuschließen trachten, was ihnen nicht die möglichst sichere Gewähr eines kassenmäßigen Erfolges zu bieten scheint. Besonders die letzteren Faktoren stehen der freien Entwicklung des musikalischen Lebens in Wien feindlich gegenüber, und sie haben durch ihre einander ewig gleichbleibenden Programme sogar schon ein allgemeines Erlahmen des musikalischen Interesses überhaupt herbeigeführt.25 21 Brief Posas an Röntgen, Wien, 8. 8. 1904. 22 Nicht zu verwechseln mit Emil Gutmann, der in München und Berlin eine Konzertagentur betrieb. 23 Siehe etwa die Briefe Posas an Röntgen, Wien, 3. 2. 1902, und Wien, 20. 4. 1902. 24 Brief Posas an Röntgen, Wien, 20. 4. 1902. 25 Diese „gegen Gutmann gerichtete Stelle“ wurde, wie Posa im Brief vom 8. 8. 1904 mit der Gründlichkeit des gekränkten Autors vermerkt, in der Neuen Freien Presse vom 1. 4. 1904 abgeschwächt: „[daß die Konzertagenturen] Einfluß auf die Wahl der Programme 255 Wolfgang Behrens Posas Frustration darüber, dass er „so ganz ausserhalb des musikalischen Lebens“ stand, mag in dem Satz widerklingen: „[...] so dürfen die der Musik am nächsten Stehenden, die Schaffenden, nicht auf die Dauer vom eigentlichen musikalischen Leben ausgeschlossen bleiben.“ Eine andere Passage lautet: Aller Fortschritt, alle Entwicklung führt vom Einfachen zum Komplizierten, und gerade die jüngste Entwicklung der Musik vergrößert noch all die Schwierigkeiten und Hindernisse, gegen welche das Neue in der Musik immer zu kämpfen hatte, durch ihre vermehrte Kompliziertheit, durch ihre harmonische und melodische Konzentriertheit, und es bedarf zahlreicher wiederholter erstklassiger Aufführungen, sollen diese vergrößerten und vermehrten Hindernisse der Aufnahmsfähigkeit und Aufnahmswilligkeit überwunden werden, Aufführungen, welche eine außerordentlich genaue und streng in den Intentionen des Komponisten gehaltene Vorbereitung erheischen. Kann es angesichts solcher Formulierungen nicht verwunderlich erscheinen, dass Schönberg als ihr Urheber angesehen wurde, so sind doch auch hier allem Anschein nach Erfahrungen von Posa selbst eingegangen. Anlässlich einer erfolgreichen und wohl tatsächlich „erstklassigen“ Aufführung seiner Violinsonate op. 7 durch Bram, Eldering und Röntgen schrieb Posa 1902 an letzteren: [...] und bringt mir auch recht zum Bewusstsein, welch großen Antheil die glänzende Ausführung an dem Eindruck hatte. Diesen Punkt berühren die Kritiker fast gar nicht. Es wird nur so obenhin davon gesprochen, aber durch die Heidelberger Aufführung26 ist erwiesen, dass das Stück keine mittelmässige Wiedergabe verträgt.27 Das Memorandum wird auch weiterhin, um mit Willi Reich zu sprechen, besondere Beachtung verdienen, wenn auch nur noch, da es nun als „erste öffentliche literarische Kundgebung Schönbergs“ ausscheidet, „in zweifacher Hinsicht“. Immerhin bleibt es bemerkenswert, dass dieses „überzeitliche, auch heute noch voll gültige Dokument zur Förderung des zeitgenössischen musikalischen Schaffens“ von einem Komponisten stammt, der sich im weiteren Verlauf eben nicht als Umstürzler und Revolutionär erwies. Posa schrieb bis circa 1911 vor allem Lieder in avancierter tonaler Harmonik. Danach schlug er eine Karriere als Operndirigent ein, mit der er sich dauerhaft aus dem Projekt der Moderne verabschiedete. Doch für einen kurzen historischen Augenblick ritt [hier ist die Kürzung!] nahmen, sogar schon ein allgemeines Erlahmen des musikalischen Interesses überhaupt herbeigeführt haben.“ 26 Beim Tonkünstlerfest in Heidelberg war die Sonate, wie oben bereits angeführt, durchgefallen. 27 256 Brief an Posas an Röntgen, Wien, 20. 4. 1902. „… Dieses Jahr war nicht verloren“ auch Posa mit anderen Generationsgenossen an der Spitze der Avantgarde. Wie immer man es nachträglich darstellt: Zu diesem Zeitpunkt deutete noch wenig darauf hin, dass Schönberg bald der alleinige „Spitzenreiter“ sein würde. III. Am 23. April 1904, also etwas über drei Wochen nach dem Abdruck des Memorandums in der Neuen Freien Presse, wurde die „Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien“ aus der Taufe gehoben. Am 6. Mai meldet die Neue Freie Presse: Die Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien hat am 23. v. M. ihre konstituierende Hauptversammlung abgehalten. In derselben wurde einstimmig Hofoperndirektor Gustav Mahler zum Ehrenpräsidenten gewählt. Ferner wurde die Wahl des Vorstandes vorgenommen und beschlossen, in der nächsten Saison drei Orchester- und drei Kammermusik- und Liederkonzerte mit ausschließlichem Novitätenprogramm zu veranstalten, bezüglich Beistellung des Orchesters mit dem Wiener Konzertverein in Verbindung zu treten und für die Kammermusik- und Liederabende fallweise Solisten zu verpflichten. Es ergeht nunmehr an alle österreichischen und deutschen, desgleichen an alle in Oesterreich und Deutschland lebenden ausländischen Komponisten, welche in diesen Konzerten zu Worte kommen wollen, die Aufforderung, Werke (Manuskripte in Abschrift) an den Archivar Herrn Robert Gound [...] einzusenden, und zwar bis inklusive 31. Mai l.J., nach welchem Termine einlaufende Werke erst in zweiter Linie in Rücksicht gezogen werden können.28 In den Vorstand wurden gewählt: Alexander Zemlinsky als Vorsitzender, Arnold Schönberg als dessen Stellvertreter, Oskar C. Posa als Schriftführer, Erich J. Wolff als dessen Stellvertreter, Robert Gound29 als Archivar sowie Josef Venantius von Wöß als Schatzmeister. Wolff ist offenbar später von Bruno Walter im Vorstand abgelöst worden.30 Die Aufgaben des Vorstandes waren in der Satzung festgeschrieben: 28 Neue Freie Presse, 6. 5. 1904, S. 9. Hervorhebungen sind im Original gesperrt. 29 Bei W. Pass, Schönberg und die „Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien“, a. a. O., S. 300, findet sich ein tückischer Druckfehler: Nicht Kompositionen von „Gounod“ kamen bei der Vereinigung zur Aufführung, es muss heißen: „Gound“. Zu Robert Gound (eigentlich: Gund) vergleiche die ausführliche, bedauerlicherweise etwas zu sehr von ihrem Gegenstand hingerissene Arbeit: E.-J. Dreyer, Robert Gund (Gound): 1865–1927. Ein vergessener Meister des Liedes, Bonn 1988 (= Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 375). 30 Siehe Musikbuch aus Österreich 2, Wien 1905, S. 98. Es kam möglicherweise zum künstlerischen Streit mit Wolff. Im Brief Posas an Schönberg vom 26. 8. 1904 heißt es jedenfalls sehr deutlich: „Über Wolffs Lieder bin ich entsetzt, besonders über den ‚Cyclus‘ (!)“. 257 Wolfgang Behrens Der Vorsitzende oder dessen Stellvertreter leitet die Sitzungen des Vorstandes, die Voll- und Hauptversammlungen; er unterzeichnet die von der Vereinigung ausgehenden Schriftstücke unter Mitfertigung eines zweiten Vorstandsmitgliedes. Der Schriftführer oder dessen Stellvertreter führt die Korrespondenz und die Akten (Mitgliederliste, Sitzungs- und Versammlungsprotokolle). Der Archivar hat die Aufsicht über das Archiv, den Ein- und Auslauf der Musikalien. Inwieweit die Gründung der Vereinigung das Verdienst Schönbergs und Zemlinskys ist, muss dahingestellt bleiben. Sicherlich kann es als ein Indiz gelten, dass gerade diese beiden zum Vorsitzenden und dessen Stellvertreter gewählt wurden, doch reicht dies allein nicht aus. Bei Walter Pass heißt es, man sage Arnold Schönberg nach, „daß er nach seiner Rückkehr aus Berlin gemeinsam mit Alexander von Zemlinsky diese Vereinigung gegründet habe, wofür zweifellos die Diktion des [...] Memorandums, die Stellungnahmen im Briefwechsel mit einem Oscar C. Posa etwa und nicht zuletzt eine Briefstelle bei Berg (1. 7. 1918) sprechen, in der es heißt, daß Schönberg die Idee habe, ‚wieder einen Verein zu gründen‘ [...]“.31 Diese Gründe lassen sich jedoch nicht halten: Die „Diktion“ des Memorandums ist, wie gezeigt, nicht die Schönbergs, und auch der Briefwechsel Schönbergs mit Posa stützt nicht – wie im Folgenden zu erläutern sein wird – die Auffassung, Schönberg sei der Gründer oder die eigentliche Hauptfigur der Vereinigung gewesen. Der erste erhaltene Brief Posas an Schönberg vom 6. April 190432 stammt noch aus dem Vorfeld der Gründung. Da er ausschließlich Belange der Vereinigung behandelt und bisher unveröffentlicht ist, sei er hier komplett wiedergegeben: Lieber Freund! Mir geht es heute wie Sonntag Zemlinsky. Ich werde daher wahrscheinlich heute abends nicht zur Sitzung kommen. v. Wöss schreibt in seiner Einladungskarte von Beiziehung Schmidts und Volk’s33 zur geplanten Vorbesprechung. Schmidt wird wohl nicht erscheinen. Bezügl. Volk’s muss etwas 31 W. Pass, Schönberg und die „Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien“, a. a. O., S. 301. 32 Der Brief ist in: P. Zukofsky (Hrsg.), Preliminary Inventory of Schoenberg correspondence, Los Angeles 1997 (= Journal of the Arnold Schoenberg Institute 18/19), S. 35, noch irrtümlich auf 1905 datiert. Der Inhalt lässt jedoch keinen Zweifel an der Datierung 1904. Alle Briefe Posas an Schönberg, deren Originale sich in der Library of Congress in Washington befinden, werden im Folgenden nach Kopien aus dem Arnold Schönberg Center, Wien, zitiert. Für die schnelle und unkomplizierte Bereitstellung der Scans danke ich der Archivarin des Schönberg Centers Therese Muxeneder. 33 Gemeint sind Franz Schmidt und vermutlich Gustav Volk, der einzige Komponist dieses Namens, der sich um diese Zeit in Wien nachweisen lässt. Siehe Musikbuch aus Österreich 3, Wien 1906, S. 170. 258 „… Dieses Jahr war nicht verloren“ unternommen werden. Man muss v. Wöss begreiflich machen, dass Ihre Bemerkung zur Vorstandsfrage rein privat und unverbindlich gemacht wurde. Ausserdem kennen wir keiner offiziell etwas von Volk. Sein Privatbesuch bei mir allein genügt auf keinen Fall. Über seine Compositionen will ich gar nichts gesagt haben. Er müsste sie ja ohnehin allen und nicht einem allein zeigen. Selbst wenn ich sie ausgezeichnet finden würde, würde das Sie und Zemlinsky nicht der Notwendigkeit entheben, sie selbst anzusehen. Vielleicht wäre es sogar notwendig, dass das Plenum die Sachen Volks kennen lernt, bevor es ihn in den Vorstand wählt. Veranlassen Sie ihn, falls von seiner ‚Candidatur‘ die Rede wäre, dieselbe der Vereinigung gegenüber förmlich geltend zu machen. Auf die blosse Empfehlung Herrn v. Wöss’ hin, wird sich kaum jemand bewogen fühlen, seine Stimme für Volk abzugeben. Wenn es halbwegs geht, komme ich abends, wenn nicht komme ich vielleicht morgen zu Ihnen. Schlagen Sie bei der Sitzung die weitgehendsten Vollmachten für das Subcomité heraus etwa eine Generalvollmacht, welche das S.C. ermächtigt, nach bestem Wissen und Gewissen im Interesse der Vereinigung vorzugehen. Herzl. Grüße Posa Der Brief zeigt, dass es weitere Bewerber für den Vorstand gab, vor allem aber, dass bei den Vorbereitungen zur eigentlichen Gründungssitzung mindestens vier Personen aktiv waren und um die freien Posten regelrecht schacherten: Zemlinsky, Schönberg, von Wöß und Posa. Wenn Posa speziell Schönberg und Zemlinsky zur Begutachtung der Werke Volks auffordert, so nicht deswegen, weil deren Urteil von größerem Gewicht gewesen wäre, sondern weil von Wöß und Posa die in Frage stehenden Partituren bereits kannten. Bemerkenswert ist auch, dass der Einladende zur vorbereitenden Sitzung von Wöß war und dass dieser dabei sogar die Vollmacht hatte, den Personenkreis der Teilnehmer zu bestimmen. In den Monaten Juli/August – während der Sommerferien – intensiviert sich der Briefwechsel zwischen Schönberg und Posa, es haben sich zwei Briefe Schönbergs und fünf Briefe Posas erhalten. Anfang Juli berichtet Posa, dass Richard Strauss die Ehrenmitgliedschaft in der Vereinigung annehme und ihr voraussichtlich die Symphonia Domestica zur Aufführung überlassen, sie vielleicht sogar selbst dirigieren werde.34 Der Rest des Briefes beschäftigt sich mit Planungseinzelheiten; schließlich bittet Posa noch um Zemlinskys Adresse (Zemlinsky war zu diesem Zeitpunkt in Gmunden35, selbstverständlich hätte 34 Brief Posas an Schönberg, Langenwang, 5. 7. 1904. Der Brief ist wiedergegeben in: N. Nono-Schoenberg, Arnold Schönberg 1874–1951. Lebensgeschichte in Begegnungen, Klagenfurt 1992, S. 45. Tatsächlich wurde die Symphonia Domestica dann von Mahler dirigiert. 35 Vergleiche H. Weber (Hrsg.), Alexander Zemlinsky. Briefwechsel mit Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Franz Schreker, Darmstadt 1995 (= Briefwechsel der Wiener Schule, Bd. 1), S. 46 ff. 259 Wolfgang Behrens Posa als Schriftführer der Vereinigung Zemlinskys Wiener Adresse gehabt). Zu diesem Brief kommentiert der Katalog der Schönberg-Ausstellung 1974: „Schönberg scheint eine übergeordnete Funktion gehabt zu haben, da Posa ihm häufig Bericht erstattete.“36 Posas Brief jedoch ist wohl so zu interpretieren, dass er als Schriftführer den Kontakt zu Strauss hergestellt hatte und nun dies den anderen Vorstandsmitgliedern mitteilte (daher auch die Bitte um Zemlinskys Adresse). Eine „übergeordnete Funktion“ Schönbergs ist hier nicht zu erkennen – zumal in einem ähnlichen Fall Bruno Walter, der ja auch Vorstandsmitglied war, nun wiederum Posa auf ähnliche Weise Mitteilung von der Teilnahme des RoséQuartetts an einem Kammermusikabend machte37: offensichtlich ein ganz normaler Vorgang. Der weitere Schriftverkehr der beiden Komponisten geht kaum über dasjenige hinaus, was Posa „schriftliche Sitzungen abhalten“38 nennt. Posa teilt Konzerttermine mit, erwähnt neue Mitglieder etc. Schönberg hingegen übernimmt selbst Pflichten: „Concert-Verein werde ich erledigen, ebenso Saaltage.“39 Weiterhin macht er Vorschläge für den Fall, dass Richard Strauss für seinen geplanten Auftritt Geld verlange. Dass Schönberg keine Sonderrolle im Vorstand beanspruchte und nichts über diesen hinweg durchzusetzen versuchte, kann an Formulierungen abgelesen werden wie: „Es ist nur die Frage, ob wir eine eventuell hohe Summe ohne Zustimmung des Gesammt-Vorstandes bewilligen dürfen. Man müßte eventuell dann Rundfrage halten.“ 40 Wie ein roter Faden durchzieht die Briefe dieser beiden Monate die Frage nach der Organisation des Austauschs der zu begutachtenden Manuskripte. Die Vereinigung hatte dazu aufgerufen, Kompositionen zur eventuellen Aufführung einzusenden, die nun nach Eingang von den Vorstandsmitgliedern beurteilt werden mussten. In beiden erhaltenen Briefen Schönbergs nimmt dieser Bezug auf offensichtlich noch bei von Wöß verbliebene Manuskripte. Im zweiten Brief wird Schönbergs Tonfall sehr dringlich: 36 E. Hilmar (Hrsg.), Arnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974, a. a. O., S. 183. 37 Brief Bruno Walters an Posa, Wien, 16. 10. 1904, Wiener Stadtbibliothek, Handschriftensammlung, I. N. 109.779. Ein Teil des Briefes wurde veröffentlicht in: E. Hilmar (Hrsg.), Arnold Schönberg. Gedenkausstellung 1974, a. a. O., S. 184. Das Rosé-Quartett trat dann doch nicht bei einem Konzert der Vereinigung auf. 38 Brief Posas an Schönberg, Langenwang, 5. 7. 1904. 39 Brief Schönbergs an Posa, Mödling, 13. 7. 1904. Wiener Stadtbibliothek, Handschriftensammlung, I. N.109.780. 40 260 Ebenda. „… Dieses Jahr war nicht verloren“ Ich stelle den Antrag die restlichen eingesandten Noten, soweit sie noch nicht begutachtet sind, den einzelnen Vorstands-Mitgliedern per Post zu übersenden und einen Turnus zu bestimmen, nach welchem gewechselt wird. Es ist unerläßlich nothwendig, daß wir das Programm fertig bekommen. Das ist doch eine Sache, die sich nicht auf die lange Bank schieben läßt. Ich bitte Sie diesen Antrag den übrigen Vorstandsmitgliedern bekannt zu geben und um deren Stimme zu ersuchen. Am besten geschieht das, wenn Sie auf einem Bogen den Antrag aufschreiben und diesen Bogen mit vorgeschriebener Marschroute von einem zum andern durch Weitergeben circulieren lassen. Ersuchen Sie jeden um gleichmäßig beschleunigte Besorgung. Sie sind nicht bös, daß ich Sie belästige. Ich habe zwar genug zu thun, aber das muß gethan werden.41 Der Antrag sollte jedoch nicht als Auf trag an Posa bzw. an den Vorstand missverstanden werden; Schönberg schlägt hier den normalen Weg über den Schriftführer an die anderen Vorstands-Mitglieder ein, die ja noch über Schönbergs Vorschlag zu befinden hatten. Schönbergs Gereiztheit erklärt sich mit dem trägen Fortgang der Vereinigungsarbeit in den Sommermonaten, veranlasst durch die Saumseligkeit von Wöß, der die Noten nicht in Umlauf setzte.42 In seiner Antwort verweist Posa darauf, dass er „Wöss eine (p)urgierende Karte geschrieben“ habe, und belehrt Schönberg: „Der Vorstandsbeschluss über die Versendung der noch nicht angesehenen Werke ist ja schon gefasst. Wir 3 und Wöss haben ja einig die Sache verabredet und Wöss hat mir gesagt, er werde sich zuerst alle Pakete ansehen und dann die Pakete versenden.“ 43 „Wir 3“ – das sind Zemlinsky, Schönberg sowie Posa – und Wöß: Es scheint, als ob vor allem diesem Viergespann die Vereinsangelegenheiten in den Sommermonaten oblagen. Es sind dieselben vier Personen, die sich auch schon im Vorfeld der Gründung aktiv gezeigt hatten, so dass die Vermutung naheliegt, in ihnen die „Macher“ der Vereinigung zu sehen. Mangels weiteren Quellenmaterials – die Korrespondenzen von Wöß oder Gound etwa könnten weitere Erkenntnisse bringen – muss die Rolle der beiden anderen Vorstandsmitglieder Gound und Wolff offen bleiben. Doch angesichts einer sich im übli- 41 Brief Schönbergs an Posa, Mödling, 27. 7. 1904. Wiener Stadtbibliothek, Handschriftensammlung, I. N.109.781. 42 Auch in den Briefen Zemlinskys an Schönberg finden sich entsprechende Bemerkungen: „Was ist denn mit durchzusehenden Vereinswerken – warum geht nichts herum?“ (16. 7.) „Die noch nicht angeschauten Arbeiten gehen nicht herum?“ (undatiert, zwischen 24. und 27. 7.) „An Wöss werde ich schreiben.“ (29. 7.) Siehe H. Weber (Hrsg.), Alexander Zemlinsky. Briefwechsel mit Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Franz Schreker, a. a. O., S. 47, 49 u. 51. 43 Brief Posas an Schönberg, Langenwang, 29. 7. 1904. 261 Wolfgang Behrens chen Rahmen entwickelnden demokratischen Vorstandsarbeit fällt es schwer, eine ausgeprägte Führungsposition von Schönberg oder auch Zemlinsky auszumachen. Dass sich Schönberg schließlich künstlerisch im zweiten Orchesterkonzert der Vereinigung, in dem auch Zemlinsky und Posa gespielt wurden, durch seine symphonische Dichtung Pelleas und Melisande heraushob, steht auf einem anderen Blatt. IV. Aus den bislang zugänglichen Korrespondenzen lassen sich noch einige weitere die „Vereinigung schaffender Tonkünstler“ betreffende Details entnehmen. So schien der Verein auch über die Grenzen Wiens hinaus seine Kreise zu ziehen, wie sich an den auswärtigen Mitgliedschaften und Ehrenmitgliedschaften ablesen lässt: Posa nennt in seinen Briefen neben Richard Strauss noch Max Reger, Hans Pfitzner, Max von Schillings, Siegmund von Hausegger, Julius Röntgen und sogar Jean Sibelius.44 Insbesondere aber ist dank der Quellen die finanzielle Lage der Vereinigung transparent zu machen, die letztlich zu ihrem Scheitern führte: Die einzelnen Mitglieder zahlten Beitrag.45 Die Mittel für die Vereinstätigkeit erhoffte man sich durch Subskription von Karten und finanzkräftige Kunstfreunde aufzubringen. Dabei wurde „von vornherein mit Defizit gerechnet.“46 Letzteres trat auch ein, wodurch Guido Adler mit seiner skeptischen Mahnung zur „musikalischen Realpolitik“ (siehe oben) Recht behielt. Rückblickend auf die Saison 1904/05 schreibt Posa: Die Mittel zu unseren Konzerten wurden durch Subscription von Karten [und] Zeichnung von Beträgen aufgebracht. Das Erfordernis betrug über 20000 K[ronen] (das Orchester für das 1. Konzert kostete allein 4000 K). Eingegangen sind im ganzen 18000 K sodass noch ein Defizit von 2000 K unbedeckt ist. Wie wir das Geld aufbringen werden, wissen wir noch nicht, denn für Konzerte die schon gewesen sind, gibt schwer jemand etwas. Ausserdem müssen wir für die nächste Saison sorgen.47 44 Siehe die Briefe Posas an Schönberg, Langenwang, 12. 7. und 26. 8. 1904, sowie an Röntgen, Wien, 8. 8. 1904. Die Mitgliedschaft Röntgens, die sicherlich auf Betreiben Posas zustande kam, mag erstaunen, da der aus dem Brahms-Umkreis stammende Musiker in der Regel als „konservativer“ Komponist angesehen wird. Eine größere Untersuchung über Röntgen, in dessen Spätwerk sich immerhin ein Bitonale Symphonie findet, steht meines Wissens noch aus. 45 Siehe Brief Posas an Röntgen, Wien, 18. 4. 1904. Als Betrag nennt Posa 12 Kronen (jährlich?) für auswärtige Mitglieder. 46 Ebenda. 47 Brief Posas an Röntgen, Wien, 11. 5. 1905. 262 „… Dieses Jahr war nicht verloren“ Eine zweite Saison sollte es nicht geben. Es kann wohl als sicher gelten, dass das von Posa genannte Defizit der Vereinigung das Genick brach, nicht jedoch das ideelle Scheitern, wie es noch Walter Pass annimmt: Bald tat sich indes eine Kluft zwischen der Erwartung einer grundlegenden Veränderung des erstarrten Musiklebens der Stadt auf der einen Seite und der Enttäuschung darüber, daß man, wie Vancsa [ein Kritiker der „Neuen Musikalischen Presse“] es in einer Rezension [...] resignierend festgestellt hatte, „vorläufig noch vergeblich nach dem bemerkenswerten Talent“ [...] suche, auf der anderen Seite auf. [...] Die Enttäuschung aber über das Fehlen des Neuen in diesem Sinne zerrieb offensichtlich die gut gemeinten Bestrebungen.48 Wenn hier zwar nicht der Grund für das Scheitern der Vereinigung zu suchen ist – immerhin schreibt ja Posa noch am 11. Mai, also zwei Monate nach dem letzten Konzert, von der anstehenden Planung für die zweite Saison –, so trifft Pass doch eine richtige Tendenz, die sich bei Posa folgendermaßen ausdrückt: Die Sache hat insoferne von allem Anfang an Erfolg gehabt, als sofort alle Konzertinstitute Wiens um die Wette neue Werke aufgeführt haben. In Wien sind noch nie in einer Saison soviele Novitäten aufgeführt worden wie heuer und es bleibt der Vereinigung eigentlich für die nächste Zeit wenig zu tun übrig. Die Vereinigung hat sich damit zum mindesten als ein belebender Faktor im musikal. Leben Wiens bewährt. Die Zeitungen haben sich im ganzen schmählich benommen. Sie wollten lauter neue Namen und lauter Meisterwerke von uns haben, vergassen aber ganz dass Namen, die heuer hier jeden Tag zu lesen waren, wie Pfitzner, Reger, vorher in Wien ganz unbekannt waren. Die „Rose vom Liebesgarten“ von Pfitzner, ein Werk das voriges Jahr noch verlacht worden wäre, hat heuer in der Hofoper beim Publicum und in der Presse einen großen Erfolg gehabt. „Feuersnot“ von Rich. Strauss, ein Werk das sehr viel bedeutender ist als die Rose vom Liebesgarten, wurde vor 2 Jahren verlacht und verhöhnt.49 Posa räumt somit ein, dass es eben nicht „lauter neue Namen und lauter Meisterwerke“ zu hören gab, hält jedoch dafür, dass die Vereinigung ihre Mission dennoch erfüllt habe. Ein ideelles Scheitern gibt es für Posa nicht (für die Zeitungen gab es das schon), doch sieht er auch, dass die Erfüllung des selbst gestellten Auftrags die Arbeit der Vereinigung gleichsam überflüssig mache. Man darf aber annehmen, dass nicht dieser „Erfolg“ zum Ende der Vereinigung führte. Nach der Auflösung der Vereinigung, die erst im Herbst 1905 erfolgte, schrieb die Allgemeine Musikzeitung in München, Posas Auffassung von den erreichten Zielen des Vereins stützend: Der Verein junger Tonkünstler, der im vorigen Jahre mit großem Applomb ins Leben gerufen wurde, ist nicht mehr. Sie nannten sich „Vereinigung der Schaffenden“, „Der Abzuschaffenden“ hieß es bald in den Kreisen, in denen man gern Witze macht. [...] Und doch, 48 W. Pass, Schönberg und die „Vereinigung schaffender Tonkünstler in Wien“, a. a. O., S. 300 f. 49 Brief Posas an Röntgen, Wien, 11. 5. 1905. 263 Wolfgang Behrens in Wien war die, wenn auch kurze Existenz eines solchen Vereins eine Notwendigkeit. Wir waren stark zurückgeblieben und mußten aufgerüttelt werden. Diesen Zweck hat der eingegangene Verein vollauf erreicht.50 Der Musikschriftsteller Paul Stefan brachte in seinem Erinnerungsbuch Das Grab in Wien Erfolg und Scheitern des Vereins auf die kürzeste Formel: „Ein Jahr genügte, diese ‚Vereinigung schaffender Tonkünstler‘ zu sprengen, ihre reichen Mittel zu erschöpfen. Aber dieses Jahr war nicht verloren.“51 Komponisten wie Reger, Pfitzner, Strauss oder auch Mahler in Wien durchgesetzt und Komponisten vom Range eines Posa, Gound oder Wöß aufgeführt zu haben, scheint – von einer späteren Warte aus gesehen – kein außerordentliches Ruhmesblatt der avantgardistischen Bewegung zu sein. Es ist nur zu verständlich, wenn daher viele den Anspruch der Vereinigung einzig in Schönberg eingelöst sahen. Doch vielleicht zeigt die Arbeit des Vereins etwas ganz anderes: Das Projekt der Moderne war 1904 und 1905 noch so wenig ausdifferenziert, dass viele darin ihren Platz fanden. Viele Wege standen offen. Schönberg hat schließlich einen davon genommen, und die Geschichtsschreibung hat diesen als den Hauptweg ausgemacht. Den Stand der Avantgarde aber, wie sie als solche 1905 in Wien und darüber hinaus wahrgenommen wurde, hat man nicht allein in Pelleas und Melisande aufzusuchen: Er kann in unzähligen Werken gefunden werden, nicht zuletzt in zahlreichen unbekannten. 50 Zitiert nach M. Jestremski, E. Hilmar, Begegnung mit Arnold Schönberg, Katalog, Duisburg 1993, S. 60. 51 264 P. Stefan, Das Grab in Wien. Eine Chronik 1903–1911, Berlin 1913, S. 38.