Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und

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Die Studie analysiert, wie die verschiedenen Gruppierungen in der SPD auf den gesellschaftlichen
Wandel und die Herausforderung der 68er-Bewegung reagierten, wie Teile der SPD selbst von der
Veränderungsdynamik erfasst wurden und wie die Sozialdemokratie dadurch beeinflusst und
verändert wurde.
Der Autor: Robert Philipps, geb.1978, studierte Geschichte, Politik, Volkswirtschaft und Anglistik in
Bonn. 2005 Magister, 2010 Promotion an der Universität in Bonn. Seit 2010 Referent in der FriedrichEbert-Stiftung.
Robert Philipps
Die in den sechziger Jahren auftretenden politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse, die
ihren eruptiven Ausdruck in den Protestereignissen von 1968 fanden, erschütterten auch die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bis ins Mark. Überwunden geglaubte Konflikte über die grundlegende politische Ausrichtung der Partei brachen neu auf, und vielfältige politkulturelle Veränderungen
brachen sich in der SPD Bahn. Die Partei reagierte „wie ein Seismograph“ (Willy Brandt) auf die
Erschütterungen des gesellschaftlichen Gefüges und wandelte sich dabei grundlegend.
Sozialdemokratie, 68er-Bewegung und
Gesellschaftlicher Wandel 1959-1969
Robert Philipps
ISBN 978-3-8329-7342-1
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Sozialdemokratie,
68er-Bewegung und
Gesellschaftlicher Wandel
1959-1969
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Robert Philipps
Sozialdemokratie,
68er-Bewegung und
Gesellschaftlicher Wandel
1959-1969
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Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zugl.: Philosophische Fakultät
der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Diss., 2010
ISBN 978-3-8329-7342-1
1. Auflage 2012
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2012. Printed in Germany. Alle Rechte, auch
die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
11
I)
Einleitung
13
1)
Die 60er Jahre als Umbruchzeit: Soziokultureller Wandel,
politkultureller Wandel und 68er-Bewegung
Die 68er-Bewegung – historische Einordnung und Begriffsbestimmung
„Alte Linke“ und „Neue Linke“
Fragestellung und Erkenntnisinteresse, Quellen und Methodik
Forschungsstand
13
21
27
31
40
Die Godesberger Wende und die „Entideologisierung“ der SPD in den
60er Jahren
45
2)
3)
4)
5)
II)
1)
2)
Die marxistischen Traditionen der SPD
Die Godesberger Wende und die „Gemeinsamkeitspolitik“ in den 60er
Jahren
53
III) SPD-Parteiführung, sozialdemokratische Parteijugend und Neue Linke
1959 bis 1966
64
1)
2)
3)
45
Der Konflikt zwischen der SPD und der Neuen Linken im SDS bis 1961 65
Grundzüge der weiteren Entwicklung des SDS zum Motor der
68er-Bewegung
74
a) Theorien und Gesellschaftskritik
75
b) Aktionsstrategien und Aktionsformen
85
Der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB) im Spannungsfeld
zwischen Parteiloyalität und Außerparlamentarischer Opposition
90
a) Der SHB als politisch-ideeller und politkultureller Gegenentwurf
zum SDS
90
b) Anzeichen des beginnenden Wandels
105
c) Politisch-ideelle und politkulturelle Umbrüche im SHB – Der
Wandel des SHB vom parteifrommen Studentenverband zur
kritischen Kraft in der SPD
109
7
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4)
d) Notstandsgesetze, Vietnamkrieg, innerparteiliche Demokratie –
Der SHB im Zeichen der wachsenden Außerparlamentarischen
Opposition
Die Jungsozialisten zwischen „braver Parteijugend“ und
innerparteilicher Opposition
a) Die „brave“ Parteijugend in den 50er Jahren
b) Die Jungsozialisten im Zeichen der „Entideologisierung“ – Jusos
und Godesberger Wende
c) Innerparteiliche Opposition bei den Jungsozialisten Hessen-Süd
d) Politische und politkulturelle Umbrüche bei den Jungsozialisten
IV) SPD-Parteiführung, sozialdemokratische Parteijugend und
68er-Bewegung 1967 bis 1969
1)
2)
3)
4)
8
Die Bildung der Großen Koalition als Motor der weiteren
Entfremdung zwischen der SPD und Außerparlamentarischer
Opposition
Innerparteiliche Reaktionen auf die Bildung der Großen Koalition
a) Jungsozialisten
b) SHB
Die Ereignisse des 2. Juni 1967 und die Entstehung der
68er-Bewegung
Die Reaktionen der Parteieliten der SPD auf die Entstehung der
68er-Bewegung
a) Erste Reaktionen der Parteiführung auf die Entstehung der
68er-Bewegung
b) Die Kommentierung der 68er-Bewegung in der Parteipresse
der SPD
c) Unruhe an der Parteibasis – Die Auseinandersetzung mit der
68er-Bewegung auf der Bundeskonferenz der SPD im Herbst 1967
d) Frühjahr 1968 – Anzeichen wachsender Distanz zur
68er-Bewegung
e) Der Nürnberger Bundesparteitag der SPD vom März 1968 im
Zeichen der Auseinandersetzung mit der 68er-Bewegung
f) Das Attentat auf Rudi Dutschke, die „Osterunruhen“ und die
Reaktionen der Parteiführung der SPD
g) Die Folgen des Wahldebakels der SPD bei den BadenWürttembergischen Landtagswahlen für das Verhältnis der SPD
zur 68er-Bewegung
h) Der Jugendkongress der SPD und die Angst vor der
„Weimarisierung“ der Bundesrepublik
128
167
168
172
180
201
209
212
214
216
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235
236
256
264
281
287
298
309
312
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5)
Zwischen außerparlamentarischer und innerparteilicher Opposition:
Parteilinke, Jungsozialisten und SHB auf Konfliktkurs zur
Parteiführung
a) APO und Parteilinke
b) Unterwanderung der SPD? Die Jungsozialisten als
Transmissionsriemen zwischen APO und SPD
c) Der SHB zwischen außerparlamentarischer und
innerparteilicher Opposition
324
325
333
375
V)
Einflüsse der 68er-Bewegung auf Programm und Profil der SPD
1)
„Mehr Demokratie wagen“ – Die 68er-Bewegung als Katalysator der
Reform- und Demokratisierungsbestrebungen der SPD
420
„Unter den Talaren – Muff von Tausend Jahren“ – Der Einfluss der
68er-Bewegung auf die hochschulpolitische Programmatik der SPD
435
„Ich protestiere gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam – ich bin
SPD-Mitglied!“ – APO, SPD und der Krieg in Vietnam
449
2)
3)
420
VI) Zusammenfassung
456
Quellen- und Literaturverzeichnis
465
9
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I) Einleitung
1) Die 60er Jahre als Umbruchzeit: Soziokultureller Wandel, politkultureller
Wandel und 68er-Bewegung
Die 1960er Jahre sind seit geraumer Zeit in den Fokus des Interesses der zeithistorischen Forschung geraten. Vor allem der durch die Forschung mehr und mehr
zu Tage tretende Umbruchcharakter dieser Dekade nährt die Faszination der
Forscher und den Willen zu erhellenden Detailuntersuchungen: Unter den Zeithistorikern besteht weitgehende Übereinstimmung, dass die 60er Jahre als Umbruchszeit zu charakterisieren sind, in der sich eine Fülle von politischen, ökonomischen und soziokulturellen Veränderungen Bahn brachen.1 Die Bedeutung
dieser Transformationsphase für die Geschichte der Bundesrepublik wird meist
als so gravierend erachtet, dass von einem „Scharnierjahrzehnt“2, einer „zweiten
Gründung der Bundesrepublik“3 oder gar einer „Umgründung der Republik“4 die
Rede ist.
Die These vom Umbruchcharakter der 60er Jahre lässt sich aus verschiedenen
Perspektiven begründen. Politisch fallen in diese Zeit die Festigung des Status-
1
2
3
4
Vgl. die umfassenden Sammelbände mit Beiträgen zu den verschiedenen Dimensionen
des Umbruchs: Axel Schildt/Detlev Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Matthias Frese/Julia Paulus/Karl Teppe (Hrsg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher
Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003; Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der 60er Jahre, München 2003; zudem: Klaus Schönhoven, Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der sechziger Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 123-145.
Weiterhin sind zwei in den USA publizierte Sammelbände zu nennen, die einen Überblick über die Ergebnisse der amerikanischen Forschung zum soziokulturellen Wandel
der 1950er und 1960er Jahre in der Bundesrepublik bieten: Robert G. Möller (Hrsg.),
West Germany under Construction. Politics, Society and Culture in the Adenauer Era,
Ann Arbor 1997; Hanna Schissler (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of
West Germany, 1949-1968, Princeton 2001.
Klaus Schönhoven, Auf- und Umbrüche in der Bundesrepublik Deutschland während der
1960er Jahre, in: Oliver v. Mengersen/Matthias Frese/Klaus Kempter u.a. (Hrsg.), Personen. Soziale Bewegungen. Parteien. Beiträge zur Neuesten Geschichte. Festschrift für
Hartmut Soell, Heidelberg 2004, S. 445-461, S. 450.
Helga Grebing, Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Revolution, Reform und
Etatismus, Mannheim 1993, S. 70. Grebing verortet die Umwälzungen vor allem in die
Zeitspanne der Großen Koalition.
Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 475.
13
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Quo des Kalten Krieges und damit auch die Zementierung der deutschen Teilung. Zugleich gab es erste Versuche der Supermächte, die direkte militärische
Konfrontation abzuschwächen und zu mehr Kooperation und Entspannung zu
gelangen. Die Infragestellung des Alleinvertretungsanspruches und die Entstehung einer neuen deutschlandpolitischen Konzeption im Umfeld von Willy
Brandt – in der bekannten Formel „Wandel durch Annäherung“ auf den Begriff
gebracht – bezeichnen die Ansätze einer ost- und deutschlandpolitischen Umorientierung.5 Auch auf innerpolitischem Terrain schien eine neue Zeit angebrochen
zu sein. Auf die langen Jahre der Adenauerschen „Kanzlerdemokratie“6 folgten
Regierungen von relativ kurzer Dauer, und die alten parteipolitischen Fronten
lockerten sich zunehmend auf. Mit der Bildung der Großen Koalition im Dezember 1966 war die Sozialdemokratie – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik – im Bund an der Regierung beteiligt.
Die Charakterisierung der 60er Jahre als Dekade des Umbruchs rechtfertigt
sich aber vor allem aufgrund weitreichender politkultureller und soziokultureller
Veränderungen.7 Der rasante wirtschaftliche Aufschwung in den „langen fünfziger Jahren“8 ermöglichte einen beispiellosen Wohlstandszuwachs,9 der zur massenhaften Verbreitung von Konsumgütern wie Kühlschrank, Auto und Fernseher, die zuvor als Luxus gegolten hatten, und zur Verbesserung des Wohnkomforts führte.10 Zusammen mit einer spürbaren Verkürzung der Arbeitszeit11 und
5
6
7
8
9
10
14
Siehe dazu: Peter Bender, Neue Ostpolitik. Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag,
München 1986.
Anselm Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale der Kanzlerdemokratie, in: Der Staat 30
(1991), S. 1-18.
Vgl. Paul Erker, Zeitgeschichte als Sozialgeschichte. Forschungsstand und Forschungsdefizite, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 202-238. Soziokulturelle Veränderungen sind allerdings – im Gegensatz zu politikgeschichtlichen Eckdaten – nie eindeutig
chronologisch zuzuordnen. Die Forschung geht beispielsweise davon aus, dass viele Veränderungen bereits in den späten 50er Jahren einsetzten, in diesem Sinne: Schönhoven,
Aufbruch, S. 127f.
Werner Abelshauser, Die Langen Fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949-1966, Düsseldorf 1987. Zur wirtschaftlichen Entwicklung
in der Bundesrepublik siehe auch: Gerd Hardach, Krise und Reform der Sozialen Marktwirtschaft. Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik der 50er
und 60er Jahre, in: Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten, S. 197-217.
Die monatlichen Nettoeinkommen der Arbeiter- sowie der Angestellten- und
Beamtenhaushalte stiegen in den 60er Jahren um ca. 50 Prozent, vgl. Axel Schildt,
Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in
der Bundesrepublik, in: Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten, S. 21-53, S. 26.
Vgl. Werner Polster/Klaus Voy, Eigenheim und Automobil – Materielle Fundamente der
Lebensweise, in: Klaus Voy u.a. (Hrsg.), Gesellschaftliche Transformationsprozesse und
materielle Lebensweise. Beiträge zur Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1949-1989), Marburg 1991, S. 263-320. Vgl. auch: Wolfgang
Ruppert, Zur Konsumwelt der 60er Jahre, in: Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten, S.
752-767.
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der anlaufenden Bildungsexpansion12 revolutionierte diese Entwicklung die
Alltagswelt der Menschen und leitete einen fundamentalen gesellschaftlichen
Werte- und Kulturwandel ein. In einer Situation weitgehender materieller Abgesichertheit und verbesserter Bildung büßten traditionelle Grundwerte – auch als
die klassischen „bürgerlichen“ Werte identifiziert – und Grundtugenden wie
Pflichtgefühl, Fügsamkeit und Gehorsam, Verzicht, Disziplin, Leistungsbereitschaft und Fleiß an gesellschaftlicher Dominanz ein, während hedonistische,
individualistische, sogenannte postmaterialistische Werte insbesondere bei den
jüngeren Altersgruppen zunahmen. Im weitesten Sinne spricht die Forschung
von einer allgemeinen Höherschätzung der Ideale von Freiheit, Emanzipation,
individueller Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung sowie hedonistischer
Werte wie Genuss, Erfüllung, Ungebundenheit und Abwechslung.13
Im Zusammenhang mit dem „Wirtschaftswunder“ und der Entfaltung nie gekannter Konsummöglichkeiten für alle Schichten der Bevölkerung14 beschleunigte sich der Prozess der Auflockerung traditioneller sozialer Milieus und lebensweltlicher Bindungen, insbesondere im Hinblick auf Arbeiterschaft15 und
11
12
13
14
15
Dazu genauer: Edwin Schudlich, Die Abkehr vom Normalarbeitstag. Entwicklung der
Arbeitszeiten in der Industrie der Bundesrepublik seit 1945, Frankfurt/Main 1987, S.
46ff.
Siehe: Oskar Anweiler, Bildungspolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland
seit 1945. Hrsg. v. Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Bundesarchiv, Bd. 4:
Bundesrepublik Deutschland 1957 – 1966. Sozialpolitik im Zeichen des erreichten
Wohlstands, hrsg. v. Michael Ruck/Marcel Boldorf, Baden-Baden 2007, S. 613-642.
Zwischen 1961 und 1971 wurde das wissenschaftliche Personal an den Hochschulen sogar verdreifacht, und zwischen 1965 und 1975 wurden bundesweit 25 neue Universitäten
gegründet, vgl. George Turner, Hochschule zwischen Vorstellung und Wirklichkeit. Zur
Geschichte der Hochschulreform im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, Berlin 2000, S.
23, S. 33.
Vgl. Helmut Klages, Traditionsbruch als Herausforderung. Perspektiven der Wertewandelsgesellschaft, Frankfurt/Main 1993; ders., Wertorientierungen im Wandel. Rückblick,
Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/Main 1984; Peter Ph. Mohler, Wertewandel in
der Bundesrepublik in den sechziger Jahren. Ein „Top Down“- oder ein „Bottom Up“Prozess?, in: Helmut Klages (Hrsg.), Werte und Wandel. Ergebnisse und Methoden einer
Forschungstradition, Frankfurt/Main 1992, S. 40-68; Andreas Rödder/Wolfgang Elz, Alte
Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008; Ronald Inglehart,
The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles Among Western Publics,
Princeton 1977; Elisabeth Noelle-Neumann, Die stille Revolution. Wandlungen im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung, in: Dies. (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 7: 1976-1977, S. VII – XXXIX, Wien 1977.
Vgl. Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008, S. 131ff.
Vgl. Josef Mooser, Abschied von der „Proletarität“. Sozialstruktur und Lage der Arbeiterschaft in der Bundesrepublik in historischer Perspektive, in: Werner Conze/M. Rainer
Lepsius (Hrsg.), Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, S. 143-186.
15
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Katholizismus.16 Rechnet man zudem noch den ökonomischen Strukturwandel
von der Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft mit ein, der mit einem
deutlichen Rückgang der Zahl der Arbeiter zwischen 1960 und 1970 einherging,17 führten diese Entwicklungen letztlich zum Ende der alten Arbeiterbewegung und ihrer „proletarischen Kultur“ und zur „Auflösung des Katholizismus
als Sozialform“.18 Das Aufkommen neuer „Lebensstile“, neuer Umgangsformen,
neuer Verhaltensmuster im Zusammenhang mit neuartigen Konsummöglichkeiten, Wertewandel und der gewachsenen Bedeutung der Freizeitgestaltung kennzeichnet somit die soziokulturelle Transformationsphase der 60er Jahre.19
Materielle Wohlstandszuwächse und postmaterialistische Lebenseinstellungen
stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang und wirkten sich auch auf die
politischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Menschen – sprich auf die
politische Kultur20 der bundesrepublikanischen Gesellschaft – aus:21 Mit der
gesicherten Existenz entstanden kreative Freiräume und neue Spielräume für
16
17
18
19
20
21
16
Vgl. Karl Gabriel, Zwischen Aufbruch und Absturz in die Moderne. Die katholische
Kirche in den 60er Jahren, in: Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten, S. 528-543.
Zur Entwicklung der Beschäftigungsstruktur vgl. zum Beispiel: Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, Frankfurt/Main 1984, S. 28ff.
Vgl. Gabriel, Zwischen Aufbruch und Absturz, S. 540. Klaus Schönhoven spricht von
einer „Entfesselung des katholischen Konfessionsmilieus und des sozialistischen Arbeitermilieus“, vgl. Schönhoven, Aufbruch, S. 139.
Siehe etwa: Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart,
6. Aufl., Frankfurt/Main 1996, umfassend und international vergleichend zum kulturellen
Wandel der Zeit: Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hrsg.), Between Marx and Coca-Cola.
Youth Cultures in Changing European Societies 1960-1980, New York 2006; Arthur
Marvick, The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the United States,
1958-1974, Oxford 1998.
Der Begriff der „politischen Kultur“ bezeichnet in dieser Arbeit die – zum Teil unbewusst und unhinterfragt existierenden – politisch relevanten Einstellungen und Wertorientierungen einer sozialen Gruppe sowie die – zum Teil daraus erwachsenden – politischen Umgangsformen, Verhaltensweisen und Habitusformen. Einen guten Überblick
über die unterschiedlichen Verwendungsweisen und Bedeutungsinhalte dieses „schillernden Begriffs“ liefert: Dieter Gosewinkel/Gunnar Folke Schuppert, Politische Kultur. Auf
der Suche nach Konturen eines schillernden Begriffs, in: Dieter Gosewinkel/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit, Berlin 2008, S. 1140. Siehe des weiteren: Jürgen Kocka/Jürgen Schmidt, Politische Kultur aus historischer
Perspektive, in: Ebenda, S. 41-61; Susanne Pickel/Gert Pickel, Politische Kultur- und
Demokratieforschung. Grundbegriffe, Theorien, Methoden. Eine Einführung, Wiesbaden
2006.
Vgl. Oscar W. Gabriel, Politische Kultur, Postmaterialismus und Materialismus in der
Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1986; Ronald Inglehart, Wertwandel in den westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten, in: Helmut Klages/Peter Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt/Main 1979, S. 279-316; Klages, Traditionsbruch, S. 69153.
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politische und gesellschaftliche Erwartungshaltungen.22 Besonders die jüngeren
Altersgruppen – vor allem die, die Krieg, Zusammenbruch und wirtschaftliche
Not nicht mehr erlebt hatten – gaben sich tendenziell nicht mehr mit materieller
Sicherheit zufrieden, sondern forderten die Einlösung immaterieller Werte wie
Partizipation, Demokratie, Freiheit, Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung. Sie wurden aktivistischer, rebellischer, misstrauischer und kritischer gegenüber dem eigenen System und der eigenen Gesellschaft und forderten über
das Wählen hinausgehende Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten in politischen Angelegenheiten. Insbesondere die „68er-Generation“23 – vor allem natürlich die Aktivisten der jugendlich-studentisch geprägten Außerparlamentarischen
Opposition (APO) der ausgehenden 60er Jahre mit ihrem neuartigen Angebot an
Protest-, Aktions- und Beteiligungsformen – wurde zu einem wesentlichen Mo-
22
23
Detlev Siegfried beschreibt diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Die Ausdehnung
der Möglichkeitshorizonte stand in einem dynamischen Wechselverhältnis mit der Ausdehnung der Erwartungshorizonte: Mit der Nutzung der neuen Spielräume durch die sozialen Akteure entstanden sogleich Zukunftshoffnungen und Reformerwartungen, die das
besondere Aufbruchklima der Zeit prägten.“ Vgl. Detlev Siegfried, Weite Räume, schneller Wandel. Neue Literatur zur Sozial- und Kulturgeschichte der langen 60er Jahre in
Westdeutschland, in: H-Soz-u-Kult, 12.12.2002, http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/rezensionen/id=2327, URL besucht am 10.01.2010; in diesem Sinne auch: Axel
Schildt/Detlef Siegfried, Youth, Consumption, and Politics in the Age of Radical Change,
in: Dies. (Hrsg.), Between Marx and Coca-Cola, S. 1-35.
In der Literatur werden damit in der Regel die Jahrgänge bezeichnet, die zwischen Ende
der dreißiger und Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts geboren wurden, vgl. etwa:
Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt Main
1995. Verbreitet ist weithin, zumindest in der Geschichtswissenschaft, das Generationenkonzept Karl Mannheims und das darauf aufbauende Konzept der „politischen Generationen“ Helmut Fogts. Danach bringen bestimmte gemeinsame Lebenserfahrungen und
Lebensprägungen verwandter Jahrgänge oft ähnliche Deutungs-, Denk- und Verhaltensweisen hervor. Nach Mannheim bilden die Personen, die in diesem Sinne das Erlebte in
ähnlicher Weise verarbeiten und ähnliche Verhaltens- und Einstellungsweisen daraus
entwickeln, eine „Generationseinheit“. In diesem Sinne wird der Begriff der „Generation“ in dieser Arbeit verwendet – so er nicht explizit als zeitgenössischer Topos wiedergegeben wird. Vgl. zum oben angeführten: Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), Nr. 2, S. 157-185, Nr. 3, S.
309-330; Helmut Fogt, Politische Generationen. Empirische Bedeutung und theoretisches
Modell, Opladen 1982; Beate Fietze, Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Identität, Bielefeld 2009, S. 72-90. Nicht
zu vernachlässigen sind aber weiterhin Faktoren jenseits der Alterzugehörigkeit wie soziale Schichtung, Geschlecht etc. Zur Problematik des Generationsbegriffes siehe: Hans
Jaeger, Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption,
in: GG 3 (1977), S. 429-472; Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; Ulrike Jureit, Generationenforschung, Göttingen 2006.
17
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tor einer gesamtgesellschaftlichen Politisierung24 und der sogenannten „partizipatorischen Revolution“.25
Das steigende Interesse an Politik und die gewachsene Bereitschaft zum politischen Engagement waren Teil einer breit gefächerten politkulturellen Liberalisierung, im Zuge derer obrigkeitsstaatliche Traditionen und Denkmuster mehr
und mehr abgelöst wurden. Waren noch in den 50er Jahren „die politischen Einstellungen eher auf Autorität und Konfliktvermeidung ausgerichtet“26, die Akzeptanz kontroverser politischer Debatte und Kritik kaum ausgeprägt und die
Wertschätzung individueller Freiheit gering,27 änderten sich die Dispositionen
diesbezüglich in den 60er Jahren rasant. Insbesondere die jüngeren Altersgruppen – auch, aber keineswegs nur die 68er-Generation28 – betonten die Bedeutung
politischer Kritik und kontroverser öffentlicher Diskussion und pochten auf die
Begrenzung staatlicher Autorität – etwa anlässlich der sogenannten SpiegelAffäre.29 Zahlreiche gesellschaftliche Normen sowie staatliche Vorgaben und
staatliches Handeln wurden nun von einer kritischen Öffentlichkeit hinterfragt
und auf ihre Vereinbarkeit mit liberaldemokratischen Grundsätzen geprüft. Dies
24
25
26
27
28
29
18
Politisierung meint hier und im Folgenden den Anstieg des politischen Interesses und die
wachsende Teilnahme an der Auseinandersetzung über gesellschaftliche und politische
Fragen.
Zur „partizipatorischen Revolution“ grundlegend: Samuel H. Barnes/Max Kaase u.a.,
Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills 1979;
sowie: Max Kaase, Partizipatorische Revolution – Ende der Parteien?, in: Joachim
Raschke (Hrsg.), Bürger und Parteien. Ansichten und Analysen einer schwierigen Beziehung, Bonn 1982, S. 173-189. Siehe auch: Karl A. Otto, APO. Außerparlamentarische
Opposition in Quellen und Dokumenten (1960-1970), Köln 1989, S. 42f; Detlef Siegfried, Vom Teenager zu Pop-Revolution. Politisierungstendenzen in der westdeutschen
Jugendkultur 1959-1968, in: Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten, S. 582-623; grundlegend jüngst auch: Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der
westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006.
Moritz Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft, in: Ulrich Herbert
(Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung
1945 – 1980, Göttingen 2002, S. 245-277, S. 248.
Zum Beispiel: Doering-Manteuffel, Strukturmerkmale, S. 1-18; Christoph Kleßmann,
Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955 – 1970, 2. Aufl., Bonn 1997, S.
58ff.
Es scheint in der jüngeren Forschung mittlerweile Einigkeit darin zu bestehen, dass die
politkulturelle Liberalisierung entscheidend gerade von der sogenannten „45erGeneration“ vorangetrieben wurde. Siehe diesbezüglich: Dirk Moses, Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung 40 (2000), S. 233263; Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: Ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse, S. 7-49, S. 44f.;
auch: Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Zum Wandel der westdeutschen
Medienöffentlichkeit, Göttingen 2006, bes. S. 245ff.
Zur „Spiegel-Affäre“ immer noch instruktiv: Jürgen Seifert (Hrsg.), Die Spiegel-Affäre,
2 Bde., Olten/Freiburg 1966; Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
S. 381-386.
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mündete in eine reformerische Aufbruchsstimmung, die Ende der 60er Jahre im
Ruf nach durchgreifender „Demokratisierung“ von Staat und Gesellschaft kulminierte.30
Der politkulturelle Wandel der Zeit erschöpfte sich aber nicht in einer Liberalisierung und Demokratisierung der Einstellungen und Verhaltensmuster, sondern war ambivalenter – insbesondere wenn man die politischen und politkulturellen Dispositionen der 68er-Generation in den Blick nimmt. Die Zunahme der
hedonistischen Wertorientierungen führte auch dazu, dass traditionelle bürgerliche Basiswerte abnahmen, die für das Funktionieren einer Demokratie unabdingbar sind wie Aufschub von Befriedigung, Selbstkontrolle, Rationalität und
Pflichtbewusstsein. Die politische Kultur wurde dadurch nicht gerade liberaler,
weil im politischen Diskurs, in den politischen Auseinandersetzungen nun oftmals Subjektivität, Emotionalität, Ungeduld und Intoleranz anstelle von Rationalität, Sachlichkeit und Toleranz vorherrschten. Viele junge Aktivisten der Außerparlamentarischen Opposition der ausgehenden 60er Jahre steigerten zudem
ihren emanzipatorischen und partizipatorischen Anspruch zu einer Radikalkritik
an den bestehenden Verhältnissen, die die repräsentative Demokratie von Grund
auf infrage stellte.
Bei einem erheblichen Teil dieser radikalen Linken der APO schlug die kritische Grundstimmung um in eine kritiklose, leidenschaftliche Identifikation mit
neomarxistischen, geschichtsphilosophischen Gesamtlösungen, die eine immanent totalitäre Dimension in sich trugen.31 Im radikalen Kern der APO sowie in
den verschiedenen maoistischen Sekten des „roten Jahrzehnts“32 waren avantgardistisch-antidemokratische und „neototalitär[e]“33 Geisteshaltungen verbreitet
– die sich unter anderem in einer dezidiert antiliberalen Diskussionskultur offenbarten.34 Auch bei dem weniger systematisch und radikal denkenden Teil der
jungen Generation sowie einem erheblichen Teil der linken Intellektuellen etab-
30
31
32
33
34
Vgl. Herbert, Liberalisierung; Scheibe, Auf der Suche nach der demokratischen Gesellschaft; Matthias Frese/Julia Paulus, Geschwindigkeiten und Faktoren des Wandels – die
1960er Jahre in der Bundesrepublik, in: Frese u.a. (Hrsg.), Demokratisierung, S. 1-23.
Vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Deutsche Kulturrevolution 19671977, 2. Aufl., Frankfurt/Main 2004, bes. S. 24; Kurt Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1976; Klaus
Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963-1969 (Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Karl Dietrich Bracher u.a., Bd. 4), Stuttgart 1984, S. 365ff.,
S. 417ff.; sehr zugespitzt: Götz Aly, Unser Kampf. 1968 – ein irritierter Blick zurück,
Frankfurt/Main 2008.
Koenen, Jahrzehnt.
Hermann Lübbe, Der Mythos der „kritischen Generation“. Ein Rückblick, in: APuZ, B 20
(1988), S. 17-25, S. 20.
Dazu etwa: Wulf Schönbohm, Die 68er: politische Verirrungen und gesellschaftliche
Veränderungen, in: APuZ, B 14-15 (2008), S. 16-21.
19
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lierte sich eine misstrauische, ja feindliche Haltung gegenüber der politischen
und sozialen Ordnung der Bundesrepublik und des Westens insgesamt.35 Der
Wandel der politischen Kultur und der politischen Einstellungen in den 60er und
70er Jahren war also vielschichtig und ambivalent, ist jedenfalls mit dem Leitbegriff der „Liberalisierung“ alleine nicht hinreichend beschrieben.
Wertewandel, mentale, politkulturelle und soziokulturelle Veränderungen der
„langen sechziger Jahre“36 betrafen also besonders die jüngeren Altersgruppen
der Gesellschaft, und zwar im Kern in allen westlichen Industriegesellschaften.37
Diese Veränderungsprozesse bergen nach überwiegender Meinung die tieferen
Ursachen für das Aufkommen jugendlich geprägter politischer und gegenkultureller Proteste in den ausgehenden 60er Jahren.38 Denn in den jüngeren Generationen veränderten sich nun die Erwartungshaltungen an Politik und Staat im Sinne der Einforderung bestimmter postmaterialistischer Werte, Ziele bzw. Politikinhalte, Forderungen, die von den älteren Generationen ganz oder zum Teil
zurückgewiesen wurden. Die diametral unterschiedlichen Erfahrungswelten der
Generationen – hier Krieg und Not, da politische Stabilität, „Wirtschaftswunder“, materielle Sorglosigkeit – verstärkten also den zu allen Zeiten existierenden
Generationenkonflikt ungemein. Die Proteste von „1968“ waren demnach auch
35
36
37
38
20
Vgl. Kurt Sontheimer, Die verunsicherte Republik. Die Bundesrepublik nach 30 Jahren,
München 1979, S. 7ff; Klages, Traditionsbruch, S. 79-153. Zum Zusammenhang zwischen Wertewandel und Vertrauensverlust ins politische System siehe: Ebenda, S. 120ff ;
Helmut Klages/Willi Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug. Untersuchungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik, Frankfurt/Main 1983, S. 45ff. Auf die im europäischen Vergleich besonders antiwestliche Haltung der Linksintellektuellen in der Bundesrepublik weist hin: Tony Judt, Die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg, Bonn
2006, S. 467-473.
Als die „langen sechziger Jahre“ wird in der Forschung die Zeit von 1958 bis 1973
bezeichnet, die im Hinblick auf die skizzierten Umbrüche als die entscheidenden Jahre
des Wandels gelten müssen.
Vgl. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, 6.
Aufl., München 2003, S. 402ff.
Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.), Wo ‚1968’ liegt. Reform und Revolte
in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006; Frese u.a. (Hrsg.), Demokratisierung; Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten; Thomas Etzemüller, 1968 – Ein Riss in
der Geschichte? Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland
und Schweden, Konstanz 2005; Schildt/Siegfried (Hrsg.), Between Marx and Coca-Cola;
Detlef Siegfried, Understanding 1968. Youth Rebellion, Generational Change and Postindustrial Society, in: Ebenda, S. 59-81; Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre
und Zäsur, Hamburg 2000, S. 344f.; Claus Leggewie, 1968: Ein Laboratorium der nachindustriellen Gesellschaft?, in: APuZ, B 20 (1988), S. 3-15; Michael Kimmel, Studentenbewegungen der 60er Jahre. Frankreich, BRD und USA im Vergleich, Wien 1998, S.
127-131.
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Ausdruck eines Generationenkonfliktes, verursacht und ausgelöst durch Ungleichzeitigkeiten des politkulturellen und mentalen Wandels.39
Andererseits begründeten die Träger der Proteste ihr Handeln mit bestimmten
konkreten politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen Ereignissen oder Zuständen – man denke an den Vietnamkrieg, die Ordinarienuniversität oder an das
Verschwinden jeglicher Fundamentalopposition im Bundestag. In diesem Sinne
war die Außerparlamentarische Opposition auch eine „soziale Bewegung“ bzw.
eine „Protestbewegung“, die auf politische, ökonomische, gesellschaftliche Realitäten ihrer Zeit reagierte und diese verändern wollte.40
Die spezifische Dynamik und Radikalität der Protestereignisse der ausgehenden 60er Jahre lässt sich – so die These – nur durch das Zusammenwirken eines
durch längerfristige Trends des Werte- und politkulturellen Wandels verursachten Generationenkonfliktes mit zum Widerspruch provozierenden konkreten
politischen, sozialen und kulturellen Ereignissen und Entwicklungen erklären.41
2) Die 68er-Bewegung – historische Einordnung und Begriffsbestimmung
40 Jahre nach den Ereignissen hat die Debatte um die historische und politische
Einordnung und Bewertung der Protestbewegungen von „1968“ an Kontroverse
kaum etwas verloren.
39
40
41
Vgl. etwa: Beate Fietze, 1968 als Symbol der ersten globalen Generation, in: Berliner
Journal für Soziologie 7 (1997), Nr. 3, S. 365-386; Detlef Siegfried, ‚Trau keinem über
30’? Konsens und Konflikt der Generationen in der Bundesrepublik der langen sechziger
Jahre, in: APuZ B 45 (2003), S. 25-32, S. 29; Koenen, Jahrzehnt, S. 77-81.
Diese Ansicht vertreten die „Bielefelder“ um Ingrid Gilcher-Holtey, vgl. Ingrid GilcherHoltey (Hrsg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998; dies., „Die Phantasie an die Macht“. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt/Main
1995; dies., Die 68er Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, München 2001. Kritik an diesem Ansatz in: Kraushaar, Mythos, S. 262-269. Für Gegenargumente zu Kraushaars Einwänden siehe: Stefan Hemler, Soziale Bewegung oder Generationenkonflikt?
Ein Schlichtungsvorschlag im Deutungskampf um ‚1968’, in: Vorgänge. Zeitschrift für
Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik 42 (2003), H. 4, S. 32-40, S. 33. Grundlegend zum
Konzept der „Sozialen Bewegungen“: Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss, Frankfurt/Main 1988. Einen aktuellen Überblick über die
Forschungslage bietet: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in
Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt/Main 2008.
Ähnlich auch: Hemler, Soziale Bewegung oder Generationenkonflikt? Für frühere Ursachenzuschreibungen, vor allem die in den 70er Jahren, siehe: Otto, APO in Quellen und
Dokumenten, S. 9-46; Klaus Allerbeck, Soziologie radikaler Studentenbewegungen. Eine
vergleichende Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten
Staaten, München 1973.
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Die einen sehen „1968“ als Katalysator einer gesellschaftlichen und politkulturellen „Fundamentalliberalisierung“.42 Nach dieser Sichtweise sind zwar die
politischen Kernziele der Außerparlamentarischen Opposition gescheitert, zum
Teil unintendiert hätten die Revoltierenden aber zur Politisierung und Mobilisierung des politischen Engagements und zur Durchsetzung liberalerer Verhaltensmuster und Einstellungen in gesellschaftlichen und politisch-staatlichen Bereichen beigetragen. Die Ereignisse von „1968“ hätten den längerfristig angelegten
soziokulturellen und mentalen Wandel in Richtung „Liberalisierung“ und Demokratisierung verstärkt und vorangetrieben, auch wenn das spezifische „Überlagerungs-, Durchdringungs- und Beschleunigungsverhältnis zu bereits angelegten, längerfristigen Entwicklungstrends von Politik, Gesellschaft und Kultur“43
bislang nicht abschließend erforscht sei.44 Die Protestbewegung von 1968 wird
nach dieser Interpretation nicht anhand bestimmter extremer politischer Kernziele einiger radikaler Gruppierungen beurteilt, sondern nach mehr oder weniger
unintendierten Breitenwirkungen im Kulturellen und Politkulturellen. Als unausgesprochene Bewertungsgrundlage fungiert zudem häufig die Einschätzung,
jenseits der politischen Radikalismen einiger Protagonisten der Bewegung habe
eine breite Mehrheit im Kern eine „innere Demokratisierung“ bzw. ein „Mehr an
Partizipation, Mitverantwortung, Emanzipation, Transparenz, Chancengleichheit,
sozialer Gerechtigkeit sowie Menschen und Bürgerrechten“45 angestrebt.
Die anderen, Kritiker der Protestbewegung von „1968“, fokussieren in der
Regel auf bestimmte Kerngruppierungen der APO wie den Sozialistischen Deut42
43
44
45
22
So Jürgen Habermas in: Der Marsch durch die Institutionen hat auch die CDU erreicht,
in: FR, 11.3.1988.
Franz-Werner Kersting, Entzauberung des Mythos? Ausgangsbedingungen und Tendenzen einer gesellschaftlichen Standortbestimmung der westdeutschen „68er“-Bewegung,
in: Westfälische Forschungen – Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 48 (1998), S. 1-19, S. 12.
In diese Richtung tendieren die Sammelbände: Frese u.a. (Hrsg.), Demokratisierung;
Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten; Herbert (Hrsg.); Wandlungsprozesse; Westfälische Forschungen 48 (1998); auch: Otto, APO in Quellen und Dokumenten, S. 42f.;
Christoph Kleßmann, 1968 – Studentenrevolte oder Kulturrevolution?, in: Manfred Hettling (Hrsg.), Revolution in Deutschland? 1789-1989. Sieben Beiträge, Göttingen 1991, S.
90-105; Kraushaar, Mythos, S. 47f.; Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 137f.; Lothar Rolke, Protestbewegungen in der Bundesrepublik.
Eine analytische Sozialgeschichte des politischen Widerspruchs, Opladen 1987, S. 295.
Zahlreiche andere Monographien, die der Protestbewegung einen demokratisierenden
und liberalisierenden Effekt zuschreiben, sind aufgezählt in: Kraushaar, Mythos, S. 259,
Anm. 8; siehe auch: Wolfgang Weber, Die „Kulturrevolution“ 1968, in: Volker Dotterweich (Hrsg.), Kontroversen der Zeitgeschichte. Historisch-politische Themen im Meinungsstreit, München 1998, S. 207-228.
Dies sieht Kersting – und mit ihm viele andere – als den politischen Wesenskern der
ansonsten durchaus heterogenen Protestbewegung der ausgehenden 60er Jahre, vgl. Kersting, Entzauberung, S. 13f.
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schen Studentenbund (SDS) und verweisen auf deren partiell antiliberale, antipluralistische, elitär-avantgardistische und antimodernistische Ideologien, Zielsetzungen und Methoden. Sie sehen in „1968“ einen antiliberalen „romantischen
Rückfall“46, ja das Aufkommen eines antidemokratischen Neototalitarismus.47
Ihre Bewertung der Protestbewegung orientiert sich also weniger an zum Teil
unintendierten, längerfristigen kulturellen Breitenwirkungen, sondern in erster
Linie an der politischen Ideologie bzw. dem politischen Denken eines Kerns der
Bewegung. Einige konservative Kritiker bewerten zudem auch die kulturellen
Breitenwirkungen nicht als begrüßenswerte Liberalisierung, sondern als problematischen Werteverfall.48
Einigkeit besteht höchstens in der normativ neutralen Feststellung, dass
„1968“ neben politischer Protestbewegung auch Ausdruck und Katalysator einer
Art „Kulturrevolution“ war – also im Hinblick auf veränderte Lebensstile, Konsum, Verhaltensmuster, Einstellungen und Normen usf. wirkmächtig wurde.49
Umstritten ist dagegen nach wie vor der politische Kerngehalt von „1968“.50
Stand die Protestbewegung in der Tradition der europäischen Freiheits- und
Emanzipationsbewegungen, zielte sie tatsächlich ab auf ein Mehr an Liberalität,
Partizipation, Emanzipation und Gerechtigkeit oder wollte sie – im vermeintlichen Besitz „objektiver“ Erkenntnis – Freiheit für Andersdenkende letztlich
abschaffen?
Nicht selten liegen die Gründe für die diametralen Bewertungsunterschiede
und -unsicherheiten an der inhaltlichen Unschärfe der Begrifflichkeiten. Steht
die „Chiffre“51 „1968“ für die einen offenbar für breitere Phänomene des soziokulturellen und politkulturellen gesellschaftlichen Wandels unter weitgehender
46
47
48
49
50
51
Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, 2. Aufl., Stuttgart 1970.
Vgl. Lübbe, Mythos; Hildebrand, Von Erhard, S. 365-383, 417ff.; Koenen, Jahrzehnt;
Aly, Kampf; Gerd Langguth, Die Außerparlamentarische Bewegung als Herausforderung
für die Demokratie. Gegen eine Mythologisierung von ´68 (Reihe: Zukunftsforum Politik, Nr. 25), St. Augustin 2001; ders., Mythos `68. Die Gewaltphilosophie von Rudi
Dutschke – Ursachen und Folgen der Studentenbewegung, München 2001. Klassisch
auch die Beitrage in: Erwin K. Scheuch (Hrsg.), Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft. Eine kritische Untersuchung der ‚Neuen Linken’ und ihrer Dogmen, Köln 1968.
Vgl. Kersting, Entzauberung, S. 7; Wolfgang Kraushaar, Achtundsechzig. Eine Bilanz,
Berlin 2008, S. 52.
So auch: Kraushaar, Mythos, S. 345; siehe auch: Armin-Ernst Buchrucker, Aufstand
gegen Autorität und Tradition. Die Studentenbewegung von 1968 als Kulturrevolution
und ihre Auswirkungen, 2. Aufl., Harms 2002; Knut Hickethier, Protestkultur und alternative Lebensformen, in: Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der sechziger Jahre, S. 11-30.
Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 42ff.
Vgl. Kraushaar, Mythos.
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Ausblendung der politischen Protestphänomene des Jahres 1968 selber,52 meinen
andere mit „1968“ die Ziele und Aktionen der Außerparlamentarischen Opposition der Jahre 1967 bis 1969. Die APO wiederum ist für viele offenbar gleichzusetzen mit der Studentenbewegung oder – noch enger gefasst – mit dem SDS,
während andere in der APO ein ganzes Konglomerat unterschiedlicher Gruppen,
Netzwerke und Teilbewegungen mit unterschiedlichen politisch-ideologischen
Zielen und Hintergründen erkennen. Noch weitergehender sehen einige in der
„68er-Generation“ insgesamt – im Sinne Karl Mannheims als „Generationseinheit“ interpretiert – den eigentlichen Träger der 68er-Bewegung. In diesem Sinne
wird die 68er-Bewegung als eine „Jugendbewegung“ gesehen, deren Exponenten
eine kleine Minderheit von Aktivisten waren, um die sich eine breitere Masse
von Mitläufern und Sympathisanten gruppierte.53
Der Begriff der „68er-Bewegung“ für die Protestbewegung der ausgehenden
60er Jahre hat sich seit geraumer Zeit etabliert, weil er – im Gegensatz zu „Studentenbewegung“ – die gesellschaftliche Breite der Protestbewegung andeutet
und diese nicht – wie „Außerparlamentarische Opposition“ oder „Neue Linke“ –
allein auf die Dimension des politischen Protestes verengt.54 Die 68er-Bewegung
zeichnete sich eben dadurch aus, dass sich fundamentaloppositionelle politische
Ziele „mit subkulturellen Tendenzen einer Lebensstilrevolte [...] trafen und teilweise vermengten“55, wie vielfach hervorgehoben wurde.56 Die politische Protestbewegung vermischte sich mit einer „Kulturrevolution“,57 die im Laufe der
60er Jahre auch durch postmaterialistischen Wertewandel bereits angelaufen war
und vielfältige Bereiche des Lebens betraf. Sie erstreckte sich auf Aspekte wie
Kleidung, Wohnformen, Musik und Film, Freizeitverhalten, Sexualität, Kommunikation und allgemeine Umgangsformen.
52
53
54
55
56
57
24
In diese Richtung gehen tendenziell die Forschungen zur Jugendkultur und zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel der langen 60er Jahre, auch: Leggewie, Laboratorium.
So: Hemler, Soziale Bewegung oder Generationskonflikt?; Fogt, Politische Generationen,
S. 137; Kimmel, Studentenbewegungen, S. 128; kritisch dazu: Kraushaar, Achtundsechzig, S. 58-62. Auch Kraushaar spricht allerdings von der 68er-Bewegung als
„Jugendbewegung“, vgl. ebenda, S. 57.
Vgl. Klaus Weinhauer, Zwischen Aufbruch und Revolte: Die 68-Bewegungen und die
Gesellschaft der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Neue Politische Literatur 46
(2001), S. 412-432, S. 412. Zur Genese des Begriffes der „68er-Bewegung“ siehe auch:
Kraushaar, Mythos, S. 253-259.
Hans-Ulrich Thamer, Sozialismus als Gegenmodell. Theoretische Radikalisierung und
Ritualisierung einer Oppositionsbewegung, in: Frese u.a. (Hrsg.), Demokratisierung, S.
741-758, S. 755.
Zur teilweisen Verschmelzung von politischem Protest und gegenkultureller Abgrenzung
siehe auch: Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung, S. 49ff.; Jakob Tanner, „The Times
They Are Changin’“ – Zur subkulturellen Dynamik der 68er Bewegungen, in: GilcherHoltey (Hrsg.), 1968, S. 275-295.
Weber, Kulturrevolution.
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Orientiert an Helmut Fogt, Stefan Hemler und Michael Kimmel soll die protestbewegte „Generationseinheit“ der „68er“ insgesamt als Träger der „68erBewegung“ betrachtet werden.58 Im Sinne Karl Mannheims ist damit nicht die
gesamte Generation der zwischen 1940 und 1950 Geborenen gemeint, sondern
der Teil, der auf bestimmte gemeinsam erfahrene historische Ereignisse oder
Lebensbedingungen mehr oder weniger einheitlich reagierte bzw. eine ähnliche
Wirklichkeitswahrnehmung herausbildete.59 Damit soll der Tatsache Rechnung
getragen werden, dass über die kleine Minderheit der APO-Aktivisten hinaus
eine Art „Jugendbewegung“60 entstand, die einen relevanten Teil der zwischen
1940 und 1950 Geborenen umfasste und die bestimmte grundlegende Werthaltungen, politische Zielvorstellungen und kulturelle Ausdrucksformen der Aktivisten teilte, nicht aber deren politisch-soziales Programm und die Handlungsstrategien in allen Einzelheiten. Die „68er-Bewegung“ bestand damit aus Aktivisten und Sympathisanten gleichermaßen. Letztere beteiligten sich nicht
unbedingt an den spektakulären Protestaktivitäten der APO und waren mit den
theoretischen, neomarxistischen Begründungszusammenhängen keineswegs
besonders vertraut. Sie verspürten aber eine Sympathie und grundlegende Verbundenheit mit Auftreten und Kernforderungen der radikalen Aktivisten und
verbreiteten diese in ihrem konkreten Umfeld.61
Beinhaltet der Begriff der 68er-Bewegung also eine breite, generationell geprägte Bewegung, die über den Kern der radikalen Aktivisten hinausgeht, bezeichnet „Außerparlamentarische Opposition“ die Gesamtheit eben dieser Aktivisten. Allerdings waren diese wiederum in verschiedenen Organisationen und
Teilbewegungen organisiert, die nur in der Zeit zwischen 1967 und 1969 einen
58
59
60
61
Wie Anm. 53.
Siehe Anm. 23.
Kleßmann, 1968, S. 96; Kraushaar, Achtundsechzig, S. 57. An dieser waren allerdings
nicht alle soziale Schichten gleichermaßen beteiligt, sondern ganz überwiegend die akademisch sozialisierte Jugend.
Vgl. Kimmel, Studentenbewegungen, S. 114f.; Frei, 1968, S. 134f.; Zum Thema: Die
Studentenunruhen, hrsg. vom Bundesministerium des Innern, 2. Aufl., Bergisch Gladbach 1969, S. 29f.; Fogt, Politische Generationen, S. 139f.; Allerbeck, Soziologie radikaler Studentenbewegungen, S. 48-50. In diesem Sinne auch: Bernd Rabehl, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), in: Hans-Hermann Hertle/Wolfgang Günther
(Hrsg.), Zwischen Kooperation und Konfrontation. Beiträge zur Geschichte von außerparlamentarischer Bewegung und Gewerkschaften, Marburg 1988, S. 83-120, S. 93; Tobias Rupprecht, Jenseits von Schuld und Verdienst. Eine sozial- und ideengeschichtliche
Einbettung von ‚1968’, in: Deutschland-Archiv 41 (2008), S. 96-102, S.101f. Der „Spiegel“ resümierte das Ergebnis einer von ihm in Auftrag gegebenen Emnid-Umfrage unter
Berufsschülern, Schülern und Studenten im Alter zwischen 15 und 25 Jahren wie folgt:
„Hauptergebnis: Die Minderheit, die auf die Straße geht, hat die Sympathien der Mehrheit. Zwei von drei befragten Jugendlichen und sogar drei von vier Studenten finden es
gut, dass demonstriert wird.“ Vgl. Umfrage zum politischen Verhalten der Jugend, in:
Der Spiegel, 12.2.1968.
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Handlungszusammenhang bildeten. Die APO bestand aus den Organisationen
der Studentenbewegung unter Führung des SDS, der „Kampagne für Abrüstung“
(KfA) bzw. der Ostermarschbewegung, Teilen der Jugendverbände der Parteien
von SPD und FDP, Schülern bzw. Schülerverbänden wie dem „Aktionszentrum
unabhängiger sozialistischer Schüler“ (AUSS), Lehrlingen, linken Gewerkschaftern und linkssozialistischen Gruppen, Kommunisten sowie christlichen Gruppen
und freischwebenden linken Intellektuellen.62
Die verschiedenen Gruppen und Akteure betrachteten sich zwar alle als Teil
der Außerparlamentarischen Opposition und also im Widerstreit zu den etablierten Parteien und der herrschenden Politik. Sie trafen sich auch bei politischen
Teilzielen wie der Verhinderung der Notstandsgesetze, der Entflechtung des
Springer-Konzerns, der Ablehnung des Vietnamkrieges, der schlagwortartigen
Forderung nach „Demokratisierung“ oder einer mehr oder weniger weitgehenden
Kapitalismuskritik. Besonders in der Reichweite der politischen Zielsetzungen
sowie in den Methoden des politischen Handelns bestanden aber dennoch elementare Unterschiede innerhalb der Außerparlamentarischen Opposition. Während wohl die Mehrzahl der Akteure den legalen, reformistischen Weg der Gesellschaftsveränderung nicht verlassen wollte und die politischen Forderungen
keine systemüberwindende Qualität besaßen,63 setzte eine lautstarke und phasenweise tonangebende Minderheit insbesondere innerhalb der Studentenbewegung auf die – Gewalt und Illegalität in Kauf nehmende – totale Revolutionierung des politischen und sozialen „Systems“.64
Die führende Rolle der Studentenbewegung innerhalb der APO – und die des
SDS innerhalb der Studentenbewegung – ist in der Forschung weitgehend unbestritten.65 Im Kern lehnte der SDS das bestehende wirtschaftliche und politische System sowie die bestehenden sozialen bzw. gesellschaftlichen Normen als
repressiv, autoritär oder „formaldemokratisch“ ab und propagierte die Möglichkeit einer revolutionären Befreiung des Menschen von Entfremdung, Zwang und
62
63
64
65
26
Vgl. Kraushaar, Mythos, S. 327f.; Otto, APO in Quellen und Dokumenten, S. 13f.; Rolke, Protestbewegungen, S. 270; Rupprecht, Jenseits von Schuld und Verdienst, S. 101;
Pavel A. Richter, Die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland 1966 bis 1968, in: Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968, S. 35-55.
Vgl. Kraushaar, Mythos, S. 327f.; ders. Achtundsechzig, S. 53-64; Otto, APO in Quellen
und Dokumenten, S. 13f.; Rolke, Protestbewegungen, S. 270, Frei, 1968, S. 134f.
Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 62ff.; Schönbohm, Die 68er; Hildebrand, Von Erhard, S. 365-383.
Vgl. Kraushaar, Achtundsechzig, S. 56; Langguth, Mythos, S. 18; Gilcher-Holtey, Die
68er Bewegung, S. 25; auch: Fuhrmann, Frank Uwe/Reiner Koll/Siegward Lönnendonker/Bernd Rabehl/Klaus Schroeder, Politisierung der Revolte: Zur Bedeutung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) für die Studentenbewegung der 60er Jahre,
in: Herzog, Dietrich/Bernhard Weßels (Hrsg.), Konfliktpotentiale und Konsensstrategien,
Opladen 1989, S.145-179.
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Unterdrückung – im Politischen wie im Sozialen bzw. Kulturellen.66 Er bekämpfte die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die politischen Institutionen
des Staates genauso wie den bürgerlichen Wertekanon oder alltagskulturelle
Praktiken. Diesem sich um den SDS gruppierenden radikalen Kern der APO
kann man eine „latente Neigung zu autoritären, ja zu erziehungsdiktatorialen
Lösungen“67 kaum absprechen.
Die 68er-Bewegung im oben genannten Sinne schliff dagegen viele der Radikalismen des SDS und anderer APO-Aktivisten ab. Für sie trifft in der Tat zu,
was Kersting als „inhaltliche[n] Fluchtpunkt“ einer in Vielem heterogenen Bewegung identifiziert hat:
„Die bisherige Struktur und Praxis von Politik, Gesellschaft und eigenem Bezugsfeld wurde [...] als zu formaldemokratisch erachtet und gewissermaßen mit Leben gefüllt: Es wurde ein Mehr an Partizipation, Mitverantwortung, Emanzipation, Transparenz, Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit sowie Menschen- und Bürgerrechten eingefordert“.68
3) „Alte Linke“ und „Neue Linke“
Die Transformations- und Umbruchsphase der „langen 60er Jahre“ ließ auch die
sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Europa nicht unberührt.69
Die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen – Wohlstandszuwächse, die Entfesselung der sozialmoralischen Milieus, Individualisierungstendenzen
– entzogen einer Politik der Fundamentalopposition in der Tradition des Marxismus zunehmend den Boden. Dies musste auch die SPD in der Bundesrepublik
schmerzhaft erfahren.
Bei der SPD hatten ein politischer Verbalradikalismus sowie ein Politikstil,
der viele Reminiszenzen an die Traditionen der Arbeiterbewegung bewahrte, zu
andauernden Niederlagen bei den Bundestagswahlen geführt.70 Die Reaktion der
SPD auf die veränderte Lage war die Verabschiedung des Godesberger Pro-
66
67
68
69
70
Damit knüpft die 68er-Bewegung an geistesgeschichtliche Traditionen des politischen
Utopismus an, siehe dazu allgemein: Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit,
Darmstadt 1991; Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, 2. Aufl., Berlin 1991.
Leggewie, Laboratorium, S. 15.
Kersting, Entzauberung, S. 13f.
Zu den in etwa gleichgerichteten Entwicklungen der sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa siehe: Donald Sassoon, One Hundred Years of Socialism.
The West European Left in the Twentieth Century, London/New York 1996.
Vgl. die umfassende Studie: Kurt Klotzbach, Der Weg zur Staatspartei. Programmatik,
praktische Politik und Organisation der deutschen Soziademokratie 1945 bis 1965, Berlin
1982.
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gramms, der „Gemeinsamkeitskurs“71 und die Beschleunigung der „Westernisierung“72 in den 60er Jahren. Die SPD akzeptierte die gegebene politische, soziale
und wirtschaftliche Ordnung und strebte ein neues Image an: Sie sollte in der
Bevölkerung nicht mehr als marxistische Klassenpartei wahrgenommen werden,
sondern als linksliberale Volkspartei mit modernem Anstrich, in den Worten
zeitgenössischer Kritiker als die „beste CDU aller Zeiten“.73 Die mit der „Godesberger Wende“74 vorgenommene Abkehr von den marxistischen und sozialrevolutionären Wurzeln bedeutete in der Geschichte der Sozialdemokratie den
Abschluss eines fundamentalen Transformationsprozesses, der schon mit dem
Revisionismusstreit begonnen hatte. Nichtsdestotrotz war „der Kontinuitätsbruch
für die deutsche Arbeiterbewegung [...] massiv“75, so Anselm DoeringManteuffel.
Der politisch-ideelle Wandel der Sozialdemokratie am Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre ging aber nicht ohne Brüche und Verwerfungen vonstatten.
Der Preis dafür war die Desillusionierung des marxistischen Flügels der Partei
und der fundamentaloppositionell eingestellten Linken, die bisher in der SPD
ihre politische Heimat gefunden hatten.76 Vor allem traf dies auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) zu. Der etwa 1000 Mitglieder zählende,
überregional etablierte, linke Studentenverband hatte sich immer als Teil der
sozialdemokratischen Bewegung verstanden, war institutionell aber stets unabhängig geblieben. Während die SPD 1959 mit der Verabschiedung des Godesberger Programms den Prozess der „Entideologisierung“77 und der „Westernisie71
72
73
74
75
76
77
28
Der „Gemeinsamkeitskurs“ bezeichnet die Oppositionsstrategie der SPD in den 60er
Jahren, die darauf abzielte, ein Höchstmaß an politischer Gemeinsamkeit zwischen Union
und SPD herzustellen. Siehe zu diesem Thema grundlegend: Beatrix W. Bouvier, Zwischen Godesberg und Großer Koalition. Der Weg der SPD in die Regierungsverantwortung. Außen-, sicherheits- und deutschlandpolitische Umorientierung und gesellschaftliche Öffnung der SPD 1960-1966, Bonn 1990.
Dazu umfassend: Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003.
Franz Walter, Die SPD. Vom Proletariat zur „Neuen Mitte“, Berlin 2002, S. 159.
„Godesberger Wende“ meint in dieser Arbeit nicht nur die Verabschiedung des Godesberger Programms, sondern den Prozess der „Westernisierung“ der Sozialdemokratie mit
der Hinwendung zu systemimmanenten Politikzielen insgesamt.
Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und
Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999, S. 102.
Siehe: Andrei S. Markovits/Philip S. Gorski, Grün schlägt Rot. Die deutsche Linke nach
1945, Hamburg 1997, S. 61-78.
Zum zeitgenössischen Schlagwort der „Entideologisierung“ siehe: Axel Schildt, Ende der
Ideologien? Politisch-ideologische Strömungen in den 50er Jahren, in: Axel
Schildt/Arnold Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche
Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 627-635; Wolf-Dieter Narr, CDU – SPD. Programm und Praxis seit 1945, Stuttgart 1966; Peter Molt, Wertvorstellungen in der Politik
– Zur Frage der „Entideologisierung“ der deutschen Parteien, in: Politische Vierteljahrs-
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rung“78 beschleunigte, ist dieser Weg vom SDS nicht nachvollzogen worden, im
Gegenteil: Der Verband kritisierte offen die Neuausrichtung der SPD als „Anpassung und Resignation“79 und grenzte sich von der neuen Parteilinie durch die
Propagierung fundamentaloppositioneller, marxistischer und neomarxistischer
Positionen ab. Auch innerhalb des SDS mehrten sich die Auseinandersetzungen
um den richtigen Weg. Die Konflikte gipfelten schließlich in der Abspaltung
einer SPD-treuen Minderheit, die den Sozialdemokratischen Hochschulbund
(SHB) konstituierte, und der Erklärung der Unvereinbarkeit einer Mitgliedschaft
in der SPD und im SDS seitens der SPD im Herbst 1961.80
Von politischen Rücksichtnahmen auf die SPD befreit, entwickelte sich der
SDS im Laufe der 60er Jahre zum Wortführer einer intellektuellen Strömung, die
sich in Abgrenzung zur „Alten Linken“, also zur Arbeiterbewegung sozialdemokratischer wie kommunistischer Provenienz, „Neue Linke“ nannte. Die Neue
Linke kritisierte die Sozialdemokratie nicht nur wegen der Aufgabe maximalistischer Ziele der Gesellschaftsveränderung, sondern auch wegen einer vermeintlichen bürokratischen Erstarrung und autoritären Verkrustung der Parteiorganisation. In Abgrenzung zur Organisationsrealität der „Alten Linken“ betrachtete
sich die Neue Linke als „Bewegung“, in der Politik nicht bürokratisch und institutionalisiert, sondern in spontaner und aktivistischer Form, durch Basisaktivitäten, „direkte Aktionen“, Demonstrationen, Proteste usf. zu betreiben sei. Aus der
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entlehnte Methoden des zivilen Ungehorsams wie Sit-ins, Go-ins oder Teach-ins gehörten neben traditionellen, appellativen Protestformen wie Demonstrationen oder Flugblattverteilungen zum
Aktionsrepertoire der studentischen Neuen Linken.81
78
79
80
81
schrift 4 (1963), S. 350-368; Markovits/Gorski, Grün schlägt Rot, S. 77f.; Bouvier, Zwischen Godesberg, S. 106-119.
Dazu umfassend: Angster, Konsenskapitalismus.
Zitiert nach: Willy Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom
parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn-Bad
Godesberg 1994, S. 363.
Die Geschichte des SDS ist bis zur Unvereinbarkeitserklärung gut erforscht, siehe: Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund; Tilman Fichter, SDS und SPD. Parteilichkeit jenseits der Partei, Opladen 1988; Jürgen Briem, Der SDS. Die Geschichte des
bedeutendsten Studentenverbandes der BRD seit 1945, Frankfurt/Main 1976. Nach 1961
ist die Entwicklung des SDS bislang nicht umfassend beschrieben. Am ergiebigsten bislang: Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker, Macht und Ohnmacht der Studenten.
Kleine Geschichte des SDS, Hamburg 1998; dies., Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmut Schmidt bis Rudi Dutschke, 4. überarbeitete und ergänzte Aufl., Essen 2008. Ausführlicher und faktenreicher: Siegward Lönnendonker/Bernd Rabehl/Jochen Staadt, Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD, Bd. 1: 1960-1967, Wiesbaden
2002.
Vgl. Kristina Schulz, Studentische Bewegungen und Protestkampagnen, in: Roth/Rucht
(Hrsg.), Handbuch, S. 417-446; Lönnendonker/Rabehl/Staadt, Die antiautoritäre Revolte,
29
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In Deutschland stammte der einflussreichste theoretische Beitrag zur Konstituierung der Neuen Linken von den Vertretern der Frankfurter Schule, die insbesondere mittels der Kritischen Theorie in die Neue Linke hineinwirkten. Die
zentralen Ideen dieser neomarxistischen Denkströmung orientierten sich im
Gegensatz zum orthodoxen Marxismus nicht allein am Primat der Ökonomie bei
der Bestimmung der sozialen Verhältnisse, sondern an psychoanalytischen und
kulturellen Deutungsmustern. Die Kritik der Neuen Linken richtete sich dementsprechend nicht mehr ausschließlich auf die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln und die materielle Ausbeutung. Eine gute Gesellschaftsordnung
war für sie nicht automatisch mit der Abschaffung des Kapitalismus erreicht.
Dazu gehörten vielmehr die Überwindung autoritärer Strukturen und Verhaltensweisen sowie der Entfremdung in allen möglichen Bereichen von Staat,
Gesellschaft und Ökonomie. Gesellschaftliche Normen und Verhaltensweisen,
psychologische Dispositionen und andere kulturelle Faktoren spielten dabei eine
wesentliche Rolle. Dem entsprach die Hervorhebung der Rolle von „Autorität“,
„Repression“, „Bürokratie“ „Manipulation“ und „Technologie“ als Faktoren der
Unterdrückung und Entfremdung. Auch richtete sich ihre Hoffnung auf Gesellschaftsveränderung nicht mehr auf die Arbeiterklasse, die in der Tradition der
„Alten Linken“ der Träger sozialrevolutionärer Veränderung war. Vielmehr
sahen sie in politisch bewussten intellektuellen Minderheiten und gesellschaftlichen Außenseitern ein mögliches „revolutionäres Subjekt“. Während sich die
Linke sozialdemokratischer Provenienz überall in Europa zu dieser Zeit also
politisch entradikalisierte und sich dem westlichen „Konsensliberalismus“82
zuwandte, propagierte die „Neue Linke“ neomarxistisch eingefärbte sozial- und
kulturrevolutionäre Ziele.83
82
83
30
S. 44-95; Josef Oelinger, Die neue Linke und der SDS. Die politische Theorie der revolutionären Opposition, Köln 1969, S. 69-74; Hans Manfred Bock, Geschichte des „linken
Radikalismus“ in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt/Main 1976, S. 200-202; GerdRainer Horn, The Spirit of 68’. Rebellion in Western Europe and North America, 1956 –
1976, New York 2007, S. 152f; Kathrin Fahlenbrach, Protestinszenierungen. Die Studentenbewegung im Spannungsfeld von Kultur-Revolution und Medien-Evolution, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Bonn 2008, S. 11-21; Claus Offe, Challenging the
boundaries of institutional politics: social movements since the 1960s, in: Charles S.
Maier Hrsg.), Changing boundaries of the political. Essays on the evolving balance between the state and society, public and private in Europe, Cambridge 1987, S. 63-106;
Martin Klimke, Sit-in, Teach-in, Go-in. Die transnationale Zirkulation kultureller Praktiken in den 1960er Jahren am Beispiel der direkten Aktion, in: Klimke/Scharloth (Hrsg.),
1968, S. 119-133.
Dazu umfassend: Angster, Konsenskapitalismus.
Eine systematische, wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Erforschung der Entstehung und der Entwicklung der Ideen der „Neuen Linken“ und ihrer Trägergruppen ist
bisher nicht geleistet worden. Ansätze bei: Ingrid Gilcher-Holtey, Kritische Theorie und
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Die Neue Linke im SDS waren junge Studenten, welche die vermeintliche
Anpassung und Erstarrung der Sozialdemokratie kritisierten und deren sozialrevolutionäre und emanzipatorische Traditionen in erneuerter Form und mit neuen
politischen Methoden weiterführen wollten. Sie war ein Bindeglied zwischen
alter Arbeiterbewegung und den „neuen sozialen Bewegungen“, weil sie einerseits an antikapitalistische, marxistisch-sozialistische Traditionen anknüpfte,
andererseits neue postmaterialistische Ideale verkörperte und vertrat.84
Waren die Zirkel der Neuen Linken im SDS in den frühen 60er Jahren noch
weitgehend isoliert, änderte sich dies um die Mitte der 60er Jahre langsam, aber
stetig. Ihr Einfluss wuchs sowohl innerhalb des SDS als auch in der Studentenschaft insgesamt. Aus den Wurzeln der Neuen Linken entstand die Studentenbewegung, die mit ihren politischen Ideen und Aktionsformen und ihren kulturellen
Ausdrucksformen die APO und die 68er-Bewegung stark beeinflusste.85 Wie
oben aber bereits angedeutet, schliffen APO und 68er-Bewegung als gesellschaftlich breiter verankerte Bewegungen viele der radikalen politischen Ideen
der Neuen Linken ab. Trotzdem standen APO und 68er-Bewegung in vielem in
den Denk- und Handlungstraditionen der Neuen Linken, auch in ihrem Verhältnis zur Sozialdemokratie: Die Klage, die Sozialdemokratie sei kein Faktor der
Gesellschaftsveränderung mehr und habe emanzipatorischen Idealen abgeschworen, ja ihre sozialrevolutionäre Tradition verraten, war ein Kernvorwurf aus den
Reihen von APO und 68er-Bewegung an die Sozialdemokratie.
4) Fragestellung und Erkenntnisinteresse, Quellen und Methodik
„Wenn ich mich umsehe in Deutschland, in Europa und in der Welt, finde ich viele Anzeichen für große Umwälzungen. Es ist ein Zeichen der Gesundheit dieser Partei, dass sie wie
84
85
Neue Linke, in: Dies., (Hrsg.), 1968, S. 168-187; Bock, Geschichte des „linken Radikalismus“ in Deutschland; Horn, Spirit, S. 152ff.; George Katsiaficas, The Imagination of
the New Left. A Global Analysis of 1968, Boston 1987; Maurice Isserman, If I had a
Hammer. The Death of the Old Left and the Birth of the New Left, New York 1987; Michael Schmidtke, Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA, Frankfurt/Main 2003; Lönnendonker/Rabehl/Staadt, Die antiautoritäre Revolte; S. 81ff.; Oelinger, neue Linke; eine gute zeitgenössische Darstellung: Jürgen Seifert, Die Neue Linke. Abgrenzung und Selbstanalyse, in: Frankfurter Hefte 1
(1963), S. 30-40.
Vgl. Dieter Rucht, Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Deutschland, Frankreich und USA im Vergleich, Frankfurt/Main 1994, S. 152.
Vgl. Richter, Die Außerparlamentarische Opposition; Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968, S. 9f.
31
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ein Seismograph die sich ankündigenden Erschütterungen registriert. Das belebt sie auch,
selbst wenn es zunächst scheint, als werde sie unsicher.“86
In der Tat schien die SPD im Jahr 1968 „wie ein Seismograph“ auf die gesellschaftliche Veränderungsdynamik zu reagieren. Mit dem Aufkommen der 68erBewegung war auch die Zeit der innerparteilichen Ruhe vorbei. An der Parteibasis, im linken Parteiflügel und vor allem in der Parteijugend rumorte es heftig.
Protest und Aufruhr pflanzten sich in die Parteigliederungen und bis auf die
Parteitage der SPD fort. Die SPD wurde bis ins Innerste durch die 68erBewegung erschüttert. „In keiner anderen Partei spiegelte sich [...] die gesellschaftliche Veränderungsdynamik so sehr wie in der SPD“, urteilt Hans Günter
Hockerts.87
Ziel dieser Arbeit ist es, genau diese Veränderungen darzustellen und zu analysieren, die sich in der SPD im Zusammenhang mit dem politkulturellen Wandel und dem Auftreten der 68er-Bewegung in der Zeit von 1959 bis 1969 manifestierten. Diese betrafen zuerst die Parteijugend der SPD, mittelbar aber auch
die Gesamtpartei. Denn die dynamischen Wandlungsprozesse in- und außerhalb
der Partei führten zu heftigen parteiinternen Debatten und Konflikten und hatten
letztlich programmatische, politisch-ideelle und politkulturelle Auswirkungen
auf die Gesamtpartei. Neben den in der Parteijugend stattfindenden politischideellen und politkulturellen Veränderungen geht es also um die daraus erwachsenden Auseinandersetzungen innerhalb der Partei, hauptsächlich zwischen Parteijugend und den etablierten Parteieliten, sowie um die Wahrnehmung, Bewertung und Reaktion der Parteieliten88 auf diese in- und außerhalb der SPD stattfindenden Umbrüche. In diesem Zusammenhang soll der kurz- bis mittelfristige
Einfluss der 68er-Bewegung auf die programmatische Ausrichtung, die politische Kultur und das politische Selbstverständnis der SPD empirisch untersucht
werden.
Die Leitfragen lauten: Inwiefern spiegelten sich die gesellschaftlichen, politkulturellen und ideellen Wandlungsprozesse der 60er Jahre in der SPD wider?
Inwieweit wurde die Parteijugend der SPD, organisiert in der Arbeitsgemein86
87
88
32
Rede Willy Brandts vor der Bundesfrauenkonferenz der SPD am 9.6.1968, abgedruckt in:
SPD Pressemitteilungen und Informationen, Nr. 270/68 b, 8.6.1968.
Hans Günter Hockerts, Parteien in Bewegung. Über die Flexibilität des Parteiensystems
in der Reformära der Bonner Republik (1966 – 1974), in: Klaus Hildebrand/Udo
Wengst/Horst Möller (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München
2008, S. 225-240, S. 236.
„Parteieliten“ bezeichnet in dieser Arbeit die weitere Parteiführung der SPD – mit der
alle Politiker gemeint sind, die auf Bundesebene in den Führungsgremien, den Fachausschüssen und der Bundestagsfraktion der SPD maßgeblich die Politik der Partei mitprägten – sowie die auf Bundesebene auf Parteitagen und Parteikonferenzen vertretenen Delegierten und Funktionäre.
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schaft der Jungsozialisten sowie im Sozialdemokratischen Hochschulbund, von
der Veränderungsdynamik erfasst, welche Rolle spielten Verhaltensweisen und
ideelle Deutungsmuster der 68er-Bewegung für das Aufbegehren der Parteijugend in den 60er Jahren? In welchem Verhältnis stand die zunehmend rebellierende Parteijugend zur 68er-Bewegung? Wie reagierte das „Parteiestablishment“
– die etablierten Parteieliten der weiteren Parteiführung und der auf Bundesparteitagen und Bundeskonferenzen vertretenen Funktionäre und Delegierten – auf
das Aufkommen der 68er-Bewegung und die zunehmende Kritik aus den eigenen Reihen, auf die vielfältigen Partizipations- und Demokratisierungsansprüche,
aber auch auf die Renaissance von Utopismus, Marxismus, und „linkem Radikalismus“89? Wie beeinflusste die 68er-Bewegung Politik, Programmatik und politische Kultur der Partei? Welche Folgen hatte das Auftreten einer linksutopistischen Bewegung für den neuen Pragmatismus der SPD seit der „Godesberger Wende“?
Im Folgenden werden zunächst einige begriffliche Klärungen und thematische
Eingrenzungen vorgenommen. „Parteijugend“ fungiert in dieser Arbeit als übergreifender Begriff für die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialisten
und des Sozialdemokratischen Hochschulbunds. Die Arbeitsgemeinschaft der
Jungsozialisten ist die offizielle Vertretung aller Parteimitglieder der SPD unter
35 Jahren, während der SHB formal gesehen nur eine Vorfeldorganisation der
SPD war und man als SHB-Mitglied nicht automatisch auch Mitglied der SPD
zu sein hatte. Dennoch waren stets ungefähr 70 % der SHB-Mitglieder gleichzeitig in der SPD, und nach Name, Satzung, Selbstverständnis und allgemeiner
Wahrnehmung war der SHB fester Bestandteil der Sozialdemokratie. Im Gegensatz zu den Jungsozialisten mit etwa 180000 Mitgliedern Ende der 60er Jahre
war der SHB mit maximal 3000 Mitgliedern zur Hochzeit der Studentenbewegung geradezu winzig. Er ist aber vor allem deswegen nicht zu vernachlässigen,
weil viele SHB-Studenten Führungspositionen bei den Jungsozialisten einnahmen und der SHB für den Transfer bestimmter Ideen, Vorstellungen und Verhaltensweisen aus dem Studentenmilieu zu den Jungsozialisten eine erhebliche
Rolle spielte.
Die Untersuchung konzentriert sich hauptsächlich auf die Bundesebene der
SPD bzw. auf die höchsten Ebenen der Organisation von Jungsozialisten und
SHB, ohne allerdings dogmatisch andere Organisationsebenen auszublenden.
Immer wieder ist es notwendig, auch auf Entwicklungen und Ereignisse in Untergliederungen bzw. in der Parteibasis einzugehen. Nichtsdestotrotz wird aber
davon ausgegangen, dass die höchste Ebene demokratisch aufgebauter politi-
89
Vgl. Bock, Geschichte des ‚linken Radikalismus’ in Deutschland.
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scher Organisationen insgesamt eine gewisse Repräsentativität für die Gesamtorganisation besitzt.90
In der Arbeit geht es in erster Linie um die politisch-ideellen und politkulturellen Veränderungsmuster und Veränderungsdynamiken in der SPD, während
sozialstrukturelle Veränderungen in der Mitgliederstruktur nur am Rande eine
Rolle spielen. Sie werden an den entsprechenden Stellen Erwähnung finden,
stehen aber nicht im besonderen Fokus der Untersuchung.91 Für die innerparteilichen politischen und politkulturellen Konflikte spielten zudem sozialstrukturelle
Unterschiede – Berufszugehörigkeit, Bildung, Einkommen etc. – offenbar eine
geringere Rolle als die generationellen Differenzierungen.92
In der politikwissenschaftlichen Literatur wird den Parteien im Allgemeinen
die Rolle von Vermittlungsinstanzen zwischen Staat und Gesellschaft zugeschrieben.93 Ihre Mittlerfunktion nehmen sie unter anderem dadurch war, dass sie
flexibel auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen reagieren und neue politische Strömungen programmatisch und organisatorisch zu integrieren versuchen.
Auch die Bewegungsforscher sehen politische Parteien grundsätzlich in der
Funktion, die von einer sozialen Bewegung artikulierten Problematiken aufzugreifen und politisch zu verarbeiten.94
In diesem Sinne untersucht diese Arbeit auch empirisch, ob und inwieweit die
SPD Impulse der 68er-Bewegung aufgenommen hat oder gar tatsächlich versucht hat, diese programmatisch und organisatorisch zu integrieren. Damit leistet
die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Erforschung der bislang empirisch
kaum untersuchten Frage, welche Wirkungen die 68er-Bewegung tatsächlich
nach sich zog. Welchen kurz- und mittelfristig nachweisbaren Einfluss hatte die
68er-Bewegung auf die SPD, insbesondere im Programmatisch-Ideellen?
In der historischen Literatur wird oft behauptet, die sozialliberale Regierung
Brandt habe Partizipationsansprüche der 68er-Bewegung aufgegriffen und in der
Formel „Mehr Demokratie wagen“ programmatisch verarbeitet. Auch wird häu90
91
92
93
94
34
So auch: Narr, CDU – SPD, S. 25.
Vgl. zu diesem Thema umfassend: Handbuch zur Statistik der Parlamente und Parteien in
den westlichen Besatzungszonen und in der Bundesrepublik Deutschland, Teilband IV:
SPD, KPD und kleinere Parteien des linken Spektrums sowie DIE GRÜNEN. Mitgliedschaft und Sozialstruktur 1945-1990, bearbeitet von Josef Boyer und Till Kössler, Düsseldorf 2005.
Vgl. Ebenda, S. 46f.
Vgl. Frank Decker, Parteiendemokratie im Wandel, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.),
Handbuch der deutschen Parteien, Bonn 2007, S. 19-61, S. 19; Richard Stöss (Hrsg.),
Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1980, Sonderausgabe Bd. 1: AUD bis CDU, S. 68-70.
Vgl. Dieter Rucht, Zum Verhältnis von sozialen Bewegungen und Politischen Parteien,
in: Journal für Sozialforschung 27 (1987), S. 297-313, S. 307; Gilcher-Holtey, Die 68er
Bewegung, S. 13.
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fig vermutet, aber nicht nachgewiesen, dass das radikale Drängen nach Veränderungen durch die 68er-Bewegung die Reformbereitschaft und Reformstimmung
insgesamt angeheizt habe. „Im Zeichen der Revolution trug die Revolte zum
Fortschritt der Reformen bei“, so exemplarisch Norbert Frei.95 Manche behaupten auch, die 68er-Bewegung habe dazu beigetragen, „dass sich innerhalb der
SPD wieder ein linker Flügel bilden konnte, der in den innerparteilichen Auseinandersetzungen unter dem Druck wachsender außerparlamentarischer Opposition zunehmend auch Gehör finden konnte.“96 Im Rahmen der hier vorliegenden
Arbeit sollen diese Aussagen empirisch überprüft werden.
Damit wird das grundsätzliche methodische Problem von Wirkungszusammenhang und Kausalität berührt. Um den programmatisch-ideellen Einfluss der
68er-Bewegung auf die SPD methodisch sauber zu bestimmen, reicht es nicht,
Programm und Profil der SPD bloß auf eventuell vorhandene Kongruenzen mit
den inhaltlichen Forderungen der 68er-Bewegung zu überprüfen. Ein solches
Vorgehen würde womöglich einen Wirkungszusammenhang feststellen und
behaupten, ohne ihn im Einzelnen nachvollziehbar gemacht und damit tatsächlich eine Kausalität bewiesen zu haben. Es gilt dagegen vielmehr, den genauen
Prozess der Willensbildung zu untersuchen, zu prüfen, ob und inwieweit die
Postulate der 68er-Bewegung und die 68er-Bewegung selbst von der SPD oder
von Teilen der SPD aufgenommen, wie sie debattiert und dabei womöglich umgedeutet, entschärft, oder gar „instrumentalisiert“ wurden.97
Dies geschieht hier in Bezug auf ausgesuchte Politikfelder. Genauer durchleuchtet werden soll der Einfluss der 68er-Bewegung auf die Reformbereitschaft
der SPD im Allgemeinen, auf die Haltung zur inneren „Demokratisierung“ der
Bundesrepublik, auf die Haltung zum Vietnamkrieg sowie auf die Positionierung
in der Hochschulpolitik.
Wie kann man darüber hinaus methodisch sauber eruieren, ob die 68erBewegung für „linke“ Sozialdemokraten tatsächlich eine stärkende Wirkung
ausgeübt hat? Es wäre erneut unzulässig, aus der bloßen Tatsache des offensiveren Vorgehens linker Sozialdemokraten während der Hochzeit der 68erBewegung bereits eine kausale Beziehung beider Phänomene zu unterstellen.
Eine Verknüpfung beider Phänomene setzt eine Untersuchung der Argumentati95
96
97
Frei, 1968, S. 138. In diesem Sinne auch: Hubert Kleinert, Mythos 1968, in: APuZ, B 1415 (2008), S. 8-15, S. 12; Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung, S. 116; Kleßmann, 1968,
S. 99, 105. Dagegen: Hermann Lübbe, 1968. Zur kulturellen und politischen Wirkungsgeschichte in Deutschland, in: Venanz Schubert (Hrsg.), 1968. 30 Jahre danach, St. Ottilien 1999, S. 185-208.
Vgl. Otto, APO in Quellen und Dokumenten, S. 43.
Vgl. die methodischen Überlegungen zur Wirkung von „1968“ in: Jörg Requate, Der
Kampf um die Demokratisierung der Justiz. Richter, Politik und Öffentlichkeit in der
Bundesrepublik, Frankfurt/Main 2008, S. 18f.
35
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onen und Diskurse von Protagonisten des linken Flügels der SPD, die auf die
68er-Bewegung Bezug nahmen, voraus.
Dazu erst einmal einige grundlegende Bemerkungen: Politische Auseinandersetzungen in offenen Gesellschaften sind zunächst und vor allem kommunikativer Art, so auch die Auseinandersetzungen innerhalb der SPD.98 In Anlehnung
an diskurstheoretische Überlegungen Foucaults und Bourdieus müssen diese
kommunikativen Auseinandersetzungen stets auch als machtpolitische Auseinandersetzungen um Deutungshoheiten interpretiert werden.99 Wer die Deutungshoheit über bestehende Phänomene und Zustände besaß, nahm wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise der politischen Reaktion auf diese, beeinflusste also zu einem Gutteil die materielle Politik bzw. das
Entscheidungshandeln der SPD.
Im Lichte dieser Überlegungen kann also von Wirkungen der 68er-Bewegung
auf die Parteilinke gesprochen werden, wenn nachzuweisen wäre, dass die 68erBewegung eine Rolle im diskursiven Kampf in der SPD um Deutungshoheiten
gespielt hätte. Genauer gesagt müsste eruiert werden, ob und inwiefern das Auftreten der 68er-Bewegung die innerparteiliche Linke in ihren Argumentationen
unterstützte oder behinderte. Es soll untersucht werden, wie die Exponenten des
linken Parteiflügels im Rahmen der innerparteilichen Debatten auf die 68erBewegung Bezug nahmen, welche Rolle mithin die 68er-Bewegung für den
linken Parteiflügel in den innerparteilichen, diskursiven und argumentativen
Auseinandersetzungen spielte.
Der Untersuchungszeitraum der hier vorliegenden Dissertation erstreckt sich
von 1959 bis 1969. Die Jahre 1959 bis 1966 sind der Zeitraum, in dem sich eine
studentische „Neue Linke“ konstituierte und von der Sozialdemokratie ideell und
politkulturell abgrenzte. Der Konflikt zwischen Sozialdemokratie und Neuer
Linken führte, so viel ist bekannt, zur Trennung der SPD vom SDS. Der von der
SPD in der Folgezeit als „parteitreuer“ Studentenverband geförderte Sozialdemokratische Hochschulbund ist von der historischen Forschung bislang kaum
beachtet worden. Dessen Entwicklung vom parteikonformen Studentenverband
98
99
36
Zur kommunikativen Dimension des Politischen siehe: Ute Frevert, Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt
(Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt/Main 2005, S. 7-26; Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum
Wandel politischer Handlungsspielräume. England 1780-1867, Stuttgart 1993.
Zur Verzahnung von Diskurs und Macht bei Foucault siehe: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/Main 1991; ähnliche Stoßrichtung auch in den soziologischen Überlegungen Pierre Bourdieus: Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn, Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main 1993; ders., Soziologische Fragen, Frankfurt/Main
1993. Einen Überblick über die verschiedenen Diskurstheorien und ihre Relevanz für die
Geschichtswissenschaft bietet: Achim Landwehr, Historische Diskursanalyse, Frankfurt/Main 2008.
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der SPD zum radikalen Kritiker des Kurses und des Zustandes der SPD soll
quellennah und anhand der oben genannten Leitfragen dargestellt werden. Von
großem Interesse ist zudem die Veränderungsdynamik bei den Jungsozialisten in
diesem Zeitraum, die ebenfalls im Hinblick auf das Aufkommen einer studentischen Neuen Linken und übergreifender Prozesse des Werte- und politkulturellen Wandels untersucht wird.
In der Zeit von 1967 bis 1969 bildete sich – zum Teil aus den Wurzeln der
Neuen Linken – die 68er-Bewegung. Die Protestereignisse entfalteten eine Dynamik, die auch die Jungsozialisten und den SHB – in unterschiedlichem Ausmaß – mobilisierte. Der politische und politkulturelle Wandel beider Organisationen schritt schnell voran und führte zu massiven Konflikten mit den etablierten
Parteieliten. Auf allen Ebenen der Partei wurde nun intensiv über die 68erBewegung und die rebellierende Parteijugend, über mögliche Ursachen, den
Charakter und die Folgen der Ereignisse und Entwicklungen für die SPD debattiert. Diese Debatten und ihre programmatisch-politischen Auswirkungen auf die
SPD sollen ebenfalls quellennah dargestellt und analysiert werden.
Die Debatten und Auseinandersetzungen, die um die 68er-Bewegung und die
aufmüpfige Parteijugend kreisten, fanden hauptsächlich in den Gremien und
Fachausschüssen von Partei und Fraktion, in informellen Besprechungen, auf
Parteitagen und Parteikonferenzen, in den Parlamenten, sowie in der parteieigenen und unabhängigen Presse statt. Dort kristallisierten sich die verschiedenen
Sichtweisen auf die 68er-Bewegung heraus, die in der weiteren Parteiführung
existierten; in diesen Debatten schälten sich auch die wesentlichen Antworten
heraus, mit denen die SPD der 68er-Bewegung zu begegnen dachte.
Ein gewisses Problem in der Analyse der sozialdemokratischen Debatten um
die 68er-Bewegung ist, dass im zeitgenössischen Diskurs die analytische Unterscheidung zwischen „Studentenbewegung“, „APO“ und „68er-Bewegung“, die
ja in gewisser Weise auch eine historische Konstruktion ist, nicht trennscharf
vorgenommen wurde. Der Begriff der „68er-Bewegung“ selber war zu dieser
Zeit noch gar nicht erfunden. Die Sozialdemokraten sprachen von den „Studenten“, der „Studentenunruhe“, der „APO“ oder der „Unruhe in der jungen Generation“ insgesamt. Die Arbeit versucht stets, dem Inhalt des Gesagten möglichst
präzise nachzukommen. Von „68er-Bewegung“ ist daher dann die Rede, wenn
von seiten der sozialdemokratischen Sprecher nicht explizit nur die Aktivisten
der APO oder der Studentenbewegung gemeint waren, sondern darüber hinaus
auch die Phänomene des gesellschaftlich breiter fundierten, politisch weniger
radikalen Aufbegehrens der jüngeren Altersgruppen insgesamt.
Quellenmäßig basiert die Arbeit hauptsächlich auf den Parteiakten der SPD
im „Archiv der sozialen Demokratie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Da die Untersuchung auf die Bundesebene der SPD fokussiert, waren die Bestände des Parteivorstands von zentraler Bedeutung. Hier finden sich die Protokolle der Sitzun37
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gen der Spitzengremien der Partei und deren Arbeitsunterlagen sowie die Materialien aus der Arbeit der Fachausschüsse und Referate des Parteivorstands. Dass
auch die Akten der Jungsozialisten sowie zentrale Akten des SHB im Bestand
des SPD-Parteivorstands eingegliedert sind, unterstreicht nochmals die Wichtigkeit dieses Bestandes. Darüber hinaus sind die Bestände der Bundestagsfraktion
der SPD im Sinne der Fragestellung der Arbeit ausgewertet worden. Von Interesse waren hier insbesondere die Protokolle der Sitzungen von Fraktion und
Fraktionsvorstand sowie Materialien von Arbeitskreisen der Fraktion. Ebenfalls
von Bedeutung waren die Nachlässe bzw. Deposita führender Bundespolitiker
der SPD, insbesondere die von Willy Brandt und Helmut Schmidt, in denen vor
allem die Korrespondenz und bestimmte Arbeitsunterlagen und Aufzeichnungen
relevant waren. Für den SHB waren zudem die Akten des Bundesvorstands des
SHB im Archiv der Arbeiterjugendbewegung in Oer-Erkenschwick und die Bestände des SHB-Berlin im APO-Archiv der Freien Universität Berlin wichtig.
Neben den ungedruckten Quellen ist eine Vielzahl von veröffentlichten Quellen für die Arbeit herangezogen worden. Parteioffizielle Publikationen wie die
Jahrbücher der SPD und der Jungsozialisten, Publikationen über Beschlüsse und
Stellungnahmen des SHB und verschiedene Zeitschriften von SHB und Jungsozialisten gehören unter anderem dazu. Auch die Protokolle und Materialien der
Bundesparteitage und Funktionärskonferenzen der Partei waren eine wesentliche
Quelle, spiegeln sie doch die zentralen innerparteilichen Debatten und Konflikte
wider. „Wer die Protokolle der sozialdemokratischen Parteitage seit Nürnberg
[gemeint ist der Bundesparteitag der SPD in Nürnberg vom März 1968, d. Verf.]
liest“, so Kurt Sontheimer, „wird den Bewusstseinswandel [in der SPD, d. Verf.]
mit den Händen greifen können“.100 Parteioffizielle Stellungnahmen sowie sonstige Reden, Stellungnahmen, Interviews und Positionierungen führender Repräsentanten sowie der weiteren Parteiführung der SPD finden sich vor allem in
Veröffentlichungen des „Vorwärts“101, des „Sozialdemokratischen Pressedienstes“102, der „SPD Pressemitteilungen und Informationen“103, des „Parlamenta100 Sontheimer, Elend, S. 58.
101 Nach Heinz-Dietrich Fischer war der „Vorwärts“ ein „empfindlich registrierender Seismograph für die einzelnen Kräfte und Strömungen innerhalb der Partei“, vgl. HeinzDietrich Fischer, Parteien und Presse in Deutschland seit 1945, Bremen 1971, S. 328f.
Zur Geschichte und Bedeutung des „Vorwärts“ für die Sozialdemokratie siehe des Weiteren: Jens Scholten, Zwischen Markt und Parteiräson. Die Unternehmensgeschichte des
‚Vorwärts’ 1948 bis 1989, Essen 2008.
102 Der „Sozialdemokratische Pressedienst“ und seine verschiedenen Abspaltungen – darunter die „SPD Pressemitteilungen und Informationen“ und der „Parlamentarisch-Politische
Pressedienst“ – sind eine exzellente historische Quelle, die die zeitgenössische sozialdemokratische Positionierung zu einzelnen Themenfeldern hervorragend rekonstruierbar
macht. Die Pressedienste richteten sich in der Regel an die politische bzw. journalistische
Öffentlichkeit und waren „ein Standardinstrument der politischen Kommunikation der
38
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risch-Politischen Pressedienstes“104, der „Neuen Gesellschaft“105, in den stenographischen Berichten der Verhandlungen des Deutschen Bundestages sowie in
zahlreichen parteiunabhängigen Zeitungen. Alle diese Quellen sind systematisch
für den Untersuchungszeitraum im Sinne der Fragestellungen ausgewertet worden.
Die programmatisch-ideelle Herausforderung der Parteieliten durch die 68erBewegung war deshalb besonders groß, weil die Neue Linke und mit ihr die
68er-Bewegung an ideelle Traditionen der Arbeiterbewegung anknüpfte, welche
die SPD mit der „Godesberger Wende“ gerade erst überwunden zu haben glaubte. In ausgesprochener Frontstellung zum reformistischen, systemimmanenten,
nicht länger antikapitalistischen Sozialismusverständnis der „Godesberger“ Sozialdemokratie wiederbelebte die Neue Linke ein revolutionäres, nämlich antikapitalistisches Sozialismusverständnis. Ihr Auftreten als „Bewegung“ mit radikalemanzipatorischem Anspruch traf die Sozialdemokratie ins Mark, denn die SPD
war selbst als politischer Arm einer „sozialen Bewegung“ entstanden und pendelte in ihrem Selbstverständnis noch lange Zeit „zwischen Verfassungspartei
und Emanzipationsbewegung“.106 Für die Sozialdemokratie war die Auseinandersetzung mit der Neuen Linken bzw. der 68er-Bewegung daher von Beginn an
auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst, eine Auseinandersetzung um die
Richtungsentscheidung der „Godesberger Wende“, eine Auseinandersetzung um
ihr politisches Selbstverständnis. In einem ersten Kapitel der Arbeit wird daher
zunächst die Essenz der „Godesberger Wende“ für die Geschichte der Sozialdemokratie herausgearbeitet werden, bevor in den folgenden Kapiteln die Veränderungsdynamiken in der SPD zuerst in der Zeit von 1959 bis 1966, dann zwischen
den Jahren 1967 bis 1969 vor dem Hintergrund des politkulturellen Wandels und
der Entstehung der 68er-Bewegung herausgearbeitet werden.
103
104
105
106
Partei“, vgl. Antje Sommer, Vom Pressedienst zur Pressemitteilung. Der Wandel in der
politischen Kommunikation von Partei und Bundestagsfraktion der SPD (1946-1995), in:
Mengersen u.a. (Hrsg.), Personen. Soziale Bewegungen. Parteien, S. 377-405, S. 377f.
Die „SPD Pressemitteilungen und Informationen“ hatten im Unterschied zum „Sozialdemokratischen Pressedienst“ weniger Kommentar-, und mehr Informationscharakter. Die
Übergänge waren aber fließend, siehe dazu ebenfalls: Ebenda.
Der Parlamentarisch-Politische Pressedienst“ (PPP) ist ebenfalls ein sozialdemokratischer
Pressedienst und konzentriert sich auf die Parlamentsberichterstattung. Dazu ebenfalls:
Ebenda, S. 389ff.
Die Zeitschrift „Neue Gesellschaft“ war ein Forum für den intellektuellen Diskurs über
die grundlegenden Ziele und das Selbstverständnis der Sozialdemokratie.
Peter Lösche, Sozialdemokratie zwischen Verfassungspartei und Emanzipationsbewegung, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 36 (1989), S. 402-407. Detlef Lehnert
spricht in diesem Zusammenhang von der „permanente[n] Herausforderung an die SPD,
eine institutionenbezogene Regierungsfähigkeit mit der Mobilisierungskraft von Basisbewegungen zu verbinden“ (Detlef Lehnert, Sozialdemokratie zwischen Protestbewegung
und Regierungspartei 1848 bis 1983, Frankfurt/Main 1983, S. 14).
39
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5) Forschungsstand
Eine systematische Darstellung und Analyse der Veränderungsdynamiken, die in
der SPD im Zusammenhang mit dem übergreifenden politisch-ideellen und politkulturellen Wandel der 60er Jahre auftraten, ist bislang nicht geleistet worden.
Weder ist der Wandel in der Parteijugend der SPD im Hinblick auf die oben
genannten Entwicklungen umfassend untersucht worden, noch sind die Reaktionen der Parteieliten auf die in- und außerhalb der SPD aufkommenden Umbrüche – nicht zuletzt auf die 68er-Bewegung selbst – bisher systematisch erfasst
worden.
Die beiden Standardwerke über die SPD in den sechziger Jahren, Kurt Klotzbachs „Der Weg zur Staatspartei“, das die Entwicklung der SPD bis zur Bundestagswahl 1965 in den Blick nimmt, sowie der von Klaus Schönhoven vorgelegte
Überblick über die „Sozialdemokratie in der Zeit der Großen Koalition“ behandeln das betreffende Thema nur sehr am Rande.107 Klotzbach konzentriert sich in
seiner Studie auf die Entwicklung hin zur programmatisch-politischen Erneuerung von Bad Godesberg und die anschließende „Gemeinsamkeitspolitik“. Die
Studie geht ausführlich auf die parteioffizielle Linie der SPD ein, behandelt
hingegen die parteiinternen Widerstände gegen den neuen Kurs sowie die sich
anbahnenden Veränderungen in der Parteijugend nur sehr beiläufig. Eine schlüssige Erklärung für die Ende der 60er Jahre zunehmenden innerparteilichen Konflikte sowie die einsetzende „Reideologisierung“108 eines Teils der SPD liefert
das Werk nicht. Die Monographie von Klaus Schönhoven vermittelt einen umfassenden Einblick in die politischen Themen der Zeit und die politische Arbeit
der Großen Koalition, geht aber auf die hier vorliegende Fragestellung ebenfalls
nur am Rande ein. Auch nach der Veröffentlichung dieses Überblickswerks
bleibt eine systematische Aufarbeitung des Einflusses der 68er-Bewegung und
der politkulturellen Wandlungsprozesse der 60er Jahre auf die Sozialdemokratie
ein Desiderat. Auch andere Überblickswerke und Spezialstudien erhellen – wenn
überhaupt – nur sehr rudimentär Teilaspekte des Gesamtbildes.109
107 Vgl. Klotzbach, Staatspartei; Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in
der Zeit der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004.
108 So bezeichnet Andreas Rödder den wachsenden Einfluss marxistischer und neomarxistischer Theorie in der SPD, vgl. Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969 –
1990 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 19A), München 2004, S. 167.
109 Siehe vor allem: Peter Lösche/Franz Walter, Die SPD: Klassenpartei – Volkspartei –
Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992; Bouvier, Zwischen Godesberg; Heinrich Potthoff/Susanne
Miller, Kleine Geschichte der SPD: 1848-2002, 8. aktualisierte u. erw. Aufl., Bonn 2002;
Joseph Rovan, Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Frankfurt/Main 1980; Helga
Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins
21. Jahrhundert, Berlin 2007; Gerard Braunthal, The German Social Democrats since
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Allerdings gibt es Spezialstudien zur Geschichte der Sozialdemokratie in den
60er und 70er Jahren, die das Thema dieser Arbeit berühren. Die „Godesberger
Wende“ und die damit verbundene „Westernisierung“ der Sozialdemokratie sind
umfassend erforscht, weshalb die diesbezüglichen Kapitel in dieser Arbeit weitgehend aus der Sekundärliteratur erarbeitet wurden.110 Ebenso sind die damit
zusammenhängenden Konflikte zwischen SPD und SDS um das Jahr 1960 bereits recht umfassend analysiert worden.111 Die weitere Geschichte des SHB, der
im Prozess der Trennung von SPD und SDS entstand, hat bisher allerdings fast
keine Aufmerksamkeit von Historikern bekommen. Einen knappen Aufriss von
wenigen Seiten über die wichtigsten politischen Etappen in der Geschichte des
SHB liefert Willy Albrecht im Ausblick seiner Monographie über den SDS,112
und Torsten Bo Jorgensen hat in einer veröffentlichten Magisterarbeit das Amerikabild des SHB untersucht.113
Die politischen und politkulturellen Veränderungen bei den Jungsozialisten in
den 60er Jahren sind mittlerweile Gegenstand einiger Untersuchungen.114 Die
110
111
112
113
114
1969. A Party in Power and Opposition, Boulder 1994; Stephen Padgett/William E.
Paterson, A History of Social Democracy in Postwar Europe, London 1991; Sassoon,
One Hundred Years; Geoff Eley, Forging Democracy. The History of the Left in Europe
1850-2000, Oxford 2002. Dies gilt auch für die Spezialstudie von Thomas Koelble über
„Social Democracy and the New Left Challenge“. Koelble analysiert die langfristigen
Veränderungen in SPD und Labour Party in den 70er und 80er Jahren im Hinblick auf die
Enstehung neulinker Bewegungen und im Wesentlichen aus politikwissenschaftlichtheoretischer Sicht, ohne Primärquellen hinzuzuziehen. Vgl. Thomas A. Koelble, The
Left Unraveled. Social Democracy and the New Left Challenge ind Britain and West
Germany, Durham 1991.
Vgl. Angster, Konsenskapitalismus; sowie Anm. 162.
Wie Anm. 80.
Vgl. Albrecht, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund, S. 446ff. Darauf basierend
auch: Willy Albrecht, ‚Unter den Talaren...’. Studentenbewegung und Sozialdemokratie
bis 1968, in: Dieter Dowe (Hrsg.), Partei und soziale Bewegung. Kritische Beiträge zur
Entwicklung der SPD seit 1945, Bonn 1993, S. 59-80.
Torsten Bo Jorgensen, Das Amerikabild des Sozialdemokratischen Hochschulbundes
SHB 1960 – 1969, Oer-Erkenschwick 2001 [zugleich: Universität Kopenhagen, Magisterarbeit, 1999].
Vgl. Martin Oberpriller, Jungsozialisten. Parteijugend zwischen Anpassung und Opposition, Bonn 2004; Schönhoven, Wendejahre, S. 534ff.; Wolfgang R. Krabbe, Parteijugend
in Deutschland. Junge Union, Jungsozialisten und Jungdemokraten 1945-1980, Wiesbaden 2002; Karlheinz Schonauer, Geschichte und Politik der Jungsozialisten in der SPD
1946-1973. Der Wandel der SPD-Jugendorganisation von der braven Parteijugend zur
innerparteilichen Opposition, Phil. Diss., Berlin 1980; Volker Häse/Peter Müller, Die
Jungsozialisten in der SPD, in: Jürgen Dittberner/Rolf Ebbighausen (Hrsg.), Parteiensystem in der Legitimationskrise. Studien und Materialien zur Soziologie der Parteien in der
Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1973, S. 277-306; Christoph Butterwegge, Jungsozialisten und SPD. Die Widerspiegelung sozioökonomischer Entwicklungstendenzen
im Verhältnis des sozialdemokratischen Jugendverbandes zu seiner „Mutterpartei“,
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Monographie von Wolfgang R. Krabbe untersucht in vergleichender Perspektive
die Entwicklung von Jungsozialisten, Jungdemokraten und Junger Union in der
Zeit von 1945 bis 1980.115 Viele grundlegende Entwicklungen bei den Jungsozialisten werden hier aufgezeigt, allerdings nicht in der notwendigen Tiefgründigkeit im Hinblick auf die in dieser Arbeit thematisierten Fragestellungen. Die
bislang umfassendste Monographie ist von Karlheinz Schonauer vorgelegt worden.116 Der Autor zeichnet die politische Entwicklung der Jusos auf dem Weg
zur linksradikalen innerparteilichen Opposition detailliert und quellengestützt
nach und betont auch die Bedeutung der Außerparlamentarischen Opposition für
diesen Prozess. Angesichts neuerer historischer Erkenntnisse über die Bedeutung
des übergreifenden Werte- und politkulturellen Wandels in den 60er Jahren sowie angesichts erweiterter Fragestellungen im Hinblick auf die kultur- und performanzgeschichtlichen Aspekte des Wandels erweist sich Schonauers Arbeit
aber als nicht ausreichend. Gleichwohl haben die genannten Arbeiten bereits
entscheidende Breschen in die Forschungslandschaft geschlagen.
Untersuchungen zur innerparteilichen Situation der SPD in dieser Zeit liegen
mit den Werken von Peter Arend und Klaus Günther vor.117 Arend skizziert die
innerparteilichen Gruppierungen und die seit der Mitte der 60er Jahre anwachsenden Flügelkämpfe in der SPD vor allem unter politikwissenschaftlichanalytischen Gesichtspunkten. Unveröffentlichtes Quellenmaterial wird kaum
herangezogen, zu großen Teilen basiert die Studie auf der Auswertung von Presseartikeln. In der Studie von Klaus Günther geht es um die Qualität der innerparteilichen Demokratie in der SPD im Zeitraum von 1946 bis 1966. Die Monographie basiert hauptsächlich auf der Untersuchung der Bundesparteitage der SPD
und möchte ermitteln, ob die Delegierten bzw. die Parteibasis gegenüber der
Parteiführung akklamierend oder eher stimulierend handelten. Beide Studien
waren für die Arbeit an der einen oder anderen Stelle relevant.
Auch die von Beatrix Bouvier vorgelegte Untersuchung über „die SPD zwischen Godesberg und Großer Koalition“ war für die hier vorliegende Dissertation an vielen Stellen hilfreich.118 Bouvier skizziert die programmatische Neuorientierung der SPD in den 60er Jahren, die im Zusammenhang mit der Strategie
der „Gemeinsamkeitspolitik“ stand und den „Weg der SPD in die Regierungsverantwortung“ ebnen sollte. Die Studie ist insofern für die hier vorliegende
115
116
117
118
42
Hamburg 1975; Gert Börnsen, Innerparteiliche Opposition (Jungsozialisten und SPD),
Hamburg 1969.
Vgl. Krabbe, Parteijugend.
Vgl. Schonauer, Jungsozialisten.
Vgl. Peter Arend, Die innerparteiliche Entwicklung der SPD 1966 – 1975, Bonn 1975;
Klaus Günther, Sozialdemokratie und Demokratie. Die SPD und das Problem der Verschränkung innerparteilicher und bundesrepublikanischer Demokratie, Bonn 1979.
Vgl. Bouvier, Zwischen Godesberg.
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Arbeit grundlegend, weil die politischen und politkulturellen Veränderungen in
den Parteijugendorganisationen der SPD insbesondere über die Kritik an dieser
strategisch-politischen Ausrichtung der Partei zum Ausdruck kamen.
Neben der Forschung zur Parteiengeschichte ist die Forschungslage zur 68erBewegung von Interesse. Obwohl die Literatur zur 68er-Bewegung mittlerweile
Legion ist, mangelt es immer noch an einer historisch konzisen Monographie,
die eine mehr oder weniger allgemein akzeptierte Deutung liefert. Hauptgrund
für diesen Mangel sind die politischen Grabenkämpfe um „1968“, die erst in
jüngster Zeit abzuflauen scheinen. Seitdem sind Fortschritte auf dem Weg zur
Historisierung von „1968“ unübersehbar.119
Überblickt man die Forschungslage zu „1968“, so fällt auf, dass empirische
Forschungen im Gegensatz zu theoretisch-soziologischen Analysen noch wenig
vorangeschritten sind.120 Forschungsarbeiten, die jenseits von SDS und Ostermarschbewegung andere Träger der 68er-Bewegung genauer unter die Lupe
nehmen, sind bisher Mangelware.121 Insofern kann ein genauer Blick auf die
Organisationen der Parteijugend der SPD in den 60er Jahren dazu beitragen, das
Bild von „1968“ zu verbreitern. Historisch-empirisch bislang kaum erforscht
sind zudem die Wirkungen der 68er-Bewegung, also unter anderem die Reaktionen der etablierten Eliten und Institutionen von Staat und Gesellschaft auf diese
119 Die wichtigsten Werke: Kraushaar, Mythos; ders., Achtundsechzig; Gilcher-Holtey
(Hrsg.), 1968; dies., Die 68er Bewegung; dies., Phantasie; Frei, 1968; von Hodenberg/Siegfried (Hrsg.), Wo ‚1968’ liegt; Schildt u.a. (Hrsg.), Dynamische Zeiten; Frese
u.a. (Hrsg.), Demokratisierung; Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse; Etzemüller, 1968;
Schildt/Siegfried (Hrsg.), Between Marx and Coca-Cola; Westfälische Forschungen 48
(1998). Eine umfassende Aufarbeitung des Forschungsstandes zur 68er-Bewegung ist an
dieser Stelle nicht notwendig; siehe dazu folgende Literaturberichte: Kraushaar, Mythos,
S. 253-347; ders., Zur Historisierung der 68er-Bewegung, in: Forschungsjournal Neue
Soziale Bewegungen 14 (2001), Nr. 2, S. 13-22; Weinhauer, Zwischen Aufbruch und
Revolte; Kersting, Entzauberung; Philipp Gassert/Pavel A. Richter, 1968 in West Germany. A Guide to Sources and Literature of the Extra-Parliamentarian Opposition, Washington D.C. 1998, S. 7-19; Edgar Wolfrum, “1968” in der gegenwärtigen deutschen
Geschichtspolitik, in: APuZ, B 22-23 (2001), S. 28-36; Carole Fink/Philipp Gassert/Detlef Junker, 1968: The World Transformed, Washington D.C. 1998, S. 1-27; Christoph Jünke, Den Ursprung historisieren? Ein Literaturbericht zum 30. Jubiläum der Revolte von 1968, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 16
(2001), S. 159-184; Weber, Kulturrevolution; Manfred Lauermann, Vierzig Jahre 1968,
in: Berliner Debatte Initial 20 (2009), Nr. 1, S. 111-149; Udo Wengst, „1968“ – 40 Jahre
danach. Ein Literaturbericht (Rezension), in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1 (15.01.2009),
http://www.sehepunkte.de/2009/01/14414.html, URL besucht am 12.12.2009; Peter Birke, Die Protestbewegungen und die ‚kulturelle Revolution’ der 1960er Jahre in der
bundesdeutschen Historiographie: Montage und Virtualität, in: Sozial.Geschichte 22
(2007), Nr. 2, S. 7-30.
120 So auch: Gassert/Richter, 1968, S. 9.
121 So auch: Weinhauer, Zwischen Aufbruch und Revolte, S. 426.
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Bewegung.122 Auch im Hinblick auf diese Frage verspricht die Arbeit wertvolle
neue Erkenntnisse.
Andreas Rödder hat weiterhin darauf aufmerksam gemacht, dass die konkrete
historische Entfaltung des Werte-, Kultur- und politkulturellen Wandels der 60er
Jahre in den verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Teilsegmenten
empirisch noch wenig beleuchtet ist.123 Die Untersuchung der Frage, wie sich
Werte- und politkultureller Wandel in der Sozialdemokratie in den 60er Jahren
widerspiegelten und ihren Ausdruck fanden, kann hier etwas Licht ins Dunkel
bringen.124
122 Auf dieses Forschungsdefizit weisen Gassert und Richter explizit hin, vgl. Gassert/Richter, 1968, S. 15f. Auch: Weinhauer, Zwischen Aufbruch und Revolte, S. 426.
Ein Versuch in diese Richtung: Marica Tolomelli, ‘Repressiv getrennt’ oder ‘organisch
verbündet’. Studenten und Arbeiter 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, Opladen 2001. Die Studie thematisiert die Interaktionen zwischen der 68erBewegung und den Gewerkschaften, insbesondere bei der Kampagne gegen die Notstandsgesetze. Eine erste Quellensammlung wurde vorgelegt: Hans-Joachim Winkler
(Hrsg.), Das Establishment antwortet der APO. Eine Dokumentation, 2. Aufl., Opladen
1968. Erste Ansätze einer Untersuchung der Reaktionen des „Establishments“: Stephan
Gorol, Zwischen Integration und Abgrenzung. SPD und studentische Protestbewegung,
in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 35 (1988), S. 600-607; Stephen Padgett, The
German Social Democratic Party: Between Old and New Left, in: David Bell/Eric Shaw
(Hrsg.), Conflict and Cohesion in Western European Social Democratic Parties, London
1994, S. 10-30; Franz-Werner Kersting, „Unruhediskurs“. Zeitgenössische Deutungen
der 68er-Bewegung, in: Frese u.a. (Hrsg.), Demokratisierung, S.715-740.
123 Vgl. Andreas Rödder, Wertewandel und Postmoderne. Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965 – 1990, Stuttgart 2004, S. 13.Grundlegend für die Entfaltung des Wertewandels im Bereich der Jugendkultur allerdings: Siegfried, Time.
124 Auf das Milieu der Arbeiterschaft in der bayerischen Montanindustrie bezogen: Dietmar
Süß, Kumpel und Genossen. Arbeiterschaft, Betrieb und Sozialdemokratie in der bayerischen Montanindustrie 1945 bis 1976, München 2003.
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