Leseprobe - Ferdinand Schöningh

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Gregor der Große
Peter Eich
Gregor der Große
Bischof von Rom zwischen
Antike und Mittelalter
Ferdinand Schöningh
Der Autor:
Peter Eich ist Professor für Römische Geschichte
an der Universität Freiburg/Br.
Titelbild:
Mosaik in der Basilika San Vitale,
Ravenna (6. Jhd.)
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© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1,
D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Nora Krull, Bielefeld
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78370-7
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Prolog zwischen Himmel und Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
1. Die Mittelmeerwelt der Spätantike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2. Italien im 6. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
3. Gregors Leben vor dem Pontifikat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
4. Der Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
5. Gregor als Bischof: die ersten Jahre (590-592) . . . . . . . . . . . 91
6. Rom und die Reichskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
7. Rom und die westlichen Königreiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
8. Der Mönchsbischof Gregor und das Klosterleben
seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
9. Gott, Christus und das menschliche Los in Gregors
Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
10. Gregor und die weltliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
11. Tod und Nachleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Häufiger zitierte Quellen, Abkürzungen und Hilfsmittel . . . . . . 273
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Vorwort
Dieses Buch entstand in mehreren Zeitschichten. Meine Beschäftigung mit dem 6. Jahrhundert setzte 2004 bei der Planung einer Habilitationsschrift ein, die ich dann wieder aufgab. Die Idee einer Biographie Gregors geht auf Gespräche mit Manfred Clauss 2010 zurück,
dem hier vorab für Rat und Geduld gedankt sei. Das Manuskript entstand dann vor allem in den Semesterferien der Jahre seit 2012.
Viele Personen haben mich bei der Fertigstellung des Manuskripts
unterstützt. Meine Kollegin Sitta von Reden und mein Bruder Armin
Eich haben Teile des Manuskripts gelesen und mit ihrer Kritik verbessert. Diethard Sawicki vom Schöningh Verlag hat als Lektor sprachliche Härten abgemildert. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in
Freiburg, Carolin Gschlecht, Julia Wilm, Lars Lenius und Philip
Straub haben zu unterschiedlichen Zeiten meine Arbeit begleitet. Stephan Baake hat das Manuskript zweimal korrigierend bewältigt. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Fehler sind natürlich ausschließlich auf
mich zurückzuführen.
Peter Eich
Freiburg, 3.10. 2015
Prolog
Zwischen Himmel und Hölle
Trajan galt lange als einer der besten Kaiser, die das Römische Reich je
regiert hatten. Diese Wertschätzung wurde auch noch von Schriftstellern im christlichen Kaiserreich der Spätantike geteilt, obwohl der historische Herrscher nun wirklich nicht als Christenfreund angesehen
werden kann. Gute Christen konnten eigentlich keinen Zweifel hegen, dass Trajan trotz seiner Verdienste um Rom in der Hölle gelandet
war, und diese Vorstellung ist ebenfalls bezeugt. Wer hätte sich auch
trauen können, wie einst Abraham mit Gott wegen des gerechten, aber
eben heidnischen Kaisers „zu rechten“? In mittelalterlichen Lebensbeschreibungen übernahm diese Aufgabe schließlich Gregor der Große,
römischer Bischof 590-604, fünfhundert Jahre nach Trajan. Gregor
habe bei einem Gang über das Forum Trajans an dessen Gerechtigkeit
gedacht und voller Trauer über den Irrglauben des Herrschers für ihn
gebetet. Wie dem Bischof offenbart wurde, habe Gott ihn erhört. Von
dieser Legende existieren viele Versionen und sie vermittelte viele
Botschaften. Eine davon ist unzweifelhaft die Wirkmacht von Gregors
Gebet, dessen Heiligkeit hier aufleuchtet.
Der Gregor der Legende hat aber nicht nur diese christliche Dimension. Sein Einsatz für den Idealkaiser verknüpft Gregor auch mit
dem Erbe des Römischen Reichs. Trajan, selbst nördlich von Sevilla
geboren, hatte viel für Italien getan. Italien und spezieller die Stadt
Rom waren Gregors Heimat, deren Schutz ihm stets in besonderer
Weise am Herzen lag. In der Legende rettet Gregors Gebet ein Stück
großer, aber noch heidnischer Vergangenheit Roms in eine nunmehr
christliche Welt hinüber. Ein Gott geweihtes Leben, Fürbitten für andere, Verwurzelung in der Tradition des Imperiums und Engagement
für das christliche Rom seiner Gegenwart: Die Legende verwebt jedenfalls in ihren frühen Entwicklungsstufen, bevor die Erinnerung an
die historischen Personen ganz verblasste, viele Züge von Gregors Leben in einen symbolischen Handlungszusammenhang.
„Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.“ Schillers berühmte Feststellung über Wal-
10
Prolog
lenstein lässt sich ohne Schwierigkeiten auch auf andere historische
Akteure übertragen. Die aktuelle Geschichtswissenschaft wird sich
hüten, Charakterbilder aus ihren Quellen oder älteren Darstellungen
zu übernehmen oder sich gar selbst an solchen Zeichnungen zu versuchen. Sie kann und muss aber Wahrnehmungen aus der je untersuchten Epoche selbst und aus späteren Betrachtungen in ihre Überlegungen mit einbeziehen, schon um Intentionen aus der Überlieferung
und älterer Literatur herausrechnen zu können. Der Gregor der zitierten Legende ist bei einer erheblichen Bandbreite der Akzentsetzungen
für die mittelalterliche Rezeption des Bischofs typisch. In der Wahrnehmung der Menschen seiner Zeit „schwankte“ Gregors Bild dagegen deutlich mehr.
Der Namensvetter des römischen Bischofs Gregor von Tours gibt
aus Anlass der Wahl und Weihe Gregors 590 Einblick in die Stimmung
der Zeit vermutlich vor allem in Rom, das unter einem neuen Schub
der Pest litt. Gregor erscheint zunächst als führender Aristokrat und
hochgebildet, im zweiten Teil seines Lebens als herausragender Asket
und Prediger, auf dem offenbar viele Hoffnungen ruhten. Die einzelnen Elemente dieser Charakterisierung finden sich auch bei anderen
Zeitgenossen. In der Regel haben sich aber nur Gregors Briefe, und
schon nicht die seiner Korrespondenzpartner erhalten. Wir müssen
also deren Aussagen oft erschließen. Noch so werden die Achtung und
der Respekt vieler Menschen für den Bischof, den Mönch, den Moralisten und den Schriftsteller Gregor sehr deutlich. Andere Prominente
dieser Zeit wie Columban von Luxeuil wünschten die Übersendung
von Schriften. Die Patriarchen im ägyptischen Alexandreia und im syrischen Antiocheia erwiesen ihm ihre Reverenz. In den Briefen des
Bischofs begegnet daneben auch der gute Freund und Ratgeber Gregor,
der sich um Kranke und Waisen sorgt und Trost spendet.
Solchen lobenden und bisweilen verherrlichenden oder doch von
ernster Freundschaft getragenen Zeugnissen stehen jedoch auch ganz
andere Charakterisierungen gegenüber. Maurikios, der oströmische
Kaiser, mit dem Gregors Leben eng verbunden war, nannte ihn einmal
naiv, einen Dummkopf, wie Gregor den Vorwurf betonend in seiner
Erwiderung schrieb. Tatsächlich könnte man ihm aufgrund einiger
seiner sehr weitreichenden Friedensbemühungen für sein Rom im
Krieg des Reichs mit den Langobarden sogar die Bereitschaft zum
Hochverrat unterstellen. Maurikios schonte den Bischof mit seiner
Kritik also noch. Die Urteile anderer sind weniger zurückhaltend ge-
Prolog
11
wesen. Im Kreise kirchlicher Gegner in der Donauregion traute man
dem römischen Bischof offenbar sogar einen (Justiz-)Mord zu. Klagen
über sein scharfes Vorgehen gegen Abweichler kamen auch aus Norditalien von dortigen Schismatikern. Typischer für das Empfinden Gescholtener mögen die Worte seines Mitbischofs Johannes von Ravenna sein, Gregor vermische in seinen Schreiben Honig und Schärfe.
Sein Gift haben auch andere zu schmecken bekommen, gelegentlich
auch bitteren Humor, eine Gabe, die der ernste Asket in ihrer reinen
Form selten verrät. Mittelalterliche Darstellungen sind bei allem Variantenreichtum weit weniger zwiespältig. Gregor wurde viel gelesen
und zu einem Heiligen und Lehrer der Kirche. Der Blick zurück auf
Gregor war offenbar ein in Teilen durchaus anderer als der seiner Zeitgenossen.
Jede Zeit hat sich ihre Gregorbilder gemacht. Dies gilt auch für die
Moderne. Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert hat sich die europäische Geschichtsforschung neu begründet, indem sie sich einem
neuen Wissenschaftlichkeitsideal verpflichtete. Sachlichkeit wurde zu
einem der höchsten Gebote. Die Auseinandersetzung mit Gregor verlief im leichten Widerspruch zu solchen Bekenntnissen eher kontroverser als in der vorhergehenden Zeit. In Werken von Autoren, die in
katholischen Milieus verwurzelt waren, war noch lange Zeit viel von
jener Verehrung für den Kirchenvater zu spüren, die ihm die Tradition in dieser Kirche zugemessen hatte. Noch in jüngster Zeit weisen
gerade die Werke prominenter benediktinischer Forscher Spuren dieser Reverenz auf. Die Wissenschaftlichkeit dieser Studien hat die Ehrerbietung ihrer Autoren nicht beeinträchtigt. Das Verhältnis von Gregor zu Benedikt von Nursia ist auch in dieser Lebensbeschreibung ein
Brennpunkt des Interesses.
Historiker haben sich aber auch in ganz anderem Tonfall zu Gregor
geäußert. Immer zitiert wird hier die Stellungnahme des meinungsfreudigen Altvorderen der deutschen Altertumswissenschaft Theodor
Mommsen, der Gregor einen „recht kleinen großen Mann“ genannt
hat. Dieser Kommentar findet sich eingebettet in einer ganzen Litanei
von herabsetzenden Bemerkungen in einer Studie zur Papstgeschichte
Johannes Hallers, der nachzuweisen sucht, das Gregor nichts geleistet
habe. Adolf von Harnack, ein anderer sehr einflussreicher Kirchenhistoriker, warf Gregor eine „Vulgarisierung“ des katholischen Glaubens
vor. Unbehagen mit dem Kirchenvater Gregor konnte auch weniger
offen zum Ausdruck gebracht werden. Dies geschieht etwa in Studien,
12
Prolog
die Gregors theologische und anthropologische Ansichten weitgehend beiseite lassen und einzig den Verwalter und Diplomaten zur
Kenntnis nehmen.
So unterhaltsam die starken Werturteile älterer Gregorstudien sind,
mit der heutigen Herangehensweise an historische Personen lassen sie
sich kaum mehr vereinbaren. Das vorliegende Buch bietet eine aktuelle Sicht auf Gregor, wobei aktuell nicht meint, dass stets der neuesten
These der Vorzug gegeben wird. Das Ziel ist ein doppeltes: Einerseits
soll über eine gut nachvollziehbare Lebensbeschreibung einer Person,
der heute noch ein wichtiger Platz im kulturellen Erbe Europas zukommt, eine prägende Zeit der Veränderungen in der Mittelmeerwelt
und Westeuropa vorgestellt werden. Andererseits wurde gerade mit
Blick auf Studierende, die sich mit der Epoche Gregors beschäftigen
wollen (und deren Patron er ja ist), eine Dokumentation der Ergebnisse hinzugefügt.
Gregor lebte in einer Umbruchzeit. In einer noch sehr lesenswerten
Darstellung von 1933 hat Erich Caspar, ein protestantischer deutscher
Papstforscher, dem wie so vielen in der Zeit des Nationalsozialismus
jüdische Vorfahren zum Verhängnis wurden, Gregor als einen Vermittler charakterisiert. Verdichtet werden Caspars Überlegungen oft
zu der Bezeichnung „Grenzgestalt“. Diese glückliche Wortschöpfung
hat sich rasch verselbständigt und wird nun in einem viel weiteren
Sinn gebraucht, als Caspar ursprünglich beabsichtigt hatte. Der verallgemeinerte Begriff „Grenzgestalt“ löst jedoch leicht die Vorstellung
einer tiefen Zäsur aus, die den Kirchenvater dann an die Schwelle eines hereinbrechenden anderen Zeitalters stellt. Von so klaren Brüchen
war Gregors Leben jedoch nicht gekennzeichnet. Gewiss, Gregor lebte
in einer Phase beschleunigten Wandels, doch lässt sich dieser Wandel
schon viel weiter zurückverfolgen und sollte über Gregors Tod hinaus
anhalten. Dieser Epoche der Umgestaltung widmet die Geschichtswissenschaft heute weit mehr Aufmerksamkeit als früher. Die Veränderungen, die sie brachte, und ihre Bedeutung werden in der Folge
zum Teil deutlich anders bestimmt und eingeordnet, als dies noch vor
zwanzig Jahren üblich war. Es ist dieser geänderte Blick auf das Umfeld von Gregors Handeln, der mehr als alle anderen Faktoren eine
neue Lebensbeschreibung rechtfertigt.
Die Päpste und das päpstliche Rom sind in den letzten zehn Jahren
bei außergewöhnlichen Anlässen immer wieder in den Blickpunkt
auch jener Öffentlichkeit getreten, die sich ansonsten nicht kontinu-
Prolog
13
ierlich mit der katholischen Kirche auseinandersetzt. Erinnert sei
etwa an die „santo subito“ Rufe nach dem Ableben Johannes Pauls II.,
dessen langer Pontifikat einen großen Wandel in Europa begleitet hatte, die rhythmischen „Benedetto, Benedetto“ Sprechchöre bei dem Besuch des ersten deutschen Papstes seit annähernd fünfhundert Jahren
auf dem Kölner Weltjugendtag 2005, den Rückzug Benedikts (2013)
oder die neue Konzentration auf das Thema Armut in den Aussagen
und Gesten Franziskus’ I., die viel beachtet werden. Unsere Welt ist
eine andere als die Gregors, wie auch diese Lebensbeschreibung verdeutlichen wird, ein Vergleich wird sicher nicht angestrebt. Doch die
Differenz ist keine vollständige, wozu die Bedeutung der Tradition in
der katholischen Kirche viel beiträgt. Schon die Namenswahl der römischen Bischöfe stellt Bezüge zur Vergangenheit her. Joseph Ratzinger hat mit dem Namen Benedikt (XVI.) sicher auch an Benedikt von
Nursia erinnern wollen, dem Gregor sehr wahrscheinlich eine Lebensbeschreibung gewidmet hat. Aus der Rückschau sind beider Namen trotz der zeitlichen Differenz zwischen ihnen oft eng miteinander
verbunden worden. Benedikt XVI. hat denn auch mehrere Ansprachen zu Gregor gehalten, die sich leicht im Internet finden. Vielleicht
kann die Aufmerksamkeit, die die gerade noch einmal aufgerufenen
Ereignisse auf sich gezogen haben, dazu beitragen, bei Leserinnen und
Lesern ohne engeren Bezug zu historischen Studien Interesse dafür zu
wecken, welche Handlungsmöglichkeiten römische Bischöfe früherer
Zeit hatten und welche Grenzen ihnen gesetzt waren.
Einige Worte zum Aufbau dieses Buches mögen diese Einleitung
abschließen. An seinem Beginn steht nicht Gregors Wiege, sondern
ein Blick auf die römische Spätantike. Wie schon angesprochen, wird
diese Zeit heute deutlich anders gesehen als noch vor zwanzig Jahren.
Doch geht es im ersten Kapitel nicht vorrangig um diese veränderte
Einschätzung in der Geschichtswissenschaft. In den Jahrhunderten
seit etwa 250 n. Chr. setzte eine Reihe von Entwicklungen ein, die
noch Gregors Welt und ihn selbst nachhaltig geformt haben. Dazu
zählen der konstante Ressourcenmangel der römischen Zentralgewalt, die Ausgestaltung einer Reichskirche, die theologischen Lagerbildungen in der Mittelmeerwelt, die speziell das Oströmische Reich
in konstante Spannungen versetzten, und, erst seit dem 5. Jahrhundert, die Verfestigung neuer barbarischer Königreiche im Westen.
Diese Entwicklungen sollen wenn auch in aller Kürze in ihrem historischen Zusammenhang vorgestellt werden und nicht in knappen
14
Prolog
Rückblicken aus Gregors Zeit heraus. Eine solche „Einstreuung“ würde ihrer Bedeutung als Prägestöcke nicht gerecht. Im Anschluss wird
der Blick auf das Italien des 6. Jahrhunderts verengt, um dessen Mitte
(um 540) Gregor geboren wurde (2). Danach treten Gregors Leben
vor dem Pontifikat und sein Werk in den Mittelpunkt (3/4). Seine
Schriften bilden unsere wichtigsten Quellen und sind zugleich das
Fundament seines Nachruhms. Die jeweiligen Werke werden in unterschiedlichen Zusammenhängen besonders gewürdigt. Das fünfte
Kapitel weicht noch einmal vom Aufbau älterer Biographien ab, indem es speziell das Briefregister Gregors vorstellt und nicht behandelt,
was ein römischer Bischof im 6. Jahrhundert war, sondern wie man
römischer Bischof war. Im Anschluss werden Handlungsschwerpunkte Gregors thematisiert. Beleuchtet werden das Verhältnis des römischen Bistums, das in der ganzen organisierten Christenheit einen
Primatsanspruch erhob, zur Reichskirche, Gregors spannungsreiche
Beziehungen zu den Königreichen des Westens und ihren Kirchen,
die Missionierung Englands und der Einfluss des Mönchsbischof Gregor auf die Klosterwelt seiner Zeit (Kap. 6-8). Das hohe Ansehen, das
Gregor bei vielen späteren Rezipienten genoss, beruht speziell auf
zwei Pfeilern: seinem literarischen Werk, das neben moralischen Ermahnungen, seelsorgerischer Anleitung und Mystik vor allem Bibelauslegung bietet, sowie seiner autoritativen Aura. Im letzten Teil des
Buchs werden vor diesem Hintergrund Gregors theologische und anthropologische Positionen skizziert und die außerordentlich politische Wirkung eines unpolitischen Bischofs herausgearbeitet (9/10).
Das Buch schließt mit einem Ausblick auf Gregors Nachleben (11).
Kapitel 1
Die Mittelmeerwelt der Spätantike
Wir sind gewohnt, Hellas und Rom als Teile einer antiken Mittelmeerkultur zu begreifen. Das Mittelmeer verband eine immense Landmasse zwischen der spanischen Atlantikküste und der syrischen Wüste
oder Steppe und ermöglichte den raschen Austausch von Waren, Informationen und Ideen. Einige Getreidesorten, Olivenöl und Weine
waren die vorherrschenden Nahrungsmittel und sorgten trotz unterschiedlicher Qualität für charakteristische Gemeinsamkeiten in Diät
und Esskultur. Die Kommunikationswege und -möglichkeiten vom
Meer ins Land hinein waren, abhängig von physischen Grundgegebenheiten wie Gebirgen und Flüssen, durchaus vergleichbar. Und
auch die politischen Organisationsformen wiesen zumindest auf den
ersten Blick Ähnlichkeiten auf: Die Stadt (mit dem zugehörigen Territorium) erscheint als Grundform gemeinsamen Lebens, flankiert von
Dörfern und Landgütern.
Doch dürfen diese Gemeinsamkeiten nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die Unterschiede in den Lebenswirklichkeiten der
antiken Menschen enorm waren: spanische Fischer, ägyptische Bauern, Nomaden des Nahen Ostens und Bergbewohner Zentralanatoliens hätten sich kaum als Mitglieder desselben sozialen Universums
begriffen. Das Mittelmeer schuf nicht nur in vielen Gebieten ein Mikroklima; auch sozial und politisch existierte eine Vielzahl von Mikrowelten.1 Tendenzen eines Zusammenwachsens dieser Welten waren
fast immer Folgen großer militärischer Unternehmungen. Der Alexanderzug und die makedonisch-griechischen Nachfolgereiche, vor
allem aber die römischen Eroberungen haben unbestreitbar eine politisch-kulturelle Vereinheitlichung der mediterranen Welt in Gang gesetzt. Dieser Prozess verlief allerdings sehr langsam. In dem entwickelten römischen Kaiserreich gab es zwar offensichtlich eine Anzahl
verbindender Elemente. Zu nennen sind das römische Militär und
römische Straßen, römisches Geld, römische Maße und die römische
Machtsymbolik, die vor allem auf den Kaiser konzentriert war. Im
Laufe der Zeit wurde auch das Recht, vor allem das Kaiserrecht, im-
16
1. Die Mittelmeerwelt
mer bedeutsamer. Das galt besonders, seit 212 (oder nur wenig später)
die freien Bewohner des Reichs in ihrer überwiegenden Mehrheit das
römische Bürgerrecht erhalten hatten. Auch die städtischen Ordnungen und das Aussehen der mediterranen Städte durchliefen einen Annäherungsprozess. Dennoch darf das Ausmaß der Romanisierung der
Mittelmeerwelt nicht überschätzt werden. Wie weit das Imperium auf
dem Lande, auf dem stets die Mehrzahl der Menschen lebte, außer mit
seinen Steuerforderungen wirklich präsent war, lässt sich nicht sicher
entscheiden; Skepsis ist hier sicher sinnvoll. Auch in der Hohen Kaiserzeit wurde im Imperium mit seinen vielleicht sechzig Millionen
Einwohnern trotz der Dominanz des Lateinischen und des Griechischen beispielsweise noch immer eine frappierende Zahl anderer
Sprachen gesprochen.2 Das Imperium bildete einen starken Rahmen,
aber die von diesem Rahmen umschlossenen Gebiete waren weder
politisch noch sozial uniform. Die Tendenzen zur politisch-rechtlichen Zentralisierung und zur sozialen Vereinheitlichung haben sich
in der Spätantike teils noch verstärkt; sie wurden aber auch neuen Belastungen ausgesetzt.
Der Begriff „Spätantike“ bedarf zunächst der Erklärung. Über Jahrhunderte überwog bei der Einordnung der römischen Geschichte ein
simples kulturmorphologisches Modell: Rom wurde gegründet, sei
quasi geboren worden, reifte zu einem kraftvollen Erwachsenen, der
sich seine Umgebung unterwarf, und führte in seinen besten Jahren
(in der Hohen Kaiserzeit) diese Umwelt zu kulturellen Höhen und
friedlicher Koexistenz zusammen. Dann jedoch, im 3. Jahrhundert
n. Chr., habe jener Alterungsprozess begonnen, den das Wort „Spätantike“ schon in sich trägt: Einer zwischenzeitlichen Stabilisierung des
Reichs (284-337) sei langsamer Schwund der Kräfte, zumindest im
Westen Siechtum im 5. Jahrhundert und ein zeitlich fixierbarer Tod
gefolgt: 476 wurde der letzte weströmische Kaiser abgesetzt. Das oströmische Reich des späten 6. und 7. Jahrhunderts, also auch in der Zeit
Gregors des Großen, wurde schon aufgrund seines angeblichen „Cäsaropapismus“ (der Allmacht der Herrscher auch im Bereich des Glaubens) nicht mehr dem europäischen Erbe zugerechnet.3
Dieses Alterungsmodell in seiner reinen Form ist von der Forschung schon seit längerem zurückgewiesen worden. Doch seit etwa
30 Jahren werden nun auch die subtileren Ableitungen widerlegt. Statt
als eine Übergangsphase des Nicht-Mehr wird die Spätantike nun eher
als eine eigenständige kulturelle Phase mediterraner Geschichte von
1. Die Mittelmeerwelt
17
erheblicher Dauer gesehen. Diese Phase setzte nach Auffassung mancher Historiker schon im 2. Jahrhundert n. Chr. ein und endete im
Westen erst lange nach dem Ende des Kaisertums, vielleicht erst unter
den frühen Karolingern. Auch die Eroberung Syriens und Ägyptens
durch die Araber in den 630er und frühen 640er Jahren gilt nicht
mehr als definitives Fanal des Anbruchs einer neuen Zeit.4 Doch geht
es bei dieser veränderten Sichtweise nicht einfach um eine Öffnung
bislang als starr verstandener chronologischer Grenzen. Vor allem ist
es die lange Zeit gültige Annahme eines universellen Niedergangs der
spätantiken Welt, die heute auf Ablehnung stößt. Auf vielen Feldern
des kulturellen Lebens lassen sich seit dem 3. oder 4. Jahrhundert statt
eines Verfalls neue, zum Teil erste Blüten ausmachen. Dies gilt etwa
für die literarischen Auseinandersetzungen auf dem Feld der Religion
oder die Entwicklung neuer religiöser Lebensformen. Die bildende
Kunst und die Architektur der Zeit können ebenfalls nicht in ein Dekadenzmodell gezwängt werden. Sie folgten eigenen Gattungsgesetzen und ästhetischen Vorstellungen. Pauschale Thesen eines Verfalls
des Charakteristikums der Mittelmeerkultur – der antiken Stadt –
sind merklich differenzierteren Bestandsaufnahmen gewichen. Ebenso wenig lässt sich in der Mittelmeerwelt ein flächendeckender demographischer Zusammenbruch nachweisen, auch wenn einige Regionen
des Westens sicher von einem Bevölkerungsrückgang betroffen gewesen sind.5
In unserer heutigen Zeit, in welcher der ökonomische der bevorzugte Zugang zu fast allen Phänomenen ist, wird auch die Vergangenheit unter wirtschaftlichen Aspekten neu vermessen. Fragen zur damaligen Entwicklung der Stadt als Lebensform und Wirtschaftsraum
wie auch zur Bevölkerungsdichte in den Mittelmeerregionen führen
bereits ins Zentrum dieses Forschungsansatzes. Mit Blick auf die wirtschaftlichen Gegebenheiten der spätrömischen Zeit hat sich in den
letzten zwanzig Jahren in der Forschung eine eigentlich banale Erkenntnis durchgesetzt: Ein schwacher Kaiser war nicht gleichbedeutend mit ökonomischem Niedergang bis hin zu den Randzonen und
ein Angriff auf das Rheinland bewirkte keinen Produktionsrückgang
in Nordafrika. Schon im Imperium Romanum war die Wirtschaft
zwar, um mit Kurt Tucholsky zu sprechen, „verflochten“, jedoch längst
nicht in dem Ausmaß, wie dies für die Moderne und Postmoderne
charakteristisch werden sollte. Manche Regionen des immensen Imperiums haben gerade auch im 4., 5. und 6. Jahrhundert wirtschaftlich
18
1. Die Mittelmeerwelt
geblüht. Bspw. wurde mehr Land unter Bebauung genommen oder
Städte wurden architektonisch ausgestaltet. Andere Gebiete litten dagegen unter massiven Problemen. Die unterschiedliche Entwicklung
war nicht einfach nur historischen Wechselfällen, vermeintlichen Zufälligkeiten oder richtigen bzw. falschen Entscheidungen der politischen Eliten geschuldet. Der entscheidende Faktor war die Frage, in
welchen Provinzen die imperiale Infrastruktur gegen feindliche Angriffe abgesichert werden konnte – und dies unter Umständen auch
nach einem Austausch oder einer Ergänzung der alten Eliten durch
„barbarische“ Neuankömmlinge.6 Eine Nationalökonomie des Imperiums gab es nicht. Wohl aber gab es in einem sehr grundsätzlichen
Sinne eine politische Ökonomie, die von den Institutionen des Imperiums wesentlich mitbedingt und mitbestimmt wurde. Die Reichweite
dieser imperialen Institutionen – neben der Armee vor allem die
Zweige der Verwaltung, die materielle und finanzielle Ressourcen wie
Getreide oder Geld sammelten und neu zuwiesen – variierte seit der
zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts je nach Region. Frieden und Stabilität wurden kostbare und ungleich verteilte Güter.
Schon seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. veränderten sich die politisch-militärischen Kräfteverhältnisse in Mitteleuropa zu Ungunsten
Roms, wenn auch zuerst noch kaum merklich und regional sehr unterschiedlich. Roms Imperium basierte vor allem auf seiner Militärmacht, und diese hatte sich stets als überlegen empfunden und war
eigentlich immer expansiv ausgerichtet gewesen. Doch vor allem seit
dem 3. Jahrhundert wurde das Reich immer öfter in Mehrfrontenkriege verwickelt, die de facto meist Abwehrkriege waren. Das große Berufsheer, welches das institutionelle Rückgrat des Imperiums bildete,
war jedoch aus permanenter Defensive heraus nur schwer bezahlbar.
Immer deutlicher geriet das Imperium seit dem 3. Jahrhundert daher
in eine fiskalische Schieflage. Eine immense Zahl von Bürgerkriegen
hat die Situation weiter verschärft. So entwickelte sich eine widersprüchliche Situation: Die militärische Bedrohung speziell der Grenzgebiete ließ einerseits die unterschiedlichen Interessen der einzelnen
Zonen stärker hervortreten, während die Gegenmaßnahmen der Zentralregierung andererseits den Grad der Einheitlichkeit des Imperiums erhöhten.
Die Kaiser des 3. und frühen 4. Jahrhunderts – besonders Diokletian (284-305) und Konstantin (306-337) – haben das Imperium in Reaktion auf die gewandelte strategische und fiskalische Situation auf
1. Die Mittelmeerwelt
19
eine neue Grundlage gestellt. Eine historische Vorform von Bürokratie
wurde etabliert, die Streitkräfte wurden verstärkt. Eine Steuerreform
sicherte diese Reformen ab.7 Der so entstandene strukturelle Rahmen
prägte trotz mancher Veränderung das Imperium bis in das 6. Jahrhundert. Anders als während der ersten hundertfünfzig Jahre der Kaiserzeit regierten seit dem späten 3. Jahrhundert (auch abgesehen von
den häufigen Usurpationen und Thronstreitigkeiten) meist mehrere,
das heißt seit der Mitte des 4. Jahrhunderts in der Regel zwei Kaiser das
Reich, wobei die Reichsteile wechselnden Zuschnitt hatten. Die Teilung wurde zwar nicht durch eine Grenze im eigentlichen Sinne des
Wortes markiert, wohl aber durch eine administrative Trennlinie, die
in der einen oder anderen Form auf dem Balkan und in Nordafrika
Osten und Westen voneinander schied. Die Dynastie Konstantins
(306-363) konnte das Reich noch unversehrt erhalten, aber manche
Provinzen am Tigris oder am Rhein und im rückwärtigen Gallien standen doch unter erheblichem militärischen Druck. So wurde 355 Köln
von Franken eingenommen. Der Historiker Ammianus Marcellinus
schildert die Kämpfe des Caesar (Juniorkaisers) Julian im römischen
Gallien und am Rhein in den Jahren 356-360 als extrem schwieriges
Unterfangen. Der gleiche Julian verlor als Kaiser (Augustus) 363 am
Tigris Schlacht und Leben in einem der sinnlosen Angriffskriege des
Imperiums, das immer noch von der Doktrin der eigenen Unbesiegbarkeit dominiert wurde.8 Immer deutlicher wurde, dass römische
Verbände Mehrfrontenkriege weder finanziell noch militärisch siegreich durchstehen konnten. 378 blieb Kaiser Valens gegen in den Quellen als „gotisch“ bezeichnete Feinde mit einem Großteil seiner Elitetruppen bei Adrianopel (Edirne) auf dem Schlachtfeld. Die Niederlage hat das Reich nachhaltig geschwächt. Kaiser Theodosius I. hat das
Imperium in der Folge durch eine Integration der sogenannten „Goten“ südlich der Donau im Reich wieder konsolidiert. Die genauen
Umstände dieses Vorgangs sind umstritten, insbesondere, ob Land
vergeben wurde. Vielleicht gab es bei der Aufnahme von ursprünglich reichsfremden Kampfgruppen im Imperium eine Tendenz, von
der Überschreibung von Steueranteilen (wohl meist in Form von
Lebensmitteln) zu Landzuweisungen überzugehen. In jedem Fall war
es zukunftsweisend, dass die römischen Machteliten nun das Vorhandensein ganzer Kriegerverbände auf dem Reichsterritorium akzeptierten – bzw. akzeptieren mussten, da sie sich jeder Strategie des „Teile und herrsche“ erfolgreich widersetzen konnten. Uneinheitlichen
20
1. Die Mittelmeerwelt
Kampfgruppen mit oft germanischen Namen, die sich langsam sozial
und politisch verfestigten, wurden im Westen immer öfter Regionen
innerhalb der Grenzen des Imperiums überlassen, in denen sie dann
de facto politisch unabhängig lebten – und das Reichsgebiet dadurch
fragmentierten.
Theodosius I. hatte das Imperium 394 noch einmal vereinigt. Nach
seinem baldigen Tod (395) trat eine Veränderung der kaiserlichen Rolle markant hervor, um die während des 4. Jahrhunderts intensiv gerungen worden war.9 Seine Söhne Arkadios und Honorius, die nun in Ost
und West die Herrschaft übernahmen, agierten (schon aufgrund ihrer
Jugend) nicht mehr selbst als Feldherren. Sie waren eher Symbolfiguren ihrer Heere und Verwaltungen, die selbst ihre Hauptstädte Konstantinopel und (seit 402) Ravenna kaum je verließen. Diese politische
Konstellation wurde nun typisch. Andere Personen übernahmen an
Stelle der Kaiser nicht nur das Kommando über die Truppen, sondern
auch die übrigen Regierungsgeschäfte. Im Osten konnten dies ganz
unterschiedliche Mitglieder des Hofes sein: Kaiserfrauen, Administratoren, Höflinge ohne spezielles Portfolio oder (seltener) Generäle. Im
Westen nahm zumeist ein militärischer Oberbefehlshaber (oft mit dem
Titel Magister peditum praesentalis) das Heft des Handelns in die Hand,
allerdings in der Regel bedrängt von anderen Kandidaten für eine ähnliche Stellung und oft in Auseinandersetzung mit den außerhalb Italiens agierenden Generälen. Die seit Konstantin bestehende Scheidung
von ziviler und militärischer Kompetenz wurde durch diese Entwicklung nach und nach eingeschränkt. Die magistri militum (kommandierenden Generäle) hatten zumindest im Westen oft Wurzeln außerhalb
des Imperiums. Aber ihr Migrationshintergrund war nicht die Ursache
für die langsame Desintegration dieses Reichsteils, ebenso wenig wie
die hohe Zahl „germanischer“ Soldaten im römischen Heer zu einem
Niedergang der Kampfkraft führte. Vielmehr waren die militärischen
und steuerlichen Möglichkeiten des westlichen Imperiums erschöpft.
Eine stärkere Abschöpfung dringend benötigter Steuern und Lebensmittel für den Unterhalt des Militärs war nicht mehr durchsetzbar,
und mit jeder Niederlage standen weniger Ressourcen zur Verfügung.
406 durchbrachen offenbar starke Kampfverbände (genannt werden
vor allem Vandalen, Alanen und Sueben) die Rheingrenze. Dieser Zusammenbruch der Grenzverteidigung konnte nie wirklich kompensiert werden. Auch in der Folgezeit standen noch römische Armeen im
Felde, die auch Schlachten gewonnen haben.10 Aber selbst gemeinsam
1. Die Mittelmeerwelt
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waren sie nur noch einer von vielen militärischen Faktoren in der
westlichen Mittelmeerwelt. Auch die schon erwähnten vertraglich geregelten Aufnahmen von ursprünglich von jenseits der Grenzen des
Imperiums stammenden Kämpfergruppen (foedera) mit Anspruch auf
Lebensmittel- oder Geldzuweisungen bei zumindest de facto weitgehender Autonomie sorgten nicht für stabile Verhältnisse. Die Einnahme Roms 410 durch die Truppen Alarichs war – auch wenn sie im
Wesentlichen aus schierer politischer Dummheit resultierte – ein Fanal, das anzeigte, dass es im westlichen Imperium kein Gewaltmonopol mehr gab. Bei der Verarbeitung dieses Traumas sind große Werke
der abendländischen Literatur entstanden, wie etwa Augustins Gottesstaat (De civitate dei) oder Orosius’ von Augustin aufgegebener Dissertation Geschichte gegen die Heiden (Historiae adversus Paganos) mit der
These, dass es früher auch nicht besser gewesen sei.
Ab 429 eroberten die Vandalen das getreidereiche Nordafrika und
schädigten dadurch den römischen Ressourcenhaushalt entscheidend.
Von dieser Bastion aus haben sie Rom 455 erneut und intensiver als
Alarich geplündert. Zwar konnte das Imperium unter dem Magister
peditum praesentalis Aëtius in den frühen fünfziger Jahren noch die
Abwehr der Hunnen organisieren. Doch mit Aëtius’ Beseitigung kurze
Zeit später fiel die letzte starke Persönlichkeit im Westreich, die noch
substantielle Teile des Provinzialreichs durch militärisches Geschick,
aber auch mit Hilfe eines dichten Netzwerks von Freundschaften und
Patronagebeziehungen zumindest ansatzweise zusammengehalten
hatte. Letzte westliche Anstrengungen, einen militärischen Befreiungsschlag zu landen, scheiterten unter Kaiser Maiorian (457-461); eine
vielversprechende, vom Ostreich initiierte Flottenexpedition zur Vertreibung der Vandalen aus Nordafrika endete 468 in einem Debakel.
Danach war Westrom fiskalisch und militärisch am Ende.11
Das westliche Kaisertum beherrschte zu dieser Zeit nur noch Italien mit wenigen Anhängseln. Kaiser wurden öfter der hohen Aristokratie des Kernlandes entnommen.12 Neben den Heermeistern,
welche die verbliebenen Truppen, ein buntes Konglomerat aus meist
nichtrömischen Kämpfern, kommandierten, waren sie vor allem
wichtige Symbolfiguren, die Zusammenhalt stifteten. Nicht nur Italien, auch andere westliche Regionen wurden nun militärisch und politisch stärker auf sich selbst zurückgeworfen. Die Folgen dieser Desintegration konnten in einzelnen Zonen durchaus gravierend sein. Das
Imperium hatte seine Bürger besteuert und Soldaten einquartiert,
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1. Die Mittelmeerwelt
aber auch Schutz geboten und friedlichen Austausch erleichtert. Doch
bereits seit dem 3. Jahrhundert waren einige Grenzzonen oft Angriffen ausgesetzt, so Nordfrankreich, Belgien und das römische Deutschland.13 In diesem Gebiet brach im 5. Jahrhundert Roms Herrschaft
zuerst zusammen, um in der Folge darüber hinaus großflächig zu erodieren. Die neuere Forschung hat mit Recht darauf hingewiesen, dass
das Imperium auch in diesen Jahrzehnten nicht einen gleichmäßigen
ökonomischen Niedergang erfuhr und auch im Westen vielerorts
die Kontinuitäten vom 5. zum 7. Jahrhundert die Brüche überwogen.
Doch lassen sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die aus
dieser Erosion römischer Macht resultierten, durchaus auch archäologisch nachweisen, und dies nicht nur an den Grenzen.14 Bspw. setzte
im Schiffsverkehr auf dem Mittelmeer seit dem 3. Jahrhundert ein erheblicher Abschwung ein, eine Tendenz, die sich weiter verstärken
sollte. Im 6. Jahrhundert war der Seehandel fast auf dem Niveau der
vorrömischen Zeit angekommen. In Teilen des Westens lassen sich im
4. und 5. Jahrhundert Reichtumskonzentrationen ausmachen. Für die
Mehrzahl der Bevölkerung sank der Lebensstandard aber auch in solchen Gebieten eindeutig.15 Die seit dem 3. Jahrhundert einsetzende
Fragmentierung des Reichs in einzelne Regionen trat nun klarer hervor. Schon im 4. Jahrhundert ließ der wirtschaftliche Austausch zwischen der iberischen Halbinsel und dem übrigen Imperium merklich
nach. Nach der Eroberung durch die Vandalen wurde auch die Mittelmeeranbindung des exportorientierten Nordafrikas, das lange allen
militärischen Widrigkeiten im übrigen Reich getrotzt hatte, langsam
schwächer. Und auch in ganz praktischen Dingen zeigt sich, dass das
Lebensniveau für viele Menschen in der westlichen Mittelmeerwelt
zurückging. Das Imperium als politisch-militärische Organisation hat
sich nicht unbemerkt von den Reichsbewohnern aufgelöst.16
Und doch könnte es so scheinen, wenn wir uns die literarische Überlieferung aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ansehen. Die Reduktion des westlichen Imperiums auf einen immer kleineren Umkreis
um Italien wurde von den Schriftstellern aus den sozialen und literarischen Eliten in der Regel einfach ignoriert.17 Typisch ist ein Autor wie
Sidonius Apollinaris, ein aus Gallien stammendes Mitglied des Senatorenstandes, der 468 in Rom Stadtpräfekt geworden war. Nachdem er
sich dort von der totalen Machtlosigkeit des römischen Imperators
überzeugt hatte, folgten der Rückzug nach Gallien und schließlich, nach
einem letzten Rückzugsgefecht, ein Arrangement mit den zuvor be-
1. Die Mittelmeerwelt
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kämpften Westgoten, ohne dass er Anzeichen eines Traumas erkennen
ließe. Zumindest aber findet sich bei ihm keine Würdigung von Roms
Fall, dessen tiefere Bedeutung er trotz Widerwillen gegen die neuen
Herren offenbar einfach ausblendete.18 Zwar begegnen uns in den Quellen dramatische Katastrophenschilderungen aus jenen Gebieten, die
geplündert oder auch besetzt wurden: Berühmt sind etwa die eindringlichen Untergangsszenarien des Priesters Salvian aus dem Rheinland.
Doch bleiben dies isolierte Mosaikstücke, meist aus einem bestimmten
Interesse heraus verfasst.19 Als der germanische Heermeister Odoaker
476 den letzten Augustu(lu)s Romulus absetzte und auch nach einigen
Jahren keinen Nachfolger installierte, beendete er mit diesem Akt die
kontinuierliche Kaiserherrschaft in Westrom. Eine intensive Beschäftigung mit diesem Ereignis – immerhin die Besiegelung von fünfhundert
Jahren Monarchie mit Weltherrschaftsanspruch im Westen – lässt sich,
wenn überhaupt, erst im 6. Jahrhundert feststellen.20
Die aktuelle Forschung führt das Fehlen zeitgenössischer literarischer Auseinandersetzungen mit dem Ende der westlichen Kaiserherrschaft im Grunde darauf zurück, dass die sozialen und politischen
Kontinuitäten weit stärker gewesen seien als die Brüche. Da der neue
Machthaber Odoaker, der als rex, König, auftrat, die Oberherrschaft
des Kaisers in Konstantinopel anerkannt habe, habe sich in der Praxis
für Italien nicht viel geändert. Ein militärisch schwacher Westaugustus sei gegen einen fernen Ostaugustus weitgehend wirkungsfrei ausgetauscht worden.21 Doch die erhaltenen Schriftquellen müssen für
die Stimmung der italischen und insgesamt der westlichen Bevölkerung nicht repräsentativ sein. Ich möchte in jedem Fall bezweifeln,
dass sich viele Menschen angesichts der realen militärischen Machtverhältnisse in ihrer jeweiligen Heimat der Täuschung hingegeben
haben, das Imperium habe im Westen nicht nur als kulturelle, sondern auch als politische Einheit fortbestanden. Noch unwahrscheinlicher wird dies nach der Übernahme der Herrschaft über Italien durch
den Goten Theoderich 493. Mochte Theoderich auch gegenüber Konstantinopel noch Lippenbekenntnisse abgeben, trat er im Grunde
auch gegenüber dem Augustus mit wenigen Einschränkungen als Beherrscher der westlichen Hemisphäre auf.22 Auch die regna der Vandalen in Nordafrika und, zeitlich etwas später, der Franken in Teilen
Galliens haben sich in diesen Jahrzehnten wachsend stabilisiert.
Eine neue multipolare Welt gewann im frühen 6. Jahrhundert langsam Konturen. Diese Aussage gilt nicht nur für den Bereich der Politik.
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1. Die Mittelmeerwelt
Zumindest ebenso wichtig war den Menschen der Zeit die spirituelle
Ebene. Der bedeutendste, teils einheitsstiftende, aber auch immer wieder Dissens begründende Faktor auf diesem Gebiet ist bisher noch gar
nicht angesprochen worden: die christliche Religion und die sie repräsentierenden Kirchen. Die Wandlung im Verhältnis zwischen Christentum und Imperium gehört immer noch zu den erstaunlichsten
Wendungen in der europäischen Geschichte. Das Imperium hatte von
Anfang an – seit dem Prozess Jesu – mit Repression auf das Aufkommen der neuen Religion reagiert. Mochten diese Repressionen auch
zunächst meistens zeitlich und örtlich begrenzt geblieben sein, so haben sie doch das Verhältnis zwischen den Christen und dem Reich
dauerhaft und auch über die Konstantinische Wende hinaus geprägt.
Märtyrerkult – eine der zentralen Formen innerchristlicher Erinnerungspflege – war immer auch Andenken an den blutgetränkten Konflikt mit Rom. Spätestens seit dem 3. Jahrhundert lehnte sich die (wenn
auch im unterschiedlichen Ausmaß) reichsweit aktive Kirche in ihren
Strukturen an das Imperium an. Das Christentum wurde dadurch zu
einer Reichsreligion im Wartestand. Auf seine Expansion und diese
strukturelle Aneignung haben die römischen Machteliten im 3. Jahrhundert vor dem Hintergrund einer wachsenden militärischen Bedrohung des Imperiums mit großer Aggressivität reagiert. Zahlenangaben
fehlen, aber die reichsweiten Verfolgungen unter Kaiser Valerian
(257/8) und unter dem von Diokletian geleiteten Herrscherkollegium
nach 303, im Osten noch bis 311/312, haben doch sehr wahrscheinlich
einen erheblichen Blutzoll unter Klerikern und Gläubigen gefordert.
Im gleichen Zeitraum stieg das Bedürfnis der Imperatoren, deren traditionelle Legitimation angesichts der militärischen Probleme des
Reichs geringer wurde, die eigene Stellung auch religiös stärker abzusichern. Seit dem 2. Jahrhundert lässt sich zudem beobachten, dass die
Götterhimmel der Mittelmeerwelt sich immer stärker hierarchisierten.
Einheit in der Vielheit zu suchen und zu bieten, war offenbar ein Gebot
der Zeit.23 Das Christentum konnte mit seinem Monotheismus also
keineswegs eine Monopolstellung beanspruchen. Wenn überhaupt lag
seine Besonderheit eher im Rigorismus bei der Verkündigung des einen Gottes. Paradoxerweise profitierte das Christentum davon, dass
das Verhältnis von Gottvater zum Sohn und zum Heiligen Geist noch
nicht verbindlich geregelt worden war. Dadurch konnten sich verschiedene Strömungen im Streben nach Missionierung unter einem gemeinsamen Dach versammelt finden.
1. Die Mittelmeerwelt
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Konstantins Hinwendung zum Christentum schuf eine völlig neue
Basis für das Verhältnis der Christen zum Imperium. Obwohl Konstantins Christentum ein eigenwilliges, kaiserzentriertes, militärisch
geprägtes war, haben die meisten Christen die neue Konstellation
nach den Jahren der Verfolgung doch enthusiastisch begrüßt. Über
die Motive des Kaisers ist viel debattiert worden. Seine Entscheidung hatte sicher auch eine spirituelle Dimension; dies schließt aber
nicht aus, dass der Kaiser auch auf einen Legitimationsschub und institutionelle Unterstützung durch die Kirche hoffte. In den folgenden
150 Jahren wurde die Kirche immer stärker in den operativen Rahmen des Imperiums integriert und konnte den politischen Strukturen
sicher auch Halt und spirituelle Überhöhung geben.24 In der Phase der
Desintegration des Reichs im Westen waren die Bischöfe oft die einzigen aktiven und effektiven Vertreter des Imperiums und später noch
der römischen Bevölkerung. Die Kirche war also oft ein Element
der Kohäsion, und konnte dies auch noch in den katholischen oder
wenigstens nicht katholikenfeindlichen Nachfolgekönigreichen des
Imperiums im Westen sein, deren neue Eliten sich, wie gleich noch
anzusprechen sein wird, oft zu einem arianischen Christentum bekannten. Zugleich barg das Christentum aber auch ein immenses
Spaltpotential. Von Beginn an hatte es im Grunde vielerlei Christentümer gegeben.25 Eine verbindliche Auslegung der christlichen Lehre
konnte sich zu keiner Zeit reichsweit durchsetzen. Aber in der Zeit der
zunächst lokalen und schließlich imperialen Verfolgungsmaßnahmen
konnten die Unterschiede zwischen den Christen noch stärker ausgeblendet werden. Seitdem Christen aber die Gunst des Kaiserhauses
genossen, traten die inneren Differenzen mit größerer Schärfe hervor,
und dies zumal dann, wenn römische Stellen vor Zuweisungen von
materiellen Gütern erst klären mussten, wer von mehreren Anwärtern
denn die zu fördernden „wahren“ Christen waren. Immer wieder vermengten sich zudem Konflikte über den richtigen Glauben und die
Auslegung mehrdeutiger Bibelstellen mit keineswegs theologischen,
zum Teil viel älteren Problemen, wie etwa interregionalen oder auch
sozialen Spannungen.26 Menschliche Identitäten sind aus vielen Bausteinen konstruiert; religiöse Bekenntnisse sind nur ein Element neben anderen, die ebenfalls Denken und Handeln bestimmen können. In der Spätantike aber scheinen diese Bekenntnisse oft der dominierende Faktor für die Identität der Menschen gewesen zu sein.
Die Religion bildet den Kern und auch die Außenschale ganz unter-
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1. Die Mittelmeerwelt
schiedlicher und vielfältiger Vorstellungswelten, die den Mittelmeerraum prägten.
Die Kaiser wünschten die Einheit des Glaubens, wollten das Christentum hinter sich versammelt sehen und versuchten gelegentlich
auch, dieses Ideal mit Gewalt durchzusetzen. Aber gerade Zusammenhalt konnte mit diesem Mittel so wenig wie mit der lange Zeit florierenden theologisch-philosophischen Debattenkultur erreicht werden.
Vielmehr eskalierten Konflikte zwischen christlichen Strömungen immer öfter, so dass die Hinwendung zum Christentum bisweilen fast
schon destabilisierend auf das Reich gewirkt zu haben scheint.
Konstantin hatte sich bereits unmittelbar nach seiner Eroberung
des römischen Ostens (324) mit einer Spaltung der Christenheit konfrontiert gesehen, deren Ursprung in den Lehren des Priesters Areios
lag. Die Theologen der Zeit rangen mit dem Problem, dass eine streng
monotheistische Religion Gottvater, -sohn und den Heiligen Geist zu
integrieren hatte. Die heute vielen Menschen noch geläufige, aber belanglos erscheinende Formel, dass Jesus Christus „geboren, nicht geschaffen, wesensgleich dem Vater“ ist,27 gab für viele Menschen in der
östlichen Mittelmeerwelt des 4. Jahrhunderts nicht das naheliegende
Verständnis vom Wesen des Sohnes wieder. Areios konnte sich auf
den wohl einflussreichsten östlichen Theologen Origenes berufen und
stand auch weit eher im Einklang mit der seinerzeit dominierenden
neuplatonischen Philosophie, als er mit der Ansicht hervortrat, der
Sohn sei von Gott geschaffen und habe entsprechend einen Anfang.28
Areios’ Thesen fügten sich in eine breitere Strömung christlichen
Denkens ein, die eine Wesensgleichheit von Vater und Sohn ablehnte.
Aber er war keineswegs ihr allseits anerkannter Meinungsführer. Die
genannte grundsätzliche Position wurde in einer großen Zahl von
Schattierungen weiterentwickelt. Eine nicht geringe Anhängerschaft
gewannen Interpretationen, der Sohn sei dem Vater wesensähnlich
oder auch nur ähnlich, doch gab es auch radikale Ausprägungen, die
jede Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn ablehnten. Im Westen fanden solche Deutungen weit weniger Unterstützer als in den griechischsprachigen Teilen des Imperiums. Ganz kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die lateinische Sprache für theologische
Feinheiten nicht in gleicher Weise geeignet war wie die griechische.
Auch gab es im Westen (mit Ausnahme Afrikas) wohl weniger vorzügliche und aus ihrem Kenntnisreichtum heraus kämpferische Theologen. Der Autorität der römischen Kirche als selbst deklarierter Vor-
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1. Die Mittelmeerwelt
kämpferin für die Rechtgläubigkeit haben beide Umstände nicht
geschadet. Die heute bekannte Bezeichnung „arianisch“/„Arianer“ als
Etikett für das ganze Spektrum der hier nur angedeuteten Positionen,
die sich gegen eine Wesensgleichheit von Vater und Sohn aussprachen, ist ursprünglich polemisch gemeint gewesen, zum Teil auch damaligem Unverständnis geschuldet. Heute verwendet man die Begriffe hingegen, um ein sehr komplexes Phänomen durch Reduktion mit
klaren Konturen zu versehen.29
Für die Geschicke des Imperiums und seiner Bürger war es höchst
bedeutsam, dass es den Christen und den Kirchen gelang, die durch
die konkurrierenden Lehren ausgelöste Krise zu überwinden. In der
zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts setzte sich die 325 auf dem Ersten
Ökumenischen Konzil von Nikaia ursprünglich bewusst vage formulierte Lehre immer weiter durch, Vater und Sohn seien wesensgleich.
Bewirkt wurde dies auch durch klarere Definitionen der schwierigen
Begrifflichkeit. Doch hatte diese erste reichsweite innerchristliche
Kontroverse nach der Aufhebung der rechtlichen Einschränkungen
der Religion im Imperium ein folgenschweres Nachspiel: Viele der
(früher von der Geschichtswissenschaft als „Stämme“ bezeichneten)
Kriegergruppen, die sich im 5. Jahrhundert auf dem Gebiet des Imperiums aufhielten und in der Folge zum Teil eigene „Reiche“ (regna)
ausbildeten, hatten entweder schon zur Zeit der Blüte dieser Lehren
oder auch erst später ein „arianisches“ Christum angenommen (wie
tief die christliche Bekehrung auch immer gereicht haben mag).30 Innerrömisch spielte diese Position zwar seit dem 5. Jahrhundert nur
noch eine geringe Rolle. Aber viele Eliten der entstehenden Königreiche wie etwa die „Goten“ brachten dieses (aus der Sicht der Orthodoxie) „Schreckgespenst der Vergangenheit“ im späteren 5. und 6. Jahrhundert wieder zurück in die Glaubenswelt der Mittelmeerländer. Für
Gregor waren „arianische“ Glaubensbekundungen ebenso ein Gräuel
wie heidnischer „Mummenschanz“.31
In der Reichskirche waren jedenfalls nach dem ersten Drittel des
5. Jahrhunderts andere Streitigkeiten von weit größerer Bedeutung.
Zwischen Theologen in Alexandreia und syrischen, oft in Antiocheia
ansässigen Vordenkern entwickelte sich ein nicht mehr überbrückbarer Gegensatz in den Auffassungen über die Natur Christi. Liegt in
Christus eine Art „natürliche Einigung“ von menschlicher und göttlicher Natur vor, die zumindest als Unterordnung der menschlichen
Natur unter die göttliche gedeutet werden kann? Oder ist das Neben-
1. Die Mittelmeerwelt
29
einander von Menschlichem und Göttlichem entscheidend – und wie
ist dann deren Verbindung beschaffen?32 Die jeweilige Position innerhalb der Kontroverse hatte erhebliche Folgewirkungen, auch auf den
Angelpunkt christlichen Glaubens, die Interpretation des Opfertodes,
den der Sohn für die Menschheit auf sich genommen hatte. Beide Seiten warfen sich daher gegenseitig vor, durch ihre Fehldeutung den
Kern christlichen Glaubens in Frage zu stellen. Hauptvertreter einer
schroff vorgetragenen Trennungstheologie war zunächst der aus der
Schule von Antiocheia stammende Theologe und zeitweilige Bischof
von Konstantinopel Nestorios (nach 381 bis um 451). Nestors Gegenspieler war Bischof Kyrillos von Alexandreia (gestorben 444), der im
Gegenteil für eine sehr enge Verbindung der Naturen Christi eintrat.
Seine Positionen galten anders als die seines Widersachers auch später
einer Mehrheit in Ost und West noch als rechtgläubig. Kaiser Justinian sollte sie zur Grundlage seiner Reichstheologie machen. Von Kyrill
beeinflusste Theologen im Osten haben jedoch in der Folgegeneration
den Einheitsgedanken noch stärker betont und so mit zu einer bleibenden Spaltung in der Christenheit beigetragen.
Nestor wurde schon 431 und auch in der Folge immer wieder von
Konzilen verdammt. Die Schärfe der Urteile gegen ihn legt nahe, dass
über die Ablehnung seiner Person versucht wurde, Einigkeit unter
den übrigen Glaubensrichtungen zu schaffen. Die konkrete, immer
die Gefahr neuer Zwietracht unter den Diskutanten bergende Auseinandersetzung mit Nestors Lehre wurde dadurch zweitrangig. Im
Grunde waren es im Wesentlichen die Gegner Nestors, die seine Position der Nachwelt überliefert haben; Polemiken vereinfachen und helfen zu erinnern. Weiter kompliziert wurde der Streit nicht nur durch
die rüde Vorgehensweise der beteiligten Parteien, sondern auch durch
die Rivalität der Bistümer von Alexandreia, Antiocheia, Rom und
Konstantinopel. Für deren Vorsteher kam später der Begriff „Patriarch“ in Gebrauch. Die Bischöfe der genannten Metropolen (zuzüglich des weniger bedeutsamen Jerusalems) mit ihrer rechtlichen Entscheidungshoheit in den sie umgebenden kirchlichen Großregionen
waren eigentlich gleichrangig. Rom, Antiocheia und Alexandreia
stützten ihre Ansprüche auf die Gründung durch Apostel. Bei Rom
traten die Martyrien von Petrus und Paulus und Jesu Wort „Du bist
Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,
18 in der Einheitsübersetzung) als Argumente für einen Ehrenvorrang
hinzu, der der Tibermetropole in der Tat auch nicht streitig gemacht
30
1. Die Mittelmeerwelt
wurde. Aber diese kirchen- und heilsgeschichtlich abgesicherten Ansprüche konnten doch nicht verhehlen, dass es auch sehr weltliche,
politische Gründe dafür gab, die genannten Städte (mit Ausnahme
Jerusalems) innerhalb der Kirche zu privilegieren: Es handelte sich
um die größten Städte im Reich, die zudem zivile Verwaltungsknotenpunkte waren. Und Rom war lange Zeit die Kaiserresidenz schlechthin gewesen. Als brisant erwies sich dann aber, dass Rom zumindest
seit dem 4. Jahrhundert politisch an Bedeutung verlor, auch wenn es
Sitz des ehrwürdigen Senats blieb. Dafür stiegen andere Städte auf, vor
allem Konstantinopel, das langsam zur eigentlichen Hauptstadt des
Imperiums wurde. Auch im Westen gewannen Bischofssitze in politisch wichtigen Zentren an Ansehen – wie Mailand oder später Ravenna. Rom reagierte, unabhängig von der Person seines jeweiligen Bischofs, sehr empfindlich auf jede Selbstbewusstseinsbekundung dieser
Bistümer und vor allem Konstantinopels, denn nach der politischen
Logik hatte die Stadt am Bosporus nun eindeutig den höheren Rang.
Konstantinopel dagegen musste mühsam den Apostel Andreas als
Gründungsvater und Argument hervorsuchen, um sich in der innerkirchlichen Logik zu behaupten.33 Gegen die Ansprüche der Kaiserresidenz haben Alexandreia und Rom oft zusammengehalten, wenn
unterschiedliche Glaubensauffassungen dies nicht verhinderten.34
Wie schon angedeutet, sollte eine christologische Denkrichtung, die
besonders in Ägypten stark vertreten war, im Nachgang des Streites
über die Lehren Nestors die Einheit der Natur(en) Christi noch schärfer betonen, als dies schon in den Thesen Kyrills angelegt gewesen war.
Ihre Vertreter begründeten damit endgültig die miaphysitische Lehre – von griechisch mia und physis = eine, allerdings durchaus komplexe, durch Vereinigung entstehende, Natur. Der Miaphysitismus gewann seit 431 oder eher 433 besonders in Ägypten und Syrien viele
Anhänger, konnte sich aber ebenso wenig in der ganzen östlichen Mittelmeerwelt durchsetzen wie irgendeine Variante der mit ihm konkurrierenden Zwei-Naturen-Lehre. Auf dem Ökumenischen Konzil von
Chalkedon wurde 451 mit tatkräftiger Hilfe des römischen Bischofs
Leos I. und des neuen Kaiserpaares dann die wohl komplexeste aller
Deutungen als verbindlich festgeschrieben – Jesus Christus wird als
„ein und derselbe Sohn“, als eine Person und als wahrer Gott und wahrer Mensch, „in zwei Naturen unvermischt“ angesprochen.35 Diese Position ist tatsächlich nicht so weit von der Nestors entfernt, wenn auch
Name und Vermächtnis des ehemaligen Bischofs von Konstantinopel
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