Kessler, Mathieu: Nietzsche ou le dépassement esthétique de la métaphysique. Paris. 1999 (PUF). 301 S..- Mit Personen- und Sachregister (10 S.). (Thémis Philosophie: sous la direction de J.-F. Mattéi). 2. samenvatting Die zentrale These des Autors lautet: N. überwindet die Metaphysik durch einen erweiterten Begriff von Ästhetik: alle Bereiche der Philosophie (Erkenntnis, Wahrheit, Ethik etc.) werden bei N. ästhetisch begründet ('encyclopédie esthétique'). N.s Umwertung besteht darin, überall wo die tradit. Philos. das Wort Metaph. verwendet, das Wort Ästhetik hinzuschreiben. Jeder muss selbst den Sinn seines Lebens erarbeiten: das ist die Bedeutung der UW. Der Übermensch ist kein Wesen ausserhalb der Menschen, sondern das sind wir, sofern wir bereit sind, metaph. Werte in ästhetische Werte umzuwerten. Der Ausweg aus dem Nihilismus besteht darin, die Einheit der getrennten Fähigkeiten des Menschen in einer 'konkreten Philosophie' ('philos. concrète') wiederherzustellen und alle Disziplinen wieder in Verbindung zu bringen. Dazu ist es nötig, wegzugehen vom in Spezialitäten aufgelösten Menschen: hin zu neuer Totalität (Vorbild: Goethe): zum 'Ausnahme-Menschen', der einzigartig (singulier) und Gegensatz des Herdenmenschen ist. Die ganze Welt ist dem künstlerischen Paradigma zu unterwerfen.: eine allgemeine ästhetische Praxis ist zu entwerfen, der es gelingt, die Welt in allen Dimensionen zu denken: ohne Rückfall in die alten Vorurteile der Metaphysik (wie z.B. Gegensatz-Denken, Abrenzungen in Einzeldisziplinen etc). N. verbindet das Ästhetische gern mit der physiologischen Metapher der Pflanze ('wo hat die Pflanze Mensch...'): um die Metaphysik der Freiheit und der Finalität zu vermeiden, ohne damit aber im Nihilismus zu landen. Begründung: Die Kunst ist, noch vor der Moral, eine konkrete und wirksame Lösung des Nihilismusproblems. Der Philosoph als Philosoph bleibt wesentlich reaktiv, aber der Künstler ist immer affirmativ. Der Künstler überwindet den Pessimismus und den Nihilismus. Daher muss N.s Philosophie von der Ästhetik aus interpretiert werden. Diese erschliesst die wahre Bedeutung seines UW-Projekts. Seine Philos des WZM ist eine Philosophie der Kunst. Die Kunst erschliesst seine Philos. der Moral, der Politik und sogar der Physiologie; u.z. als Künstlerphilosophie: der Perspektivismus; als Künstlermoral: die Gestaltung des Selbst (sculptur de soi); als Politik des Künstlers: die Erziehung der Gesellschaft; etc. Alle diese Disziplinen beruhenletztlich auf ästhetischen Masstäben. So wird eine 'philosophie de la singularité' möglich, im Gegensatz zur langen Tradition des sokrat Rationalismus und seiner 'philos de la quiddité'. Nur vom Leib kann eine Lösung der vitalen Probleme der Menschen ausgehen: von einem Pessimismus der Stärke, der die Kunst als Stimulanz des Lebens einsetzt. N. wollte nicht selbst schon die UW durchführen; er beabsichtigte eine Umwälzung in der Art des Wertens (Wertesetzens). Basis bilden eine erweiterte Ästhetik und der Geschmack. Nach dem Vorbild der griech. Tragödie sind alle Trennungen aufzuheben und alle Künste sowie Moral und Politik und Religion 'dans une signification esthétique' zu vereinigen. Die künstlerische Thematik fungiert als grundlegendes Paradigma für eine philos. Interpretation der Welt. Alles ist zuerst unter der Perspektive des Künstlers zu betrachten, und nicht des Metaphysikers. Alle mit unterschiedlichen Praktiken und Disziplinen verbundenen Probleme des Menschen laufen - gemäss N.- auf Fragen des Geschmacks hinaus. Der Geschmack entscheidet zugunsten der einen Moral oder einer anderen, etc. Nur der 'style' kann eine konkrete Ethik und Politik schaffen. D.h. eine Ethik und Politik des individuellen und singulären Handelns, und nur eine solche hat für N. Geltung. Nur die Ästhetik kann den singulären Wert bejahen. Dies wird an einzelnen Bereichen nachzuweisen versucht. Moral: Die UW besteht darin, die Moral von einem singulären Exemplar aus zu begründen, dessen Vorbild ein Gefühl der Freude und vermehrten Macht inspiriert. Keine abstrakte absolute moralische Gesetzgebung mehr. Der gelungenste Mensch als Vorbild. Also eine Ethik der Singularität: ruhend auf dem Erlebnis (le vécu) der Selbstmeisterung. Das alles zielt auf eine 'Tugendethik' (dieser Ausdruck nicht bei Kessler). Haupttugenden von N.s Immoralismus sind: Ehre, Klugheit, Mut und Höflichkeit [in dieser Reihenfolge]. Das sind keine 'rein moral. Tugenden, sondern zugleich politische und ästhetische; - i.U. zu Mitleid, Wahrhaftigkeit (abgelehnt insofern Anspruch des Gewissens, sich selbst transparent zu machen; bejaht als 'authentische Beziehung des Gewissens/Bewusstseins mit sich selbst), Frömmigkeit, Keuschheit u.ä., die 'wesentlich moralisch und religiös' sind. Die (erstgenannten) ethischen Tugenden, die eine politische und eine ästhetische Dimension haben, begünstigen das Wachsen des WZM des Individuums, im Gegensatz zu den rein moralischen oder religiösen Tugenden. Sie kennzeichnen das souveräne Individuum. Sie ermöglichen eine gerechtere Einschätzung der 'souci de soi' (steht für 'Selbsucht' bzw. 'Egoismus'). Der aussergewöhnliche Mensch ('homme singulier') folgt seinem Geschmack, nicht der 'Moral'. Zwischen Mensch und Übermensch gibt es keinen biolog. Unterschied: beide folgen ähnlichen Neigungen qua Triebökonomie, auch wenn sie durch ihre Kultur 'qualitativ verschieden' sind. Diese Differenz ist aber vital und entscheidend: wegen ihrer engen Beziehung zu Werten, die über Leben und Tod dessen entscheiden, der sie setzt. Daher ist eine 'libération' des individuellen Egoismus gerechtfertigt, sofern er vornehm und aristokratisch ist. Der Wert dieses Egoismus hängt ab vom physiolog. Wert des einzelnen Menschen. Dieser Egoismus ermöglicht und verpflichtet zur Generosität und zur 'joie devant l'humanité' (N.: 'Freude haben an den Menschen'). Es geht um eine axiologische und ästhetische Moral: der Aristokrat schafft positive Werte, juristisch und ethisch verstanden. Ziel ist der vollkommene Mensch, mit der Verpflichtung, dem anderen dabei zu helfen, aber nur unter Gleichen. Wahrheit: Die Interpretation der Kunstwerke liefert ein bevorzugtes hermeneutisches Modell, das es dem Philosophen erlaubt, sich vom rätselhaften Charakter der Existenz zu überzeugen. Das Kunstwerk ist ein Mikrokosmos, in dem sich das 'philologische' Problem der Entzifferung der Natur spiegelt. Es ist das Analogon eines Textes ohne Wahrheit, ohne alleinseligmachende Interpretation, aber reich an Bedeutungen, mit denen es der Interpret unendlich bereichert. Das Problem der Wahrheit wird also aus einer künstlerischen Perspektive thematisiert. Gemäss N. kann alle Erkenntnis reduziert werden auf den Begriff der Fiktion. Die erweiterte Ästhetik N.s greift damit auf das Gebiet der Wahrheit über. So wird auch die Wahrheit zu einer Frage des Geschmacks. Die Wahrheit wird zum Ausdruck eines spezifischen anthropolog. Typs (Menschentyps). Auch die Physiol ist dem Urteil einer 'erweiterten ästhet. Interpretation' ('interprétation esthétique élargie') unterworfen: das ästhet. Urteil entscheidet in letzter Instanz über die anzusetzenden physiologischen Normen. 3. karakterisering van het boek Der Ansatz ist nicht gerade neu, wird aber sehr sorgfältig durchgeführt, auch in zahlreichen Erörterungen einzelner damit zusammenhängender Fragen. Der ganze N. wird einbezogen, von GT bis in den späten NL. Die N-Texte in frz. Übersetzungen, nur gelegentlich mit Bezug auf N.s dt-sprachige Formulierungen. Da nur auf die frz. Ausgaben verwiesen wird, ist es leider oft nicht leicht, die entsprechenden KSA-Stellen ausfindig zu machen. 4. voornaamste punten van beoordeling Das Buch besticht im allgemeinen durch klare Formulierungen und z.T. sehr gründliche Einzelinterpretationen. Es wäre aber sicher nützlich gewesen, auch terminologisch zu unterscheiden zwischen tradit. Moral und N.s neuer Ethik (Tugendethik: dieser Ausdruck fehlt bei Kessler). An Forschung wird herangezogen: Müller-Lauter, Kofman, Blondel, Wotling; jedoch kaum amerikanische Forschung (Berkowitz 1995, Conway 1997, D. Villa 1992). Die Forschung, gegen die argumentiert wird, wird meist nur pauschal referiert, nicht aber im Detail angeführt. 5. verdere kenmerken