72 Orthonormalbasen und Konvergenz im quadratischen Mittel 72 301 Orthonormalbasen und Konvergenz im quadratischen Mittel Wir untersuchen nun die Konvergenz von Fourier-Reihen im quadratischen Mittel in Verbindung mit den zugrunde liegenden elementaren Resultaten über Hilberträume. Letztere sind auch für die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik wichtig (vgl. HM 4). Endlichdimensionale Hilberträume wurden bereits in Abschnitt 15 untersucht, lineare Operatoren auf solchen Räumen in Abschnitt 40. 72.1 Räume quadratintegrierbarer Funktionen. a) Für eine meßbare Menge A ∈ M(Rn ) sei L2 (A) := {f ∈ M(A, C) | R A | f (x) |2 dx < ∞} (1) der Raum der quadratintegrierbaren Funktionen auf A . b) Wegen 2| f g(x) | ≤ | f (x) |2 + | g(x) |2 wird durch hf, gi := R A f (x) g(x) dx (2) ein Halbskalarprodukt auf L2 (A) definiert mit hf, f i = 0 ⇔ f (x) = 0 fast überall. (3) c) Analog zu 56.5 erhält man durch Identifikation fast überall gleicher Funktionen den Raum L2 (A) := L2 (A)/N (A) , (4) auf dem (2) ein Skalarprodukt definiert. d) Im Zusammenhang mit Fourier-Reihen verwendet man auf L2 [−π, π] an Stelle von (2) meist das Skalarprodukt hf, gi := 1 2π Rπ −π f (x) g(x) dx . (5) 72.2 Hilberträume. a) Es sei h , i ein Skalarprodukt auf einem Vektorraum E . Für x, y ∈ E gilt dann die binomische Formel“ ” hx + y, x + yi = hx, xi + 2 Re hx, yi + hy, yi . (6) b) Weiter hat man die Schwarzsche Ungleichung | hx, yi |2 ≤ hx, xi · hy, yi , x, y ∈ E . (7) c) Durch k x k := q hx, xi (8) wird eine Norm auf E definiert. Ist E unter dieser Norm vollständig, so heißt E ein Hilbertraum. d) Die Räume L2 (A) und L2 (A) sind vollständig; L2 (A) ist ein Hilbertraum. 302 XI. Fourier - Analysis 72.3 Orthonormalsysteme. Es sei E ein Hilbertraum und Z eine Indexmenge. a) Eine Menge von Vektoren {vk }k∈Z ⊆ E heißt Orthonormalsystem (ONS), falls hvk , vℓ i = δkℓ für k, ℓ ∈ Z gilt. b) Nach (71.5) sind die Funktionen {eikx }k∈Z ein ONS in L2 [−π, π] . Die Skalarprodukte hf, eikx i = fb(k) = 1 2π Rπ f (x) e−ikx dx −π (9) sind gerade die Fourier-Koeffizienten von f ∈ L2 [−π, π] ; daher werden auch für ein allgemeines ONS {vk }k∈Z in E die Zahlen xb(k) := hx, vk i Fourier-Koeffizienten von x ∈ E bezüglich {vk }k∈Z genannt. c) Für ein endliches ONS {vk }k∈Z ′ in E und ξk ∈ K gilt der Satz des Pythagoras k P k∈Z ′ ξk vk k2 = P k∈Z ′ | ξk |2 . (10) Insbesondere ist ein ONS {vk }k∈Z ′ linear unabhängig. d) Für Vektoren x ∈ E ergibt sich aus (6) und (10) kx− P k∈Z ′ xb(k)vk k2 = k x k2 − P k∈Z ′ | xb(k) |2 . (11) Aus (11) ergibt sich sofort die 72.4 Satz (Besselsche Ungleichung). Es seien Z eine Indexmenge und {vk }k∈Z ein ONS in E . Für jede endliche Teilmenge Z ′ ⊆ Z gilt dann P k∈Z ′ | xb(k) |2 ≤ k x k2 , x∈E. (12) Wir untersuchen nun, motiviert durch konkrete Fourier-Reihen, durch Z indizierte abzählbare ONSe; statt dessen kann man auch andere abzählbare Indexmengen, insbesondere N oder N0 betrachten. 72.5 Orthogonale Summen. Es sei {vk }k∈Z ein ONS in einem Hilbertraum E . P Für Zahlen ξk ∈ K mit | ξk |2 < ∞ ist dann die aus paarweise orthogonalen k∈Z Summanden bestehende Reihe P k∈Z ξk vk in E konvergent; in der Tat bilden die Par- tialsummen eine Cauchy-Folge wegen k P n≤| k |≤m ξk vk k2 = P n≤| k |≤m | ξk |2 . Wie bei absolut konvergenten skalaren Reihen (vgl. Theorem 28.17) ist hier die Konvergenz unbedingt, d. h. alle Umordnungen der Reihe konvergieren gegen die gleiche Summe. Eine solche orthogonale Summe ist daher über beliebige abzählbare Indexmengen definiert. 72.6 Theorem. Für ein ONS {vk }k∈Z in einem Hilbertraum E sind äquivalent: (a) Für alle x ∈ E gilt die Fourier-Entwicklung x = ∞ P k=−∞ xb(k)vk = ∞ P hx, vk i vk . k=−∞ (13) 72 Orthonormalbasen und Konvergenz im quadratischen Mittel 303 (b) Für alle x ∈ E gilt die Parsevalsche Gleichung k x k2 = ∞ P k=−∞ | xb(k) |2 . (14) (c) Der Raum [vk ]k∈Z ist dicht in E . (d) Das ONS {vk }k∈Z ist maximal, d. h. es gilt {vk }⊥ k∈Z = {0} . Beweis. (a) ⇔ (b)“ folgt sofort aus (11), (a) ⇒ (c)“ ist klar. ” ” (c) ⇒ (d)“: Für x ∈ {vk }⊥ gilt hx, vi = 0 für alle v ∈ [vk ]k∈Z und somit x = 0 . k∈Z ” ∞ P (d) ⇒ (a)“: Für x ∈ E setzen wir x1 := xb(k)vk ∈ E . Dann ist hx−x1 , vk i = 0 ” k=−∞ für alle k ∈ Z und somit x − x1 = 0 . 72.7 Orthonormalbasen. Ein ONS {vk }k∈Z in einem Hilbertraum E heißt Orthonormalbasis (ONB) von E , falls die Aussagen (a)-(d) aus Theorem 72.6 gelten. 72.8 Separable Räume. Es sei E ein normierter Raum. Eine Menge M ⊆ E heißt separabel, wenn es eine in M dichte abzählbare Menge {x1 , x2 , x3 , . . .} gibt. Teilmengen separabler Räume sind wieder separabel (vgl. [K2], Satz 4.10). Die Räume L1 (A) und L2 (A) sind für alle meßbaren Mengen A ∈ M(Rn ) separabel (vgl. [K3], Satz 10.5). 72.9 Satz. Ein Hilbertraum E ist genau dann separabel, wenn er eine abzählbare ONB besitzt. Beweis. ⇒ “: Es sei {x1 , x2 , x3 , . . .} eine in E dichte abzählbare Menge. Durch ” Weglassen geeigneter Vektoren erhält man eine Folge linear unabhängiger Vektoren, deren lineare Hülle in E dicht ist und daraus durch Gram-Schmidt-Orthonormalisierung (vgl. 15.10) eine ONB von E . n P ⇐ “: Für eine ONB {vk }k∈Z von E ist die Menge { ξk vk | n ∈ N , ξk ∈ Q+iQ} ” k=−n abzählbar und dicht in E . Nicht separable Hilberträume besitzen überabzählbare Orthonormalbasen. Allerdings sind alle in der Quantenmechanik auftretenden Hilberträume separabel, und dies gilt auch für die allermeisten in der Analysis vorkommenden Hilberträume. Nun können wir ähnlich wie in 15.9 orthogonale Projektionen auf beliebige abgeschlossene Unterräume konstruieren: 72.10 Theorem. Es seien E ein separabler Hilbertraum und F ⊆ E ein abgeschlossener Unterraum. a) Zu x ∈ E gibt es genau einen Vektor P x ∈ F mit der Eigenschaft x − P x ⊥ F . Mit einer ONB {vk }k∈Z von F ist diese gegeben durch P x := PF x := P k∈Z xb(k) vk = P k∈Z hx, vk i vk , x∈E. (15) 304 XI. Fourier - Analysis b) Unter allen Vektoren y ∈ F wird der Abstand k x − y k genau für y = P x minimal. Insbesondere gilt k x − P x k = dF (x) ≤ k x − y k für alle y ∈ F . (16) c) Die orthogonale Projektion P : E 7→ F , P (x) := P x , ist linear mit k P k = 1 und P (x) = x für x ∈ F . Für x, y ∈ E gilt hP x, yi = hP x, P yi = hx, P yi . (17) Man hat R(P ) = F und N(P ) = F ⊥ sowie die direkte Zerlegung E = F ⊕ F⊥ . (18) Beweis. a) Nach Satz 72.9 besitzt F eine ONB, und nach 72.5 ist die Summe in (15) erklärt. Nun rechnet man hx − PF x, vℓ i = 0 für ℓ ∈ Z einfach nach. Ist auch y ∈ F mit x−y ⊥ F , so folgt PF x−y ∈ F und auch PF x−y = (PF x−x) + (x−y) ∈ F ⊥ , also PF x − y = 0 . b) Für x ∈ E und y ∈ F gilt auch z := y − PF x ∈ F . Mit dem Satz des Pythagoras folgt k x − y k 2 = k x − PF x − z k 2 = k x − PF x k 2 + k z k 2 , (19) und dies ist genau für k z k2 = 0 minimal. c) Offenbar ist PF : E → F linear. Mit y = 0 in (19) ist z = −PF x , und man erhält k PF x k ≤ k x k für alle x ∈ E . Wegen (15) gilt PF (x) = x für x ∈ F und PF x = 0 für x ∈ F ⊥ . Formel (17) folgt aus hP x, y − P yi = hx − P x, P yi = 0 , und (18) ergibt sich aus x = P x + (I − P )x . Nun kommen wir auf konkrete Fourier-Reihen zurück: 72.11 Theorem. Die Funktionen {eikx }k∈Z bilden eine Orthonormalbasis des Hilbertraums L2 [−π, π] . Für f ∈ L2 [−π, π] konvergiert also die Fourier-Reihe im quadratischen Mittel gegen f , d.h. es gilt kf − n P k=−n fb(k)eikx k2 → 0 für n → ∞ . (20) Man hat die Parsevalsche Gleichung ∞ P k=−∞ | fb(k) |2 = k f k22 = 1 2π Rπ −π | f (x) |2 dx , (21) und für f, g ∈ L2 [−π, π] gilt ∞ P k=−∞ fb(k) gb(k) = hf, gi = 1 2π Rπ −π f (x) g(x) dx . (22) Beweis. Die Dichtheit von [eikx ]k∈Z folgt aus dem Satz von Fejér 71.7 a) und der Dichtheit von C2π (R) in L2 [−π, π] . Formel (22) ergibt sich aus (21) mittels der Polarformel 4 h f, g i = k f + g k2 − k f − g k2 + i k f + ig k2 − i k f − ig k2 . (23) 72 Orthonormalbasen und Konvergenz im quadratischen Mittel 305 72.12 Beispiele und Bemerkungen. a) Mit den Koeffizienten ak , bk der reellen Fourier-Entwicklung von f ∈ L2 [−π, π] (vgl. (71.1) – (71.4)) gilt die Parsevalsche Gleichung in der Form | a0 |2 2 + ∞ P k=1 | ak |2 + ∞ P k=1 b) Aus der Entwicklung π−x 2 1 1 = 2 π k=1 k Z 2π 0 ∞ P = k=1 die Eulersche Formel ∞ P 1 π | bk |2 = π−x 2 2 Rπ −π sin kx k | f (x) |2 dx . (24) für 0 < x < 2π (vgl. (71.25)) ergibt sich π2 . 6 dx = (25) 1 72.13 Satz. Für f ∈ C2π (R) ∩ Cst (R) gilt ∞ P k=−∞ | fb(k) | < ∞ ; (26) insbesondere konvergiert die Fourier-Reihe von f gleichmäßig gegen f . Beweis. Partielle Integration liefert fb(k) = 1 ik fb′ (k) , (27) da sich die ausintegrierten Terme wegen der 2π –Periodizität wegheben. Aus der Schwarzschen Ungleichung im R2n und der Besselschen Ungleichung folgt weiter n P | k |=1 | fb(k) | = n P | k |=1 1 |k| | fb′ (k) | ≤ ( n P | k |=1 1 1 ) /2 | k |2 ( n P | k |=1 | fb′ (k) |2) 1/ 2 ≤ π √ 3 k f ′ k2 . 72.14 Satz. Für f ∈ L2 [−π, π] konvergiert die Fourier-Reihe auch in der L1 -Norm gegen f . Für −π ≤ a < b ≤ π gilt Rb a ∞ P f (x) dx = k=−∞ fb(k) Rb a eikx dx . (28) Beweis. Für Funktionen h ∈ L2 [−π, π] gilt nach der Schwarzschen Ungleichung √ Rb Rπ Rπ 1 (29) 2π ( −π | h(x) |2 dx) /2 . a | h(x) | dx ≤ −π | h(x) | dx ≤ 72.15 Beispiel. a) Ersetzt man x durch 2πx in (71.25)), so erhält man B1 (x) := x − 1 2 = − π1 ∞ P k=1 1 π2 Wegen Satz 72.14 ist f (x) := sin 2kπx k ∞ P k=1 , 0 < x < 1. cos 2kπx k2 (30) eine Stammfunktion von 2x − 1 auf (0, 1) , und es folgt f (x) = x2 − x + c . Wegen R1 0 f (x) dx = muß c = 1 6 1 π2 ∞ P k=1 1 k2 R1 0 cos 2kπx dx = 0 sein, und es folgt B2 (x) := x2 − x + 1 6 = 1 π2 ∞ P k=1 cos 2kπx k2 , 0 < x < 1. (31) 306 XI. Fourier - Analysis Da beide Seiten von (31) auf R stetige Funktionen definieren, gilt (31) sogar für x ∈ [0, 1] . Mit x = 0 erhält man wieder (25), und x = 21 liefert (−1)k+1 1 1 1 1 π2 = 1 − + − + − + · · · = . k2 4 9 16 25 12 k=1 ∞ P (32) b) Durch weitere Integration von (31) kann man auch die Summen m ∈ N berechnen, vgl. dazu auch (74.9). 1 für gerade m k=1 k ∞ P Eine Anwendung der Parsevalschen Gleichung und der Flächenformel (61.17) ist die Lösung des isoperimetrischen Problems nach A. Hurwitz: 72.16 Satz. Für Gebiete G ∈ Gst (R2 ) mit stückweise glattem Rand in der Ebene ist λ(G) ≤ 1 4π L(∂G)2 , (33) und Gleichheit gilt nur für Kreise. Beweis. Man kann annehmen, daß ∂G nur aus einer Kurve besteht und daß L(∂G) = 2π gilt; dann ist λ(G) ≤ π zu zeigen. Für die ausgezeichnete Parame1 trisierung γ = x + iy ∈ Cst ([0, 2π], C) von ∂G gilt γb′ (0) = 0 sowie | γ ′(s) | = 1 für s ∈ [0, 2π] . Aus der Flächenformel (61.17), der Parsevalschen Gleichung (22) und Formel (27) ergibt sich λ(G) = 1 2 R 2π 0 (x(s) y ′(s) − y(s) x′(s)) ds = = π Im ∞ P k=−∞ ≤ π ∞ P k=−∞ = π. γb′ (k) γb (k) = π k 2 | γb (k) |2 = π ∞ P k=−∞ ∞ P k=−∞ 1 2 Im R 2π 0 k | γb (k) |2 | γb′ (k) |2 = 1 2 γ ′ (s) γ(s) ds R 2π 0 | γ ′ (s) |2 ds Dabei hat man nur dann Gleichheit, wenn γb (k) = 0 für alle k ∈ Z\{0, 1} ist, und dann parametrisiert γ(s) = γb (0) + γb (1) eis eine Kreislinie.