Die Todesmärsche 1944/45

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Leseprobe aus:
Daniel Blatman
Die Todesmärsche 1944/45
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I N HALT
E I N LE ITU N G
TE I L I DAS SYSTE M B R I C HT Z U SAM M E N
Kapitel 1
Die Konzentrationslager 1933–1944 35
Die Jahre des Aufbaus und der Fundierung : 1933–1939 40 –
Die Lager und die Vision des Rasseimperiums 1939–1941 54 –
Die wirtschaftlichen Erfordernisse und die Praxis des Mordens 1941–1944 59 – Vernichtung durch Arbeit 78
Kapitel 2
Die Evakuierungen : Sommer und Herbst 1944 88
Befehle und Auslegungen 89 – Evakuierungsmuster im Sommer 1944 : Majdanek 97 – Räumungsmuster im Sommer 1944 :
Die Lager der Juden 101 – Überschüssige Juden auf dem Balkan 109 – Der Westen : Natzweiler-Struthof (September 1944 –
April 1945) 113 – Der Prolog 120
Kapitel 3
Rückzug, Zusammenbruch und Liquidierung :
Auschwitz, Groß-Rosen, Stutthof 122
Das Grauen, das aus dem Osten kommt 125 – Von der Räumung zum Todesmarsch : Auschwitz im Januar 1945 132 –
Mörderische Flucht : Groß-Rosen und seine Lager, Februar
1945 160 – « Sie zerrten die Frauen an den Haaren und schos-
sen ihnen ins Genick » 173 – Schriftliche Direktiven und die
Realität : Stutthof 182 – Mörder, Handlanger und Schaulustige :
Der Fall Palmnicken 192
Kapitel 4
Bürokratischer Wirrwarr 206
«Die Kranken siechen hier langsam dahin, bis sie eingehen » 208 –
Anfang April 1945 : Der letzte Befehl 221
Kapitel 5
Hemmungsloses Morden 252
Was getan werden muss, muss getan werden 252 – « Sie flehen ohnehin darum zu sterben . . . » 255 – Die Todesrouten
in Norddeutschland, zu Land und zur See 263 – « Sie erzählten sich Witze und lachten beim Schießen » 279 – « Geschöpfe,
denen kaum mehr Menschenwert zuzusprechen war » 291 –
Helmbrechts : Repräsentatives Fallbeispiel oder Einzelfall ? 313
Kapitel 6
Lebendes Krematorium 320
Dachau : Befreiung, selektive Evakuierung oder totale Vernichtung ? 320 – Mauthausen : Die letzte Zuflucht 342 – « Diese
Hunde und Schweine verdienen alle, erschossen zu werden » 353 – « Als sei ein Toter aus seinem Grab erstanden und
wandle umher » 384
TE I L I I K R I M I N E LLE G E M E I N S C HAFTE N
Kapitel 7
Gewalt und Mord in einer zerfallenden Gesellschaft 405
Totaler Krieg und Terror : 1943–1945 410 – Der Mord an ausländischen Zwangsarbeitern 428 – Das Massaker in Celle :
« Unseren Wald von den Kommunisten säubern » 435
Kapitel 8
Ein Himmelfahrtstransport 446
Die Höhlen- und Flusshäftlinge 457 – Evakuierung : III.
SS-Baubrigade 482 – Evakuierung : Hannover-Stöcken 488 –
Warten 494 – Der Todesmarsch nach Gardelegen 499 –
Zebraschießen 513
Kapitel 9
Die brennende Scheune 520
Entscheidungen 521 – Logistik 535 – Das Massaker 550
Kapitel 10
Nach dem Verlöschen der Flammen 569
Begraben und verewigt 573 – Die Sünde lauert vor der Tür: Gestaltung des Gedenkens 579 – Die Sünde lauert vor der Tür: Revision 592 – Die Mühlen der Gerechtigkeit mahlen 598
Kapitel 11
Die Mörder : Normale Bürger in anormalen Situationen 609
Die Mörder in Uniform : Die Belegschaft der Lager 611 – Die
Mörder in Uniform : Armee und Polizei 634 – Parteifunktionäre und Ortsvorsteher 644 – Mobilisierte Zivilisten 654
Epilog 673
Chaos, Völkermord, Ideologie 675 – Von Mördern zu Nazis 692 – Die Opfer : Ausweglosigkeit 706
Danksagung 717
Anmerkungen 721
Quellen- und Literaturverzeichnis 803
Personenregister 836
Ortsregister 843
Karten 854
Quellennachweis der Abbildungen 860
E I N LE ITU N G
Im Januar 1945 waren laut NS-Aufzeichnungen noch etwa 714.000
Menschen im Netz der Konzentrationslager inhaftiert. Man kann
mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass die Zahlen noch weitaus höher lagen, da nicht einmal die Verantwortlichen und Betreiber
dieses « Konzentrationslageruniversums » – wie David Rousset, der
vor dem Krieg in Frankreich als Trotzkist aktiv und dann Häftling in
Buchenwald und Neuengamme war, sein Buch über das System der
Konzentrationslager genannt hat – dessen Ausmaße genau beziffern
konnten. Die Angaben berücksichtigen zudem in keiner Weise die
unbekannte Zahl aller übrigen Häftlinge, die in anderen Teilen des
nationalsozialistischen Unterdrückungsapparats gefangen gehalten
wurden, wie etwa die Zwangsarbeiter in privaten Firmen, die Kriegsgefangenen und Insassen all der Lager, die nicht Teil des Konzentrationslagernetzes waren. Die Insassen dieses « Universums » waren
verstreut auf Hunderte großer und kleiner Lager, die sich über das
gesamte nationalsozialistische Imperium erstreckten, vom Rhein im
Westen bis an die Ufer der Wisła im Osten, von der Ostsee im Norden bis zur Donau im Süden.
Die Insassen dieses Konzentrationslageruniversums stellten einen eigenen Mikrokosmos von Opfern des NS-Terrors dar. Unter ihnen waren Angehörige aller europäischen Nationen und auch von
Staaten, die nicht besetzt waren oder gegen Deutschland Krieg führten : von Usbeken, Armeniern und Georgiern über Ukrainer, Russen
und Polen bis hin zu Litauern und Letten. Es gab Serben, Albaner
und Griechen, Rumänen, Italiener, Franzosen und Spanier, ebenso
Belgier, Holländer, Dänen und Norweger. Und es gab Amerikaner,
Briten, Türken und Araber, Deutsche und Österreicher, Sinti und
Einleitung
11
Roma und sehr viele Juden. Es gab Christen und Muslime, Homosexuelle und Zeugen Jehovas, Männer und Frauen, Alte, Junge und
Kinder. Alle diese Menschen waren aus unterschiedlichen Gründen interniert worden : aus rassischen oder politischen, aus religiösen oder sozialen. Als der Krieg in Europa endlich beendet war und
das Dritte Reich von der Bühne der Geschichte abtrat, waren mindestens 250.000 von ihnen nicht mehr am Leben. Viele weitere überlebten aufgrund ihres hoffnungslosen körperlichen Zustands die Befreiung nur kurze Zeit. Auch am Maßstab des nationalsozialistischen
Völkermords insgesamt gemessen, war das Morden in den letzten
Monaten beispiellos : Mehr als 35 Prozent aller Lagerhäftlinge fanden
bei seinem letzten Wüten den Tod, und zwar in der Phase der sogenannten Todesmärsche.
In der umfangreichen Literatur, die sich mit dem nationalsozialistischen Völkermord befasst, bleibt das letzte Kapitel so gut wie
ausgeklammert. Die Fakten sind heute allgemein bekannt. Mit der
Gründung der Gedenkstätten und der Erinnerungs- und Rekonstruktionsarbeit in den ehemaligen Konzentrationslagern in Polen,
Deutschland und Österreich sind in den letzten Jahrzehnten einige
Publikationen über den letzten Weg der Häftlinge in den jeweiligen Regionen erschienen. Augenzeugenberichte, Dokumente, Karten und Fotoaufnahmen wurden veröffentlicht, und es erschienen
Broschüren, Alben und Monographien. Sie dokumentieren und erzählen, was sich auf den verschiedenen Routen der Qualen und des
Mordens ereignet hat. Auf Initiative von Gedenkstätten, von Überlebenden oder Anwohnern, die Augenzeugen der Verbrechen waren,
wurden mitunter auch Mahnmale errichtet, wenn nach dem Krieg
Massengräber entlang der Route der Todesmärsche entdeckt wurden. Heute können Lehrer, Schüler und andere Besucher diesen Todesmärschen folgen und Zeugnisse über das Grauen, das sich dort
zugetragen hat, hören. Aber die Erklärung für dieses historische
Phänomen, das erzwungene Marschieren Hunderttausender von
Häftlingen über mehrere Monate kreuz und quer durch das zusammenfallende Dritte Reich und ihre schrittweise Vernichtung – sei es
12
Einleitung
vor dem Verlassen des Lagers, im Verlauf der Evakuierung, auf dem
Marsch oder erst nach Erreichen des Ziellagers –, diese Erklärung ist
bis heute vage, partiell und zuweilen apologetisch und damit verstörend geblieben.
In den letzten Kriegsmonaten war im Westen bereits bekannt,
dass die Nationalsozialisten einen Genozid verübten. Seine letzte
Phase jedoch, die im Herbst und Winter 1944 begann und buchstäblich bis zur Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 währte, fand so
gut wie kein Echo in der Presse der freien Welt und auch nur sehr
wenig Resonanz in den jüdischen Zeitungen in Palästina. Die britische Presse befasste sich in den letzten Kriegsmonaten fast gar nicht
mit den Konzentrationslagern und überhaupt nicht mit der Evakuierung und Ermordung von Häftlingen. Wurden die Evakuierungen
von Häftlingen aus deutschen Lagern im Osten dennoch erwähnt,
dann war fast immer von alliierten Kriegsgefangenen die Rede, deren Schicksal ungleich größeres Interesse als das der Konzentrationslagerhäftlinge weckte.1
Auch die amerikanische Presse beschäftigte sich so gut wie gar
nicht mit dem Phänomen der Evakuierung und Ermordung von
Häftlingen im Zuge des deutschen Rückzugs. Im Januar 1945 konnte
man die Meldungen, die in den US-amerikanischen Zeitungen über
die Befreiung von Auschwitz erschienen, an den Fingern einer Hand
abzählen, wobei die Evakuierung der verbliebenen Häftlinge mit keinem Wort erwähnt wurde. Erst im April 1945 mehrten sich die Meldungen über die Vorgänge in den Lagern vor der Befreiung, vor allem nachdem die amerikanischen Truppen die ersten Lager erreicht
und die Gräuel aufgedeckt hatten, die vor ihrer Räumung verübt
worden waren. Die Begegnung mit den zu Haufen aufgetürmten erschossenen, verbrannten und entstellten Leichen und den wandelnden menschlichen Skeletten, die in letzter Sekunde dem Tod entronnen waren, platzte wie eine Bombe in die amerikanische Presse und
erschütterte die öffentliche Meinung.2 Aber diese Informationen
führten nicht notwendigerweise zu einer dezidierten Wahrnehmung
der Phase der Todesmärsche, ein Begriff, der in der Presse an keiEinleitung
13
ner Stelle erschien. Die Gräuel auf den Todesmärschen, die zum Teil
durch Berichte befreiter Häftlinge aufgedeckt wurden, bestärkten
die öffentliche Meinung im Westen in ihrer Ansicht über den Charakter des Nationalsozialismus. Aber zu einem besseren Verständnis
des Genozids, der in den letzten Kriegsmonaten verübt worden war,
trugen sie wenig bei.
Die spärliche Berichterstattung in der westlichen Presse spiegelte
verlässlich die Einstellung der alliierten Militärs und Nachrichtendienste wider. Diese sammelten Informationen über die Vorgänge
auf den Rückzugsrouten von Polen nach Westen. So gelangten im
Januar und Februar 1945 einige Meldungen über eine Evakuierung
alliierter Kriegsgefangener aus den Lagern im Osten, die infolge
des sowjetischen Vormarsches geräumt wurden, nach London und
Washington. Und im gemeinsamen Hauptquartier von Briten und
Amerikanern wurde diskutiert, welche Chancen es gebe, mit den
Deutschen zu einer Übereinkunft zu kommen, die Räumung der
Lager zu verhindern und die Kriegsgefangenen bis zum Eintreffen
der Roten Armee dort zu belassen. Mehrheitlich jedoch herrschte
die Einschätzung vor, dass keine reelle Chance auf eine derartige Regelung bestehe, da die Deutschen den Alliierten nichts geben würden, ohne eine substanzielle Gegenleistung zu fordern. Ja mehr noch,
aus Sicht der Deutschen stellten die Kriegsgefangenen einen Schutzschild gegen die permanenten Luftangriffe der alliierten Tiefflieger
auf die Rückzugskolonnen dar.3 Die Aufmerksamkeit der alliierten
Armeeführung galt zudem den Millionen deutscher Zivilisten, die
aus Angst vor der Roten Armee geflohen und mittellos und kopflos gen Westen unterwegs waren. Dieses Problem beunruhigte die
Militärs, insbesondere die amerikanischen, außerordentlich, da sie
nach der Kapitulation Deutschlands mit einer riesigen Flüchtlingswelle konfrontiert wären. Über das Schicksal von Hunderttausenden von Häftlingen hingegen, die mehr tot als lebendig marschierten
und unterwegs ermordet wurden, wurde kein Wort verloren. Auch
hat darüber offenbar keine einzige ernsthafte Aussprache auf Entscheidungsebene stattgefunden.4
14
Einleitung
In der hebräischsprachigen Presse in Palästina wurde diesem Kapitel ebenfalls kaum Raum gewidmet. Im Februar 1945 berichteten
einige Zeitungen, vor allem das Organ der nationalreligiösen Partei Hazofeh, über den Entschluss der Nazis, bei ihrem Rückzug die
letzten der in den Lagern in Polen verbliebenen Häftlinge zu vernichten. Diese Meldungen basierten auf abgehörten Informationen aus Deutschland wie auf Gerüchten, die im Westen kursierten
und sich vor allem auf die Lager Auschwitz und Stutthof bezogen.
Der Ausdruck « Todesmärsche » fiel in der Regel nicht, auch wenn –
was selten geschah – auf das Phänomen selbst Bezug genommen
wurde. Die Zeitung Davar etwa sprach von « Todesprozessionen »,
während die Zeitung Haaretz über Häftlinge berichtete, die « zu Fuß
wanderten ». Beide Zeitungen bezogen sich in ihren Meldungen auf
die Deportation und Ermordung der Juden aus Budapest im November 1944, die in das österreichisch-ungarische Grenzgebiet geschafft wurden, um dort Schanzarbeiten zu verrichten, die den Vormarsch der Roten Armee bremsen sollten. Einige Wochen nach der
Befreiung von Auschwitz berichtete Haaretz über die Evakuierung
der Häftlinge, die sich vor dem Eintreffen der Rotarmisten noch im
Lager befunden hatten, und über ihren Abtransport per Eisenbahn
nach Berlin. Im April 1945 erschienen abermals einige Meldungen
über Pläne, die in Deutschland kursierten und auf die Vernichtung
der letzten Juden in den Lagern vor einer möglichen Befreiung abzielten. Wie inzwischen nachgewiesen, existierten konkrete operative Pläne dieser Art zwar nicht, wohl aber gab es in einigen Lagern
eine entsprechende Stimmungslage, die die Möglichkeit eines Massenmords an den Häftlingen vor der Befreiung erwog und viele Gerüchte erzeugte. Zusätzlich wurden nach und nach auch Meldungen
über Züge mit Konzentrationslagerhäftlingen veröffentlicht, die unterwegs steckengeblieben und von alliierten Truppen befreit worden
waren.5
Wir sehen hier einen möglichen Grund dafür, dass die Phase der
Todesmärsche als eigenständiges Kapitel in der Geschichte des von
den Nationalsozialisten verübten Genozids bisher nicht berückEinleitung
15
sichtigt wurde. In den wenigen Berichten der hebräischsprachigen
Presse wurde die Phase der Todesmärsche und der Befreiung der
Lager bereits 1945 als letzter Akt der nazistischen « Endlösung » bezeichnet. Dabei darf es selbstverständlich nicht verwundern, dass
sich in dieser lückenhaften Presseberichterstattung Meldungen und
Gerüchte über die Liquidierung der Lagerhäftlinge in den letzten
Kriegsmonaten unmittelbar mit den Informationen verquickten, die
in den zurückliegenden Kriegsjahren über die Ermordung von Millionen Juden in den Vernichtungslagern und anderen Vernichtungsstätten eingegangen waren. Die Tatsache, dass die Lagerhäftlinge
um die Jahreswende 1944/45 eine äußerst vielschichtige und heterogene Opfergruppe darstellten, die sich in den letzten Kriegsjahren unter den systemimmanenten Zwängen des « Lageruniversums »
herausgebildet hatte und in der Juden nur eine, wenn auch große,
Gruppe darstellten – diese Tatsache fand selbst viele Jahre nach dem
Krieg keine besondere Beachtung. Lange Jahre wurde der Phase der
Todesmärsche keine eigene Studie gewidmet.
Auch die Nürnberger Prozesse, die sich mit den letzten Monaten vor Kriegsende und der Evakuierung der Lager beschäftigten,
trugen nicht dazu bei, die Phase der Todesmärsche und den Charakter des Mordens besser zu verstehen. Aus vielfältigen Gründen
wurden die nationalsozialistische « Endlösung der Judenfrage », die
Frage der Singularität und die besonderen Charakteristika des von
den Nazis verübten Genozids während der Nürnberger Prozesse
ausgespart. Diese Fragen wurden nur erörtert, wenn es um den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ging, der im Zentrum der Nürnberger Prozesse stand, oder wenn die Angeklagten
zu ihrer Funktion oder zu ihrer Einstellung zur rassistischen Verfolgung in Deutschland oder zum Antisemitismus vernommen wurden.6 Die Frage der Lagerräumung kam vor allem im Prozess gegen
Ernst Kaltenbrunner auf, der Reinhard Heydrich an der Spitze des
Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) ablöste. Aber die gesamte Beweisaufnahme konzentrierte sich auf den administrativen Aspekt
der Zuständigkeit. Das Gericht versuchte zu klären, wer für die An16
Einleitung
weisungen und Entscheidungen während der Räumung verantwortlich zeichnete und wer hinter den teuflischen Plänen stand, die Häftlinge in einigen Konzentrationslagern vor Eintreffen der alliierten
Befreier zu vergiften oder durch Luftangriffe zu töten. Und selbst
in späteren Prozessen, die die alliierten Besatzungsmächte 1946 gegen Kriegsverbrecher führten, die im System der Konzentrationslager gedient hatten, wurde so gut wie nie auf den Völkermord im
Kontext der Todesmärsche Bezug genommen. So führten die Amerikaner etwa Prozesse gegen Täter von Dachau, Flossenbürg, Mauthausen, Buchenwald und Mittelbau-Dora ; die Briten saßen über Täter aus Bergen-Belsen und Ravensbrück zu Gericht, die Sowjets über
jene aus Sachsenhausen. Kam die Räumung der Lager zur Sprache,
versuchte die Anklage fast immer herauszufinden, wer die Verantwortung für die chaotische Lage trug, in der Tausende von Häftlingen den Tod gefunden hatten. Die Angeklagten, insbesondere die
Kommandanten der betreffenden Lager, wiesen natürlich jede Verantwortung von sich.
Oswald Pohl war derjenige, der das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt (WVHA) geschaffen hatte und bis Kriegsende
an seiner Spitze stand. Als solcher war er direkt verantwortlich für
das Lagersystem in den Monaten seiner Liquidierung. Aber auch im
Prozess gegen Pohl konzentrierte sich die gerichtliche Untersuchung
zur Räumung der Lager auf die Frage der administrativen und befehlstechnischen Verantwortung. Pohl wies alle Verantwortung für
die katastrophalen Umstände der Räumung und den Mord an den
Häftlingen von sich und verschanzte sich hinter seiner Verantwortung für die Buchführung und das wirtschaftliche Gefüge der SS.
Die Verantwortung für die Lager im Allgemeinen und die Phase ihrer Räumung im Besonderen wälzte Pohl entweder nach oben auf
Himmler ab, oder er sah seinen nächsten Untergebenen, Richard
Glücks, den Leiter der Inspektion Konzentrationslager (IKL), in der
Pflicht.
Es ist sehr fraglich, ob es der Justiz, die die Kriegsverbrecher in
den ersten Nachkriegsjahren vor Gericht stellte, überhaupt möglich
Einleitung
17
gewesen wäre, etwas anderes als die Verantwortung für die Befehle
zur Lagerräumung und ihre Vorbereitung zu klären. Alle Gerichtsverhandlungen verloren die Häftlinge in dem Augenblick aus den
Augen, in dem die Räumung des jeweiligen Lagers begann. Auch
die vorgelegten Dokumente, deren Bedeutung für das Verständnis
des Apparats der Konzentrationslager und der Befehlswege in den
letzten Kriegsmonaten evident ist, geben weder über die Häftlinge
noch über die Mörder Aufschluss. Die Antwort auf die Frage, was
sich in den endlosen Kolonnen der Häftlinge abspielte, deren Evakuierung zu langen Todesmärschen wurde, die Antwort auf die Frage
nach der Identität und den Motiven ihrer Mörder, nach der Identität
der Opfer und der Reaktion der polnischen, deutschen oder österreichischen Zivilbevölkerung auf Hunderttausende durch die Lande
getriebener Häftlinge – diese Antwort muss anderenorts gesucht
werden. Das gilt auch für die Reaktion der Häftlinge und ihre Art,
sich mit ihrem Schicksal auseinanderzusetzen.
In späteren Prozessen und staatsanwaltlichen Ermittlungen, die
in der Bundesrepublik Deutschland oder in Österreich erfolgten,
wurde das Phänomen des massenhaften Mordes, zu dem es während der Evakuierung der Lager und auf den Todesmärschen kam,
sehr wohl zur Sprache gebracht. Hunderte von Untersuchungsakten zu Mord oder Misshandlungen an aus Konzentrationslagern
evakuierten Häftlingen wurden in den letzten vier Jahrzehnten des
20. Jahrhunderts angelegt. Beweismittel wurden gesammelt, Zeugen
befragt und Untersuchungsberichte von Massengräbern genau analysiert, die nach dem Krieg entlang der Evakuierungsrouten entdeckt
worden waren. Dieses umfangreiche Dokumentationsmaterial ist in
mehrfacher Hinsicht von eminenter Bedeutung. Es ermöglicht uns,
das Zustandekommen einzelner Morde und Massenmorde an Häftlingen, die im Verlauf der Todesmärsche verübt wurden, aus nächster Nähe zu verfolgen. Dieses Material ist wichtig, wenn es um den
einzelnen Mörder geht, der die Häftlingsgruppe begleitete. Naturgemäß jedoch kann es aber nur in begrenztem Maße zum Verständnis
eines weitergefassten Spektrums von Fragen beitragen.
18
Einleitung
Ohne die Zeugnisse der Überlebenden ist vieles, was sich während
der Todesmärsche ereignete, nicht zu verstehen. Die Überlebenden
berichteten schon bei den ersten Projekten, die Zeugnisse von Holocaustüberlebenden sammelten, ausführlich von den Todesmärschen.
Dazu gehören unter anderem die Berichte, die 1945 in den Lagern
von Budapest aufgezeichnet wurden, und die Tonbandaufnahmen,
die der jüdisch-amerikanische Psychiater David Boder 1946 auf seiner Europareise machte. Im Laufe der Jahre konnten Zehntausende
von Zeugnissen von Überlebenden, Juden wie Nichtjuden gleichermaßen, gesammelt werden, die die Räumung der Lager und die Todesmärsche beschreiben. Dieser gewaltige dokumentarische Fundus,
von einer Vielzahl von Historikern zusammengetragen und über etliche Archive auf der ganzen Welt verteilt, vervollständigt das Bild
aus einer Perspektive, die in allen anderen Quellen nur sehr begrenzt
zugänglich ist.
Angesichts dieser Fülle dokumentarischen Materials erscheint es
umso erstaunlicher, dass das letzte Kapitel in der Geschichte des nationalsozialistischen Genozids in der Vernichtungspolitik der vorangegangenen Jahre oder den chaotischen Zuständen unterging, die
in den letzten Kriegsmonaten in Deutschland herrschten. Dennoch
hat es trotz allem einige Versuche gegeben, sich dieses Phänomens
und des Zeitraums, in dem es sich ereignete, systematisch anzunehmen.
Bis Anfang der neunziger Jahre finden sich drei markante historiographische Versuche, das Phänomen der Todesmärsche in einer
Gesamtschau zu behandeln. Bereits gut ein Jahr nach Kriegsende
veröffentlichte die Zentrale Suchstelle des UN-Flüchtlingshilfswerks U.N.R.R.A. (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) eine dreibändige Dokumentation von immenser Bedeutung, die Berichte, Routenverläufe und Schätzungen zur Zahl der
Ermordeten auf 110 Todesmärschen enthält. Die Angaben in den
Berichten sind selbstverständlich nicht vollständig und auch nicht
immer verlässlich, doch allein die Tatsache, dass eine wichtige internationale Institution sich daranmachte, diese Fakten zusammenEinleitung
19
zutragen, ist Beleg genug, dass die Gräueltaten im Zuge der Lagerräumung kein unbekanntes oder vergessenes Phänomen darstellten.
Auf Grundlage dieses Materials veröffentlichten zwei Forscherinnen
in der Tschechoslowakei Mitte der sechziger Jahre eine erste Pionierstudie über die Todesmärsche, die viele Jahre lang fast die einzige
blieb.7 Ihre Untersuchung enthielt lediglich statistische Berechnungen und beschrieb die Marschrouten, setzte sich aber nicht einmal
ansatzweise mit den großen Fragen jener Zeitspanne auseinander.
Eine weitergehende Studie wurde Ende der achtziger Jahre von dem
polnischen Historiker Zygmunt Zonik veröffentlicht. Zonik, selbst
ehemaliger Häftling in mehreren Konzentrationslagern, orientierte
sich an den Gerichtsverhandlungen, die zur Frage der Räumung
und Eliminierung der Lager in Deutschland und Polen stattgefunden hatten. In seinem Buch findet sich eine wichtige Darstellung der
Entscheidungsprozesse im Lagersystem am Vorabend der Evakuierung, und er skizziert auch die unterschiedlichen Routen, die die
Häftlingskolonnen nahmen.8 Allerdings erfahren wir aus Zoniks bedeutender Studie so gut wie nichts über die Mörder, über die Opfer
oder über die gesellschaftliche und politische Konstellation, in der
die Massaker in der Schlussphase des Krieges stattfanden.
Die Forschung zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern hat in den letzten 15 Jahren stark zugenommen. An die Stelle
der umfassenden Monographien, von denen nicht wenige von Historikern verfasst wurden, die selbst Lagerhäftlinge gewesen waren und die ihre historische Analyse oft mit der eigenen Leidensgeschichte verquickten, sind Forschungsarbeiten von einer neuen
und jungen Generation von Historikern – zumeist Deutsche – getreten. Nach und nach entstanden Standardwerke zu einer Vielzahl
von Konzentrationslagern, die sich auf gründliche, umfassende Archivstudien aus zahlreichen unterschiedlichen Quellen stützen. Aber
selbst in diesen wichtigen Forschungsarbeiten scheint das letzte Kapitel, das Kapitel der Räumung und der Todesmärsche, von all den
anderen Schrecken absorbiert zu werden, welche die Insassen der
Lager erleiden mussten. In der Regel betrachtet die historische For20
Einleitung
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