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KODIKAS / CODE
Ars Semeiotica
Volume 32 (2009) No. 3 – 4
Gunter Narr Verlag Tübingen
“Lost in Prostitution”*
Sexualität und Gewalt in den Operninszenierungen
von Calixto Bieito
Stephanie Großmann
Dieser Beitrag beschreibt zunächst das Spannungsverhältnis, das Calixto Bieito in seinen von
Sexualität und Gewalt dominierten Inszenierungen durch die Gegenüberstellung eines ‘Konkreten’ auf der visuellen Ebene und den stark konventionalisierten, ästhetischen Zeichen des
Librettos und der Musik generiert. Dann untersucht er, welche Rückkopplungseffekte sich durch
Kohärenzbildung für die Ebenen Libretto und Musik durch den Einbezug der Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ auf der visuellen Ebene ergeben und legt schließlich dar, wie sich die Unmittelbarkeit der Aufführungssituation in der Oper auf ein ‘Konkretes’ in den Bieito-Inszenierungen auswirkt.
The paper focuses on three aspects of Calixto Bieito's opera performances in which sexuality
and violence dominate. 1. It describes the tension which Bieito generates by confronting the
,concrete signs’ of the visual level with the strongly conventionalized and aesthetic signs of
libretto and music. 2. It examines the implications of the dimensions ,sexuality’ and ,power’ at
the visual level and how they are transferred onto the level of libretto and music. 3. It finally
demonstrates how the immediacy of opera performances in general influences the ,concreteness’
in Bieito’s opera performances.
“Die moralischen Skandale sind doch längst hoffähig: Wir kaufen Zeitungen, weil sie uns
Affairen auftischen, schauen Horror-Filme, um uns an Gewalt zu laben. In der Oper ist das
Grauen aber direkt – es steht körperlich im Raum. Es ist echt. Mit dieser Direktheit können
einige nicht umgehen. Statt die Wirklichkeit zu akzeptieren, wollen sie die Oper als letzten
aristokratischen Ort bewahren. Als elitäre Veranstaltung, in der die gute alte Zeit widergespiegelt wird. Wir brauchen ein neues Opernpublikum.” Calixto Bieito (Brüggemann 2003: 33)
Auch eine Operninszenierung bildet – genau wie Literatur und Film – ein Zeichensystem
zweiter Stufe und damit ein sekundäres semiotisches System im Sinne Jurij M. Lotmans
(Lotman 41993: 22f.). Die für die Oper konstitutiven primären Zeichensysteme umfassen
Sprache, Schrift, Musik1, Bühnenbild, Kostüme, Maske/Frisur, Körperlichkeit der Darsteller,
Requisiten, Licht, Proxemik, Gestik und Mimik. Für die Analyse bietet es sich an, diese
Zeichensysteme zu größeren Einheiten zusammenzufassen und in drei Ebenen zu gliedern:
1. das Libretto, 2. die Musik und 3. die Visualisierung – also die Umsetzung der Oper auf der
Bühne. Hierbei haben die Ebenen Libretto und Musik einen eher überzeitlichen Charakter, da
sie schriftlich fixiert und nur wenigen Veränderungen im Zeitverlauf unterworfen sind. Sie
bilden zusammen den ‘potentiellen Bedeutungsrahmen’ einer Oper. Die Ebene Visualisierung
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Stephanie Großmann
hat hingegen, verglichen mit den beiden anderen Ebenen, einen eher kurzfristigen Charakter;
sie stellt immer nur eine mögliche Umsetzung des ‘potentiellen Bedeutungsrahmens’ dar, bei
der bestimmte Anteile dieses Bedeutungsrahmens fokussiert, aktualisiert und transformiert
werden. Die Inszenierung, die nach Pavis als “Inbezugsetzung aller Signifikantensysteme,
insbesondere der Verlautbarung des dramatischen Textes […]” (Pavis 1989: 14) verstanden
werden kann,2 ist nur zugänglich über die Aufführung, die ein singuläres Ereignis – oder auch
die Konkretisierung des abstrakteren Inszenierungstextes – darstellt, und maßgeblich durch
die Co-Präsenz von Darstellern und Rezipienten mitbestimmt wird.
Der katalanische Regisseur Calixto Bieito wird seit seiner skandalträchtigen Inszenierung
des Don Giovanni an der Staatsoper Hannover (2001)3 als brillanter Provokateur der deutschen Opernszene in den Feuilletonkritiken gehandelt. Eine Gemeinsamkeit seiner Inszenierungen ist die forcierte Darstellung von Sexualität und Gewalt. Durch diese Strategie manifestiert sich in seinen Inszenierungen gleich in zweifacher Hinsicht ein ‘Konkretes’ – zum
Ersten paradigmatisch, “weil Sexualität und Gewalt […] inszenierte semantische Felder
darstellen, in denen sich ein ‘Konkretes’ konstituiert, das sich kulturellen Sinngebungs- und
Semiotisierungsversuchen widersetzt” (vgl. Decker in diesem Band), und zum Zweiten
bedingt durch die spezifische Medialität der Oper, die durch die simultane Präsenz von
Akteuren und Rezipienten ein ‘Konkretes’ im Sinne von ‘Unmittelbarkeit’ und ‘Authentizität’
mit einschließt. Grundlage der folgenden Untersuchung sind die Inszenierungen von Bieito,
die mir als Aufzeichnung zugänglich waren:
•
Die Entführung aus dem Serail, Singspiel in drei Aufzügen, Uraufführung 1782 in Wien,
Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Dichtung von Christoph Friedrich Bretzner, frei
bearbeitet von Gottlieb Stephanie d.J., inszeniert an der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2004.4
•
Il dissoluto punito ossia il Don Giovanni, Dramma giocoso in zwei Akten, Uraufführung
1787 in Prag, Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, Dichtung von Lorenzo Da Ponte,
Co-Produktion des Gran Teatre del Liceu (Barcelona) mit der English National Opera und
der Staatsoper Hannover, Aufzeichnung von 2002.
•
Madame Butterfly, Tragödie einer Japanerin in drei Aufzügen, Uraufführung 1904 in
Mailand, Musik von Giacomo Puccini, Dichtung von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa,
inszeniert an der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2005.
•
Elektra, Tragödie in einem Aufzug, Uraufführung 1909 in Dresden, Musik von Richard
Strauss, Dichtung von Hugo von Hofmannsthal, inszeniert am Theater Freiburg, Aufzeichnung von 2006.5
•
Wozzeck, Oper in drei Akten, Uraufführung 1925 in Berlin, Musik von Alban Berg,
Dichtung von Georg Büchner, Co-Produktion des Gran Teatre del Liceu (Barcelona) mit
dem Teatro Real (Madrid), Aufzeichnung von 2006.
Die Auswahl der Inszenierungen wurde also nicht anhand von Epochen oder Komponisten
getroffen. Die Analyse der in diesem Sinne disparaten Gegenstände hat sich jedoch als
fruchtbar erwiesen, da trotz dieses recht kleinen Korpus konstante konzeptionelle Merkmale
der Inszenierungsstrategien Bieitos erkennbar sind, die zumindest auf die unterschiedlichen
Tendenzen der werkimmanenten Strukturen dieser Opern und deren Darstellbarkeit auf der
Bühne verweisen.
“Lost in Prostitution”
1.
359
Spannungsverhältnis
Wie allgemein bekannt sein dürfte, verhandeln alle diese Opern auf der Ebene des Librettos
unter anderem auch die Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’: Wozzeck wird von Marie mit dem
Tambourmajor betrogen und tötet sie im Wahn. Elektras Vater wurde von ihrer Mutter und
deren Liebhaber erschlagen, dieser Mord wird im Laufe der Handlung durch Elektras Bruder
Orest blutig gesühnt. Madame Butterfly wird als Ehefrau an einen amerikanischen Leutnant
verkauft und begeht am Ende der Oper eine rituelle Selbsttötung. Don Giovanni hat laut
Leporellos Liste bereits 1965 Frauen verführt, ermordet zu Beginn der Oper den Komtur und
vergewaltigt im Laufe der Handlung eine Bäuerin. In der Entführung aus dem Serail wird den
verschleppten Frauen Konstanze und Blonde im Harem des Bassa Selim angedroht, dass sie
zur Liebe gezwungen werden und ihren Rettern Belmonte und Pedrillo drohen Folter und
Mord.
Der Regisseur Bieito stellt die Größen ‘Gewalt’ und ‘Sexualität’, die auf der Ebene der
Libretti häufig nur in Form einer Teichoskopie oder implizit als Leerstellen aufgegriffen
werden, in seinen Visualisierungen der Opern sehr offensiv und drastisch dar, wodurch eine
starke Spannung zwischen den Ebenen Libretto und Visualisierung sowie Musik und Visualisierung erzeugt wird.
1.1
Libretto – Visualisierung
Die Relationen zwischen den Ebenen Libretto und Visualisierung sind in den Inszenierungen
von Bieito sehr unterschiedlich ausgeprägt. Drei seiner Inszenierungsstrategien werden im
Folgenden an Beispielen aus der Entführung aus dem Serail, Elektra und Wozzeck dargestellt:
Das Libretto der Entführung aus dem Serail erzählt die Geschichte von Konstanze und
ihrer Dienerin Blonde, die im Serail des Bassa Selim gefangen gehalten werden. Bassa Selim
wirbt um die Liebe Konstanzes und Blonde ist dem Aufseher Osmin versprochen. Belmonte,
der Geliebte Konstanzes, dringt in das Serail ein, um die beiden Frauen zu retten. Sein Diener
Pedrillo steht bereits im Dienste des Bassa und will Belmonte bei der Planung der Flucht
behilflich sein. Die “Entführung” wird allerdings durch Osmin vereitelt. Bassa Selim bestraft
jedoch überraschenderweise die beiden Paare Konstanze-Belmonte und Blonde-Pedrillo nicht,
sondern entlässt sie gnadenvoll in ihre Heimat.
Im 1. Aufzug, 3. Auftritt droht Osmin dem ihm verhassten Pedrillo in seiner Arie:
Erst geköpft, dann gehangen,
Dann gespießt auf heißen Stangen,
Dann verbrannt, dann gebunden
Und getaucht; zuletzt geschunden (Mozart 2005: 12).
Der Arie ist ein gesprochener Dialog zwischen Osmin und Pedrillo vorangestellt, der verdeutlicht, dass die hierarchische Struktur zwischen Osmin und Pedrillo zu Gunsten Pedrillos
ausfällt, da dieser Osmin Befehle (Feigenpflücken) geben kann, die jener ausführen muss.
Diese Struktur ist darauf zurückzuführen, dass der Bassa Selim Pedrillo vertraut und ihn
gegenüber seinem Aufseher Osmin bevorzugt. Im Gesamtkontext des Librettos unter Einbezug der gesprochenen Dialoge wird daher deutlich, dass es sich in der Arie des Osmin um
eine leere Drohung handelt. Bieito verzichtet in seiner Inszenierung jedoch auf einen großen
Teil der gesprochenen Dialoge und ersetzt einige durch eigene, stark aktualisierende und
modifizierte Texte. Daher ist es Bieito auch möglich, dass er in seiner Inszenierung diese Arie
360
Stephanie Großmann
des Osmin als konkrete Gewalthandlung gegen Pedrillo darstellt,
ohne die Logik der Handlung zu
gefährden. Diese Visualisierung
setzt den auf der Ebene Libretto
als einen in die Zukunft projizierten Wunschtraum konzipierten
Text der Arie in gegenwärtige,
konkrete Handlung auf der Bühne
um. Es wird nicht das gesamte
Programm der genannten Foltermethoden abgearbeitet, sondern –
als Pars pro toto – die Textzeile
“Dann gespießt auf heißen Stan- Abb. 1: Komische Oper Berlin / Foto: Monika Rittershaus (Osmin:
gen” durch eine anale Verge- Jens Larsen, Pedrillo: Christoph Späth, Statistinnen der Komischen
waltigung Pedrillos visualisiert, Oper Berlin)
zu der eine Domina ihre Lederpeitsche schwingt (Abb. 1).
Dagegen basiert Hofmannsthals Libretto auf der griechischen Tragödie Elektra von
Sophokles6 und erzählt die mythologische Geschichte der Elektra, die ihren Bruder Orest zum
Mord an ihrer Mutter Klytämnestra und deren Geliebten Aegisth anstachelt, da diese gemeinsam den Vater Agamemnon nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg erschlagen
haben. Monika Meister arbeitet die Opposition ‘Erinnern’ vs. ‘Vergessen’ als zentrale Größen
der dargestellten Welt des Librettos heraus (vgl. Meister 2000). Elektra ist ganz in ihrer
Erinnerung an ihren Vater verhaftet, ihre Gedanken kreisen ausschließlich um die Rache an
ihrer Mutter. Ihre Schwester Chrysothemis und ihre Mutter Klytämnestra versuchen die
Vergangenheit zu vergessen und zu verdrängen. Aus der Perspektive der Figur Elektra ist
‘Erinnern’ mit ethischem Handeln und einer heroischen Existenz korreliert, ‘Vergessen’
hingegen wird “zum Zeichen des Nicht-Mensch-Seins, des Tiers” (Meister 2000: 76).
Die Vergangenheit wird im Libretto nur durch die Rede über Vergangenes vermittelt, in
seiner Inszenierung stellt Bieito nun diese Vergangenheit auch visuell dar: Im vorderen Teil
der Bühne befinden sich eine Hundehütte und ein Gartenstuhl, die einen Bereich außerhalb
des Hauses markieren. Im hinteren Bereich der Bühne sind auf einer Drehbühne mit unterschiedlich hohen Podesten verschiedene Innenräume eines Hauses realisiert (Wohnzimmer,
Schlafzimmer, Küche, Bad), deren Mobiliar einem Ikea-Katalog entnommen zu sein scheint.
In diesen Innenräumen wird parallel zur librettogetreuen Handlung im vorderen Bühnenbereich die Vergangenheit Elektras visualisiert. Durch die simultane Darstellung der zeitlich
weit auseinanderliegenden Ereignisse konkretisiert Bieito in seiner Inszenierung die Kindheit
Elektras und liefert damit ein psychologisches und soziologisches Erklärungsmuster für
ihr gegenwärtiges Handeln und Fühlen. Die sich um sich selbst drehenden Innenräume bilden
darüber hinaus eine Äquivalenz zu Elektras um die Vergangenheit kreisende Gedanken und
werden so zum Zeichen für ihr Verhaftetsein in der Vergangenheit.
In seiner Visualisierung des Wozzeck folgt Bieito wiederum einer Inszenierungsstrategie,
mit der er vor allem die im Libretto vermittelte Gewalt forciert. Die im Librettotext konzipierte dargestellte Welt ist durch massive Ausbeutung der Schwachen gekennzeichnet, als
deren Konsequenz Wozzeck wahnsinnig wird und letztendlich seine Geliebte Marie ersticht
und sich ertränkt. Dieses zentrale, im Libretto durch die Figurenkonstellation vermittelte
“Lost in Prostitution”
361
Paradigma der sozialen Unterdrückung weitet Bieito in seiner Visualisierung aus. Er situiert
die Oper in einem Raum, der durch ein gigantisches Rohrgeflecht dominiert wird. Die durch
die Einheitskleidung mit einem roten Overall entindividualisierte Masse (alle Figuren mit
Ausnahme des Tambourmajors, des Doktors und des Hauptmanns), die abgeschieden von
Tageslicht und jeglicher Form von Natur lebt, erscheint winzig klein vor diesem grauen,
verworrenen und technisierten Metallkonstrukt. Bieito inszeniert die Masse als unterdrückte
Arbeiter, die in einer menschenfeindlichen Parallelwelt für eine “Oberschicht” (figuriert durch
das Triumvirat Tambourmajor, Doktor und Hauptmann) schuften müssen, während sie durch
giftige Dämpfe und Gase erkranken und zu ersticken drohen.7
Im Gegensatz zu den Inszenierungen von Die Entführung aus dem Serail und Elektra –
bei denen Bieito Leerstellen des Librettos mit visuellen Größen füllt, die unmittelbar aus dem
Libretto rekonstruierbar sind – weitet er bei seiner Inszenierung des Wozzeck den im Libretto
behandelten Bedeutungshorizont aus und expandiert in seiner Visualisierung das Konfliktpotential der Oper mit den Größen ‘Zerstörung des Lebensraumes’ und ‘negative Konsequenzen der Industrialisierung’.
1.2
Musik – Visualisierung
Im 2. Aufzug, 3. Auftritt der Entführung aus dem Serail droht Bassa Selim der von ihm
gefangen genommenen Konstanze mit Folter, falls sie seinem Liebeswerben bis zum nächsten
Tag nicht nachgeben sollte. Konstanze widersetzt sich jedoch seinen Drohungen und singt in
ihrer “Martern-Arie”, dass selbst Folter und der Tod sie nicht zur Untreue gegenüber ihrem
Geliebten Belmonte bewegen können:
Martern aller Arten
Mögen meiner warten,
Ich verlache Qual und Pein.
Nichts soll mich erschüttern.
Nur dann würd ich zittern,
Wenn ich untreu könnte sein.
Laß dich bewegen, verschone mich!
Des Himmels Segen belohne dich!
Doch du bist entschlossen.
Willig, unverdrossen
Wähl ich jede Pein und Not.
Ordne nur, gebiete,
Lärme, tobe, wüte!
Zuletzt befreit mich doch der Tod (Mozart 2005: 29).
Während dieser Arie hält Bassa Selim Konstanze auf einem Stuhl fest. Osmin lässt sich zu
ihren Füßen zuerst von einer Prostituierten oral befriedigen, knebelt diese dann und fügt ihr
Schnittwunden mit einem Messer am nackten Oberkörper, Rücken und an den Armen zu.
Nachdem die Prostituierte während dieser Verstümmelungen an einem Schnitt durch die
Kehle verblutet ist, malträtiert Osmin ihren Körper weiterhin mit dem Messer (Abb. 2).
Als Höhepunkt des Gewaltaktes schneidet Osmin der toten Prostituierten die linke Brustwarze ab.
Auf der visuellen Ebene wird also parallel zu Konstanzes Arie vorgeführt, was sie
erwartet, falls sie sich weiterhin dem Werben des Bassa Selim widersetzt. Die Visualisierung
präzisiert somit die auf der Ebene Libretto eingeführte Größe ‘Martern’.
362
Stephanie Großmann
Die sehr plastische Darstellung von offensiver Gewalt gegen die Prostituierte wird durch die Co-Präsenz
von Akteuren und Rezipienten gesteigert und führt zu
Abwehrreaktionen, die der Rezipient körperlich mitfühlen kann. Die imaginierten Schmerzen der Prostituierten übertragen sich auf das eigene Köperempfinden.
Die drastische Inszenierung der Szene intensiviert zum
einen die Aufmerksamkeit für das Bühnengeschehen
und aktiviert zugleich auch die Wahrnehmung des
eigenen Körpers. Diese Art der Interaktion zwischen
Dargestelltem und Rezipient ruft eine besondere Art
der Identifikation hervor, die ich in Abgrenzung zur
Rollenidentifikation als eine Form von körperlicher
Identifikation bezeichnen möchte. Die starke Spannung
der beschriebenen Szene ist aber nicht allein mit der
Darstellung massiver Gewalt und der körperlichen
Identifikation zu erklären. Die Musik Mozarts steht im
Widerspruch zum ‘Konkreten’ auf der Ebene Visualisierung. In dieser Arie dominiert die ästhetische Funk- Abb. 2: Komische Oper Berlin / Foto:
tion der Musik und damit dominiert der musikalische Monika Rittershaus (Konstanze: Maria
kommunikative Rahmen die Visualisierung. Die Arie Bengtsson, Bassa Selim: Guntbert Warns,
folgt den musikalischen Konventionen der Wiener Osmin: Jens Larsen, Statistin der KomiKlassik, ihr liegt die Tonart C-Dur zugrunde, der Mit- schen Oper Berlin)
telteil der Arie steht in der parallelen Molltonart aMoll. Ihr thematischer Aufbau folgt dem Schema A B C B’ C’. In dieser Arie lassen
sich aus der Gesanglinie und der vom Orchester gespielten Musik zwei unterschiedliche
“gestische Formen”8 abstrahieren, die über Analogiebildung zu einem “abstrakten Bewegungsraum” mit bestimmten Emotionen korreliert werden können. Die Teile A (Takt 1–32,
Mozart 1928: 83f.) und C (Takt 89–125, Mozart 1928: 87 f.) sind sich in ihrem musikalischen
Gestus sehr ähnlich. Beide Teile sind durch einen pulsierenden und antreibenden Rhythmus
gekennzeichnet. Das Orchestertutti setzt der Gesangsstimme häufig Doppelakkorde entgegen,
die den Eindruck eines Schlagabtausches zwischen Gesangsstimme und Orchester hervorrufen. Den ableitbaren emotionalen Gestus dieser beiden Teile kann man mit Begriffen wie
‘kraftvoll’, ‘bestimmt’, ‘überlegen’ bis hin zu ‘wütend’ beschreiben.
Der musikalische Gestus des Teiles B (Takt 33–88, Mozart 1928: 84 f.) ist hingegen eher
lyrisch. Die Melodielinien werden zumeist aufwärts geführt und haben rhythmisch einen
ruhigeren und fließenderen Charakter als die Teile A und C. Es werden hauptsächlich Holzbläser als Soloinstrumente eingesetzt, die mit der Melodielinie von Konstanzes Stimme
verschmelzen. Aus diesem Teil lassen sich Größen wie ‘Bitten’ und ‘Flehen’ ableiten. Auch
wenn die Arie durchaus impulsive Passagen aufweist, ist sie harmonisch und rhythmisch klar
strukturiert, wodurch sie einen scharfen Kontrast zur visuellen Ebene bildet: Sichtbar sind
Gewalthandlungen, die als sehr konkret zu bezeichnen sind, wohingegen die Musik mittels
wohlklingender, ästhetisch-abstrakter Zeichen kommuniziert. Die Inszenierung baut in dieser
Szene durch die Opposition zwischen den Ebenen Musik und Visualisierung eine deutlich
spürbare Spannung auf.
In der Schlussszene des Don Giovanni erzielt Bieito durch seine Inszenierung hingegen
eine gegenseitige Verstärkung der Ebenen Musik und Visualisierung. Laut Nebentext des
“Lost in Prostitution”
363
Librettos wird Don Giovanni nach dem Händedruck mit dem steinernen Gast (alias der
getötete Komtur) von den Flammen der Hölle verschlungen (Mozart 1986: 75). Bieito bringt
den Schluss der Oper jedoch folgendermaßen auf die Bühne: Nachdem Don Giovanni den
Komtur erneut erstochen hat, wird er von Don Ottavio mit dem Rücken zum Publikum auf
einem Stuhl gefesselt. Während des Schlusssextetts üben alle Beteiligten (Don Ottavio,
Zerlina, Masetto, Donna Anna, Leporello und Donna Elvira) Selbstjustiz an Don Giovanni
und stechen mit einem Küchenmesser auf ihn ein. Diese Messerstiche werden punktgenau
zum Rhythmus der Musik gesetzt. Diese Parallelisierung hat zwei Effekte: Zum einen wird
die Wahrnehmung des musikalischen Rhythmus deutlich hervorgehoben und die anderen
Parameter der Ebene Musik (Melodie, Harmonie, Dynamik) rücken in den Hintergrund. Zum
anderen gewinnt die Gewalthandlung auf der Bühne durch die Rhythmisierung an Drastik,
sodass ein körperliches Mitempfinden der Stiche beim Rezipienten evoziert wird.9
Wie verhält es sich aber nun bei Opern, in denen nicht nur die Ebene Libretto auf die
Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ rekurriert, sondern auch die Ebene Musik diese Größen
aufgreift und hörbar macht? In den Opern Elektra und Wozzeck wird die im Libretto beschriebene Gewalt auch auf der Ebene Musik umgesetzt. Die kompositorischen Strategien
von Strauss und Berg – zu denen der vermehrte Einsatz von Dissonanzen, Ausweitung
der Dur-Moll-Polarität zur Polytonalität, Atonalität, rhythmische Deklamation, Einbezug von
U-Musik und das Aufbrechen der formalen Strukturprinzipien zählen – machen es möglich,
eine auditive Äquivalenz zur Ebene Visualisierung zu bilden. Klänge, die ganz konkret im
Zusammenhang mit Gewalt, Schmerz und Angst stehen, sind eben nicht strukturiert, nicht
geordnet und nicht dur-moll-systematisch im Zeichensystem Musik konzipierbar. Sie sind
vielmehr durch extreme Unordnung, Impulsivität, einen schrillen Klang und Brüche der
musikalischen Struktur gekennzeichnet, die in dieser Prägnanz nicht in den regelkonformen
Kompositionsstrategien der Musik vor der Wende zum 20. Jahrhundert dargestellt werden
konnten. Richard Strauss schreibt selbst über seine Musik der Opern Elektra und Salome:
“[I]ch bin in ihnen bis an die äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie
(Klytämnestras Traum) und Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen” (Strauss 1949:
187) und Erhardt beschreibt den Klangeindruck sehr treffend als “polyphonen Exzeß” und
“vulkanische […] Eruption […], die mit ihren übereinander getürmten Dissonanzen die
Tonalität mit einer Kühnheit hinwegschwemmt, wie sie auch von den konsequentesten
“Atonalen” kaum überboten worden sein dürfte” (Erhardt 1953: 218f.).
In Alban Bergs Wozzeck wird die Ermordung Maries in der Musik besonders eindringlich durch den abrupten Wechsel der Dynamik vom Pianissimo (III. Akt, Takt 96, Berg 1923:
194) zum Fortefortissimo (III. Akt, Takt 103, Berg 1923: 196) umgesetzt. Hiß vergleicht
diese dynamische Steigerung mit einer klanglichen Explosion des Orchesters (Hiß 1988:
147). Des Weiteren prägen dissonante Intervalle und chromatische Figuren diese Szene,
sodass Wozzecks rasende Eifersucht und Maries Angst auch musikalisch verdeutlicht
werden.
Eine zentrale Differenz, die sich durch die unterschiedliche musikalische Darstellungsweise in den untersuchten Opern ableiten lässt, ist die Perspektivierung des Leidens der
Figuren. In den Opern von Mozart und Puccini wird das Leiden durch die Musik ästhetisiert,
wohingegen Berg und Strauss das Leiden ihrer Figuren musikalisch unter anderem durch den
Einsatz von Dissonanzen konkretisieren.
Stephanie Großmann
364
1.3
Relation der Ebenen Libretto, Musik und Visualisierung
Ganz allgemein können Äquivalenzen zwischen den einzelnen dargestellten Größen auf den
Ebenen Libretto, Musik und Visualisierung abstrakt als Schnittmengen dieser Zeichensysteme
verstanden werden. Die Schnittmenge zwischen den Ebenen Libretto und Musik ist für jede
Oper spezifisch, wobei bestimmte Tendenzen im Bezug auf die Größe und die Elemente der
Schnittmenge vom dominanten Kompositionsstil einer Epoche abhängen. Die Visualisierung
ist eine mögliche Umsetzung des ‘potentiellen Bedeutungsrahmens’ einer Oper, der sich aus
dem Zusammenwirken der Ebenen Musik und Libretto ergibt. Die Anzahl der unterschiedlichen Visualisierungen einer Oper ist beliebig groß. Daher bildet jede Visualisierung
einer Oper eine für sie spezifische Schnittmenge mit den Ebenen Libretto und Musik
(vgl. Abb. 3).
Wie bisher ausgeführt, ist die Schnittmenge zwischen Libretto und Visualisierung in
Bezug auf die Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ für die untersuchten Inszenierungen Bieitos
keine leere Menge. Die Größe der Schnittmenge variiert in Abhängigkeit von den Literatursystemen der
Epochen, in denen die Libretti verfasst wurden. Auf
der Ebene Musik lassen sich jedoch große Unterschiede in Bezug auf die Schnittmengenbildung zu
den Größen ‘Gewalt’ und ‘Sexualität’ feststellen, die
sich wiederum auf das Spannungsverhältnis der gesamten Inszenierung niederschlagen. Vereinfacht
kann man so die untersuchten Opern zwischen den
beiden Polen ‘spannungsreicher’ und ‘spannungsärmer’ verorten. Ausschlaggebend für die Positionierung der Opern zwischen diesen beiden Polen ist zumeist die Größe der Schnittmenge der Ebenen Musik
und Visualisierung (Abb. 4).10
Abb. 3: Eigene Darstellung
Abb. 4: Eigene Darstellung
“Lost in Prostitution”
365
Bei den ‘spannungsärmeren’ Opern wirkt die Musik zu den Bildern auf der Bühne fast wie
paraphrasierende Filmmusik; die auf der Ebene Visualisierung dargestellten Größen nähern
sich dem durch die Musik vermittelten emotionalen Gestus an.
2.
Rückkopplungseffekte
Mit dem Begriff ‘Rückkopplungseffekt’ soll im Zusammenhang mit der Inszenierungsanalyse
von Opern folgendes Phänomen bezeichnet werden: Größen, die über eines der drei konstitutiven Zeichensysteme Musik, Libretto, Visualisierung vermittelt werden, können zur
Reinterpretation von Größen eines der anderen beiden Zeichensysteme führen, um die
Kohärenzannahme für den Gesamttext Oper zu erfüllen. Es werden also Bedeutungselemente
einer Ebene in das Zeichensystem einer anderen Ebene eingeschleust, wodurch eine Umdeutung der zweiten Ebenen motiviert wird.
Es ist nicht verwunderlich, dass die stärkeren Rückkopplungseffekte durch Kohärenzbildung in den Operninszenierungen auftreten, in denen das Spannungsverhältnis zwischen
den Ebenen Musik und Visualisierung besonders groß ist – bei den vorliegenden Inszenierungen sind dies die Opern Die Entführung aus dem Serail, Don Giovanni und Madame Butterfly. Hierbei lassen sich zum einen Rückkopplungseffekte innerhalb einer Szene oder Arie
feststellen – also in der Mikrostruktur der Oper. Zum anderen beeinflussen Rückkopplungseffekte auch die Bedeutungsgenerierung in der Makrostruktur der Inszenierung.
2.1
Rückkopplungseffekte in der Mikrostruktur
Die im Libretto der Madame Butterfly dargestellte Welt ist durch die semantischen Räume
‘Japan’ und ‘USA’ strukturiert.11 Durch die Ehe mit dem amerikanischen Leutnant Pinkerton
legt Cho-Cho-San (alias Madame Butterfly) die für den semantischen Raum ‘Japan’ bindenden Raummerkmale ab und nimmt die konstitutiven Merkmale des semantischen Raumes
‘USA’ an (Wechsel der Konfession, Glaube an die Wahrhaftigkeit ihrer Ehe, Bruch mit der
japanischen Verwandtschaft). Die Überschreitung der topographischen Grenze in den semantischen Raum ‘USA’ vollzieht sie jedoch nicht, da Pinkerton nach dem ersten Akt den Raum
‘Japan’ ohne sie verlässt. Während des ersten Aktes und des ersten Teiles des zweiten Aktes
der Oper hält der durch den “Verlust der Raumbindung” (Renner: 41) herbeigeführte inkonsistente Zustand an, da Cho-Cho-San trotz Abwesenheit Pinkertons die Merkmale des
semantischen Raumes ‘USA’ nicht ablegt und damit zur Fremden im semantischen Raum
‘Japan’ wird. Dieser Zustand wird erst mit der Rückkehr Pinkertons und dessen amerikanischer Ehefrau gelöst. Nachdem Cho-Cho-San erfahren hat, dass Pinkerton nur zurückgekehrt ist, um das gemeinsame Kind mit in die USA zu nehmen, ersticht sie sich mit dem
Dolch ihres Vaters, der die Inschrift “Ehrenvoll sterbe, wer nicht mehr in Ehren leben kann”
(Puccini 2006: 111) trägt. Mit dem Vollzug dieser Tat wird der inkonsistente Zustand getilgt,
da Cho-Cho-San nun wieder geleitet von den Werten und Normen des semantischen Raumes
‘Japan’ handelt und damit für sich die Merkmale ihres Ausgangsraumes restituiert.
In seiner Visualisierung folgt Bieito den auf der Ebene Libretto etablierten Strukturen bis
zur Rückkehr Pinkertons im zweiten Teil des zweiten Aktes. Das Haus von Cho-Cho-San ist
mit vielen Requisiten ausgestattet, die zeichenhaft für den semantischen Raum ‘USA’ stehen.
Die musikalisch mit einem Summchor unterlegte Szene, in der Cho-Cho-San laut Nebentext mit Suzuki und ihrem Kind zusammen in ihrem Haus die Ankunft Pinkertons hinter dem
366
Stephanie Großmann
Sho-ji (mit Papier bespannte Wand) erwartet, setzt Bieito als eine Traumsequenz um, in
der ebenfalls durch die Kostüme der Statisten
(Mickey Mouse, Mädchen mit blondgelockten
Haaren, weißen Kleidern und glänzenden Schönheitsköniginnenkronen, Jungen im schwarzen
Anzug mit Cowboyhut und Sheriff-Stern) auf den
amerikanischen Raum verwiesen wird. In dieser
Sequenz wird die Ermordung von Unschuldigen
als ein weiteres zentrales Merkmal des semantischen Raumes ‘USA’ eingeführt: Mickey Mouse
führt sechs Jungen und Mädchen an, die alle zugleich mit Pistolen und Gewehren auf eine wehrlose schwangere Frau schießen und sich dann mit
einem triumphierenden Lächeln um die niedergeschossene Frau scharen. Nach vollbrachter Tat
halten sowohl Mickey Mouse als auch die zwölf
Kinder ihre amerikanischen Pässe in die Höhe.
Der amerikanische Pass wird so zum Zeichen der
Legitimation für diesen Mord. Cho-Cho-San
nimmt im weiteren Verlauf der Handlung auch Abb. 5: DVD (Cho-Cho-San: Juliette Lee, Statist
dieses Merkmal an, indem sie sowohl ihre Diene- der Komischen Oper Berlin)
rin Suzuki als auch ihr Kind mit dem SamuraiSchwert ihres Vaters ersticht (Abb. 5).
Cho-Cho-San tilgt alle Figuren, die sie noch an den semantischen Raum ‘Japan’ binden.
Die im Nebentext des Librettos beschriebene Selbsttötung wird hingegen nicht realisiert. Das
Schlussbild der Inszenierung zeigt Cho-Cho-San allein auf der Bühne, sie hält den amerikanischen Pass in der Hand, der ihr zuvor vom Konsul Sharpless für die Zustimmung zur
Übergabe ihres Kindes an Pinkerton übergeben wurde. In der Logik der Inszenierung gilt
folglich: Nur wer Unschuldige ermordet, kann ein Amerikaner werden. Cho-Cho-San erfüllt
diese Norm und geht damit im Gegenraum ‘USA’ auf. Diese sehr starken Modifikationen der
Ereignisstruktur des Librettos haben zur Folge, dass einige Textstellen des Librettos im
zweiten Teil des zweiten Aktes durch die Kopplung an die visuellen Zeichen eine Umdeutung
erfahren. Während Cho-Cho-San ihr Kind ersticht, singt sie:
Mein Liebling, leg dich an mein Herz.
Ruh mit dem Herrgott und ich mit meinem Schmerz.
Hell strahle Dir der Sterne Gold.
Mein Liebling schlafe (Puccini/Illica/Giacosa/Bieito 2005: 60:20).
Die Formulierungen “Schlafen” und “Ruhen”, die im Libretto zunächst keinen Tropus bilden,
werden durch die Visualisierung in einen Euphemismus für ‘Töten/Ermorden’ transformiert.
Durch die Ergänzung “mit dem Herrgott” erhält dieser Euphemismus eine besonders starke
Schlüssigkeit, da diese Formel zusätzlich einen Beerdigungsritus konnotiert. Umgekehrt wird
durch die von Bieito visuell etablierte Umdeutung von ‘Schlafenlegen’ in ‘Ermorden’ diese
Lesart des Librettos dominant gesetzt, privilegiert und legitimiert.
Im 1. Aufzug, 7. Auftritt der Entführung aus dem Serail bringt Konstanze in einer Arie
ihren Schmerz und ihre Trauer über die Trennung von ihrem Geliebten Belmonte zum Aus-
“Lost in Prostitution”
Abb. 6: DVD (Konstanze: Maria
Bengtsson)
Abb. 7: DVD (Konstanze: Maria
Bengtsson)
367
Abb. 8: DVD (Konstanze: Maria
Bengtsson, Selim: Guntbert
Warns)
druck. Der Text dieser Arie beschreibt die Opposition zwi
schen einer glücklichen Vergangenheit und einer unglücklichen Gegenwart, die jeweils von der An- bzw. Abwesenheit
Belmontes abhängt. Diese Gegenüberstellung visualisiert
Bieito im Zeichensystem Kostüm: Konstanze trägt zu Beginn
der Arie einen cremefarbenen Faltenrock und eine cremefarbene Strickjacke (Abb. 6). Nachdem Bassa Selim Konstanze aus einem Käfig geholt hat, entkleidet er sie. Unter der
Strickjacke und dem Rock trägt Konstanze einen hautfarbenen BH und eine gemusterte Frotteeunterhose (Abb. 7). Die
vier Kleidungsstücke konnotieren die Merkmale ‘altmodisch’, ‘prüde’ und ‘sexuell unerfahren’, sie stehen außerdem
für die besungene, glückliche Vergangenheit und damit auch
für Konstanzes Beziehung zu Belmonte. Durch das Kostüm
wird diese Beziehung mit den eben genannten Größen korreAbb. 9: DVD (Konstanze: Maria
liert und als frei von Sexualität gesetzt. Die aus Konstanzes
Bengtsson, Selim: Guntbert Warns)
Perspektive unglückliche Gegenwart wird im Zeichensystem
Kostüm mit einem weißen Pelzmantel korreliert, den Bassa
Selim ihr über die Schultern legt (Abb. 9). Dieser Pelzmantel konnotiert ‘Eleganz’, ‘materiellen Reichtum’, ‘Extravaganz’ und kann aus dem Kontext der Visualisierung im “Rotlichtmilieu” als Gegenleistung für körperliche Liebe interpretiert werden. Während Bassa Selim
Konstanze umkleidet, greift er ihr in die Frotteeunterhose und stimuliert sie gegen ihren
Willen (Abb. 8). Durch diese visuellen Zeichen findet eine Rückkopplung in Bezug auf die
Textzeile “Kummer ruht in meinem Schoß” (Mozart 2005: 17) statt. Auf der Ebene Libretto
wird der Begriff “Schoß” metaphorisch benutzt. Durch die Visualisierung kann er jedoch auch
konkret auf den Unterleib Konstanzes bezogen werden. Somit wird der Bereich der Sexualität
für die Figur Konstanze als etwas Negatives semantisiert. Außerdem generiert die visuelle
Ebene in dieser Szene auch einen Rückkopplungseffekt auf der Ebene Musik. Die von
368
Stephanie Großmann
Konstanze gesungenen Koloraturen bilden hier nicht nur eine Äquivalenz zu ihrer emotionalen Disposition, sondern können auch als Ausdruck des Schmerzes und des Widerstandes
gegen die sexuelle Stimulation durch Bassa Selim gedeutet werden. Durch das ‘Konkrete’ der
Visualisierung werden an dieser Stelle der Inszenierung die Koloraturen der Musik zu
Zeichen modifiziert, die zwischen dem Status konkret und abstrakt oszillieren.
2.2
Rückkopplungseffekte in der Makrostruktur
Calixto Bieito fokussiert ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ in seinen Inszenierungen und erhebt sie
zum absoluten Dreh- und Angelpunkt der Opern. In der Gesamtkonzeption der Oper Die
Entführung aus dem Serail wird der im Libretto eingeführte Handlungsraum “Serail” – also
der Palast eines osmanischen Herrschers – visuell als Bordell umgesetzt. Somit wird die im
Libretto dargestellte Welt in einen aktuellen und konkreten semantischen Raum transformiert.
Dieser Raum kann – zumindest aus der Perspektive des prototypischen Opernbesuchers – als
gesellschaftlicher Taburaum bezeichnet werden, in den Sexualität und Gewalt ausgegrenzt
und zugleich fokussiert werden.
Neben dieser Ausgrenzung von ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ in einen Taburaum stellt Bieito
in seiner Visualisierung aber auch eine Verbindung der dargestellten Welt zur gesellschaftlich
konformen und akzeptierten extratextuellen Welt her. Das Bühnenbild besteht aus mehreren
rechteckigen Glaskästen, die den Blick in einzelne Zimmer des Bordells suggerieren. In
diesen Glaskästen werden im Laufe der Handlung zahlreiche sexuelle Zusammenkünfte
zwischen Prostituierten und Freiern vollzogen. Jeweils eine Seite dieser Glaskästen ist
zeitweise mit einem großformatigen Werbeplakat behängt. Diese Plakate werben für Parfum,
Dessous, Stöckelschuhe, Lippenstift und Mascara (Abb. 10).
Diese Produkte haben die Gemeinsamkeit, dass sie von Frauen mit dem Ziel benutzt
werden, ihre erotische Ausstrahlung zu vergrößern. Der überdimensional groß dargestellte
Lippenstift und die Mascarabürste konnotieren darüber hinaus in ihrer Form einen Phallus.
Die Plakate bauen somit eine Äquivalenz zwischen weiblicher Verschönerung und männlicher Erregung auf, der sich als Kausalzusammenhang lesen lässt: Frauen modifizieren ihr
Äußeres mit Make-up, um Männer sexuell zu erregen. Es handelt sich bei diesen Plakaten
zwar nicht um extratextuell existierende Werbeplakate, sie greifen jedoch auf eine extratextuell weitverbreitete Darstellungsästhetik der Kosmetikwerbung zurück. Die Positionierung
dieser Werbeplakate auf einer
Seite der Glaskästen baut eine
Relation zwischen ‘Oberfläche –
Werbung für und mit weiblicher
Schönheit/Erotik’ und ‘Tiefendimension – Prostitution’ auf.
Hinter der gesellschaftlich akzeptierten Darstellung von Erotik verbirgt sich eine Form der nicht-akzeptierten konkreten Sexualität.
Das lässt sich auch als zeichenhafte Darstellung von Doppel- Abb. 10: DVD (Belmonte: Finnur Bjarnason, Pedrillo: Christoph
moral interpretieren. Das Zeichen- Späth, Statisten und Statistinnen der Komischen Oper Berlin)
“Lost in Prostitution”
369
system Bühnenbild suggeriert in dieser Inszenierung, dass sich die exzessive Sexualität,
die die Unterdrückung, Misshandlung und Entmündigung von Frauen miteinschließt, unter
dem Deckmantel der gesellschaftsfähigen Schönheitsindustrie verbirgt. Beide Konzepte
werden in der Inszenierung somit als äquivalent bewertet, da in beiden Formen die Frau zum
Objekt gemacht wird. Die konkrete Darstellung von ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ in der Visualisierung werden mit gesellschaftlich nicht-legitimierter Sexualität korreliert, wohingegen die
zeichenhaft verschlüsselte Darstellung von Sexualität mit dem Bereich der gesellschaftlich
legitimen Sexualität korreliert wird.
Für die Makrostruktur dieser Inszenierung ergibt sich als Rückkopplungseffekt von der
Visualisierung auf den durch das Libretto und die Musik konstituierten ‘potentiellen Bedeutungsrahmen’ der Oper ein analog semantisiertes Verhältnis wie das soeben beschriebene
Verhältnis von konkreter Sexualität und ästhetisierten Zeichen im Zeichensystem Bühnenbild.
Hierbei bilden Libretto und Musik reziprok eine ‘Oberfläche’, die mit ästhetischen Zeichen
gesellschaftskonforme Propositionen vermittelt, wohingegen die Visualisierung die dahinterliegende ‘Tiefendimension’ abbildet, die unter Einbezug von ‘Konkretem’ gesellschaftlich nicht-legitimierte Propositionen abbildet. So wie das Bühnenbild eine Doppelmoral
innerhalb der dargestellten Welt konnotiert, so konnotiert die gesamte Inszenierung Bieitos
eine Doppelmoral des Mediums Oper – oder präziser – des Singspiels und damit auch der
konservativen Zuschauerschicht dieses Genres.
3.
Unmittelbarkeit der Aufführungssituation
Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte vergleicht die ästhetische Wahrnehmung
einer Aufführung mit dem Konzept der “perzeptiven Multistabilität”. Die Wahrnehmung
oszilliere zwischen “der Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das phänomenale Sein des
Leibes oder Dings und derjenigen auf seine Zeichenhaftigkeit” (Fischer-Lichte 2006: 138).
Demzufolge kann zwischen zwei Blickwinkeln auf das Medium Oper gewechselt werden, die
ich mit den Begriffen ‘Aufführung’ und ‘Inszenierung’ voneinander abgrenzen möchte. Unter
‘Inszenierung’ verstehe ich die Bedeutungsgenerierung, die sich aus dem simultanen Zusammenspiel der Ebene Libretto, Musik und Visualisierung konstituiert und die analog zur
Literatur und zum Film als ein sekundäres semiotisches System nach Lotman bezeichnet
werden kann. Aus diesem Blickwinkel auf das Medium Oper wird die Wahrnehmung des
Zeichenhaften fokussiert. Unter ‘Aufführung’ verstehe ich hingegen die unwiederholbare,
unmittelbare, singuläre und konkrete Umsetzung einer Operninszenierung. Dieser Blickwinkel hebt das Performative, Atmosphärische des Mediums Oper hervor und fokussiert dabei die
Interaktionen zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum, also zwischen den Akteuren und
den Rezipienten. Hierbei tritt auch die Wahrnehmung des “phänomenalen Seins des Leibes”
in den Vordergrund, also die Wahrnehmung der konkreten Materialität der primären Zeichensysteme der Körperlichkeit der Akteure, ihre Mimik, Gestik und Proxemik. In den Momenten,
in denen auf der visuellen Ebene ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ dargestellt werden, ist es durch
den kulturellen Tabubruch sehr wahrscheinlich, dass die Wahrnehmung der Rezipienten
besonders häufig vom konzeptionell Zeichenhaften der ‘Inszenierung’ zum sinnlich Konkreten der ‘Aufführung’ wechselt, da hier die Konzeption eines ‘Konkreten’ auf der Signifikatebene auch das ‘Konkrete’ der Signifikanten hervorhebt. Das hat zur Folge, dass der
“Authentizitätsvorsprung”, den das Medium Oper im Vergleich zu anderen Medien aufweist,
den Rezeptionsprozess stört. Die Wahrnehmungsoszillation zwischen den Polen ‘konkret’ und
Stephanie Großmann
370
‘zeichenhaft’ beeinflusst den narrativen Prozess und bricht die Abgeschlossenheit des
textuellen Rahmens der dargestellten Welt auf. Neben der Unmittelbarkeit, die durch die
simultane Präsenz von Rezipienten und Darstellern erzeugt wird, gibt es bei der Oper einen
weiteren Bereich der direkten Wirkung auf den Rezipienten. Musik kann unmittelbar und
präverbal auf die Emotionen des Rezipienten wirken, sodass sich ein Teil der Bedeutungsgenerierung eher implizit, unbewusst und unbemerkt vollzieht. Hierbei handelt es sich
zumeist um eine Übertragung des dargestellten musikalischen Gestus auf die Körperfunktionen (zum Beispiel Herz- und Atemfrequenz) des Hörers (Bierwisch 1978: 166). In den
untersuchten Aufführungen der Operninszenierungen von Calixto Bieito hat sich gezeigt, dass
die Visualisierung der Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ besonders starke Abwehrreaktionen
bei den Zuschauern hervorruft, wenn die visuelle Ebene in einem starken Spannungsverhältnis zur Ebene Musik steht. Dies lässt sich auf folgende drei Punkte zurückführen:
1. Die dur-moll-harmonische Musik von Mozart und Puccini baut eine Form der emotionalen
Offenheit für den Rezeptionsakt der Oper auf. Dadurch wird eine innere Distanz zum
Dargestellten erschwert. In den Momenten, in denen eine Kohärenzbildung zwischen der
Visualisierung und der Musik durch Rückkopplungseffekte möglich ist – wie z.B. bei
Konstanzes Koloraturen in der Arie “Ach ich liebte” – wird darüberhinaus eine körperliche Wahrnehmung des Visuellen durch die Musik verstärkt.
2. Die Musik kann in der Oper eine vermittelnde Funktion übernehmen – ähnlich der
Erzählinstanz in Erzähltexten –, indem sie eine Art emotionale Folie liefert, vor der das
Libretto und die Visualisierung zu lesen sind. Im Gegensatz zur Musik von Berg und
Strauss, die explizit ‘Gewalt’ thematisiert und sie durch die Korrelation mit disharmonischen Klängen als etwas Negatives, Bedrohliches kennzeichnet, übt die Musik von
Mozart und Puccini keine Kritik an der dargestellten Gewalt und Sexualität. Die unmittelbare Wirkung der Musik zwingt dem Rezipienten implizit eine kritiklose Haltung
gegenüber der Visualisierung auf, sodass sich dieser umso deutlicher gegen diese Haltung
zur Wehr setzen muss.
3. Nicht zu vernachlässigen ist natürlich auch die Erwartungshaltung der Rezipienten. Bei
Opern wie Wozzeck und Elektra sind die Zuschauer darauf eingestellt, dass ihnen auf der
Bühne keine “leichte Opernkost” dargeboten wird. Im Gegensatz dazu erwarten sie aber
bei den Genrebezeichnungen “Singspiel” für Die Entführung aus dem Serail und “Dramma giocoso” für Don Giovanni normalerweise relativ unbeschwerte Unterhaltung und bei
Puccinis Madame Butterfly anrührenden Herzschmerz. Genau diese Erwartungshaltung
unterläuft Calixto Bieito jedoch in seinen Inszenierungen.
4.
Fazit
Bieito konzipiert in seinen Inszenierungen, so lässt sich zusammenfassen, sehr drastische
Szenen, in denen die detaillierte und unmittelbare Darstellung von Sexualität und Gewalt die
Schmerzgrenze der Rezipienten häufig überschreitet. Die Analyse einzelner Aspekte der
Inszenierungen hat gezeigt, dass die konkreten Zeichen vor allem in Verbindung mit der durmoll-harmonischen Musik Mozarts und Puccinis eine starke Spannung generieren, die sich
zunächst einem Sinngebungsversuch widersetzt. Befreit man sich jedoch von den Klischees,
mit denen besonders die Opern Die Entführung aus dem Serail, Don Giovanni und Madame
Butterfly in ihrer Rezeptions- und Inszenierungsgeschichte aufgeladen wurden, dann ist es
“Lost in Prostitution”
371
möglich, unter Einbezug der konkreten Zeichen die Bedeutungskonstitution der Ebenen
Libretto und Musik zu reinterpretieren, sodass eine in sich schlüssige Welt modelliert wird.
Die verbreiteten Vorwürfe, Bieito wähle diese Inszenierungsstrategie allein, um Aufmerksamkeit zu erregen und Skandale hervorzurufen, kann damit entkräftet werden, da Bieito die
Größen ‘Sexualität’ und ‘Gewalt’ nicht als provokativen Selbstzweck einsetzt, sondern sie
vielmehr zu zentralen Bedeutungsträgern in seinen Visualisierungen macht, mit denen er den
potentiellen Bedeutungsrahmen der Opern auf gegenwärtige gesellschaftliche Missstände
bezieht. In diesem Sinne kann Bieitos Forderung: “Wir brauchen ein neues Opernpublikum”
(Brüggemann 2003: 33) als Forderung nach einem Publikum verstanden werden, das bereit
ist, die Oper nicht als “Goldenes Kalb” anzubeten, sondern sich kritisch mit den Werten
und Normen auseinanderzusetzten, die über die Ebenen Libretto und Musik vermittelt
werden.
Literaturverzeichnis
Inszenierungen
Berg, Alban / Büchner, Georg / Bieito, Calixto 2006: Wozzeck. Oper in drei Akten, Co-Produktion des Gran Teatre
del Liceu (Barcelona) mit dem Teatro Real (Madrid), Opus Arte.
Musikalische Leitung: Sebastian Weigle, Symphonie Orchester und Chor des Gran Teatre del Liceu, Regie: Calixto
Bieito, Bühnenbild: Alfons Florens, Kostüme: Mercé Paloma, Wozzeck: Franz Hawlata, Marie: Angela Denoke,
Tambourmajor: Reiner Goldberg, Margret: Vivian Tierney, Doktor: Johann Tilli, Hauptmann: Hubert Delamboye, Andres: David Kuebler.
Mozart, Wolfgang Amadeus / Da Ponte, Lorenzo / Bieito, Calixto 2002: Don Giovanni. Dramma giocoso in zwei
Akten, Co-Produktion des Gran Teatre del Liceu (Barcelona) mit der English National Opera und der Staatsoper
Hannover, Opus Arte.
Musikalische Leitung: Bertrand de Billy, Orchester Akademie des Gran Theatre del Liceu, Kammerchor des Palau
de la Música Catalana, Regie: Calixto Bieito, Bühnenbild/Ausstattung: Alfons Flores, Kostüme: Mercé Paloma,
Don Giovanni: Wojtek Drabowicz, Leporello: Kwanchul Youn, Donna Anna: Regina Schörg, Don Ottavio:
Marcel Reijans, Donna Elvira: Véronique Gens, Zerlina: Marisa Martins, Masetto: Felipe Bou, Il Commendatore: Anatoly Kocherga.
Mozart, Wolfgang Amadeus / Stephanie d.J., Gottlieb / Bieito, Calixto 2004: Die Entführung aus dem Serail.
Singspiel in drei Aufzügen, DVD-Mitschnitt der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2004.
Musikalische Leitung: Kirill Petrenko, Regie: Calixto Bieito, Bühnenbild: Alfons Florens, Kostüme: Anna Eiermann,
Konstanze: Maria Bengtsson, Belmonte: Finnur Bjarnason, Blonde: Natalie Karl, Pedrillo: Christoph Späth,
Osmin: Jens Larsen, Bassa Selim: Guntbert Warns.
Puccini, Giacomo / Illica, Luigi / Giacosa, Giuseppe / Bieito, Calixto 2005: Madame Butterfly. Tragödie einer
Japanerin in drei Aufzügen, DVD-Mitschnitt der Komischen Oper Berlin, Aufzeichnung von 2005.
Musikalische Leitung: Daniel Klajner, Regie: Calixto Bieito, Bühnenbild: Alfons Florens, Kostüme: Anna Eiermann,
Cho-Cho-San: Juliette Lee, Suzuki: Susanne Kreusch, Kate: Julia Bossen, F.B. Pinkerton: Marc Heller,
Sharpless: Tom Erik Lie, Goro: Christoph Späth.
Strauss, Richard / Hofmannsthal, Hugo von / Bieito, Calixto 2007: Elektra. Tragödie in einem Aufzug, DVDMitschnitt vom Theater Freiburg, Aufzeichnung vom 18. Februar 2007.
Musikalische Leitung: Patrik Ringborg, Regie: Calixto Bieito, Bühne/Kostüm: Rifail Ajdarpasic und Isabell
Unfried, Chor: Bernhard Moncado, Dramaturgie: Dominica Volkert, Elektra: Cynthia Makris, Klytämnestra:
Leandra Overmann, Chrysothemis: Sigrun Schell, Aegisth: Patrick Jones, Orest: Neal Schwantes, 1. Magd: Anja
Jung, 2. Magd: Karen Job, 3. Magd: Yaroslava Vikhrova, 4. Magd: Nicole Chevalier, 5. Magd: Lini Gong,
Aufseherin: Anke Maurer, Der Pfleger des Orest: Radu Cojocariu, Die Vertraute: Christina Gindele, Die
Schleppträgerin: Kyoung-Eun Lee, Ein junger Diener: Robert Gionfriddo, Ein alter Diener: Jesse Coston.
372
Stephanie Großmann
Primärliteratur
Berg, Alban 1923: Georg Büchners Wozzeck. Oper in 3 Akten (15 Szenen). Op. 7. Klavierauszug von Fritz Heinrich
Klein, Wien/Leipzig: Universal Edition.
Mozart, Wolfgang Amadeus 1928: Die Entführung aus dem Serail. Singspiel in drei Aufzügen. Klavierauszug. Nach
dem in der Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin befindlichen Autograph herausgegeben von Kurt Soldan,
Leipzig: C.F. Peters.
Mozart, Wolfgang Amadeus 1986: Don Giovanni. KV 527. Komödie für Musik in zwei Akten. Libretto von Lorenzo
Da Ponte. Übersetzung von Thomas Flasch. Nachwort von Rudolph Angermüller, Stuttgart: Philipp Reclam jun.
Mozart, Wolfgang Amadeus 2005: Die Entführung aus dem Serail. KV 384. Singspiel in drei Aufzügen. Text von
Johann Gottlieb Stephanie d.J. nach einem Bühnenstück von Christoph Friedrich Bretzner. Nachwort von
Henning Mehnert, Stuttgart: Philipp Reclam jun.
Puccini, Giacomo 2006: Madame Butterfly. Tragedia giapponese in due atti. Japanische Tragödie in zwei Akten.
Textbuch Italienisch / Deutsch. Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica (nach John L. Long und David
Belasco). Übersetzt und herausgegeben von Henning Mehnert, Stuttgart: Philipp Reclam jun.
Wissenschaftliche Literatur
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Wissenschaftliche Buchgesellschaft: 161–178.
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Sexualität und Gewalt in Literatur und Film (= Kodikas/ Code Ars Semeiotica, Vol. 32, No. 3–4), Tübingen:
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“Lost in Prostitution”
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Rezensionen
Brüggemann, Axel 2003: “‘Wir brauchen ein neues Publikum’. Schlimmer ist noch die Wirklichkeit: Der katalanische Regisseur Calixto Bieito über seine umstrittenen Opern-Inszenierungen”, Die Welt am Sonntag, 22. Juni
2003: 33.
Luehrs-Kaiser, Kai 2005: “Madame Butterfly. Lost in Prostitution – Calixto Bieito”, Die Welt, 27. September 2005:
29.
Siemes, Christof 2003: “Wiegenlied vom Todschlag”, Die Zeit, 12/2003: 42.
Anmerkungen
* Schlagzeile der Kritik von Luehrs-Kaiser über Bieitos Inszenierung der Madame Butterfly an der Komischen Oper
Berlin (Luehrs-Kaiser 2005: 29).
1 Karbusicky beschreibt die Musik als ein “Zeichensystem in Spe” (Karbusicky 1987: 241), da in ihr “viele
geordnete und ‘sinnvoll funktionierende’ Klang- und Tonkomplexe [vorliegen], die ‘nichts bedeuten’, aber zum
Zeichen werden können, wenn sie in einen besonderen Kontext eingebunden sind, für etwas stehen oder auf
etwas hindeuten” (ebd.: 227). Ein solcher Kontext ist für die Musik in der Oper durch das Libretto und die
Visualisierung gegeben.
2 Pavis führt zum Begriff der Inszenierung in Abgrenzung zur Aufführung weiter aus: “In diesem Sinne ist die
Inszenierung also weder der empirische Gegenstand, die inkohärente Ansammlung von Materialien, noch viel
weniger die vor der Präsentation des Stückes ablaufende, oft fälschlich als Inszenierung definierte Tätigkeit des
Regisseurs und seines Teams, sondern vielmehr ein Erkenntnisgegenstand, nämlich jenes System von Beziehungen, das die Produktions- wie die Rezeptionsinstanz (Schauspieler, Regisseur, Bühne im allgemeinen vs.
Zuschauer) zwischen den (erst dadurch als Signifikantensysteme konstituierten) szenischen Materialien
herstellen” (Pavis 1989: 14). Pavis führt seinen Inszenierungs-Begriff für das Schauspiel ein, seine Ausführungen sind aber analog auf die Oper übertragbar.
3 “3500 niedersächsische Musikfreunde hatten nach Bieitos Inszenierung von Mozarts Don Giovanni vor einem
Jahr ihr Abonnement gekündigt” (Siemes 2003: 42).
4 Die DVD-Mitschnitte der Generalproben der Opern Die Entführung aus dem Serail und Madame Butterfly
wurden mir freundlicherweise von der Komischen Oper Berlin zur Verfügung gestellt.
5 Der DVD-Mitschnitt der Elektra-Generalprobe wurde mir freundlicherweise vom Theater Freiburg zur
Verfügung gestellt. Herzlichen Dank an Dominica Volkert.
6 Zur Analyse der Bezüge zwischen Hofmannsthals Elektra und den Elektra-Tragödien von Sophokles, Aischylos
und Euripides (Flashar 2000: 47–58).
7 Die Projektion eines mit Öl bedeckten Vogels, der verzweifelt mit den Flügeln schlägt, gliedert den dargestellten
Raum in den Diskurs der fossilen Energiegewinnung ein. Die Rohre und Leitungen im Bühnenbild erinnern
deutlich an eine Bohrinsel, wobei die dargestellte Welt unterhalb der Erdoberfläche und nicht oberhalb des
Meeresspiegels situiert ist.
8 Der Begriff der “gestischen Form” in der Musik wurde durch Manfred Bierwisch geprägt (Bierwisch 1978:
161ff.).
9 Vgl. zur Inszenierung dieser Szene auch (Risi 2004: 122).
10 Eine Ausnahme bildet die Schlussszene des Don Giovanni, da hier eine Äquivalenz zwischen der visualisierten
Gewalt und dem Rhythmus der Musik gebildet wird. Jedoch stehen in dieser Szene die Ebenen Libretto und
Visualisierung in einem großen Spannungsverhältnis.
11 Zu dem Begriff der ‘semantischen Räume’ und zur Grenzüberschreitungstheorie vgl. Lotman 41993 und die
Erweiterungen von Renner 1983, Krah 1999, Titzmann 2003.
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