ein russischer Komponist? - Internationale Juon Gesellschaft

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Der Bündner Paul Juon, ein russischer Komponist? Referat von Ueli Falett, Präsident der IJG Der Text ist Teil der Homepage der IJG: www.juon.org Anmerkung: Während des Referates wurden 11 Musikbeispiele eingespielt, die im Text erwähnt sind (Details siehe Trackliste am Schluss) Sie ahnen es, eine Antwort wird nicht so einfach sein, wohl auch nicht so eindeutig. Und vielleicht stelle ich mehr Fragen, als dass ich Antworten gebe. Im Flyer, der zur Ausstellung <Paul Juon -­‐ Bündner Komponist aus Moskau -­‐ spät geboren, früh ver-­‐
gessen, neu entdeckt> gehört, heisst es: "...Paul Juon ist in vieler Hinsicht ein 'Grenzgänger'. Nicht nur geographisch, sondern er lebt in einer Zeit, in der die Welt politisch im Umbruch ist, aber auch musi-­‐
kalisch -­‐ zwischen Romantik und Moderne...". Müssen wir am Ende des heutigen Abends noch ergän-­‐
zen: '... ein Grenzgänger zwischen Ost und West'? Ist dies wohl das eigentliche Thema des Referates? Jedenfalls werde ich einige Punkte beleuchten, die eher auf die russisch-­‐östliche Seite neigen oder aber eher westlich orientiert sind. A Jugendzeit Es gab in den vergangenen Jahrhunderten aus dem Kanton Graubünden mehrere Auswanderungs-­‐
wellen. Angehörige verschiedener Handwerksberufe, vor allem Zuckerbäcker, wanderten aus nach Venedig, nach Spanien, sogar nach Übersee, vorzugsweise aber auch nach Russland. Einer dieser Bündner Zuckerbäcker, der da mit seiner Familie in Kuldiga im heutigen Lettland ansässig wurde, war Juons Grossvater. Eine Generation später war dann der Vater des Komponisten irgend-­‐
wann nach Moskau gezogen und hatte es dort zum Direktor einer Feuerversicherungsanstalt ge-­‐
bracht. Paul Juons Mutter war eine Russin. Wir dürfen davon ausgehen, dass wir uns hier in einem kultivierten Hause bewegen. Im 2. Abschnitt von Juons ironischer 'Grossen Selbstbiographie in 7 Bänden' [...die total eine knappe A4-­‐Seite um-­‐
fasst...] lesen wir: "...Meine Mutter beschäftigte sich gern mit Kunst, sie sang und spielte ein wenig. Aus dem Umstand, dass ich mich als Knabe gern unter dem Flügel aufhielt (vermutlich um Pedalstu-­‐
dien zu machen!), folgerte man, dass ich ein grosses Talent für die Musik habe und engagierte für mich eine Klavierlehrerin ... Später erhielt ich auch Geigenunterricht, denn mein Vater wollte einen Geiger aus mir machen..." Ebenso wissen wir, dass von den sieben Kindern die Ältesten drei Künstler wurden: Die erstgeborene Schwester Emilie war Pianistin (und später ab und zu Klavierpartnerin ihres Bruders), der jüngere Bruder Konstantin ein in Russland bis heute sehr bekannter und geschätzter Maler, und in der Mitte ist eben Paul oder Pawel -­‐ in Russland übrigens als Komponist noch immer praktisch unbekannt. Eine russische Musikologin, mit der ich zusammenarbeite, erzählte mir, dass sie grosse Schwierigkei-­‐
ten habe, in ihrem eigenen Land Spuren unseres Komponisten zu finden, geschweige denn Resonanz auf ihn. Hingegen haben wir keine Quellen, die belegen, dass musikalisches 'Heimatgut', etwa Bündner Volksmusik, die der Grossvater mitgebracht haben könnte, über die Generationen aktiv gepflegt worden wäre, so dass sie dem jungen Paul als Inspirationsquelle hätte dienen können. Darüber wissen wir nichts, hier kommen wir also bezüglich unserer Titelfrage nicht weiter. 1
B Studium 1889, mit 17 Jahren, beginnt Paul Juon sein Studium am Moskauer Konservatorium in den Fächern Violine, Klavier und Komposition. Dass er sich als junger Russe an russischer Musik orientiert, ist einleuchtend. Das belegen in vielen seiner Kompositionen Themen, in denen unschwer russische Musik, vor allem Tänze, zu erkennen sind. Noch 1923, in einem Brief an den Churer Musikdirektor Ernst Schweri, schreibt er: "...Bekanntlich sind die Eindrücke, die man in der Jugend empfängt, die stärksten, darum sind haupt-­‐
sächlich Einflüsse der russischen Volksmusik (die ich, übrigens, sehr liebe) in meinen Werken vertre-­‐
ten..." Und dies gilt, ich betone das, bis hin zu seinen späten Werken. Ich spiele Ihnen dafür drei Beispiele ein aus der mittleren Schaffensperiode und eines aus der späten. (Musik aus der frühen Periode werden Sie während dieses Abends natürlich auch noch hören.) 1. aus den Episodes concertants, op. 45, dem sog. Tripelkonzert für Klavier, Violine, Cello und Orchester den Beginn des 3. Satzes (Track 1) 2. aus dem Violinkonzert A-­‐dur, Nr. 2, op. 49 den Beginn des langsamen Satzes, die Elegie 'Weisse Nächte' [die berühmten 'Weissen Nächte von St. Petersburg' sind Thema in Dostojewskis gleichnamiger Erzählung aus dem Jahr 1848] (Track 2) 3. aus dem Divertimento op. 51 für Bläserquintett und Klavier den Beginn des 3. Satzes, eigentlich ein Klavierkonzertfinale im russischen Stil (Track 3) 4. aus der Suite op. 89, dem letzten Werk für Klaviertrio den 2. Satz, das Giocoso (Track 4) C Der russische Brahms Es gibt den berühmten Satz: <Juon ist der 'russische Brahms'>. Schauen wir ihn uns doch einmal et-­‐
was näher an: Er wird Sergej Rachmaninov zugeschrieben, dem praktisch gleichaltrigen Studienkollegen. Ihrer bei-­‐
der Kompositionslehrer hiess Tanejew, der seinerseits Lieblingsschüler und dann als Lehrer Nachfol-­‐
ger von Tschaikowsky war. Alle drei verehrten sie ihr grosses Vorbild. Aber um alles zu verstehen, müssen wir nun für einen Moment einen Sprung nach Wien machen. Dort tobte ein eigentlicher Kampf zwischen den (eher konservativen) 'Brahmsianern' und den Anhän-­‐
gern der 'Neutöner' wie Liszt, Wagner, Bruckner oder eben Tschaikowsky. Eine kleine Anekdote zeigt, wie heftig dieser Kampf war: Über Tschaikowskys Violinkonzert -­‐ heute immerhin eines der beliebte-­‐
sten und meistgespielten Instrumentalkonzerte überhaupt -­‐ gingen die Meinungen weit auseinander. Vom einflussreichen Kritiker Eduard Hanslick, wohl eine Art Marcel Reich-­‐Ranicki der Musik und auf der Seite Brahms' stehend, wird über die Wiener Erstaufführung das sehr böse Wort kolportiert: "...Wenn es eine Musik gäbe, die stinken würde, so wäre es diese..." Können wir also sicher sein, dass das Bonmot vom 'russischen Brahms' wirklich als Lob gemeint ist, wirklich als Wort, das den jungen Juon quasi auf die gleiche Stufe wie den berühmten Brahms stellt? Urteilen Sie selbst. D Ost oder West? Im Herbst 1894 übersiedelt Paul nach Berlin für weitere Studien, vor allem bei Woldemar Bargiel, dem Halbbruder von Clara Schumann-­‐Wieck. In der bereits zitierten 'Grossen Selbstbiografie' heisst der Text des Bandes V: "...Im Jahre 1896 erntete ich auf allen von mir durchstudierten Gebieten mei-­‐
ne ersten Erfolge: ich erhielt einen Ruf an die Musikschule zu Baku als Violinlehrer, das Mendelssohn-­‐
stipendium für Komposition wurde mir verliehen, und – die schönsten Mädchenaugen, das beste 2
Mädchenherz durfte ich mein nennen. [Gemeint ist seine erste Frau Katharina Schachalowa, die aber bereits 1911 starb.] In Baku blieb ich nur ein Jahr: ich fand dort gar zu wenig künstlerische Anregung und beschloss, mit Frau und Kind nach Berlin überzusiedeln, um hier mein Glück zu versuchen. So lebe ich denn seit Ok-­‐
tober 1897 in Berlin, gebe Unterricht, komponiere „ein bisserl“ und fühle mich recht wohl, trotzdem ich 3 Kinder und 1 Schwiegermutter habe..." Während seines Aufenthaltes in Baku 1896 wurde in Kislowodsk Juons einaktige Oper 'Aleko' urauf-­‐
geführt, eine seiner Moskauer Diplomarbeiten. Das Werk wurde im gleichen Jahr auch in Tiflis insze-­‐
niert. Denselben Stoff komponierte auch Rachmaninov, ebenfalls als einaktige Oper. Während aber Rach-­‐
maninov mit seinem Werk einen grossen Erfolg feierte, gilt das für Juon gar nicht. Diese Animosität, vielleicht auch Rivalität hielt ein ganzes Leben lang an. 1903 erscheint in Leipzig und Moskau das von Juon aus dem Russischen ins Deutsche übertragene Buch 'Das Leben Peter Iljitsch Tschaikowsky's', verfasst von dessen Bruder Modest Tschaikowsky. Für die Übersetzung war Juon sicher prädestiniert, hatte er doch als Knabe in Moskau die deutsche Schule besucht, andrerseits ist es natürlich keine Frage, dass er ebenso gut das Russische beherrschte. (Das Buch -­‐ jetzt in 2 Bänden -­‐ wurde übrigens 2011 neu herausgegeben unter Federführung der Tschaikowsky-­‐Gesellschaft mit Unterstützung der IJG und ist bei Schott erhältlich.) Sonst aber wird unser Komponist immer stärker -­‐ heute würden wir vielleicht sagen -­‐ ein 'Westler'. 1905 erhält er eine Stelle als Hilfslehrer an der Berliner 'Akademie der Künste', wie sie damals hiess, der heutigen 'Universität der Künste'. 1906 wird er vom Rektor Joseph Joachim zum Professor für Komposition berufen. (Joachim war der berühmte Geiger, der u. a. Brahms' Violinkonzert uraufge-­‐
führt hatte.) Seinen Lehrstuhl hat Juon fast 30 Jahre inne. Er muss in dieser Zeit auch recht oft gereist sein -­‐ damals wohl ziemlich beschwerlich -­‐ so hat er etwa in Radio-­‐Studios in der Schweiz eigene Werke gespielt, um schon fast am nächsten Tag in Berlin wieder zu unterrichten. 1934 lässt sich Juon frühzeitig pensionieren und emigriert aus Gesundheitsgründen, möglicherweise allerdings auch infolge der politischen Entwicklung im damaligen Nazi-­‐Deutschland, in die Schweiz und verbringt seine letzten Jahre ziemlich zurückgezogen in Vevey, der Heimat seiner zweiten Frau Marie, genannt Armande, der Witwe seines Komponistenfreundes und Pianisten Otto Hegner aus Langenbruck. Die hübsche kleine Villa 'Casa mia', die er bereits 1928 erbauen liess, steht noch immer und trägt eine Gedenktafel. Dass sich Juon -­‐ um noch einmal kurz auf das vorher Gesagte zurückzukommen -­‐ aber auch mit Brahms auseinandergesetzt hat, zeigt ein Vergleich seines relativ frühen Klaviersextettes op. 22 mit einem Meisterwerk von Brahms, dem Klavierquintett op. 34, welches -­‐ auch für das Gehör erfassbar -­‐ offensichtliche Parallelen aufweist. (Und von beiden Werken gibt es übrigens auch je eine Zweitfas-­‐
sung für 2 Klaviere.) Zuerst nun einige Takte des Sextettes op. 22 von Juon, gegenübergestellt einem Ausschnitt aus dem Quintett von Brahms, dessen Klangwelt unverkennbar ist (Tracks 5) ...und nun das Beispiel von Brahms (Track 6) Und noch ein Beispiel mit eindeutig brahms'schem Einfluss: Die 'Berceuse' op. 28/3 von 1904 aus den 4 Stücken für Violine und Klavier in einer frühen Aufnahme von 1920 mit Jascha Heifetz und Schmuel Chozinoff (Track 7) 3
Aber möglicherweise geht es Ihnen ja wie mir. Auch wenn 'der russische Brahms' wohl eher negativ gemeint war, ist vielleicht die Aussage trotzdem nicht einfach falsch. Und was schon Juon nicht tat, bleibt auch uns heute erspart: Wir müssen uns zum Glück nicht für den westlichen Brahms oder den östlichen Tschaikowsky entscheiden. E Komponist und Lehrer Juons Ansehen in Berlin steigt ständig. Er erhält nicht nur einen weiteren Kompositionspreis, den Beethoven-­‐Preis oder gehört seit 1917 dem Beirat deutscher Tonsetzer an, sondern er unterrichtet auch eine bedeutende Schülerschar. Unter ihnen z. B. Hans Chemin-­‐Petit, Philipp Jarnach, Heinrich Kaminski, den Griechen Nikos Skalkottas, den bulgarischen Nationalkomponisten Pantscho Wladige-­‐
roff oder Stefan Wolpe, aber auch z. B. den Schlagerkomponisten Werner Heimann. Aus verschiede-­‐
nen Zeugnissen, etwa aus dem Briefwechsel mit dem zum engen Freunde gewordenen Chemin-­‐Petit, geht hervor, dass er seine Kompositionsstudenten animierte, Ihre eigenen Ideen zu verwirklichen, ih-­‐
nen also nicht einfach aufoktroyierte, was 'richtig' sei. Er war also nicht der Lehrer, der in Berlin ein-­‐
fach eine Art 'russische Schule' vertreten hätte. Die Eigenständigkeit, die Juon seinen Studenten zubilligte und von ihnen forderte, gilt auch für ihn selbst. Er stand z. B. einer der aufsehenerregendsten neuen Strömungen jener Tage sehr kritisch ge-­‐
genüber, der sog. 'Neuen Wiener Schule', der Dodekaphonik oder 12-­‐Ton-­‐Musik um Arnold Schön-­‐
berg, Anton Webern und Alban Berg. Trotzdem ist er nicht ein rückständiger Traditionalist. Sein Bei-­‐
trag an die Moderne liegt vor allem auf dem Gebiet der Metrik und Rhythmik. Von den unregelmässigen Rhythmen der russischen Volksmusik inspiriert, entwickelte er 1903 erst-­‐
mals in seinen 'Neuen Tanzrhythmen' op. 24 für Klavier zu vier Händen metrische Reihen, welche er aus unterschiedlichen Taktarten zusammensetzte. 1. Aber bereits zuvor hat er in seinem dritten Lied aus op. 21 'Der einsame Pfeifer' eine kühne Konzeption verwirklicht: Das zugrunde liegende Gedicht von Johannes Schlaf heisst: Ich kam zu einer Wiese im roten Abendschein. Da tanzten ihrer zweie, doch einer sass allein. Ein dunkler Hagrer sass im Gras, der pfiff den Zwei'n so sonderlichen Tanztakt. Er pfiff für sich, sie tanzten für sich, Aber die Weise war Dreien gemein; Klang so voll Zorn und Sehnsucht in's ferne, ferne Abendrot hinein. Die Singstimme bleibt durch das ganze Stück im 4/4-­‐Takt. Die später einsetzende Klavierbegleitung steht im 3/8-­‐Takt. Im achten Takt aber, wo 'der dunkle Hagre' erscheint, spielt der Pianist den 'sonderlichen Tanztakt' der Flöte in der rechten Hand, und dieser ist ein 5/8-­‐Takt (Track 8) 2. Aus den erwähnten Tanzrhythmen op. 24 hören Sie den Beginn des Allegros. In welchem Takt steht es wohl? (Track 9) Sollten Sie es nicht herausfinden, so dürfen Sie nachschauen in unserer Monografie* von Thomas Ba-­‐
drutt über Juon, die ich 2010 für die Zweitauflage überarbeitet habe. *Th. Badrutt: Paul Juon, Leben und Werk. Artikel, Essays; Werkverzeichnis mit Incipits (Satzanfang in Noten jeden Satzes) 3. Schliesslich möchte ich Ihnen die souveräne Beherrschung von Polyrhythmik zeigen in einem Ausschnitt aus dem späten Klaviertrio, op. 83, 'Legende' betitelt. Achten Sie speziell darauf, wie frei sich jeweils das Klavier auf der einen Seite bewegt, die Streicher auf der andern (Track 10) 4
Von Juons Humor und Ironie wissen Sie bereits. Diese Züge blitzen auch in Briefstellen immer wieder auf. Im übrigen aber ist von seinem privaten Leben nur sehr wenig bekannt: Über seine Berliner Zeit lässt sich eruieren, dass er einige Male umgezogen ist. Eine Foto etwa kann man so interpretieren, dass er mit Lienau, seinem Verleger, oder Orlich, dem Professor an der Technischen Hochschule und ausgezeichneten Klarinettisten und weiteren Freunden nicht nur ernsthaft Kammermusik gespielt hat, sondern dass die Gruppe offenbar auch als verkleidete Strassenmusikanten Schabernack getrieben hat. Die Texte einer Postkartensammlung, welche die IJG besitzt, beziehen sich meist auf Berufliches oder dann ganz Alltäglich-­‐Banales. Vielleicht, dass gerade knapp einmal eine Badekur erwähnt wird. Nur selten scheint ein Gedanke auf wie dieser vom 13. Sept. 1908 aus einem Urlaub im Kattegat an Lie-­‐
nau, der etwas Persönlicheres erahnen lassen könnte: '...Das ist der richtige Ort! Hier ist es herrlich: Feld, Wald, Hügel und auch göttliche Ruhe...'. F Einfluss auf andere Komponisten Seine vielen Kontakte zu russischen Musikern, so etwa zu Rimsky-­‐Korssakow, brachen auch in der späteren Berliner Zeit nicht ab. Unter anderen besuchte auch Strawinsky, eine halbe Generation jünger als Juon, den Meister in Ber-­‐
lin. Und es ist sehr wohl anzunehmen, dass Juons rhythmische und metrische Neuerungen etwa des-­‐
sen Ballettmusik 'Le Sacre du Printemps' beeinflussten, ein Werk, das bei seiner Uraufführung in der Oper in Paris 1913 einen handfesten Skandal provozierte, so sehr wurde es als 'zu modern' empfun-­‐
den. (Eine Erscheinung übrigens, die wir auch schon aus dem Leben eines Johann Sebastian Bach oder Ludwig van Beethoven kennen...) Der Ausschnitt, den Sie hören, ist die Szene 'Verherrlichung der Auserwählten', jenes Mädchens also, das geopfert werden soll. Und vergegenwärtigen Sie sich bitte, dass es sich um Ballettmusik handelt. Sie dürfen gerne probieren, dazu zu tan-­‐
zen... (Track 11) G Nochmals: Ost oder West? Zum Abschluss drei signifikante Details, die Einblick in unser Thema ge-­‐
ben: a) Das Erste: Bereits Anfangs Juni 1896, erst seit Kurzem in Baku, schreibt Juon in einem Brief an sei-­‐
nen Berliner Lehrer Bargiel: "...Das Examen hier habe ich ganz gut bestanden u. habe nun ein Diplom mit dem Namen 'freier Künstler', welches mir in Russland recht viele Thore geöffnet hat, erhalten. Nun reise ich ... nach Kislowodsk ab, wo ich, wie ich Ihnen schon gesagt habe, den Sommer bis zum September verbringen werde. [Und dort fand ja auch, wie schon erwähnt, die Uraufführung von Ale-­‐
ko statt.] ... Was später aus mir werden wird, weiß ich noch nicht ... Am liebsten würde ich irgendwo in Deutsch-­‐
land eine bescheidene Stellung bekleiden, und so, auf eigenen Füßen stehend, weiterstreben und weiterarbeiten..." b) Das Zweite: Die Grenzsituation, von der wir jetzt die ganze Zeit sprachen, ist auch schon den Zeit-­‐
genossen aufgefallen. Aus der Berliner Fachzeitschriften-­‐Reihe 'Die Musik', die von 1901 bis zu Beginn der Nazi-­‐Zeit erschien, zitiere ich Ihnen aus zwei Artikeln eines Dr. Walter Niemann, Leipzig. 1) Bereits im Jahrgang 1912/13 schreibt er: "...und namentlich der schon fast zu uns Deutschen zu rechnende Paul Juon, der Meister sehr schöner Klavier-­‐ und Kammermusik..." 5
2) In einem späteren Jahrgang, in einem Artikel 'Einführung in die neurussische Klaviermusik', geht er auf die Quellen ein, die zu einer 'russischen nationalen Schule' führen (etwa russische Volkslieder, alt-­‐
russische Kirchenmusik, Volkslieder der Nachbarländer etc.). Weiter unten listet er Eigenschaften und Stilmerkmale vieler Komponisten auf. Über Juon lesen wir: "...er ist nicht so germanisiert wie Karga-­‐
noff, nicht so national [-­‐russisch] wie Arensky..." [Anton Arensky war einer der ersten Lehrer des Stu-­‐
denten Juon in Moskau.] c) Das Dritte: Als Juon in Berlin wirklich sesshaft wurde, verzichtete er ganz explizit auf die russische Staatsbürgerschaft und nahm stattdessen die deutsche an. Aber auch auf diese verzichtete er 1934, als er nach Vevey zog -­‐ vielleicht aus obgenannten Gründen. Die schweizerische besass er von seinen Vorfahren schon immer und war auch stolz darauf. Leider aber fand Paul Juon in diesen letzten sechs Jahren nie wirklich Anschluss an das Schweizer Musikleben. H Zum Abschluss Vielleicht, meine Damen und Herren, sind Sie jetzt enttäuscht, auf die eingangs gestellte Frage keine klare Antwort erhalten zu haben. – Nur: Gibt es überhaupt eine solche? Vielleicht aber hat Claus-­‐Christian Schuster -­‐ der Gründungs-­‐Pianist des Altenberg-­‐Trios Wien und mein Vorgänger als erster Präsident unserer Gesellschaft -­‐ eine mögliche Antwort gefunden. Sein Zi-­‐
tat steht nicht zufällig als eine Art Motto auf der letzten Tafel unserer Juon-­‐Ausstellung: "...Über sein Werk fällt wie über sein Leben der Schatten der Unbehaustheit: kein Schweizer, kein Russe, kein Deutscher; kein Romantiker, kein Neutöner, kein Folklorist -­‐ aber doch ein klein wenig von all dem, und jenseits davon noch eine auf gewinnende Weise aufrichtige und menschlich beeindruk-­‐
kende Persönlichkeit..." Ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.  Track 1  Track 2  Track 3  Track 4  Track 5  Track 6  Track 7  Track 8  Track 9  Track 10  Track 11 1'02" Tripelkonzert, 3. Satz 1'42" European Fine Arts Trio Violinkonzert A-­‐dur, 2. Satz Sibylle Tschopp 1'45" Divertimento op. 51, 3. Satz Cosmoquintett und T. Kramreiter 2'13" Suite op. 89, 2. Satz Altenberg Trio Wien 1'26" Sextett op. 22, 1. Satz O. Triendl, Carmina Quartett, Th. Grossenb. 0'56" Brahms: Quintett op. 34, 1. Satz Peter Serkin, Guarneri Quartett 2'25 Berceuse, op. 28/3 Jascha Heifetz/Samuel Chozinoff 1'36" Lied op. 21 'Ich kam...' Natalya und Igor Kraevsky 1'20" Tanzrhythmen, op. 24/1 Igor Kraevsky und Agnès Dubois-­‐Chauvet 1'30" Klaviertrio op. 83 'Legende' Altenberg Trio Wien 1'34" Strawinsky: Sacre, 'Verherrlichung' 6
Bamberger Symphoniker, Jonathan Nott 
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