Theorieschwerpunktarbeit 2016

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THEORIESCHWERPUNKTARBEIT VON ALVIN DEVONAS
Zusammenhang der Stimmen
bei der Engführung eines
Fugenthemas
anhand der b-Moll Fuge von J. S. Bach, BWV 891
Alvin Devonas
Frühlingssemester 2016
Zürich, Mai 2016
angestrebter akademischer Grad: Bachelor of Arts (BA)
Betreuerin: Angelika Moths
1.1 Inhaltsverzeichnis
1.1
Inhaltsverzeichnis ....................................................................................... 1
2
Einleitung ................................................................................................... 3
3
Das Wohltemperierte Klavier ................................................................... 3
3.1
3.2
4
Präludium und Fuge Nr. 22 in b-Moll BWV 891 ...................................... 4
4.1
4.2
5
Begründung zur Auswahl dieses Präludiums und dieser Fuge ..................... 4
Über die Tonart ............................................................................................. 5
Analyse der Fuge ...................................................................................... 5
5.1
5.2
5.3
5.4
6
Entstehung .................................................................................................... 3
Stilistik ........................................................................................................... 4
Analyse des Themas ..................................................................................... 5
Tabelle der Themeneinsätze ......................................................................... 7
Ausführliche Analyse ..................................................................................... 9
Symmetrien der Themeneinsätze ................................................................ 12
Analyse des Themas im Zusammenspiel mit anderen relevanten
Stimmen ................................................................................................... 12
6.1
6.2
Der harmonische Kontrapunkt ..................................................................... 12
Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 .............................................. 13
6.2.1
6.2.2
Das Themengerüst ..........................................................................................13
Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 in Originalgestalt .......................13
6.2.3
Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 im doppelten Kontrapunkt der
Oktave ............................................................................................................14
Fazit ................................................................................................................14
6.2.4
6.3
Das Thema in der Engführung .................................................................... 14
6.3.1
Einfache Engführung in Originalgestalt ...........................................................15
6.3.2
Einfache Engführung in der Originalgestalt und dem doppelten Kontrapunkt
der Oktave ......................................................................................................15
6.3.3
Fazit ................................................................................................................15
6.3.4
Einfache Engführung in umgekehrter Gestalt ..................................................15
6.3.5
Einfache Engführung in der umgekehrten Gestalt und dem doppelten
Kontrapunkt der Oktave ..................................................................................16
6.3.6
Fazit ................................................................................................................16
6.4
Das Thema in der originalen Gestalt mit der Umkehrung eng geführt ......... 16
6.4.1
Die umgekehrte Gestalt mit der originalen Gestalt eng geführt ........................17
6.4.2
Fazit ................................................................................................................17
6.5
Das Thema als canon sine pausa in eng geführter Gestalt ......................... 18
6.5.1
7
Fazit ................................................................................................................18
Analyse von bekannten Musiktheoretikern .......................................... 19
7.1
7.2
Die Analyse von Ferruccio Busoni ............................................................... 19
Die Analyse von August Halm ..................................................................... 19
S e i t e 1 | 24
8
Schlussfolgerungen ............................................................................... 20
8.1
8.2
8.3
9
Über die Komposition .................................................................................. 20
Komposition eines Themas mit maximaler Variabilität ................................ 20
Abschliessende Erkenntnisse ...................................................................... 21
Ausblick ................................................................................................... 22
10 Literaturverzeichnis ................................................................................ 23
11 Anhang ..................................................................................................... 24
S e i t e 2 | 24
2 Einleitung
Das Wohltemperierte Klavier wurde schon von vielen Musikwissenschaftlern
analysiert, wobei viele Analysen dazu dienen, einen Gesamtüberblick über die
einzelnen Fugen zu verschaffen: Einerseits zählt dazu, die Themen zu analysieren,
andererseits die Themenphasen und Zwischenspiele aufzuzeigen. Zusätzlich dazu
wird der Fokus dieser Arbeit auf die folgenden Fragen gerichtet sein:
-
Wie verhalten sich die einzelnen Stimmen zueinander? Wie streng hält sich J.
S. Bach an die Regeln des Kontrapunktes?
-
Bildet eine Durchführung die Basis für die anderen Durchführungen oder
wurden die einzelnen Durchführungen sukzessiv komponiert?
Die b-Moll Fuge, BWV 891, eignet sich aus verschiedenen Gründen besonders gut
für die Untersuchung dieser Fragen, unter anderem weil die Fuge klar strukturiert ist
und viele verschiedene Varianten des Themas zusammen erklingen.
3 Das Wohltemperierte Klavier
3.1 Entstehung
Es sind zwei Bände des Wohltemperierten Klavieres (im Folgenden: WtK) überliefert,
wobei von dem ersten Band die Autographenreinschrift (1722) und diverse
Frühfassungen der Präludien und Fugen überliefert sind.1
Auffällig ist der lange Titel des ersten Bandes: 2
„Das Wohltemperierte Clavier: oder Praeludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia, Sowohl
tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend. Zum
Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio
schon habil seyenden besonderem Zeit Vertreib auffgesetzt und verfertiget von Johann Sebastian
Bach. pro tempore: Hochfürstlich Anhalt Cöthenischen CapelMeistern und Directore derer Cammer
Musiquen. Anno 1722.“
Wie
man
aus
dieser
Überschrift
entnehmen
kann,
legte
Bach
grossen
pädagogischen Wert auf diesen Band. J .S. Bach benutzte die Präludien und Fugen
für den Unterricht; aus diesem Grund wurden die Bände nicht gedruckt, sie wurden
von Bachs Schülern abgeschrieben.3 Die Entstehung der einzelnen Präludien und
Fugen des zweiten Bandes ist noch weniger ausführlich geklärt, einzelne Stücke gibt
es in bis zu vier unterschiedliche Fassungen, welche zwischen 1722 und 1740 im
1
(Billeter, 2010 S. 508)
(Heinemann, 1997 S. IV)
3
(Heinemann, 1997 S. IV)
2
S e i t e 3 | 24
Unterricht entstanden sind. Ein Grund für das Zusammenstellen eines zweiten
Bandes könnte Bachs Bestreben gewesen sein, in seinen letzten Lebensjahren
eigene Stücke zu sammeln und neue Zyklen zu schaffen (wie z.B. das Musikalische
Opfer, BWV 1079, oder die Kunst der Fuge, BWV 1080).
Wichtige Quellen für den zweiten Band sind das sogenannte Londoner Autograph,
ein heute unvollständiges Autograph (drei Stücke fehlen: cis, D; f), geschrieben von
Johannn Sebastian und Anna Magdalena Bach (zwischen 1740 und 1742), und eine
vollständige Abschrift von Bachs Schüler Johann Christoph Altnikol.4
3.2 Stilistik
Mit dem Begriff „Clavier“ definiert J. S. Bach kein Instrument, die Stücke können
sowohl auf der Orgel, als auch auf dem Cembalo oder Clavichord gespielt werden,
da der Tonumfang nicht jenen des in der Bachzeit üblichen Clavichords (C - c‘‘)
überschreitet.5
Beide Bände enthalten 24 Präludien und Fugen durch alle Dur- und Molltonarten,
wobei die Fugen zwei bis fünfstimmig sind (grösstenteils sind die Fugen drei- oder
vierstimmig, der zweite Band enthält nur drei- oder vierstimmige Fugen). Es werden
verschiedene kompositionstechnische Mittel verwendet, so erscheint 19 Mal eine
Engführung, acht Mal die Umkehrung und drei Mal eine Augmentation/Diminution.6
Das WtK unterscheidet sich von anderen Werken Bachs: Im Vergleich zu den frühen
Orgelfugen (bis 1717) sind im WtK keine Fusspedale notiert (eine Ausnahme bildet
der Schluss der Fuge in a-Moll BWV 865 Takt 83 ff.), auch sind die Stücke kürzer als
Werke der Klavierübungen (6 Partiten, BWV 825-831, Italienisches Konzert, BWV
971, Orgelchoräle, BWV 651-668).7
4 Präludium und Fuge Nr. 22 in b-Moll BWV 891
4.1 Begründung zur Auswahl dieses Präludiums und dieser Fuge
Das Präludium ist das längste aller Präludien des WtK, es wird in dieser Arbeit aber
nicht analysiert, der Fokus richtet sich auf die Engführungen, Umkehrungen und die
canones sine pausa der Fuge.
4
(Billeter, 2010 S. 742)
(Keller, 1965 S. 15)
6
(Bruyck, 1867 S. 87)
7
(Billeter, 2010 S. 508)
5
S e i t e 4 | 24
Die b-Moll Fuge ist extrem kompakt komponiert, sie ist ein Exempel dafür, wie man
Themen verarbeitet (wie Billetter sagt: „Es ist ein genialer Wurf“).8 Die klare Form mit
6 kompletten Durchführungen, Engführungen mit Umkehrungen und Einsätzen als
canones sine pausa, sowie die musikalische Strenge machen die Fuge perfekt, um in
der Themenverarbeitung und Themenkomposition tiefer zu forschen.
4.2 Über die Tonart
„Ein Sonderling, mehrentheils in das Gewand der Nacht gekleidet. Er ist etwas mürrisch, und nimmt
höchst selten eine gefällige Miene an. Moquerien [Vorwürfe] gegen Gott und die Welt; Missvergnügen
9
mit sich und allem; Vorbereitung zum Selbstmord – hallen in diesem Tone.“
So beschreibt Schubart 1784 die Tonart b-Moll. Obwohl dieses Zitat rund 40 Jahre
später entstanden ist, kann diese Beschreibung auf den Charakter der Fuge
übertragen werden, die Tonartencharaktere haben sich in dieser Zeit nicht verändert.
Die Fuge zeichnet den mürrischen Charakter durch die Schwere des Fugenthemas
und die starke Chromatik aus; ein Sonderling, weil Engführungen in der Septime oder
None auftreten und diese sehr aussergewöhnlich sind, die Musik verliert dadurch den
harmonischen Sinn.10
Um diese Behauptungen zu begründen, wird die Fuge nun genau analysiert.
5 Analyse der Fuge
5.1 Analyse des Themas
Nachfolgend wird das Thema in originaler Form abgebildet: 11
Themenkopf
Fortspinnung
Schlussgruppe
Das Thema besteht ausschliesslich aus Tonleiterbewegungen aufwärts (blaue Pfeile)
und Sprüngen abwärts (eingekreiste Noten).
Der Themenkopf, beginnend mit zwei schweren halben Noten, besteht aus einer
Tonleiterbewegung einer Quarte aufwärts, einem Sprung einer verminderten Quinte
8
(Billeter, 2010 S. 766)
(Schubart, 1806 S. 378)
10
(Keller, 1965 S. 64)
11
(Dehnhard/Kraus, 2001 S. 130, siehe Anhang)
9
S e i t e 5 | 24
abwärts in den Leitton a und endet auf dem Anfangston b. Die Fortspinnung
beinhaltet eine umspielte Tonleiterbewegung aufwärts einer Quinte, einem
Terzsprung abwärts und endet auf dem Quint-Ton f. Die Tonleiterbewegung in Takt
drei befindet sich auf der Terz von Takt eins und bewegt sich auch in halben Noten
aufwärts. Das sequenzierende Element in Takt drei (eckige Klammern) ist die
Krebsform eines häufig gespielten Motivs des Präludiums
beinhaltet
einen
Sprung
einer
verminderten
Quinte
. Die Schlussgruppe
abwärts
und
eine
Tonleiterbewegung einer Sekunde aufwärts. Nach einer Nebennote endet das
Thema auf dem Terz-Ton des. Die Frage, welche Aufgaben die Pausen
übernehmen, beantwortet Hermann Keller sehr passend: 12
„Diese drei Ansätze des Themas sind nicht (wie bei der dis-Moll-Fuge) übergebunden, sondern durch
Pausen getrennt, Atempausen, die das Thema nötig hat, um neue Kraft zu holen.“
So werden die Notenwerte mit neuer Kraft nach der ersten und zweiten Pause
halbiert und dadurch die Energie intensiviert, die dritte Pause erscheint mehr als
Frage, welche mit dem Tritonussprung abwärts beantwortet wird. Diese verminderte
Quinte abwärts beinhaltet einen bittenden Charakter13, sie bestätigt neben den
missmutigen, statischen Aufwärtsbewegungen den Klangcharakter der Tonart, wie
ihn Schubart beschreibt.
12
13
(Keller, 1965 S. 179)
(Kirnberger, 1771/1779 S. 103)
S e i t e 6 | 24
5.2 Tabelle der Themeneinsätze
Um einen Gesamtüberblick zu verschaffen folgt nachfolgend eine Tabelle:
Takt Nr.
1
Sopran
Alt
T
5
9
11
15
17
27
27
T
Ks2
(Ks1) (Ks2)
(Ks2)
Ks1
Ks1
(Ks2)
T
Tenor
T
Bass
T
Ks1
b
f
Tonart
b
f
Anzahl Takte
4
4
2
4
2
4
Takt Nr.
42
46
50
52
56
58
Sopran
(Ks2)
Alt
21
T Uk
(Ks1 Uk)
Ks1 Uk
T Uk
(Ks1 Uk)
(Ks2)
Tenor
T Uk
Ks1 Uk
(Ks2)
(Ks2)
Bass
(Ks2)
(Ks2)
(Ks1 Uk)
T Uk
Tonart
b
es
Ges
as
Anzahl Takte
4
4
2
4
2
4
31
33
33
37
T
T
(Ks2)
T
b
b
6
4
4
62
67
67
Des
Des
2
4
4
5
71
73
73
77
T Uk
(Ks2)
T Uk
T Uk
T Uk
5
b
b
4
4
2
f
f
4
4
3
S e i t e 7 | 24
Takt Nr.
80
Sopran
T UK
Alt
Tenor
80
84
Anzahl Takte
Legende:
T
Uk
Ks
(Ks)
dicke Linie
hellblau
=
=
=
=
=
=
89
93
96
96
100
T
(Ks1)
T Uk
T
(Ks 1)
Bass
Tonart
89
T
T Uk
T
As
As
4
4
5
T UK
b
b
4
4
b
3
Takte insgesamt
101
Takte mit Themenphasen
60
Takte mit Zwischenspielen
41
Anzahl Durchführungen
6
Anzahl Themeneinsätze
24
Anzahl Zwischenspiele
13
4
3.5
2
Thema
Umkehrung
Kontrasubjekt
Unvollständiges Kontrasubjekt
Ende einer kompletten Durchführung
Zwischenspie
S e i t e 8 | 24
5.3 Ausführliche Analyse
Das Stück beginnt mit dem Einsatz des viertaktigen Themas im Alt (Dux):
Ohne Zwischenspiel folgt in Takt 5 der Einsatz des Soprans (Comes) mit dem Thema
in der Oberquinttonart f-Moll, im Alt erklingt gleichzeitig das Ks1 (Darstellung in bMoll):
Das Thema moduliert nicht nach f-Moll, beim Einsatz des Soprans erklingt mit der
Terz des-f immer noch b-Moll (b6-Akkord), durch die Chromatik des Ks1 festigt sich
auch keine Tonart, die Modulation nach f-Moll ist erst in Takt 7 beendet. Diese
Ungewissheit der Tonart zu Beginn des Themeneinsatzes findet sich bei allen
folgenden Einsätzen wieder. Der Themenkopf des Themas enthält keine Quinte und
erfordert deshalb keine tonale Beantwortung. Trotzdem ist das erste Thema im
Sopran abgeändert; das Thema endet in Dur (F2-Akkord, nachfolgend als ComesForm beschrieben).
Weil das Thema nicht moduliert, komponierte J. S. Bach nach dem Ende des
Themas ein zweitaktiges Zwischenspiel und führt durch eine modulierende
Quintfallsequenz mit der Motivik des Themas
und des Ks1
in Takt
11 nach b-Moll. Darauf erklingt Thema im Bass, das Ks1 folgt nicht wie erwartet im
Sopran (kanonische Konsequenz), sondern verweilt im Alt, gleichzeitig spielt der
Sopran das Ks2:
Es ist das einzige Mal, dass das Thema, das Ks1 und das Ks2 gleichzeitig erklingen.
Später sind nur noch Fragmente des Ks2 komponiert; das als zweites erklingende
Thema ersetzt bei Engführungen das Ks1.
Man würde im Bassthema eine Dux-Form erwarten (Dux-Form - Comes-Form - DuxForm - Comes-Form), doch es erklingt eine Comes-Form. Es folgt ein weiteres,
S e i t e 9 | 24
zweitaktiges, modulierendes Zwischenspiel mit gleicher Motivik wie das erste
Zwischenspiel und Quintfallsequenz nach Abschluss des Themas im Bass, welches
auf Takt 17 hinführt, den Einsatz des Tenors in Dux-Form. Beendet wird die
Durchführung I mit einem längeren Zwischenspiel; verarbeitet wird dabei das
Themenmaterial
Ks1
des
Ks2
,
des
Themas
und
des
. Die Durchführung II besteht aus zwei Einsätzen mit
Engführungen, erst mit Tenor und Alt in Takt 27, danach mit Sopran und Bass in Takt
33. Bei der ersten Engführung startet der Tenor mit Dux-Form in b-Moll und der Alt
eine halbe Note später in der Septime. Beide Stimmen spielen die Dux-Form, jedoch
führt der Einsatz in Septime zu einer anderen Klanglichkeit des Themas. Das Ende
des Themas im Alt in Takt 31 führt direkt in das nächste Zwischenspiel, in welchem,
im Vergleich zu den vorhergehenden Zwischenspielen, das Ende des Themas
dominiert; auch diese Takte bilden eine Quintfallsequenz. Die zweite
Engführung steht in Des-Dur, bildet dadurch erstmals in dieser Fuge eine hellere
Klangfarbe und steht in Comes-Form. Das Bassthema startet wieder auf der
Septime, jedoch ohne Alterationen und führt wie erwartet in das nächste
Zwischenspiel in Takt 37. Die Durchführung II schliesst J. S. Bach, gleich wie die
erste, mit einem längeren Zwischenspiel ab; neu erklingen zusätzlich chromatische
Linien aus dem Themenvorrat des Ks1
in der Umkehrung.
In der Durchführung III und IV werden alle Themen, sowie das Ks1 in der Umkehrung
gespielt. Parallel, wie in den Durchführungen I und II werden alle Themen erst
einzeln vorgeführt und in der folgenden Durchführung eng geführt. Auffällig ist, dass
J. S. Bach (in der Durchführung I) den zweiten Einsatz auf der Oberquinttonart f-Moll
einführt und in der Umkehrung (in der Durchführung III) in der Unterquinttonart esMoll, also auch umkehrt; es ist das Ergebnis von hintereinander einsetzenden
Themen ohne Zwischenspiel. Die Themen erscheinen in der Durchführung III in DuxForm, nur der dritte Themeneinsatz ist aufgrund der Ges-Dur Tonart verändert. Die
zweitaktigen
Zwischenspiele
in
Takt
50
und
56
basieren
weiter
auf
Quintfallsequenzen und bekanntem Zwischenspielmaterial. Das Zwischenspiel vor
dem Abschluss der Durchführung III spielt mit der gleichen Motivik wie das
Zwischenspiel am Ende der Durchführung I, jedoch als Triosonatensatz (zwei
gleichwertige Oberstimmen über einem Generalbass). Zu der eng geführten, in der
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Umkehrung gespielten Durchführung IV ab Takt 67 ist zu sagen, dass das eng
geführte Thema in der None einsetzt, dem Komplementärintervall der Septime, wie
es in der Durchführung II erklingt. Die Tonarten erscheinen, wie man es erwartet,
nämlich die ersten zwei Einsätze in b-Moll und die nachfolgenden zwei in f-Moll. Das
Zwischenspiel in Takt 71 basiert nicht auf einer Quintfallsequenz, sondern auf einer
Monte-Sequenz mit bekanntem Zwischenspielmaterial. Das Zwischenspiel vor
Abschluss dieser Durchführung ist wesentlich kürzer als die der früheren
Durchführungen, ist jedoch sehr dicht mit dem Material des Ks1
sequenzierend und basiert auch auf einer Quintfallsequenz.
Nachdem die Symmetrie der ersten zwei und den zweiten zwei Durchführungen
hergestellt ist, erfolgt die Synthese des erklungenen Materials. So ertönt in der
Durchführung V eine Engführung mit dem Thema in der Umkehrung und dem Thema
ohne Umkehrung, wobei bei den ersten zwei Themeneinsätzen in Takt 80 das
umgekehrte Thema beginnt und die Dux-Form gespielt wird und bei den folgenden
Einsätzen in Takt 89 das originale Thema beginnt sowie die Comes-Form erklingt.
Durch den Stimmtausch von Takt 80 zu 89 wird auch das Intervall der
Themeneinsätze umgekehrt (Sexte zu Terz). Ausser des Themas im Sopran in Takt
80, welches durch die andere Tonart (vgl. Takt 58, as-Moll) nicht alteriert ist,
erklingen alle Themen gleich gespielt, bereits zuvor in der Fuge (Dux/Comes-Form
ausser Acht gelassen). Das Zwischenspiel in Takt 84 ist länger als erwartet, bisher
standen Zwischenspiele in dieser Länge nur vor Abschluss einer Durchführung, auch
ist dieses Zwischenspiel harmonisch wesentlich bewegter. Ein Grund dafür könnte
sein,
dass
J.
S.
Bach
41
Zwischenspieltakte
komponieren
wollte
(Buchstabenquersumme von J. S. Bach). Das Zwischenspiel in Takt 93 muss nicht in
eine andere Tonart modulieren und umspielt nur b-Moll.
Als krönenden Abschluss der Fuge erscheinen je zwei Einsätze als canon sine
pausa, wobei die ersten Einsätze in originaler Form und die nachfolgend
einsetzenden Stimmen in Umkehrung gespielt werden. Ungewöhnlich ist der
plötzliche Dur-Klang in Takt 97, obwohl das Thema im Sopran in genau gleicher
Form erklingt wie in Takt 1; ein kompositorisches Mittel, um den Affekt zu verstärken.
Das Intervallverhältnis von Sopran zu Alt ist eine Sexte, von Tenor zu Bass eine
Terz, dies sind kontrapunktisch die einzigen möglichen Intervalle, um Themen als
canon sine pausa singen zu lassen. Aufgrund der Engführung und der canones sine
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pausa erklingt in allen Stimmen gleichzeitig das Thema, die kompakteste mögliche
Anordnung. Das letzte Zwischenspiel in Takt 99 beinhaltet eine abschliessende
Kadenz und endet in B-Dur mit punktierten ganzen Noten und einer Fermate.
5.4 Symmetrien der Themeneinsätze
Auffällig ist, wie ausgeglichen und symmetrisch die 24 Themeneinsätze erscheinen:14
-
Von den acht Einsätzen, in denen das Thema alleine spielt, kommen vier in
originaler Form und vier Themen in umgekehrter Form vor.
-
Von den 16 Themen, die in Engführung gespielt werden, klingen acht in
originaler Form und acht in umgekehrter Form. Betrachtet man die zwei
Einsätze einer Engführung als Element, sind es auch acht, vier plus vier.
-
Zwei Themeneinsätze in originaler Form erklingen zusammen mit der
Umkehrung als Engführungen.
-
Vier Themeneinsätze erklingen in Paaren als canones sine pausa, davon zwei
in originaler Form, zwei in umgekehrter Form.
-
Von den sechs kompletten Durchführungen weisen zwei nur originale Formen,
zwei nur umgekehrte Formen und zwei Durchführungen kombinierte Formen
auf.
6 Analyse des Themas im Zusammenspiel mit anderen
relevanten Stimmen
6.1 Der harmonische Kontrapunkt
In diesem Kapitel wird der Zusammenhang mehrerer Stimmen untersucht. Es hat
sich herausgestellt, dass eine reine Intervallanalyse bei J. S. Bach nicht zu einem
zufriedenstellenden Ergebnis führt; zu viele unerklärbare, dissonierende Intervalle
treten auf. Die harmonische Ebene muss einbezogen werden, um dieses Problem zu
lösen. Andreas Jacob beschreibt diese Kompositionsweise als den harmonischen
Kontrapunkt:15
Nicht also die Abschwächung der harmonischen Wirkungen ist gemeint, sondern ihre ergänzende
Durchdringung mit dem mehrstimmig-melodischen Element. Der lineare Kontrapunkt wird dadurch
selbst zu einem harmonischen. Es existieren Stücke, die nur aus der Verzahnung verschiedener
Prinzipien erklärbar sind, deren eigenwillige Linienführung aus der Harmonik generiert wird und vice
versa.
14
15
(Bruhn, 2006 S. 554)
(Jacob, 1997)
S e i t e 12 | 24
Werden nun Intervalle untersucht und der harmonische Kontrapunkt einbezogen,
ergeben sich folgende Gesetzmässigkeiten:
-
Aufgrund der Harmonie muss sich eine verminderte Quint nicht mehr
zwingend nach aussen, sowie die übermässige Quart nicht mehr zwingend
nach innen auflösen.
-
Bei Dominantakkorden (V7, VII7 in allen Umkehrungen) darf die Septime
unvorbereitet erklingen, dadurch entsteht eine nicht vorbereitete verminderte
Quint (oder im doppelten Kontrapunkt der Oktave eine nicht vorbereitete
übermässige Quart) zwischen der Terz und der Septime. Bei einem VII7
Dominantakkord entsteht eine zusätzliche Dissonanz zwischen dem Grundton
und der Quint.
-
In Moll beinhaltet die zweite Stufe einen verminderten Akkord, auch da
entstehen unvorbereitete verminderte Quinten und übermässige Quarten.
6.2 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1
6.2.1 Das Themengerüst
Um die weitere Analyse zu vereinfachen, wurde das Thema in seinem Gerüst
abgebildet:
Verglichen werden nun die Intervalle, wenn das Thema zusammen mit dem Ks1
erklingt (Oktavdifferenzen ausser Acht gelassen):
6.2.2 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 in Originalgestalt
3
3
6 6
6
6
5
4
3 3
2
5-
6
b: (V 6 ) IV# 6 IV#6
5
4
S e i t e 13 | 24
6.2.3 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 im doppelten Kontrapunkt der
Oktave
Der doppelte Kontrapunkt der Oktave wird abgebildet, weil J. S. Bach diesen
Kontrapunkt in der Fuge verwendet (vgl. Takt 17).
6
6
3 3
3
3
4
5
6 6
7
4+
3
b: (V2) IV#6
6.2.4 Fazit
Ersichtlich ist, dass das Thema und das Ks1 während der ersten zwei Takte
Tonleiterbewegungen
ausführen,
welche
in
Terz-
oder
Sextintervallen
zusammenhängen. Durch den gehaltenen Ton im Ks1 in Takt 3 entsteht ein
Quartdurchgang. In Takt 4 entstehen nicht vorbereitete Dissonanzen, wobei bei der
Sekunde bzw. Septime ein chromatischer Durchgang im Kontrasubjekt vorliegt, die
übermässige Quarte bzw. verminderte Quinte ist als Zwischendominante (B2) zu EsDur eingegliedert (Stufenanalyse unter der Akkolade). Der Quartsextakkord in Kapitel
6.2.2 ergibt sich durch die Stimmführung, auf Zählzeit 2,5 erklingt aber ein
Sextakkord (vgl. Takt 15).
6.3 Das Thema in der Engführung
Im nächsten Schritt werden die Intervalle bei einfacher Engführung verglichen.
Wie im Kapitel 6.2.3 ersichtlich wurde, erklingt im doppelten Kontrapunkt der Oktave
immer das Komplementärintervall zur Originalgestalt (Kapitel 6.2.2).
Im doppelten Kontrapunkt der Oktave sind nur die Intervalle der Quart und Quint
problematisch (Quartvorbereitung und Auflösung)16:
„Am Unbedenklichsten sind die unvollkommenen Konsonanzen (Terz, Sext), deshalb werden sie am
häufigsten angewendet.“17
16
17
(Tittel, 1959 S. 89)
(Tittel, 1959 S. 90)
S e i t e 14 | 24
6.3.1 Einfache Engführung in Originalgestalt
6
6
63 36 6
6
6
6
6 78
63 3
6
6.3.2 Einfache Engführung in der Originalgestalt und dem doppelten Kontrapunkt
der Oktave
3
3
36 63 3
3
3 3
3 28
36 6
6
6.3.3 Fazit
Die Septime bzw. Sekunde in Takt vier wird durch die Motivik
korrekt als
Durchgang behandelt. Auffällig ist, dass kein Quint- oder Quartabstand vorkommt,
bis auf den Durchgang sind alles Konsonanzen. Quint- oder Quartabstände würden
in der Engführung eine Veränderung des Themas erzwingen.
Auffallend ist die Ähnlichkeit der Intervalle zu Kapitel 6.2.2 und 6.2.3. Es scheint, als
wäre das Ks1 eine Variation des eng geführten Themas im doppelten Kontrapunkt
der Oktave und als wäre es simultan komponiert worden.
6.3.4 Einfache Engführung in umgekehrter Gestalt
3
3
36 63 3
3
3 3
3 28
36 6
6
S e i t e 15 | 24
6.3.5 Einfache Engführung in der umgekehrten Gestalt und dem doppelten
Kontrapunkt der Oktave
6
6
63 36 6
6
6
6
6 7 8
63 3
6
6.3.6 Fazit
Die Intervalle von Kapitel 6.3.4 entsprechen den Intervallen von Kapitel 6.3.2 und die
von 6.3.5 denen von 6.3.1. Dies bedeutet, dass jedes Thema, welches ohne
Veränderung im doppelten Kontrapunkt der Oktave eng geführt werden kann, ohne
Probleme umgekehrt eng geführt sowie umgekehrt im doppelten Kontrapunkt der
Oktave eng geführt werden kann. Das dissonierende Intervall in Takt 4 wird als
Durchgang korrekt behandelt. Auffällig ist, dass fast keine Dissonanzen auftreten; bei
der Komposition des Themas muss J. S. Bach diese Art der Engführung
berücksichtigt haben.
Dieser reine Klang bei den Engführungen ist sehr aussergewöhnlich, denn
Dissonanzen sind in dieser Zeit etwas Übliches (vgl. Engführung in der Fuge in EDur, BWV 872, Takt 1, canon sine pausa in der Fuge in dis-Moll, BWV 877, Takt 44;
oder in anderen Stücken wie der Invention Nr. 1, BWV 772, Takt 1). Trotzdem ist der
Gesamtklang nicht so rein, da sich die zwei anderen Stimmen oft mit den
aufgeführten reiben, der harmonische Kontrapunkt wird aber eingehalten.
6.4 Das Thema in der originalen Gestalt mit der Umkehrung eng geführt
Diese Gestalt erklingt in Takt 89 ff., die Gestalt von Takt 80 erfolgt im nachfolgenden
Kapitel. Grund dafür ist die Tonart (b-Moll) und der Themeneinsatz im Bass, wodurch
die Zusammenhänge leichter ersichtlich werden.
5-
b: I
7
II
3
6
I
8 5- 3 7 5-
3
6
7
7 6
IV V I (V ) IV VII I
5
8
6
IV
6
I
4
4+ 5 4 4+8 6
4
II V I
3
II
3
4 7 6
II I (V6) IV
5
3
S e i t e 16 | 24
Bei dieser Zusammensetzung der Themen entstehen mehrere dissonierende
Intervalle, welche sich in der Vorbereitung/Auflösung schwierig verhalten. Bei
Tonleiterbewegungen im Terz- oder Sextabstand ist es unmöglich, eine Stimme
umzukehren, ohne dissonante Intervalle zu erhalten. J. S. Bach löst das Problem,
indem er geschickt harmonisiert und die Dissonanzen als Zwischenstufen mit
Septime harmonisiert. Wie bereits erwähnt, tritt bei der Kontrapunkttechnik dieser
Zeit dieses Phänomen oft auf. Die Dissonanzen werden aber korrekt mit einem
Sekundschritt abwärts aufgelöst, auch wenn die Fortschreitung der Gegenstimme die
gesittete Behandlung verschleiert. Die grün eingefärbten Stufen sind infolge der
Vereinfachung nicht ersichtlich (vgl. Fuge Takt 89 ff.). Diese Kombination erklingt
nicht im doppelten Kontrapunkt der Oktave: Die Auflösung der Dissonanzen wäre
neben der Vorbereitung auch falsch und somit im Zusammenspiel, als auch auf
harmonischer Ebene nicht erlaubt.
6.4.1 Die umgekehrte Gestalt mit der originalen Gestalt eng geführt
5-
2 6 7
As: V I V
I
3
8 5 3 7 5-
6
4
#7 6 6 7
V VII I VI V
4
3
8
6
I
V
6
4+ 5 4 4+8 6
6
VI
4
2
V I V V
3
3
(V6) II
5
Im Vergleich zum vorhergehenden Kapitel ist ersichtlich, dass sich die Beispiele
durch einen Stimmtausch und Umkehrung der gespielten Elemente unterscheiden.
Es erklingen die gleichen Intervalle, das gleiche Phänomen tritt ein, wie es in Kapitel
7.3.6 geschildert wird; verschieden sind aber die Harmonisierungen, welche J. S.
Bach aufgrund der verschiedenen Tonarten verwendet.
6.4.2 Fazit
Die in diesem Kapitel aufgeführten Engführungen sind kompositionstechnisch die
schwierigsten dieser Fuge. Dissonante Intervalle sind unvermeidbar, diese
Dissonanzen werden aber korrekt verwendet. Werden nur die Themen verglichen,
geschieht in Takt 80 ein Bruch: Die musikalische Strenge wird gelockert, dafür wird
das Zusammenspiel der Themen immer komplexer.
S e i t e 17 | 24
6.5 Das Thema als canon sine pausa in eng geführter Gestalt
ST
4+ 6
8 4+ 6 2 4+
6
8
3
5- 3 5 5- 6 4
AB
8
5- 8 3 6 4+
6
8
3
5- 3 5- 5- 8 4 8
3
4
4
6
b: I
AT
SB
6
II
6
I
6
6
8
8
4
6
𝑏
II VII I# V VII
3
5
3 6 8 4+3
3 6 8 4 6
6
I
4
8
II
6
6
I
8
5
4 7 6 7
7
VII I II VII V V
3
I
3 8 3 3 8 4 4
6 3 7 6 3 4 3
Die letzte Durchführung hat folgende Eigenschaften:
-
Sopran/Alt erschallen bis zum dritten Schlag in Takt 2 in Sexten, danach in
Terzen.
-
Tenor/Bass bilden ein Terzverhältnis, eine Ausnahme ist der Schluss: Die
Themen werden nicht komplett ausgespielt, sondern bilden eine Kadenz,
welche auf Takt 5 hinführt.
-
Sopran und Tenor sind die Referenzstimmen für Alt und Bass und bilden den
doppelten Kontrapunkt der Oktave von Kapitel 6.4 und 6.4.1, wodurch im
Sopran/Tenor die Komplementärintervalle erklingen.
-
Die Intervallverhältnisse von Alt/Tenor und Sopran/Bass bilden keine Muster,
da sie sich anhand der Referenzstimmen bilden.
6.5.1 Fazit
Die Harmonisierung dieser Durchführung ist sehr ähnlich wie diejenige von Kapitel
6.4, auffallend ist jedoch, dass die V-I Kadenz bis auf die abschliessende Kadenz
vermieden und durch eine VII–I Kadenz ersetzt wird. Dadurch verstärkt sich die
Abschlusswirkung der V-I Kadenz. An diesem Beispiel ist der harmonische
Kontrapunkt wunderbar ersichtlich, da alle vier Stimmen relevant sind und zusammen
die Harmonien bilden.
S e i t e 18 | 24
7 Analyse von bekannten Musiktheoretikern
Wie aus dem Literaturverzeichnis zu entnehmen ist, wurde diese Fuge von vielen
Musikwissenschaftlern analysiert; besonders erwähnenswert sind folgende zwei
Personen.
7.1 Die Analyse von Ferruccio Busoni
Ferruccio Busoni ist einer der wenigen Musiktheoretiker, der sich mit den
Engführungen und Umkehrungen dieser Fuge beschäftigt hatte und fand heraus,
dass das Thema in jedem Intervall eng geführt werden kann, verändert werden muss
nur der zeitliche Abstand der beiden Themeneinsätze. Das bedeutet, dass der
Comes bei der Engführung in der None auf Zählzeit 2 startet, in der Oktave auf
Zählzeit 3, in der Septime auf Zählzeit 4 usw.18 Dies ist ein Phänomen, welches
allgemein bei Tonleiterbewegungen auftritt. Weiter erkennt er aber, dass als
Fundament der Engführungen ein Kontrapunkt der Dezime als canon sine pausa
zugrunde liegt, also die Form, die in der letzten Durchführung in Tenor/Bass auftritt.
Busoni
findet
ausserdem
heraus,
dass
mit
dem
Thema
noch
weitere
kontrapunktische Varianten möglich sind; warum J. S. Bach diese nicht benutzt,
bleibt ungeklärt. Der Grund könnte die Symmetrie der Themeneinsätze sein, welche
durch zusätzliche Einsätze zerstört worden wäre.
7.2 Die Analyse von August Halm
In dem Buch „Von zwei Kulturen der Musik“ analysiert A. Halm das Fugenthema
äusserst detailliert und qualitativ sehr gut, er begründet jeden Ton und jede Pause
des Themas so genau, dass man meinen könnte, J. S. Bach habe ein unmenschlich
herausragendes Kompositionstalent und A. Halm möchte jeder möglichen Intention
von J. S. Bach gerecht werden. Seine Analyse, sowie Schlussfolgerungen dieser
Arbeit sind aber nur subjektive Auslegungen, die August Halm so begründet:
„Niemand weiss, was damals in dem historischen Menschen Bach vorgegangen ist. Vermute also
jeder darüber, so viel und was ihm beliebt.“19
18
19
(Busoni, 1915 S. 29)
(Halm, 1913 S. 218)
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8 Schlussfolgerungen
8.1 Über die Komposition
Die Komplexität steigert sich von Durchführung zu Durchführung, wobei viele Teile
bereits zuvor in vereinfachter Form aufgetreten sind. Dies lässt vermuten, dass der
Komponist zuerst die letzte Durchführung komponiert hatte und daraus die
verschiedenen Aufspaltungen ableitete; die Analyse von Busoni erhärtet diese
These. So schreibt auch Beethoven in seinen Studien über Kontrapunkt:
„Der Hauptvortheil bei Erfindungen eines Fugenthema’s besteht darin, dass man gleich anfangs
untersuche, ob es geeignet sei zum restringiren, vergrössern, verkleinern, zertheilen, umkehren, u.
dgl.“20
Aussergewöhnlich ist der einheitliche Aufbau der gesamten Fuge, sowie die
kontrapunktische Strenge der Themenzusammenspiele der ersten 80 Takte (wobei
diese Strenge beim Hören durch die anderen Stimmen verdeckt wird; sowohl durch
die Kontrasubjekte, als auch durch die Kontrapunkte in den themenfreien Stimmen),
danach wird das Feuerwerk gezündet und J. S. Bach zeigt sein ganzes Können.
8.2 Komposition eines Themas mit maximaler Variabilität
-
Damit ein Thema eng geführt werden kann, gibt es zwei besonders günstige
Mittel: Tonleiterbewegungen (wovon J. S. Bach in dieser Fuge Gebrauch
macht) oder Terz-, Quint- und Sextbewegungen, bei denen die eng geführte
Stimme die Terz, Quint (nur einzeln) oder Sext bildet. Ein wunderbares
Beispiel dafür ist die Fuge in D- Dur, BWV 874:
Fugenthema
Engführung in Takt 44
Die Alteration zum Gis ist nicht nötig und wird nur aus harmonischen Gründen
verwendet.
-
Wie bereits in Kapitel 6.3.6 erwähnt, entstehen bei Themen, welche in der
Engführung reibungslos funktionieren, auch in der Umkehrung keine
Komplikationen (vgl. ergänzend Fuge in d-Moll, BWV 875, Takt 17 ff.).
-
Probleme entstehen bei Engführungen mit originaler und umgekehrter Gestalt,
weshalb diese Form selten komponiert wird. Ein erfahrener Komponist ist
20
(von, 1832)
S e i t e 20 | 24
allerdings in der Lage, die Themen so zu konstruieren, dass die störenden
Intervalle durch die richtige Harmonisierung entschärft werden können. Ist das
nicht der Fall, wird ein Thema leicht verändert und die störenden
Zusammenklänge werden umgangen (vgl. die Fuge in G-Dur, BWV 860, Takt
77ff.).
-
Bei augmentierten oder diminuierten Themen im Zusammenspiel mit der
originalen Gestalt ist die Simultankonzeption das wichtigste kompositorische
Mittel um diese Form friktionsfrei klingen zu lassen (vgl. Fuge in c-Moll, BWV
871, Takt 14 ff.).
-
Bei Doppel- und Tripelfugen wird das zweite oder dritte Thema wie ein
Kontrasubjekt zum Dux komponiert, wodurch die Synthese problemlos
funktioniert (vgl. Fuge Fuge in gis-Moll, BWV 887, Takt 1, Takt 61 und Takt 97
ff.; alternativ Fantasie und Fuge in a-Moll, BWV 904, Fuge Takt 1, Takt 37 und
Takt 61 ff.)
8.3 Abschliessende Erkenntnisse
Die Fähigkeit, Themen zu komponieren, welche in allen erdenklichen Formen
zusammen klingen können, benötigt viel Erfahrung in der Komposition dieses Stiles.
Ob J. S. Bach bei dieser Fuge die letzte Durchführung als Erstes komponiert hatte,
bleibt ungeklärt. Gewiss wurden aber die Engführungen/Umkehrungen von Anfang
an berücksichtigt. Generell kann man sagen, der Komponist entscheidet vor der
Themenbildung, in welchen Gestalten die Themen interagieren sollen und konstruiert
mit dieser Basis ein Thema. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wurden damals alle
Stimmen harmonisch skizziert, danach rhythmisch und melodisch variiert und
gegeneinander kontrastiert.21 Von J. S. Bach gibt es jedoch keine derartigen Skizzen,
man muss wohl von dem unmenschlich herausragenden Kompositionstalent
ausgehen, welches in Kapitel 7.1.2 prophezeit wird.
Bemerkenswert ist die mathematisch klare Konstruktion dieser Fuge, sicherlich war
die Themenkonstruktion einer der Schwerpunkte, wenn J. S. Bach diese Fuge im
Unterricht benutzte. Auch wurden dem Schüler die Grenzen in der Komposition und
Virtuosität dieses Stiles aufgezeigt, sowie der Grad, den der Schüler zu erreichen
hatte. Viele Schüler haben dieses Level nicht erreicht, sicher aber sein Sohn C. P. E.
Bach und die Schüler J. C. Altnikol und J. L. Krebs. Wie oft J. S. Bach diese Fuge im
21
(Lobe, Zweite Auflage 1875 S. 240)
S e i t e 21 | 24
Unterricht benutzte und welchen Stellenwert dieses Stück für ihn hatte, ist nicht
geklärt.
9 Ausblick
Eine genauere Analyse der Fuge würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Einerseits könnte das Thema noch genauer analysiert werden, darauf wurde
verzichtet, weil A. Halm dies bereits hervorragend und sehr ausführlich getan hat.
Andererseits könnten alle möglichen kontrapunktischen Varianten des Themas
aufgezeigt
und
analysiert
werden
und
der
Kompositionsstil,
sowie
die
Themenvariabilität mit anderen Komponisten verglichen werden.
S e i t e 22 | 24
10 Literaturverzeichnis
Billeter Bernhard Bachs Klavier- und Orgelmusik [Buch]. - Winterthur/ Schweiz :
Amadeus Verlag, 2010.
Bruhn Siglind J.S. Bachs Wohltemperiertes Klavier, Analyse und Gestalt [Buch]. Waldkirch : Edition Gorz, Fachverlag für Geisteswissenschaften, 2006.
Bruyck Carl van Technische und ästhetische Analysen des wohltemperierten
Claviers [Buch]. - Leipzig : Breitkopf und Härtel, 1867.
Busoni Ferruccio Klavierwerke Busoni Ausgabe, Wohltemperiertes Klavier Band 2,
Buch 4 [Buch]. - Wiesbaden : Breitkopf und Härtel, 1915.
Dehnhard/Kraus Das Wohltemperierte Klavier 2 [Buch]. - Wien : Wiener Urtext
Edition, 2001.
Halm August Von zwei Kulturen der Musik [Buch]. - München : G. Müller, 1913.
Heinemann Ernst Günter Das Wohltemperierte Klavier [Buch]. - München : G.
Henle Verlag, 1997.
Jacob Anderas Studien zu Kompositionsart und Kompositionsbegriff in Bachs
Klavierübungen [Buch]. - Stuttgart : Franz Steiner Verlag, 1997.
Keller Hermann Das Wohltemperierte Klavier von Johann Sebastian Bach [Buch]. Kassel : Bärenreiter, 1965.
Kirnberger Johannes Philipp Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, Band 2,
Teil 2 [Buch]. - Berlin : [s.n.], 1771/1779.
Lobe Prof. J.C. Lehrbuch der musikalischen Komposition [Buch]. - Leipzig : Breitkopf
und Härtel, Zweite Auflage 1875.
Schubart Christian Friedrich Daniel Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst [Buch]. Wien : [s.n.], 1806.
Tittel Ernst Der Neue Gradus, Lehrbuch des Strengen Satzes nach Johann Joseph
Fux [Buch]. - Wien : Doblinger Verlag (Bernhard Herzmansky), 1959.
von Ludwig van Beethoven / Ignaz Ritter Ludwig van Beethoven's Studien im
Generalbasse, Contrapunkte und in der Kompositionslehre [Buch]. - Leipzig :
Schuberth & Comp., 1832.
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11 Anhang
S e i t e 24 | 24
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