THEORIESCHWERPUNKTARBEIT VON ALVIN DEVONAS Zusammenhang der Stimmen bei der Engführung eines Fugenthemas anhand der b-Moll Fuge von J. S. Bach, BWV 891 Alvin Devonas Frühlingssemester 2016 Zürich, Mai 2016 angestrebter akademischer Grad: Bachelor of Arts (BA) Betreuerin: Angelika Moths 1.1 Inhaltsverzeichnis 1.1 Inhaltsverzeichnis ....................................................................................... 1 2 Einleitung ................................................................................................... 3 3 Das Wohltemperierte Klavier ................................................................... 3 3.1 3.2 4 Präludium und Fuge Nr. 22 in b-Moll BWV 891 ...................................... 4 4.1 4.2 5 Begründung zur Auswahl dieses Präludiums und dieser Fuge ..................... 4 Über die Tonart ............................................................................................. 5 Analyse der Fuge ...................................................................................... 5 5.1 5.2 5.3 5.4 6 Entstehung .................................................................................................... 3 Stilistik ........................................................................................................... 4 Analyse des Themas ..................................................................................... 5 Tabelle der Themeneinsätze ......................................................................... 7 Ausführliche Analyse ..................................................................................... 9 Symmetrien der Themeneinsätze ................................................................ 12 Analyse des Themas im Zusammenspiel mit anderen relevanten Stimmen ................................................................................................... 12 6.1 6.2 Der harmonische Kontrapunkt ..................................................................... 12 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 .............................................. 13 6.2.1 6.2.2 Das Themengerüst ..........................................................................................13 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 in Originalgestalt .......................13 6.2.3 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 im doppelten Kontrapunkt der Oktave ............................................................................................................14 Fazit ................................................................................................................14 6.2.4 6.3 Das Thema in der Engführung .................................................................... 14 6.3.1 Einfache Engführung in Originalgestalt ...........................................................15 6.3.2 Einfache Engführung in der Originalgestalt und dem doppelten Kontrapunkt der Oktave ......................................................................................................15 6.3.3 Fazit ................................................................................................................15 6.3.4 Einfache Engführung in umgekehrter Gestalt ..................................................15 6.3.5 Einfache Engführung in der umgekehrten Gestalt und dem doppelten Kontrapunkt der Oktave ..................................................................................16 6.3.6 Fazit ................................................................................................................16 6.4 Das Thema in der originalen Gestalt mit der Umkehrung eng geführt ......... 16 6.4.1 Die umgekehrte Gestalt mit der originalen Gestalt eng geführt ........................17 6.4.2 Fazit ................................................................................................................17 6.5 Das Thema als canon sine pausa in eng geführter Gestalt ......................... 18 6.5.1 7 Fazit ................................................................................................................18 Analyse von bekannten Musiktheoretikern .......................................... 19 7.1 7.2 Die Analyse von Ferruccio Busoni ............................................................... 19 Die Analyse von August Halm ..................................................................... 19 S e i t e 1 | 24 8 Schlussfolgerungen ............................................................................... 20 8.1 8.2 8.3 9 Über die Komposition .................................................................................. 20 Komposition eines Themas mit maximaler Variabilität ................................ 20 Abschliessende Erkenntnisse ...................................................................... 21 Ausblick ................................................................................................... 22 10 Literaturverzeichnis ................................................................................ 23 11 Anhang ..................................................................................................... 24 S e i t e 2 | 24 2 Einleitung Das Wohltemperierte Klavier wurde schon von vielen Musikwissenschaftlern analysiert, wobei viele Analysen dazu dienen, einen Gesamtüberblick über die einzelnen Fugen zu verschaffen: Einerseits zählt dazu, die Themen zu analysieren, andererseits die Themenphasen und Zwischenspiele aufzuzeigen. Zusätzlich dazu wird der Fokus dieser Arbeit auf die folgenden Fragen gerichtet sein: - Wie verhalten sich die einzelnen Stimmen zueinander? Wie streng hält sich J. S. Bach an die Regeln des Kontrapunktes? - Bildet eine Durchführung die Basis für die anderen Durchführungen oder wurden die einzelnen Durchführungen sukzessiv komponiert? Die b-Moll Fuge, BWV 891, eignet sich aus verschiedenen Gründen besonders gut für die Untersuchung dieser Fragen, unter anderem weil die Fuge klar strukturiert ist und viele verschiedene Varianten des Themas zusammen erklingen. 3 Das Wohltemperierte Klavier 3.1 Entstehung Es sind zwei Bände des Wohltemperierten Klavieres (im Folgenden: WtK) überliefert, wobei von dem ersten Band die Autographenreinschrift (1722) und diverse Frühfassungen der Präludien und Fugen überliefert sind.1 Auffällig ist der lange Titel des ersten Bandes: 2 „Das Wohltemperierte Clavier: oder Praeludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia, Sowohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend. Zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeit Vertreib auffgesetzt und verfertiget von Johann Sebastian Bach. pro tempore: Hochfürstlich Anhalt Cöthenischen CapelMeistern und Directore derer Cammer Musiquen. Anno 1722.“ Wie man aus dieser Überschrift entnehmen kann, legte Bach grossen pädagogischen Wert auf diesen Band. J .S. Bach benutzte die Präludien und Fugen für den Unterricht; aus diesem Grund wurden die Bände nicht gedruckt, sie wurden von Bachs Schülern abgeschrieben.3 Die Entstehung der einzelnen Präludien und Fugen des zweiten Bandes ist noch weniger ausführlich geklärt, einzelne Stücke gibt es in bis zu vier unterschiedliche Fassungen, welche zwischen 1722 und 1740 im 1 (Billeter, 2010 S. 508) (Heinemann, 1997 S. IV) 3 (Heinemann, 1997 S. IV) 2 S e i t e 3 | 24 Unterricht entstanden sind. Ein Grund für das Zusammenstellen eines zweiten Bandes könnte Bachs Bestreben gewesen sein, in seinen letzten Lebensjahren eigene Stücke zu sammeln und neue Zyklen zu schaffen (wie z.B. das Musikalische Opfer, BWV 1079, oder die Kunst der Fuge, BWV 1080). Wichtige Quellen für den zweiten Band sind das sogenannte Londoner Autograph, ein heute unvollständiges Autograph (drei Stücke fehlen: cis, D; f), geschrieben von Johannn Sebastian und Anna Magdalena Bach (zwischen 1740 und 1742), und eine vollständige Abschrift von Bachs Schüler Johann Christoph Altnikol.4 3.2 Stilistik Mit dem Begriff „Clavier“ definiert J. S. Bach kein Instrument, die Stücke können sowohl auf der Orgel, als auch auf dem Cembalo oder Clavichord gespielt werden, da der Tonumfang nicht jenen des in der Bachzeit üblichen Clavichords (C - c‘‘) überschreitet.5 Beide Bände enthalten 24 Präludien und Fugen durch alle Dur- und Molltonarten, wobei die Fugen zwei bis fünfstimmig sind (grösstenteils sind die Fugen drei- oder vierstimmig, der zweite Band enthält nur drei- oder vierstimmige Fugen). Es werden verschiedene kompositionstechnische Mittel verwendet, so erscheint 19 Mal eine Engführung, acht Mal die Umkehrung und drei Mal eine Augmentation/Diminution.6 Das WtK unterscheidet sich von anderen Werken Bachs: Im Vergleich zu den frühen Orgelfugen (bis 1717) sind im WtK keine Fusspedale notiert (eine Ausnahme bildet der Schluss der Fuge in a-Moll BWV 865 Takt 83 ff.), auch sind die Stücke kürzer als Werke der Klavierübungen (6 Partiten, BWV 825-831, Italienisches Konzert, BWV 971, Orgelchoräle, BWV 651-668).7 4 Präludium und Fuge Nr. 22 in b-Moll BWV 891 4.1 Begründung zur Auswahl dieses Präludiums und dieser Fuge Das Präludium ist das längste aller Präludien des WtK, es wird in dieser Arbeit aber nicht analysiert, der Fokus richtet sich auf die Engführungen, Umkehrungen und die canones sine pausa der Fuge. 4 (Billeter, 2010 S. 742) (Keller, 1965 S. 15) 6 (Bruyck, 1867 S. 87) 7 (Billeter, 2010 S. 508) 5 S e i t e 4 | 24 Die b-Moll Fuge ist extrem kompakt komponiert, sie ist ein Exempel dafür, wie man Themen verarbeitet (wie Billetter sagt: „Es ist ein genialer Wurf“).8 Die klare Form mit 6 kompletten Durchführungen, Engführungen mit Umkehrungen und Einsätzen als canones sine pausa, sowie die musikalische Strenge machen die Fuge perfekt, um in der Themenverarbeitung und Themenkomposition tiefer zu forschen. 4.2 Über die Tonart „Ein Sonderling, mehrentheils in das Gewand der Nacht gekleidet. Er ist etwas mürrisch, und nimmt höchst selten eine gefällige Miene an. Moquerien [Vorwürfe] gegen Gott und die Welt; Missvergnügen 9 mit sich und allem; Vorbereitung zum Selbstmord – hallen in diesem Tone.“ So beschreibt Schubart 1784 die Tonart b-Moll. Obwohl dieses Zitat rund 40 Jahre später entstanden ist, kann diese Beschreibung auf den Charakter der Fuge übertragen werden, die Tonartencharaktere haben sich in dieser Zeit nicht verändert. Die Fuge zeichnet den mürrischen Charakter durch die Schwere des Fugenthemas und die starke Chromatik aus; ein Sonderling, weil Engführungen in der Septime oder None auftreten und diese sehr aussergewöhnlich sind, die Musik verliert dadurch den harmonischen Sinn.10 Um diese Behauptungen zu begründen, wird die Fuge nun genau analysiert. 5 Analyse der Fuge 5.1 Analyse des Themas Nachfolgend wird das Thema in originaler Form abgebildet: 11 Themenkopf Fortspinnung Schlussgruppe Das Thema besteht ausschliesslich aus Tonleiterbewegungen aufwärts (blaue Pfeile) und Sprüngen abwärts (eingekreiste Noten). Der Themenkopf, beginnend mit zwei schweren halben Noten, besteht aus einer Tonleiterbewegung einer Quarte aufwärts, einem Sprung einer verminderten Quinte 8 (Billeter, 2010 S. 766) (Schubart, 1806 S. 378) 10 (Keller, 1965 S. 64) 11 (Dehnhard/Kraus, 2001 S. 130, siehe Anhang) 9 S e i t e 5 | 24 abwärts in den Leitton a und endet auf dem Anfangston b. Die Fortspinnung beinhaltet eine umspielte Tonleiterbewegung aufwärts einer Quinte, einem Terzsprung abwärts und endet auf dem Quint-Ton f. Die Tonleiterbewegung in Takt drei befindet sich auf der Terz von Takt eins und bewegt sich auch in halben Noten aufwärts. Das sequenzierende Element in Takt drei (eckige Klammern) ist die Krebsform eines häufig gespielten Motivs des Präludiums beinhaltet einen Sprung einer verminderten Quinte . Die Schlussgruppe abwärts und eine Tonleiterbewegung einer Sekunde aufwärts. Nach einer Nebennote endet das Thema auf dem Terz-Ton des. Die Frage, welche Aufgaben die Pausen übernehmen, beantwortet Hermann Keller sehr passend: 12 „Diese drei Ansätze des Themas sind nicht (wie bei der dis-Moll-Fuge) übergebunden, sondern durch Pausen getrennt, Atempausen, die das Thema nötig hat, um neue Kraft zu holen.“ So werden die Notenwerte mit neuer Kraft nach der ersten und zweiten Pause halbiert und dadurch die Energie intensiviert, die dritte Pause erscheint mehr als Frage, welche mit dem Tritonussprung abwärts beantwortet wird. Diese verminderte Quinte abwärts beinhaltet einen bittenden Charakter13, sie bestätigt neben den missmutigen, statischen Aufwärtsbewegungen den Klangcharakter der Tonart, wie ihn Schubart beschreibt. 12 13 (Keller, 1965 S. 179) (Kirnberger, 1771/1779 S. 103) S e i t e 6 | 24 5.2 Tabelle der Themeneinsätze Um einen Gesamtüberblick zu verschaffen folgt nachfolgend eine Tabelle: Takt Nr. 1 Sopran Alt T 5 9 11 15 17 27 27 T Ks2 (Ks1) (Ks2) (Ks2) Ks1 Ks1 (Ks2) T Tenor T Bass T Ks1 b f Tonart b f Anzahl Takte 4 4 2 4 2 4 Takt Nr. 42 46 50 52 56 58 Sopran (Ks2) Alt 21 T Uk (Ks1 Uk) Ks1 Uk T Uk (Ks1 Uk) (Ks2) Tenor T Uk Ks1 Uk (Ks2) (Ks2) Bass (Ks2) (Ks2) (Ks1 Uk) T Uk Tonart b es Ges as Anzahl Takte 4 4 2 4 2 4 31 33 33 37 T T (Ks2) T b b 6 4 4 62 67 67 Des Des 2 4 4 5 71 73 73 77 T Uk (Ks2) T Uk T Uk T Uk 5 b b 4 4 2 f f 4 4 3 S e i t e 7 | 24 Takt Nr. 80 Sopran T UK Alt Tenor 80 84 Anzahl Takte Legende: T Uk Ks (Ks) dicke Linie hellblau = = = = = = 89 93 96 96 100 T (Ks1) T Uk T (Ks 1) Bass Tonart 89 T T Uk T As As 4 4 5 T UK b b 4 4 b 3 Takte insgesamt 101 Takte mit Themenphasen 60 Takte mit Zwischenspielen 41 Anzahl Durchführungen 6 Anzahl Themeneinsätze 24 Anzahl Zwischenspiele 13 4 3.5 2 Thema Umkehrung Kontrasubjekt Unvollständiges Kontrasubjekt Ende einer kompletten Durchführung Zwischenspie S e i t e 8 | 24 5.3 Ausführliche Analyse Das Stück beginnt mit dem Einsatz des viertaktigen Themas im Alt (Dux): Ohne Zwischenspiel folgt in Takt 5 der Einsatz des Soprans (Comes) mit dem Thema in der Oberquinttonart f-Moll, im Alt erklingt gleichzeitig das Ks1 (Darstellung in bMoll): Das Thema moduliert nicht nach f-Moll, beim Einsatz des Soprans erklingt mit der Terz des-f immer noch b-Moll (b6-Akkord), durch die Chromatik des Ks1 festigt sich auch keine Tonart, die Modulation nach f-Moll ist erst in Takt 7 beendet. Diese Ungewissheit der Tonart zu Beginn des Themeneinsatzes findet sich bei allen folgenden Einsätzen wieder. Der Themenkopf des Themas enthält keine Quinte und erfordert deshalb keine tonale Beantwortung. Trotzdem ist das erste Thema im Sopran abgeändert; das Thema endet in Dur (F2-Akkord, nachfolgend als ComesForm beschrieben). Weil das Thema nicht moduliert, komponierte J. S. Bach nach dem Ende des Themas ein zweitaktiges Zwischenspiel und führt durch eine modulierende Quintfallsequenz mit der Motivik des Themas und des Ks1 in Takt 11 nach b-Moll. Darauf erklingt Thema im Bass, das Ks1 folgt nicht wie erwartet im Sopran (kanonische Konsequenz), sondern verweilt im Alt, gleichzeitig spielt der Sopran das Ks2: Es ist das einzige Mal, dass das Thema, das Ks1 und das Ks2 gleichzeitig erklingen. Später sind nur noch Fragmente des Ks2 komponiert; das als zweites erklingende Thema ersetzt bei Engführungen das Ks1. Man würde im Bassthema eine Dux-Form erwarten (Dux-Form - Comes-Form - DuxForm - Comes-Form), doch es erklingt eine Comes-Form. Es folgt ein weiteres, S e i t e 9 | 24 zweitaktiges, modulierendes Zwischenspiel mit gleicher Motivik wie das erste Zwischenspiel und Quintfallsequenz nach Abschluss des Themas im Bass, welches auf Takt 17 hinführt, den Einsatz des Tenors in Dux-Form. Beendet wird die Durchführung I mit einem längeren Zwischenspiel; verarbeitet wird dabei das Themenmaterial Ks1 des Ks2 , des Themas und des . Die Durchführung II besteht aus zwei Einsätzen mit Engführungen, erst mit Tenor und Alt in Takt 27, danach mit Sopran und Bass in Takt 33. Bei der ersten Engführung startet der Tenor mit Dux-Form in b-Moll und der Alt eine halbe Note später in der Septime. Beide Stimmen spielen die Dux-Form, jedoch führt der Einsatz in Septime zu einer anderen Klanglichkeit des Themas. Das Ende des Themas im Alt in Takt 31 führt direkt in das nächste Zwischenspiel, in welchem, im Vergleich zu den vorhergehenden Zwischenspielen, das Ende des Themas dominiert; auch diese Takte bilden eine Quintfallsequenz. Die zweite Engführung steht in Des-Dur, bildet dadurch erstmals in dieser Fuge eine hellere Klangfarbe und steht in Comes-Form. Das Bassthema startet wieder auf der Septime, jedoch ohne Alterationen und führt wie erwartet in das nächste Zwischenspiel in Takt 37. Die Durchführung II schliesst J. S. Bach, gleich wie die erste, mit einem längeren Zwischenspiel ab; neu erklingen zusätzlich chromatische Linien aus dem Themenvorrat des Ks1 in der Umkehrung. In der Durchführung III und IV werden alle Themen, sowie das Ks1 in der Umkehrung gespielt. Parallel, wie in den Durchführungen I und II werden alle Themen erst einzeln vorgeführt und in der folgenden Durchführung eng geführt. Auffällig ist, dass J. S. Bach (in der Durchführung I) den zweiten Einsatz auf der Oberquinttonart f-Moll einführt und in der Umkehrung (in der Durchführung III) in der Unterquinttonart esMoll, also auch umkehrt; es ist das Ergebnis von hintereinander einsetzenden Themen ohne Zwischenspiel. Die Themen erscheinen in der Durchführung III in DuxForm, nur der dritte Themeneinsatz ist aufgrund der Ges-Dur Tonart verändert. Die zweitaktigen Zwischenspiele in Takt 50 und 56 basieren weiter auf Quintfallsequenzen und bekanntem Zwischenspielmaterial. Das Zwischenspiel vor dem Abschluss der Durchführung III spielt mit der gleichen Motivik wie das Zwischenspiel am Ende der Durchführung I, jedoch als Triosonatensatz (zwei gleichwertige Oberstimmen über einem Generalbass). Zu der eng geführten, in der S e i t e 10 | 24 Umkehrung gespielten Durchführung IV ab Takt 67 ist zu sagen, dass das eng geführte Thema in der None einsetzt, dem Komplementärintervall der Septime, wie es in der Durchführung II erklingt. Die Tonarten erscheinen, wie man es erwartet, nämlich die ersten zwei Einsätze in b-Moll und die nachfolgenden zwei in f-Moll. Das Zwischenspiel in Takt 71 basiert nicht auf einer Quintfallsequenz, sondern auf einer Monte-Sequenz mit bekanntem Zwischenspielmaterial. Das Zwischenspiel vor Abschluss dieser Durchführung ist wesentlich kürzer als die der früheren Durchführungen, ist jedoch sehr dicht mit dem Material des Ks1 sequenzierend und basiert auch auf einer Quintfallsequenz. Nachdem die Symmetrie der ersten zwei und den zweiten zwei Durchführungen hergestellt ist, erfolgt die Synthese des erklungenen Materials. So ertönt in der Durchführung V eine Engführung mit dem Thema in der Umkehrung und dem Thema ohne Umkehrung, wobei bei den ersten zwei Themeneinsätzen in Takt 80 das umgekehrte Thema beginnt und die Dux-Form gespielt wird und bei den folgenden Einsätzen in Takt 89 das originale Thema beginnt sowie die Comes-Form erklingt. Durch den Stimmtausch von Takt 80 zu 89 wird auch das Intervall der Themeneinsätze umgekehrt (Sexte zu Terz). Ausser des Themas im Sopran in Takt 80, welches durch die andere Tonart (vgl. Takt 58, as-Moll) nicht alteriert ist, erklingen alle Themen gleich gespielt, bereits zuvor in der Fuge (Dux/Comes-Form ausser Acht gelassen). Das Zwischenspiel in Takt 84 ist länger als erwartet, bisher standen Zwischenspiele in dieser Länge nur vor Abschluss einer Durchführung, auch ist dieses Zwischenspiel harmonisch wesentlich bewegter. Ein Grund dafür könnte sein, dass J. S. Bach 41 Zwischenspieltakte komponieren wollte (Buchstabenquersumme von J. S. Bach). Das Zwischenspiel in Takt 93 muss nicht in eine andere Tonart modulieren und umspielt nur b-Moll. Als krönenden Abschluss der Fuge erscheinen je zwei Einsätze als canon sine pausa, wobei die ersten Einsätze in originaler Form und die nachfolgend einsetzenden Stimmen in Umkehrung gespielt werden. Ungewöhnlich ist der plötzliche Dur-Klang in Takt 97, obwohl das Thema im Sopran in genau gleicher Form erklingt wie in Takt 1; ein kompositorisches Mittel, um den Affekt zu verstärken. Das Intervallverhältnis von Sopran zu Alt ist eine Sexte, von Tenor zu Bass eine Terz, dies sind kontrapunktisch die einzigen möglichen Intervalle, um Themen als canon sine pausa singen zu lassen. Aufgrund der Engführung und der canones sine S e i t e 11 | 24 pausa erklingt in allen Stimmen gleichzeitig das Thema, die kompakteste mögliche Anordnung. Das letzte Zwischenspiel in Takt 99 beinhaltet eine abschliessende Kadenz und endet in B-Dur mit punktierten ganzen Noten und einer Fermate. 5.4 Symmetrien der Themeneinsätze Auffällig ist, wie ausgeglichen und symmetrisch die 24 Themeneinsätze erscheinen:14 - Von den acht Einsätzen, in denen das Thema alleine spielt, kommen vier in originaler Form und vier Themen in umgekehrter Form vor. - Von den 16 Themen, die in Engführung gespielt werden, klingen acht in originaler Form und acht in umgekehrter Form. Betrachtet man die zwei Einsätze einer Engführung als Element, sind es auch acht, vier plus vier. - Zwei Themeneinsätze in originaler Form erklingen zusammen mit der Umkehrung als Engführungen. - Vier Themeneinsätze erklingen in Paaren als canones sine pausa, davon zwei in originaler Form, zwei in umgekehrter Form. - Von den sechs kompletten Durchführungen weisen zwei nur originale Formen, zwei nur umgekehrte Formen und zwei Durchführungen kombinierte Formen auf. 6 Analyse des Themas im Zusammenspiel mit anderen relevanten Stimmen 6.1 Der harmonische Kontrapunkt In diesem Kapitel wird der Zusammenhang mehrerer Stimmen untersucht. Es hat sich herausgestellt, dass eine reine Intervallanalyse bei J. S. Bach nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis führt; zu viele unerklärbare, dissonierende Intervalle treten auf. Die harmonische Ebene muss einbezogen werden, um dieses Problem zu lösen. Andreas Jacob beschreibt diese Kompositionsweise als den harmonischen Kontrapunkt:15 Nicht also die Abschwächung der harmonischen Wirkungen ist gemeint, sondern ihre ergänzende Durchdringung mit dem mehrstimmig-melodischen Element. Der lineare Kontrapunkt wird dadurch selbst zu einem harmonischen. Es existieren Stücke, die nur aus der Verzahnung verschiedener Prinzipien erklärbar sind, deren eigenwillige Linienführung aus der Harmonik generiert wird und vice versa. 14 15 (Bruhn, 2006 S. 554) (Jacob, 1997) S e i t e 12 | 24 Werden nun Intervalle untersucht und der harmonische Kontrapunkt einbezogen, ergeben sich folgende Gesetzmässigkeiten: - Aufgrund der Harmonie muss sich eine verminderte Quint nicht mehr zwingend nach aussen, sowie die übermässige Quart nicht mehr zwingend nach innen auflösen. - Bei Dominantakkorden (V7, VII7 in allen Umkehrungen) darf die Septime unvorbereitet erklingen, dadurch entsteht eine nicht vorbereitete verminderte Quint (oder im doppelten Kontrapunkt der Oktave eine nicht vorbereitete übermässige Quart) zwischen der Terz und der Septime. Bei einem VII7 Dominantakkord entsteht eine zusätzliche Dissonanz zwischen dem Grundton und der Quint. - In Moll beinhaltet die zweite Stufe einen verminderten Akkord, auch da entstehen unvorbereitete verminderte Quinten und übermässige Quarten. 6.2 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 6.2.1 Das Themengerüst Um die weitere Analyse zu vereinfachen, wurde das Thema in seinem Gerüst abgebildet: Verglichen werden nun die Intervalle, wenn das Thema zusammen mit dem Ks1 erklingt (Oktavdifferenzen ausser Acht gelassen): 6.2.2 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 in Originalgestalt 3 3 6 6 6 6 5 4 3 3 2 5- 6 b: (V 6 ) IV# 6 IV#6 5 4 S e i t e 13 | 24 6.2.3 Das Thema im Zusammenspiel mit dem Ks1 im doppelten Kontrapunkt der Oktave Der doppelte Kontrapunkt der Oktave wird abgebildet, weil J. S. Bach diesen Kontrapunkt in der Fuge verwendet (vgl. Takt 17). 6 6 3 3 3 3 4 5 6 6 7 4+ 3 b: (V2) IV#6 6.2.4 Fazit Ersichtlich ist, dass das Thema und das Ks1 während der ersten zwei Takte Tonleiterbewegungen ausführen, welche in Terz- oder Sextintervallen zusammenhängen. Durch den gehaltenen Ton im Ks1 in Takt 3 entsteht ein Quartdurchgang. In Takt 4 entstehen nicht vorbereitete Dissonanzen, wobei bei der Sekunde bzw. Septime ein chromatischer Durchgang im Kontrasubjekt vorliegt, die übermässige Quarte bzw. verminderte Quinte ist als Zwischendominante (B2) zu EsDur eingegliedert (Stufenanalyse unter der Akkolade). Der Quartsextakkord in Kapitel 6.2.2 ergibt sich durch die Stimmführung, auf Zählzeit 2,5 erklingt aber ein Sextakkord (vgl. Takt 15). 6.3 Das Thema in der Engführung Im nächsten Schritt werden die Intervalle bei einfacher Engführung verglichen. Wie im Kapitel 6.2.3 ersichtlich wurde, erklingt im doppelten Kontrapunkt der Oktave immer das Komplementärintervall zur Originalgestalt (Kapitel 6.2.2). Im doppelten Kontrapunkt der Oktave sind nur die Intervalle der Quart und Quint problematisch (Quartvorbereitung und Auflösung)16: „Am Unbedenklichsten sind die unvollkommenen Konsonanzen (Terz, Sext), deshalb werden sie am häufigsten angewendet.“17 16 17 (Tittel, 1959 S. 89) (Tittel, 1959 S. 90) S e i t e 14 | 24 6.3.1 Einfache Engführung in Originalgestalt 6 6 63 36 6 6 6 6 6 78 63 3 6 6.3.2 Einfache Engführung in der Originalgestalt und dem doppelten Kontrapunkt der Oktave 3 3 36 63 3 3 3 3 3 28 36 6 6 6.3.3 Fazit Die Septime bzw. Sekunde in Takt vier wird durch die Motivik korrekt als Durchgang behandelt. Auffällig ist, dass kein Quint- oder Quartabstand vorkommt, bis auf den Durchgang sind alles Konsonanzen. Quint- oder Quartabstände würden in der Engführung eine Veränderung des Themas erzwingen. Auffallend ist die Ähnlichkeit der Intervalle zu Kapitel 6.2.2 und 6.2.3. Es scheint, als wäre das Ks1 eine Variation des eng geführten Themas im doppelten Kontrapunkt der Oktave und als wäre es simultan komponiert worden. 6.3.4 Einfache Engführung in umgekehrter Gestalt 3 3 36 63 3 3 3 3 3 28 36 6 6 S e i t e 15 | 24 6.3.5 Einfache Engführung in der umgekehrten Gestalt und dem doppelten Kontrapunkt der Oktave 6 6 63 36 6 6 6 6 6 7 8 63 3 6 6.3.6 Fazit Die Intervalle von Kapitel 6.3.4 entsprechen den Intervallen von Kapitel 6.3.2 und die von 6.3.5 denen von 6.3.1. Dies bedeutet, dass jedes Thema, welches ohne Veränderung im doppelten Kontrapunkt der Oktave eng geführt werden kann, ohne Probleme umgekehrt eng geführt sowie umgekehrt im doppelten Kontrapunkt der Oktave eng geführt werden kann. Das dissonierende Intervall in Takt 4 wird als Durchgang korrekt behandelt. Auffällig ist, dass fast keine Dissonanzen auftreten; bei der Komposition des Themas muss J. S. Bach diese Art der Engführung berücksichtigt haben. Dieser reine Klang bei den Engführungen ist sehr aussergewöhnlich, denn Dissonanzen sind in dieser Zeit etwas Übliches (vgl. Engführung in der Fuge in EDur, BWV 872, Takt 1, canon sine pausa in der Fuge in dis-Moll, BWV 877, Takt 44; oder in anderen Stücken wie der Invention Nr. 1, BWV 772, Takt 1). Trotzdem ist der Gesamtklang nicht so rein, da sich die zwei anderen Stimmen oft mit den aufgeführten reiben, der harmonische Kontrapunkt wird aber eingehalten. 6.4 Das Thema in der originalen Gestalt mit der Umkehrung eng geführt Diese Gestalt erklingt in Takt 89 ff., die Gestalt von Takt 80 erfolgt im nachfolgenden Kapitel. Grund dafür ist die Tonart (b-Moll) und der Themeneinsatz im Bass, wodurch die Zusammenhänge leichter ersichtlich werden. 5- b: I 7 II 3 6 I 8 5- 3 7 5- 3 6 7 7 6 IV V I (V ) IV VII I 5 8 6 IV 6 I 4 4+ 5 4 4+8 6 4 II V I 3 II 3 4 7 6 II I (V6) IV 5 3 S e i t e 16 | 24 Bei dieser Zusammensetzung der Themen entstehen mehrere dissonierende Intervalle, welche sich in der Vorbereitung/Auflösung schwierig verhalten. Bei Tonleiterbewegungen im Terz- oder Sextabstand ist es unmöglich, eine Stimme umzukehren, ohne dissonante Intervalle zu erhalten. J. S. Bach löst das Problem, indem er geschickt harmonisiert und die Dissonanzen als Zwischenstufen mit Septime harmonisiert. Wie bereits erwähnt, tritt bei der Kontrapunkttechnik dieser Zeit dieses Phänomen oft auf. Die Dissonanzen werden aber korrekt mit einem Sekundschritt abwärts aufgelöst, auch wenn die Fortschreitung der Gegenstimme die gesittete Behandlung verschleiert. Die grün eingefärbten Stufen sind infolge der Vereinfachung nicht ersichtlich (vgl. Fuge Takt 89 ff.). Diese Kombination erklingt nicht im doppelten Kontrapunkt der Oktave: Die Auflösung der Dissonanzen wäre neben der Vorbereitung auch falsch und somit im Zusammenspiel, als auch auf harmonischer Ebene nicht erlaubt. 6.4.1 Die umgekehrte Gestalt mit der originalen Gestalt eng geführt 5- 2 6 7 As: V I V I 3 8 5 3 7 5- 6 4 #7 6 6 7 V VII I VI V 4 3 8 6 I V 6 4+ 5 4 4+8 6 6 VI 4 2 V I V V 3 3 (V6) II 5 Im Vergleich zum vorhergehenden Kapitel ist ersichtlich, dass sich die Beispiele durch einen Stimmtausch und Umkehrung der gespielten Elemente unterscheiden. Es erklingen die gleichen Intervalle, das gleiche Phänomen tritt ein, wie es in Kapitel 7.3.6 geschildert wird; verschieden sind aber die Harmonisierungen, welche J. S. Bach aufgrund der verschiedenen Tonarten verwendet. 6.4.2 Fazit Die in diesem Kapitel aufgeführten Engführungen sind kompositionstechnisch die schwierigsten dieser Fuge. Dissonante Intervalle sind unvermeidbar, diese Dissonanzen werden aber korrekt verwendet. Werden nur die Themen verglichen, geschieht in Takt 80 ein Bruch: Die musikalische Strenge wird gelockert, dafür wird das Zusammenspiel der Themen immer komplexer. S e i t e 17 | 24 6.5 Das Thema als canon sine pausa in eng geführter Gestalt ST 4+ 6 8 4+ 6 2 4+ 6 8 3 5- 3 5 5- 6 4 AB 8 5- 8 3 6 4+ 6 8 3 5- 3 5- 5- 8 4 8 3 4 4 6 b: I AT SB 6 II 6 I 6 6 8 8 4 6 𝑏 II VII I# V VII 3 5 3 6 8 4+3 3 6 8 4 6 6 I 4 8 II 6 6 I 8 5 4 7 6 7 7 VII I II VII V V 3 I 3 8 3 3 8 4 4 6 3 7 6 3 4 3 Die letzte Durchführung hat folgende Eigenschaften: - Sopran/Alt erschallen bis zum dritten Schlag in Takt 2 in Sexten, danach in Terzen. - Tenor/Bass bilden ein Terzverhältnis, eine Ausnahme ist der Schluss: Die Themen werden nicht komplett ausgespielt, sondern bilden eine Kadenz, welche auf Takt 5 hinführt. - Sopran und Tenor sind die Referenzstimmen für Alt und Bass und bilden den doppelten Kontrapunkt der Oktave von Kapitel 6.4 und 6.4.1, wodurch im Sopran/Tenor die Komplementärintervalle erklingen. - Die Intervallverhältnisse von Alt/Tenor und Sopran/Bass bilden keine Muster, da sie sich anhand der Referenzstimmen bilden. 6.5.1 Fazit Die Harmonisierung dieser Durchführung ist sehr ähnlich wie diejenige von Kapitel 6.4, auffallend ist jedoch, dass die V-I Kadenz bis auf die abschliessende Kadenz vermieden und durch eine VII–I Kadenz ersetzt wird. Dadurch verstärkt sich die Abschlusswirkung der V-I Kadenz. An diesem Beispiel ist der harmonische Kontrapunkt wunderbar ersichtlich, da alle vier Stimmen relevant sind und zusammen die Harmonien bilden. S e i t e 18 | 24 7 Analyse von bekannten Musiktheoretikern Wie aus dem Literaturverzeichnis zu entnehmen ist, wurde diese Fuge von vielen Musikwissenschaftlern analysiert; besonders erwähnenswert sind folgende zwei Personen. 7.1 Die Analyse von Ferruccio Busoni Ferruccio Busoni ist einer der wenigen Musiktheoretiker, der sich mit den Engführungen und Umkehrungen dieser Fuge beschäftigt hatte und fand heraus, dass das Thema in jedem Intervall eng geführt werden kann, verändert werden muss nur der zeitliche Abstand der beiden Themeneinsätze. Das bedeutet, dass der Comes bei der Engführung in der None auf Zählzeit 2 startet, in der Oktave auf Zählzeit 3, in der Septime auf Zählzeit 4 usw.18 Dies ist ein Phänomen, welches allgemein bei Tonleiterbewegungen auftritt. Weiter erkennt er aber, dass als Fundament der Engführungen ein Kontrapunkt der Dezime als canon sine pausa zugrunde liegt, also die Form, die in der letzten Durchführung in Tenor/Bass auftritt. Busoni findet ausserdem heraus, dass mit dem Thema noch weitere kontrapunktische Varianten möglich sind; warum J. S. Bach diese nicht benutzt, bleibt ungeklärt. Der Grund könnte die Symmetrie der Themeneinsätze sein, welche durch zusätzliche Einsätze zerstört worden wäre. 7.2 Die Analyse von August Halm In dem Buch „Von zwei Kulturen der Musik“ analysiert A. Halm das Fugenthema äusserst detailliert und qualitativ sehr gut, er begründet jeden Ton und jede Pause des Themas so genau, dass man meinen könnte, J. S. Bach habe ein unmenschlich herausragendes Kompositionstalent und A. Halm möchte jeder möglichen Intention von J. S. Bach gerecht werden. Seine Analyse, sowie Schlussfolgerungen dieser Arbeit sind aber nur subjektive Auslegungen, die August Halm so begründet: „Niemand weiss, was damals in dem historischen Menschen Bach vorgegangen ist. Vermute also jeder darüber, so viel und was ihm beliebt.“19 18 19 (Busoni, 1915 S. 29) (Halm, 1913 S. 218) S e i t e 19 | 24 8 Schlussfolgerungen 8.1 Über die Komposition Die Komplexität steigert sich von Durchführung zu Durchführung, wobei viele Teile bereits zuvor in vereinfachter Form aufgetreten sind. Dies lässt vermuten, dass der Komponist zuerst die letzte Durchführung komponiert hatte und daraus die verschiedenen Aufspaltungen ableitete; die Analyse von Busoni erhärtet diese These. So schreibt auch Beethoven in seinen Studien über Kontrapunkt: „Der Hauptvortheil bei Erfindungen eines Fugenthema’s besteht darin, dass man gleich anfangs untersuche, ob es geeignet sei zum restringiren, vergrössern, verkleinern, zertheilen, umkehren, u. dgl.“20 Aussergewöhnlich ist der einheitliche Aufbau der gesamten Fuge, sowie die kontrapunktische Strenge der Themenzusammenspiele der ersten 80 Takte (wobei diese Strenge beim Hören durch die anderen Stimmen verdeckt wird; sowohl durch die Kontrasubjekte, als auch durch die Kontrapunkte in den themenfreien Stimmen), danach wird das Feuerwerk gezündet und J. S. Bach zeigt sein ganzes Können. 8.2 Komposition eines Themas mit maximaler Variabilität - Damit ein Thema eng geführt werden kann, gibt es zwei besonders günstige Mittel: Tonleiterbewegungen (wovon J. S. Bach in dieser Fuge Gebrauch macht) oder Terz-, Quint- und Sextbewegungen, bei denen die eng geführte Stimme die Terz, Quint (nur einzeln) oder Sext bildet. Ein wunderbares Beispiel dafür ist die Fuge in D- Dur, BWV 874: Fugenthema Engführung in Takt 44 Die Alteration zum Gis ist nicht nötig und wird nur aus harmonischen Gründen verwendet. - Wie bereits in Kapitel 6.3.6 erwähnt, entstehen bei Themen, welche in der Engführung reibungslos funktionieren, auch in der Umkehrung keine Komplikationen (vgl. ergänzend Fuge in d-Moll, BWV 875, Takt 17 ff.). - Probleme entstehen bei Engführungen mit originaler und umgekehrter Gestalt, weshalb diese Form selten komponiert wird. Ein erfahrener Komponist ist 20 (von, 1832) S e i t e 20 | 24 allerdings in der Lage, die Themen so zu konstruieren, dass die störenden Intervalle durch die richtige Harmonisierung entschärft werden können. Ist das nicht der Fall, wird ein Thema leicht verändert und die störenden Zusammenklänge werden umgangen (vgl. die Fuge in G-Dur, BWV 860, Takt 77ff.). - Bei augmentierten oder diminuierten Themen im Zusammenspiel mit der originalen Gestalt ist die Simultankonzeption das wichtigste kompositorische Mittel um diese Form friktionsfrei klingen zu lassen (vgl. Fuge in c-Moll, BWV 871, Takt 14 ff.). - Bei Doppel- und Tripelfugen wird das zweite oder dritte Thema wie ein Kontrasubjekt zum Dux komponiert, wodurch die Synthese problemlos funktioniert (vgl. Fuge Fuge in gis-Moll, BWV 887, Takt 1, Takt 61 und Takt 97 ff.; alternativ Fantasie und Fuge in a-Moll, BWV 904, Fuge Takt 1, Takt 37 und Takt 61 ff.) 8.3 Abschliessende Erkenntnisse Die Fähigkeit, Themen zu komponieren, welche in allen erdenklichen Formen zusammen klingen können, benötigt viel Erfahrung in der Komposition dieses Stiles. Ob J. S. Bach bei dieser Fuge die letzte Durchführung als Erstes komponiert hatte, bleibt ungeklärt. Gewiss wurden aber die Engführungen/Umkehrungen von Anfang an berücksichtigt. Generell kann man sagen, der Komponist entscheidet vor der Themenbildung, in welchen Gestalten die Themen interagieren sollen und konstruiert mit dieser Basis ein Thema. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wurden damals alle Stimmen harmonisch skizziert, danach rhythmisch und melodisch variiert und gegeneinander kontrastiert.21 Von J. S. Bach gibt es jedoch keine derartigen Skizzen, man muss wohl von dem unmenschlich herausragenden Kompositionstalent ausgehen, welches in Kapitel 7.1.2 prophezeit wird. Bemerkenswert ist die mathematisch klare Konstruktion dieser Fuge, sicherlich war die Themenkonstruktion einer der Schwerpunkte, wenn J. S. Bach diese Fuge im Unterricht benutzte. Auch wurden dem Schüler die Grenzen in der Komposition und Virtuosität dieses Stiles aufgezeigt, sowie der Grad, den der Schüler zu erreichen hatte. Viele Schüler haben dieses Level nicht erreicht, sicher aber sein Sohn C. P. E. Bach und die Schüler J. C. Altnikol und J. L. Krebs. Wie oft J. S. Bach diese Fuge im 21 (Lobe, Zweite Auflage 1875 S. 240) S e i t e 21 | 24 Unterricht benutzte und welchen Stellenwert dieses Stück für ihn hatte, ist nicht geklärt. 9 Ausblick Eine genauere Analyse der Fuge würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Einerseits könnte das Thema noch genauer analysiert werden, darauf wurde verzichtet, weil A. Halm dies bereits hervorragend und sehr ausführlich getan hat. Andererseits könnten alle möglichen kontrapunktischen Varianten des Themas aufgezeigt und analysiert werden und der Kompositionsstil, sowie die Themenvariabilität mit anderen Komponisten verglichen werden. S e i t e 22 | 24 10 Literaturverzeichnis Billeter Bernhard Bachs Klavier- und Orgelmusik [Buch]. - Winterthur/ Schweiz : Amadeus Verlag, 2010. Bruhn Siglind J.S. Bachs Wohltemperiertes Klavier, Analyse und Gestalt [Buch]. Waldkirch : Edition Gorz, Fachverlag für Geisteswissenschaften, 2006. 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Lehrbuch der musikalischen Komposition [Buch]. - Leipzig : Breitkopf und Härtel, Zweite Auflage 1875. Schubart Christian Friedrich Daniel Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst [Buch]. Wien : [s.n.], 1806. Tittel Ernst Der Neue Gradus, Lehrbuch des Strengen Satzes nach Johann Joseph Fux [Buch]. - Wien : Doblinger Verlag (Bernhard Herzmansky), 1959. von Ludwig van Beethoven / Ignaz Ritter Ludwig van Beethoven's Studien im Generalbasse, Contrapunkte und in der Kompositionslehre [Buch]. - Leipzig : Schuberth & Comp., 1832. S e i t e 23 | 24 11 Anhang S e i t e 24 | 24