Stefan Schmidl MUSIKGESCHICHTE III - STICHWORTSKRIPTUM 1.Vorlesung (7.10.2009): Oper der italienischen Jahrhundertwende Italien nach 1860: Politik und Geschmack 1860 wird Italien zu einem Nationalstaat geeint. Der neue Staat ist aber keineswegs stabil. Der bürokratische Aufwand, die Kosten eines eigenen Heeres – das alles verschuldet das neue Königreich Italien: Die sozialen Bedingungen verschlechtern sich in Folge derart, dass bereits Ende der 1860er Jahre jedes Jahre mehr als 100.000 Italiener auswandern (meistens in die USA). Am Ende des 19. Jahrhunderts sind es dann bereits mehr 300.000 Auswanderer pro Jahr. Dieser Landflucht versuchte die italienische Regierung mit einer „großen Politik“ zu begegnen, einer Politik, die vor allem in der Eroberung von Kolonien bestand (hauptsächlich in Afrika: Eritrea und Süd-Somalia in den 1880er Jahren, Libyen 1912). Die Kolonien-Politik Italiens belastete den Staat jedoch mehr als sie „Gewinn“ abwarf. Die Gesellschaft des geeinten Italien brachte eine neue Klasse hervor, die wiederum einer neuen Geisteshaltung verpflichtet war: dem Positivismus. Vor 1860 waren die italienischen Staaten im Grunde bäuerliche Gesellschaften, die von Aristokratien beherrscht wurden. Mit der Einigung wurde nun das Bürgertum zur entscheidenden Klasse, indem es sowohl die Regierung stellte sowie Bürokratie und Wirtschaftsleben dominierte. Die positivistische Überzeugung des Bürgertums wandte sich gegen das Spekulative, gegen das Religiöse und ließ einzig Wissenschaft und Fortschrittsglauben gelten. Auf den Geschmack dieser neuen Klasse reagierte schließlich auch die Kunstindustrie. Der Positivismus übte bald auch auf die Literatur Einfluss aus, vor allem auf den Schriftsteller Émile Zola, der den französischen Naturalismus begründete. Die Grundannahme des Naturalismus lässt sich etwa zusammenfassen mit: Das Leben ist, was es ist. Diese Maxime wurde auch für die Oper fruchtbar. Während in früheren italienischen Opern des 19. Jahrhunderts oft eine Moral der Handlung suggeriert wurde, begannen italienische Dichter ab den 1880er Jahren immer mehr, sich auf die reine Beschreibung von Handlungen und Milieus zu konzentrieren. Sie waren dabei wiederum beeinflusst von französischen Vorbildern – besonders von Bizet und seiner Oper Carmen (1875), aber auch von Jules Massenet. Besonders die sizilianischen Schriftsteller Giovanni Verga, Luigi Capuana und Federico De Roberto trieben das veristische, also „wahrhafte“ Drama voran. 1 Diese Entwicklung war eine Reaktion jüngerer Kreativer auf die zunehmende Krise des italienischen Theaters, der italienischen Oper in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nicht zuletzt war sich Verdi selbst der Notwendigkeit einer Neuorientierung bewusst: Zwischen seiner Aida (1871) und dem Otello (1887) liegen immerhin 16 Jahre Schaffenspause. Die Gruppe jüngerer italienischer Komponisten der Jahrhundertwende nennt man auch Giovane Scuola (junge Schule). Zunächst sind es aber die Musikdramen Richard Wagners, die für italienische Opernexperimente Paten standen: Deutschland-Mode in der italienischen Oper Vorreiter in dieser Hinsicht war Arrigo Boito (1842-1918), wie Wagner Dichter und Komponist in einer Person. 1868 versuchte er, Wagnersche Techniken in die italienische Oper einzubringen: Mefistofele (nach Goethes Faust) war zunächst ein Misserfolg an der Mailänder Scala. Boito hielt dennoch weiterhin an Wagner fest, übersetzte u.a. Tristan und Isolde für die italienische Erstaufführung in Bologna, die zahlreich nachgespielt wurde und die zunehmende Wagner-Faszination des italienischen Publikums zeigt: Boito war erst scharfer Kritiker von Verdi, später Librettist von seinen zwei letzten Opern Otello und Falstaff (1893). Ebenfalls deutsche Sujets griff Alfredo Catalani (1854-1893) auf: Loreley (1890, märchenhaft-mythologisch) und La Wally (1892, tragische Liebesgeschichte in Tiroler Bergbauernmileu, spektakulärer Lawinenabgang). Pietro Mascagni (1863-1945) folgte der Mode mit L'amico Fritz (1891) und Guglielmo Ratcliff (1895, nach Heinrich Heine). 2 Hauptwerk der italienischen Deutschlandbegeisterung war schließlich die Oper Germania (1902) von Alberto Franchetti (1860-1942): Spielt in deutschen Befreiungskriegen gegen Napoleon und feiert den deutschen Patriotismus: Bsp.1: Alberto Franchetti: Germania (1902), Studenti! Udite! Ein noch späteres Werk der italienischen Deutschlandmode stammt von Ruggiero Leoncavallo (1857-1919): Der Roland von Berlin (1904), im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. geschrieben, sowohl in Deutschland als auch in Italien ein Misserfolg. Mit dem geänderten politischen Klima zwischen Italien und Deutschland bzw. Österreich-Ungarn, von dem Italien wichtige Gebiete beanspruchte, änderte sich auch die Darstellung des „Germanischen“. Italo Montemezzis (1875-1952) Oper L´amore dei tre re (1913) ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Die Oper spielt in einem unbestimmten Frühmittelalter. Der Deutsche Archibaldo hat das norditalienische Königreich Altura erobert und zum Zweck der Befriedung des Landes seinen Sohn Manfredo mit einer italienischen Prinzessin Fiora verheiratet, die jedoch den rechtmäßigen Erben des Thrones, Avito, liebt. Diese Konstellation endet erwartungsgemäß blutig. Der Subtext der Oper ist im Kontext seiner Zeit bemerkenswert – in Archibaldo´s Schilderung seiner gierigen Invasion Italiens schwingt das bedrohliche Potential mit, das das italienische Publikum zum Zeitpunkt der Uraufführung mit Deutschland und Österreich-Ungarn verband. Letztendlich sollte Italien im Ersten Weltkrieg gegen beide Staaten kämpfen. 3 Bsp.2: Italo Montemmzi: L´amore dei tre re (1913), Italia! Verismo Diejenige Opernform, die allerdings die dominierende der italienischen Jahrhundertwende werden sollte, war die Verismo-Oper, die ihren Durchbruch mit der Uraufführung von Mascagni´s Operneinakter Cavalleria rusticana (1890) erlebte. Mascagnis Oper war in einem Wettbewerb des Verlegers Eduardo Sonzogno mit dem ersten Preis ausgezeichnet worden und sogleich in Rom in Szene gesetzt worden. In Cavalleria rusticana wird gemäß den Grundsätzen des Naturalismus eine tödlich endende Geschichte aus einem sizilianischen Bauerndorf erzählt. Die Unmittelbarkeit der musikalischen Schilderung (sprunghafte geführte Singstimmen, massive Orchestrierung) war innovativ genug, um der neuen Richtung den Weg zu ebnen. Mascagni selbst wandte sich vom Verismo schon bald ab: − L´amico Fritz (1891) ist ein lyrisches Drama um die Heirat eines Jungesellen, filigrane Orchestrierung − Iris (1898) nimmt die japanische Thematik von Puccinis Madama Butterfly vorweg und ist der exotischen Mode der Jahrhundertwende verpflichtet 4 − Le maschere (1901), Versuch einer Wiederbelebung der commedia dell´arte, großer Mißerfolg − Amica (1905), Bauerndrama, rhythmische Finessen, WagnerEinfluss − Isabeau (1911), symbolistisches Drama unter Einfluss der Impressionisten und Richard Strauss, in Buenos Aires uraufgeführt, dort dauerhafter Erfolg − Parisina (1913), nach einem Libretto von Gabriele d´Annunzio, wieder symbolistisch, bemerkenswerter Einsatz des gregorianischen Chorals, kurzzeitiger Erfolg − Si (1919), Operette unter Einfluss von Franz Lehár − Il piccolo Marat (1921), Revolutionsdrama, avancierte Harmonik − Nerone (1935), Spätwerk, Huldigung an Mussolini, Betonung der Melodik Leoncavallo legte zwei Jahre nach Cavalleria rusticana die zweite veristische Oper vor, die ein Welterfolg wurde und heute noch immer zusammen mit der Cavalleria gespielt wird: Pagliacci (1892). Es ist dies eine Geschichte aus dem Milieu fahrender Schauspieler. Der Prolog von Pagliacci enthält das Manifest der italienischen veristischen Oper – der Dichter, verkörpert von einem Protagonisten des Stücks, tritt vor das Publikum und verkündet, die nun folgende Handlung folge einer wahren Begebenheit. Nach Pagliacci konnte Leoncavallo nur noch wenige Erfolge erzielen: schreibt zeitgleich mit Puccini eine La Bohème (1897), die sich aber langfristig nicht behaupten kann. Erfolg mit Zazà (1900), einer sentimentalen Geschichte einer französischen Varietésängerin, die erfährt, dass ihr Geliebter verheiratet ist und ein Kind hat. Die Schlüsselszene des Werkes ist der Dialog zwischen Zazá und Totò, dem Kind, eine Szene, die Leoncavallo sehr geschickt dem bürgerlichen Geschmack um 1900 angepasst hat. Totò ist als Sprechrolle konzipiert. Bsp.3: Ruggiero Leoncavallo: Zazà (1900), Szene Zazà/Totò 5 6 Im Zuge seines Opern-Wettbewerbs entdeckte Sonzogno den jungen apulischen Komponisten Umberto Giordano (1867-1948) und bestellte bei ihm eine komplette veristische Oper: Mala vita (1892) – eine Geschichte im Untergrund Neapels. Seine größten Erfolge sollte Giordano dann allerdings mit drei späteren Opern verbuchen: − Andrea Chénier (1896), einer dramatischen Liebesgeschichte inmitten der französischen Revolution − Fedora (1898), einer kolportagehafte Geschichte zweier Menschen zwischen Terrorismus, Rache und Liebe in Rußland und der Schweiz. Aktuelles Thema: 1881 fiel der russische Zar Alexander II. einem Sprengstoffattentat zum Opfer, 1900 wird der italienische König Umberto I. von einem Anarchisten ermordet. − Siberia (1903), einer Liebes- und Erlösungsgeschichte wiederum im zaristischen Rußland, vage nach Leo Tolstoj. Schluss des zweiten Aktes von Siberia zeigt typische Merkmale der Verismo: eine einzig auf Effekt ausgerichtete dramaturgische Situation (der Offizier Vassili wird nach Sibieren deportiert, seine Geliebte Stephana beschließt, aus Liebe mit ihm zu gehen), expressive Gesangslinien, massiver Orchestersatz, kaum Subtilitäten. Bsp.4: Umberto Giordano: Siberia (1903), Ende des zweiten Aktes 7 Sonzogno förderte auch den kalabresischen Komponisten Francesco Cilea (1866-1950), der mit L´arlesiana (1897), einem lyrisch-veristischen Drama einen ersten Erfolg feiern konnte, besonders nachhaltig aber mit Adriana Lecouvreur (1902, Oper über französische Schauspielerin des 18. Jahrhunderts), reüssierte. Cilea ist zurückhaltender, lyrischer als Mascagni und Giordano. Nach Misserfolg seiner Oper Gloria (1907), einer Tragödie im mittelalterlichen Siena, zieht er sich zurück. 8 Als Reaktion auf die erfolgreiche Tätigkeit Sonzognos nahm sich dessen Konkurrent Giulio Ricordi des jungen Giacomo Puccini (1858-1924) an und baute ihn systematisch zum Nachfolger Verdis auf. Puccini wird zum prägenden Künstler der italienischen Jahrhundertwende, bis heute ist er einer der meistgespielten Opernkomponisten. Sehr von musikalischem Impressionismus beeinflusst. Werke: - Jugendopern: Le villi (1884, Feengeschichte) und Edgar (1889, mittelalterliche Schauergeschichte) Manon Lescaut (1893) – Liebesgeschichte aus dem 18. Jahrhundert, effektvolle Bilder (Ende in der amerikanischen Wüste), großer Erfolg La Bohème (1896), Pariser Drama um zwei Liebende, verklärend statt realistisch Tosca (1900), schnell ablaufendes Drama in Rom 1800, spektakuläre Bühnensettings, Leitmotivtechnik! Madama Butterfly (1904), zunächst Durchfall, erst nach Umarbeitung Welterfolg. Impressionistisch La fanciulla del west (1910), Wildwestoper, in New York mit Caruso uraufgeführt, Stimmungswerte La Rondine (1917), Operette Il Triticco (1918), 3 Einakter: Il tabarro (spätveristisch), Suor Angelica (Nonnendrama, lyrisch-sentimental), Gianni Schicci (Komödie – einziger Erfolg der drei) Turandot (1926), exotische Märchengeschichte, unvollendet, von Franco Alfano vollendet. Zeigt die Beschäftigung Puccinis mit der Moderne: Strawinsky-Einfluss, Polytonalität Der Versuch des Verlagshauses Ricordi, einen Nachfolger für Puccini, der sich immer mehr in Schaffenskrise befand, aufzubauen, scheiterte. Kurzzeitig wurde Riccardo Zandonai (1883-1944) gefördert: Schüler Mascagnis, von Richard Strauss und Claude Debussy beeinflusst, außerordentlich komplex gearbeitete Orchestersätze. Erster Erfolg Conchita (1911), Carmen-Anklänge, Einfluss der DekadenzLiteratur. Bsp.5: Riccardo Zandonai: Conchita (1911), Ier dalla fabbrica 9 Noch größerer Erfolg mit Francesca da Rimini (1914) nach DekadenzAutor Gabriele d´Annunzio: mittelalterliche Liebesgeschichte aus Dante´s Göttlicher Komödie. Oper spekuliert mit Nervenkitzel: Verbotene Liebe, Sadismus, Gewalt und verschwenderische Ausstattungen. Die musikalische Palette von Zandonai ist breit: Impressionismus, veristische Melodieführungen, Richard Wagner. Virtuos orchestriert, an Richard Strauss angelehnt. Folgende Werke Zandonai´s konnten sich nicht mehr durchsetzen. Mitglieder der italienischen Giovane Scuola widmeten sich aber nicht ausschließlich der Oper: ein Vertreter der Gruppe wurde Priester und schrieb ausschließlich Kirchen- und Kammermusik: Lorenzo Perosi (1872-1956), wurde 1898 Kapellmeister der päpstlichen Musikkapelle auf Lebenszeit. Verfasste zahlreiche Oratorien, in denen er den Stil der Giovane Scuola mit älteren kirchenmusikalischen Vorbildern, aber auch Wagner verband. 10