Spekulation und Erfahrung Texte und Untersuchungen zum Deutschen Idealismus Herausgegeben in Verbindung mit den Institutionen Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum Istituto Italiano per gli Studi Filosofici, Napoli Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Abteilung II: Untersuchungen Band 16 Untersuchungen zum Idealismus Salomon Malmons von Achim Engster frommann-holzboog 1990 Redaktion: Wilhelm G. Jacobs, München Giuseppe Orsi, Napoli Otto Pöggeler, Bochum Wolfgang H. Schrader, Siegen Dieser Band wird vorgelegt von der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Engstler, Achim: Untersuchungen zum Idealismus Salomon Maimops / von Achim Engstler. — Stuttgart-Bad Cannstatt : frommann-holzboog, 1990 (Spekulation und Erfahrung : Abt. 2, Untersuchungen ; Bd. 16) ISBN 3-7728-1174 -.,6V £; NE: Spekulation und Erfahrung / 02 © Friedrich Frommann Verlag • Günther Holzboog Stuttgart - Bad Cannstatt 1990 Satz und Druck: Offizin Chr. Scheufele, Stuttgart Einband: Ernst Riethmüller, Stuttgart Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit neutralem pH-Wert Inhalt Vorwort ........................................ 9 Abkürzungen und Zitierweise ....................... 11 Einleitung ...................................... 13 I. Der Problemkontext von Maimons idealistischer Theorie ... 27 5 1. § 2. § 3. Das „wichtige Problem quid juris" als zentrales Thema des „Versuchs über die Transcendentalphilosophie" ... Das „wichtige Problem quid juris" und Maimons idealistische Theorie .......................... Erläuterung der Problemstellung ................ 27 45 61 II. Maimons Darstellung und Kritik der Kantischen Lösung des „Problems quid juris .............................. 71 4. Kants Schematismuslehre in Maimons Darstellung ... ant-Interpretation ..... 5. Bemerkungen zu Maimons Kant-Interpretation 6. Maimons Kritik der Kantischen Lehre ............. 71 81 96 111. Maimons idealistische Theorie ....................... 124 .. ... 7. Maimons Alternative zur Kantischen chematismuslehre ........................... Schematismuslehre B. „Rationaler Dogmatismus" ..................... 9. Schwierigkeiten der Maimonischen Theorie ........ ......... 124 143 165 IV. Maimons skeptische Betrachtung des Problems .......... 190 § 10. „Empirischer Skeptizismus" .................... 190 F 11. Die Unbeantwortbarkeit der Frage quid f acti ........ 204 12. Konsequenzen des Zweifels für Maimons idealistische Theorie .................................... 219 V. Zu Maimons Denkart und seiner Stellung zwischen Kant und Fichte......................................... 243 Literatur.......................................... 261 Namenregister ..................................... 270 Sachregister ........................................ 273 Einleitung Die Auffassung, daß Salomon Maimon (1753-1800)' als erster der frühen Kant-Kritiker „Ernst mit dem idealistischen Standpunkt"z macht und daß sich sein Idealismus „auf die Einsicht in die Unmöglichkeit des Dinges an sich 3 gründet, ist in der philosophischen Forschung unbestritten. Der Erweis der Widersprüchlichkeit des Kantischen Ding-ansich-Begriffs bildet dieser Auffassung nach den Ausgangspunkt und das Zentrum von Maimons Kritik an Kants theoretischer Philosophie.' Maimon führe den Nachweis, daß sich der gegebene Stoff unserer Vorstellungen nicht widerspruchsfrei als Wirkung einer Affektion unseres Gemüts durch unabhängig von uns existierende Dinge erklären lasse. Das „Gegebene" könne ihm zufolge vielmehr „nur durch den niedrigsten Grad der Vollständigkeit des Bewußtseins definiert werden"; 5 diesen niedrigsten Bewußtseinsgrad nenne er „Differential des Bewußtseins". Maimons Begriff des Differentials ersetze somit „den " 1 Maimons Geburtsdatum ist nicht genau bekannt, es wird zumeist mit 1754 angegeben. Anhand von Bendavids Schrift „über Salomon Maimon", einem Brief Maimons an Goethe und seiner „Lebensgeschichte" läßt sich jedoch 1753 als das wahrscheinlichere Datum erschließen (vgl. Schulz, Maimon und Goethe, 272 Anm. 1; Batscha, Nachwort [zu Maimons „Lebensgeschichte"], 390f. Anm. 50; anders Atlas, From critical to speculative Idealism, 3 Anm.5, der 1752 annimmt). Maimons Geburtsname ist Salomon ben Josua; den Beinamen ,Maimon hat er, als Zeichen seiner Verehrung für Moses Maimonides, in Deutschland angenommen (vgl. dazu Schulz, Maimon und Goethe, 272 Anm. 1 und Bergman, Philosophy of Solomon Maimon, 2 Anm. 2, 6). 2 N.Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, 21. Vgl. Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, 207; Kronenberg, Geschichte des Deutschen Idealismus, 164 f. 3 Fischer, Fichtes Leben, Werke und Lehre, 70. Vgl. etwa auch Rubin, Erkenntnistheorie Maimons, 17. 4 Vgl. neben Fischer (s. vorige Anm.) noch Frischeisen-Köhler/Moog, Philosophie der Neuzeit, 611. Weitere Belege unten in §2. 5 Windelband, Lehrbuch, 498. 13 Kantischen Begriff der Affektion durch die Dinge an sich" •6 Aus der Annahme, das Gegebene sei ,Gegebenes` nicht dadurch, daß es als Wirkung unabhängig von uns existierender Dinge auf unser Gemüt gegeben sei, sondern dadurch, daß es eine mit dem geringsten Grad von Spontaneität verbundene Vorstellung darstelle, folge, daß dies Gegebene seinen Grund nicht in unabhängig vom Erkenntnissubjekt exi stierenden Dingen habe. Vielmehr habe nach Maimon „die Erscheinungswelt ... im Bewußtsein ihren Grund" ;' er behaupte, die Erscheinungen seien ein „wirkliches Produkt unseres Denkens" •8 Das Bemühen um eine „Umbildung des in seiner kantischen Fassung unhaltbaren Ding-an-sich-Begriffes " 9 führe Maimon so zum „strengsten Idealismus", 10 der in Verbindung mit dem Begriff des Differentials in seinem ersten Buch, dem „Versuch über die Transcendentalphilosophie" (1790), formuliert werde. Mit seiner idealistischen Theorie antizipiere Maimon in Grundzügen die Lehre Fichtes," ja die sachlichen Übereinstimmungen gingen so weit, daß es „kaum einen besseren Zugang" zum Verständnis der Fichteschen Wissenschaftslehre gebe „als das Studium der Maimonschen Transzendentalphilosophie". 12 Von geringfügigen Modifikationen abgesehen, vermitteln seit Kuno Fischers Vorgang praktisch alle einschlägigen Arbeiten dieses Bild des Idealismus Salomon Maimons. 13 6 Kuntze, Philosophie Maimons, 331. Vgl. Rubin, Erkenntnistheorie Maimons, 18; Kroner, Von Kant bis Hegel 1,336; Siemek, Idee des Transzendentalismus, 48 f. 7 Kuntze, Philosophie Maimons, 331. 8 Rosenthal, Maimons Versuch, 239. Vgl. Kuntze, Philosophie Maimons, 334; N.Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, 22; Baumanns, Fichtes Wissenschaftslehre, 55 f. 9 Windelband, Lehrbuch, 497f. 10 Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, 207. 11 Vgl. Dilthey, Rostocker Kanthandschriften, 605 f.; Kuntze, Philosophie Maimons, 339; Wegener, Transcendentalphilosophie Maimons, 48; Lehmann, Geschichte der nachkantischen Philosophie, 31. Diese Position wird unten in § 8 ausführlicher erörtert. 12 Kroner, Von Kant bis Hegel I,353. 13 Diese Feststellung gilt für die einschlägigen Philosophiegeschichten und Handbücher, darüber hinaus auch, jedenfalls soweit ich sehe, für die meisten Arbeiten zur Entwicklungsgeschichte der Wissenschaftslehre Fichtes (vgl. z. B. Gueroult, Doc- 14 Die gleiche Einhelligkeit besteht darüber, daß Maimons philosophische Schriften im allgemeinen und sein erstes Buch im besonderen ungemeine Verständnisschwierigkeiten aufwerfen. Diese Schwierigkeiten haben schon renommierte Zeitgenossen Maimons an einer eingehenderen Beschäftigung mit seinem „Versuch über die Transcendentalphilosophie" gehindert. So schreibt beispielsweise Karl Leonhard Reinhold in einem Brief an Maimon: „Ich habe die mir von der Litteraturzeitung schon vor zwei Jahren angelegene Recension Ihrer Transzendentalphilosophie ablehnen müssen, weil ich das wenigste von diesem Buche verstehen konnte, und Schmid, dem die Rezension nach mir aufgetragen wurde, hat das Buch ebenfalls mit dem Geständniß zurückgegeben, daß er es nicht verstehen könne." (IV,237) 14 Kiesewetter teilt Kant seinen bei der Lektüre der Maimonischen „Transcendentalphilosophie" empfundenen Unwillen mit, 15 und der zeitgenössische Philosophiehistoriker Eberstein sieht sich außerstande, „eine allgemeine Übersicht dieses dunkeln Versuchs zu geben". 16 Holst, soweit ich sehe neben Andreas Riem der einzige Zeitgenosse, der sich öffentlich zu Maimons „Versuch über die Transcendentalphilosophie" äußert, bezeichnet das Buch als „ein sich überall widersprechendes Werk"," dessen Vortrag „außerordentlich vag und inconsistent" sei,' 8 und er faßt seinen Eindruck in dem Satz zusammen: „man möchte sagen: ein Chaos von Vorstellungen". 19 Ein halbes Jahr... trine de la Science I,110 ff.; Durante, Gli Epigoni di Kant, 71 ff.; Léon, Fichte et son temps, 226; Pareyson, Fichte, 87 f.; Siemek, Idee des Transzendentalismus, 48 ff. und 155) und für die Mehrzahl der wenigen Monographien zur Philosophie Maimons. 14 Brief an Maimon vom 22. August 1791, den Maimon 1793 publizierte (ich zitiere nach Maimons Wiedergabe). Von der Allgemeinen Literaturzeitung selber erhielt Maimon die Auskunft, „drei der spekulativsten Denker" hätten die Anzeige des Werks abgelehnt, „weil sie nicht vermögend wären, ... in die Tiefen" seiner „Untersuchungen" einzudringen (1,563). 15 Brief an Kant vom 15. Dezember 1789; Kant, Briefwechsel, AA XI, 115. 16 Eberstein, Geschichte der Logik und Metaphysik 11,397. 17 Holst, Uber das Fundament, 13. 18 Holst, a.a.O., 56. 19 Ebd. Eberstein merkt allerdings zurecht an, Holsts Schrift sei „wenigstens eben so 15 hundert später schreibt Rosenkranz, der ehemalige Rabbiner 20 Maimon sei als Philosoph „ein recht Talmudischer Ideenspalter, ein Zerdenker, ein für die geschickte Verwirrung des Einzelnen fruchtbarer ‚21 Kuntze rät Interessierten, seine umfassende Darstellung ... Geist" der Maimonischen Philosophie zu lesen, da Maimons Schriften im Original „ungenießbar" seien; 22 Nicolai Hartmann erblickt in ihnen und a fortiori im „Versuch" „etwas Planloses, ... Zerrissenes". 23 Und mehr als anderthalb Jahrhunderte nach dem Erscheinen von Maimons erstem Buch gelangt Samuel Atlas zu dem Urteil, es handle sich um „one of the most difficult [books] in the history of philosophical literatu re " . 24 Diese Bemerkungen über die Dunkelheit des „Versuchs" stehen in einem eigentümlichen Kontrast zu den dezidierten Äußerungen über Ausgangspunkt und Gehalt der idealistischen Lehre Maimons. Hält man die angeführten Charakterisierungen der Maimonischen Schriften für zutreffend, wird man gegenüber der Fraglosigkeit, mit der sein Idealismus beschrieben und rubriziert wird, skeptisch sein müssen. Denn es steht kaum zu erwarten, daß Maimon gerade dort, wo er seinen Idealismus entfaltet, so klar schreibt, daß sich ohne weiteres dezisive Aussagen über seine Intentionen und Argumentationen machen ließen. Wenn überhaupt, werden Ausgangspunkt und Inhalt von Maimons Idealismus nur aufgrund eingehender Textanalysen präzisiert werden können. Da solche Analysen bisher jedoch allenfalls ansatz- dunkel, als das angegriffene Werk" (Eberstein, Geschichte der Logik und Metaphysik 11, 398 Anm.). 20 Vgl. zu Maimons talmudistischer Ausbildung und zu seiner Tätigkeit als Rabbiner seine „Lebensgeschichte" (I, 59 ff., 73 ff., 120 ff.und 286 ff.) Nähere Erläuterungen zu Maimons „Rabbinismus" finden sich unten in Kap.V, S.254 f. 21 Rosenkranz, Geschichte der Kant'schen Philosophie, 292. Ähnlich Zeller, Geschichte der deutschen Philosophie, 587. 22 Kuntze, Selbstbiographie, 257. Maimons Darstellungsweise und die äußere „Verwahrlosung" seiner Schriften, schreibt Kuntze an anderer Stelle, stellten „der Wie dererzeugung der Maimonschen Gedanken im Kopfe des Lesers die größten Hindernisse in den Weg" (Philosophie Maimons, 28). 23 Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, 20. 24 Atlas, From critical to speculative Idealism, 10. 16 weise geleistet worden sind, 25 muß das geläufige Bild des Maimonischen Idealismus zumindest als ungesichert gelten. Die in diesem Punkt bestehende Unsicherheit wirkt sich meines Erachtens auch auf die Thesen zur Entwicklungsgeschichte der Fichteschen Wissenschaftslehre bzw. zum Übergang vom Kritizismus zum Idealismus aus. 26 Denn diese philosophische Entwicklung kann ohne eine genaue Klärung der Beziehungen zwischen Fichte und den frühen Kant-KritiEs liegen lediglich drei Monographien über den „Versuch" vor: Rosenthal, Maimons Versuch; Katz, Erkenntnistheorie Maimons; ferner Wegener, Transcendentalphilosophie Maimons. (Die jüngste dieser Studien ist ein dreiviertel Jahrhundert alt.) Rosenthal ist vorwiegend daran interessiert, anhand von Maimons „Versuch" die „Voraussetzungen seines philosophischen Nachdenkens und ... die Einwirkung anderer Autoren auf ihn" zu erschließen (Rosenthal, a.a.O., 245), wobei er sich allerdings fast ganz auf die Darstellung von Maimons „Stellung zu Leibniz" konzentriert (a.a.O., 246). Katz' Interesse liegt darin, „alle ... Abweichungen Maimons von Kant" zu systematisieren, und er meint, sämtliche Differenzen zwischen ihren Lehren auf einen Unterschied in der „Auffassung des Denkens überhaupt" zurückführen zu können (Katz, a.a.O., 15 f.). Zur Kritik an Katz' Ansatz siehe unten 5 9, S.183 Anm. 168. Wegener behandelt Maimons „Gedanken über das Differential, über Einheit und Vielheit, Einerleiheit und Verschiedenheit, sowie seine Theorie der Antinomien und Näherungswerte" (Wegener, a. a. 0., 9), allerdings unter der Prämisse, Maimon wolle „eine Synthese von Leibniz, Hume und Kant" vornehmen (Wegener, a. a. 0., 7). Kritische Bemerkungen zu dieser Prämisse finden sich unten in Kapitel V, S.247 ff. Es scheint so, als seien selbst diese Ansätze kaum berücksichtigt worden: Bei der Durchsicht von Philosophiegeschichten gewinnt man den Eindruck, die dort getroffenen Feststellungen über Maimons Lehre seien gelegentlich stärker durch die Lektüre der Arbeiten anderer Philosophiehistoriker beeinflußt als durch die Lektüre von Arbeiten Maimons und der im engeren Sinne als Maimon-Forscher zu bezeichnenden Autoren. Daß die Schriften Maimons selten gründlich gelesen worden sind, zeigt sich z. B. daran, daß eine wohl erstmals von Kuno Fischer gegebene Erläuterung zu Maimons Kritik des Ding-an-sich-Begriffs ständig wiederholt wird, obgleich sie sich in dieser Form bei Maimon nicht findet (vgl. Fischer, Fichtes Leben, Werke und Lehre, 70 f., mit Windelband, Lehrbuch, 498; Kronenberg, Geschichte des Deutschen Idealismus, 168; Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, 21; Vaihinger, Philosophie des Als Ob, 110 und Reininger, Kant, 281). Derartige Beispiele ließen sich vermehren. Dies gilt vor allem deshalb, weil sich noch neueste Arbeiten zur philosophischen Problemgeschichte zwischen Kant und Fichte ohne weiteres auf das seit Kuno Fischer praktisch unverändert tradierte Bild von Maimons Idealismus stützen. Vgl. z. B. Siemek, Idee des Transzendentalismus, 48 f., 72 f., 155. Die gleiche Feststellung ist etwa auch in bezug auf Pareysons Arbeit zu machen (vgl. Pareyson, Fichte, 87 f.). 17 kern nicht angemessen beschrieben werden, und es ist offensichtlich, daß dabei das Verhältnis zwischen Maimon und Fichte besondere Berücksichtigung finden muß. 27 Die gründliche Untersuchung der KantKritik und des Idealismus Salomon Maimons scheint also eine unverzichtbare Vorarbeit für gesicherte und hinreichend differenzierte Thesen auf diesem Feld zu sein. Der Rickert-Schüler Friedrich Kuntze hat für die Beschäftigung mit Maimons Philosophie auch systematisches Interesse reklamieren wollen. Im letzten Abschnitt seiner im Jahre 1912 veröffentlichten umfangreichen Darstellung der Philosophie Maimons schreibt er, Maimons Denken sei historisch betrachtet zu dem „Verzweigungspunkt" geworden, „an dem der Kritizismus Kants in die Philosophie des deutschen Idealismus überging". Und er fährt fort: „Beide Phasen dieses Geschehens, die Haltbarkeit der Kantkritik Maimons und die Notwendigkeit der Fortgangsrichtung, müssen als zu Recht geschehen erwiesen werden, wenn den Neukantianern die Vertauschung ihrer Überzeugungen mit denen des Neuidealismus aus Gründen soll angesonnen werden." Für die Durchführung des ,Prozesses`, der die Frage zu entscheiden habe, ob der historische Vorgang systematisch zu rechtfertigen sei, wolle sein Buch „die Unterlagen geben" 28 Die von Kuntze verfolgte Absicht impliziert die Auffassung, eine Untersuchung von Maimons Philosophie sei deshalb von eminentem systematischem Interesse, weil sich am ,Fall Maimon` sozusagen paradigmatisch Gründe für und wider den Idealismus erörtern ließen. Eine derartige Erörterung setzte freilich voraus, daß Maimons Argumente für den Übergang vom Kritizismus zum Idealismus, d. h. seine anhand der Kant-Kritik gewonnenen Argumente für eine idealistische Theorie, in eine hinreichend präzise Form gebracht werden könnten. Kuntze 27 Bereits Cassirer verweist auf die Bedeutung des Verhältnisses zwischen den Philosophien Mainions und Fichtes für die Entwicklung der ,nachkantischen Systeme' (vgl. Cassirer, Erkenntnisproblem III, 126 ff. ). Auch in neueren Arbeiten wird dieser Zusammenhang hervorgehoben. Vgl. neben Siemek, Idee des Transzendentalismus, 72 f., noch Hammacher (Hg.), Der transzendentale Gedanke (siehe dort vor allem die Arbeiten von Philonenko, Hammacher und Siemek). 28 Kuntze, Philosophie Maimons, 503. 18 kommt nun zwar zweifellos das Verdienst zu, wesentliche Teile des Maimonischen Denkens zugänglich gemacht zu haben, eine Präzisierung der von Maimon vorgebrachten Argumente für eine idealistische Theorie hat er jedoch kaum geleistet. 29 Ich bemühe mich im Folgenden zwar um die Klärung der Maimonischen Überlegungen, glaube aber gleichwohl nicht, daß sich seine Argumentation in einer Weise präzisieren ließe, die es gestattete, sie unter systematischer Rücksicht als ,Modellfall` für den Übergang vom Kritizismus zum Idealismus zu diskutieren. Mein Interesse bleibt daher überwiegend historisch. Die folgenden Untersuchungen haben das Ziel, durch die möglichst klare, nachvollziehbare Wiedergabe und Erläuterung der Maimonischen Argumentation einen Beitrag zu einer differenzierteren Sicht der problemgeschichtlichen Entwicklung zwischen Kant und Fichte zu liefern. Wie Maimon gedacht hat bzw. gedacht haben könnte, versuche ich in erster Linie anhand eingehender Textanalysen auszumachen — insoweit verwende ich die Methode der „Direktinterpretation" 30 Die Dunkelheit der Maimonischen Texte setzt diesem Verfahren freilich in manchen Fällen Grenzen. Wo mit aller Mühe nicht klargestellt 29 Vgl. die Kritik an Kuntze bei Katz (Philosophie Salomon Maimons, 54ff.) und die freilich recht kurz greifenden Bemerkungen bei Lehmann (Geschichte der nachkantischen Philosophie, 37f.) und Klapp (Kausalität bei Maimon, 2). 30 Stegmüller unterscheidet „zwei mögliche Weisen der Beschäftigung mit einem historisch überlieferten philosophischen System", „die Methode der Direktinterpretation und die Methode der rationalen Rekonstruktion" (Kants Metaphysik der Erfahrung, 1). Eine rationale Rekonstruktion ist der Versuch, eine historische Theorie nach heutigem logischem Standard zu präzisieren und soweit wie möglich konsistent zu machen (a. a. 0., 2). Die Methode der Direktinterpretation findet hingegen Anwendung, wenn „eine systematische Darstellung und Beschreibung dessen ..., was ein Philosoph wirklich meinte," versucht wird (a. a. 0., 1). Vgl. dazu ferner Krausser, Kants Theorie der Erfahrung, 14 f.; Aschenberg, Sprachanalyse und Transzendentalphilosophie, 60. Henrich unterscheidet „drei Verfahren der Kommentierung", „den paraphrasierend-erläuternden und den genetischen Kommentar, sowie die argumentierende Rekonstruktion" (Identität und Objektivität, 9). Der genetische Kommentar, der „die Perspektive des Philosophen auf sein eigenes Werk" vermittelt und zeigt, „aus welchen Schwierigkeiten und Überlegungen dies Werk hervorgegangen ist" (a.a.O., 9f.), dürfte dem Vorgehen entsprechen, das Stegmüller Methode der Direktinterpretation nennt. In Henrichs Terminologie wäre meine Untersuchung also als genetischer Kommentar zu Maimons Idealismus zu bezeichnen. 19 werden kann, was gemeint ist, versuche ich mit der Überlegung weiterzukommen, was, aus logisch-systematischen Gründen, gemeint sein müßte. Damit bemühe ich mich zugleich, soweit wie möglich Maimons Anspruch zu respektieren, daß er, obgleich er seine „Gedanken nicht immer bestimmt und systematisch genug" ausdrücke, doch „bestimmt und systematisch genug denke" (V,26). Noch aus einem anderen Grund halte ich die Methode der „Direktinterpretation" nicht überall durch. Denn im Hinblick auf Kuntzes Einschätzung des systematischen Stellenwerts des Maimonischen Idealismus schiene es mir unbefriedigend, nicht auch zu fragen, ob Maimons Überlegungen konsistent und plausibel sind. Ich beschränke mich dabei allerdings auf die Diskussion derjenigen Ausführungen, denen meines Erachtens im Rahmen von Maimons Argumentation zentrale Bedeutung zukommt. 3 ' 31 Ich beziehe mich im Rahmen meiner Untersuchungen nicht ausschließlich auf den „Versuch". Wo es mir zur Erläuterung nötig oder als Ausblick von Interesse zu sein scheint, ziehe ich auch Stellen aus anderen Schriften Maimons, vor allem aus dem Zeitraum zwischen 1790 und 1793, heran. Vor dem „Versuch" hat Maimon lediglich drei Schriften publiziert: 1789 in dem hebräischen Journal „Messaef" [„Der Sammler"] eine Schrift, deren Titel — in Bergmans Übersetzung — „A Philosophical Elucidation of Some Words in Maimonides' Commentary" lautet (Bergman, Philosophy of Solomon Maimon, 6), und im gleichen Jahr in Berliner Zeitschriften zwei Aufsätze mit den Titeln „Probe rabbinischer Philosophie” (1,589 ff.) und „Über Wahrheit" (1,599ff.), wobei die „Probe" wohl weitgehend der oben genannten hebräischen Schrift entspricht. Maimons handschriftlicher Nachlaß, der Arbeiten aus der Zeit vor dem Beginn seiner Kant-Lektüre, aber auch einiges aus späteren Jahren enthielt (vgl. dazu Geiger, Maimons Entwickelungsgeschichte; Kuntze, Philosophie Maimons, 15 ff.; Rosenbaum, Maimons hebräischer Kommentar, 1 f.), muß bis auf eine Handschrift als verloren gelten. Ein großer Teil wurde direkt nach Maimons Tod verbrannt, die übrigen Arbeiten befanden sich in der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (vgl. Kuntze, a.a.O., 16 f.), deren Bestand, wie mir die Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin mitteilte, aufgrund einer Dienstanordnung Hitlers vom 29.1.1940 beschlagnahmt und im Reichssicherheitshauptamt untergebracht wurde, wo er im November 1943 bei einem Bombenangriff verbrannte. Die wohl einzige noch erhaltene Handschrift Maimons, ein aus der Breslauer Zeit stammender hebräisch geschriebener Traktat über Newtons Physik, befindet sich in der Bodleian Library Oxford, Department of Oriental Books, als „MS. Mich. 186" unter der Nummer 2061. (Beiden genannten Bibliotheken danke ich für freundliche Auskünfte.) 20 Die ersten beiden Kapitel der Arbeit verfolgen den Weg, der sachlich zu Maimons Entwurf einer idealistischen Theorie führt. Damit eine genaue Beschreibung dieses Weges möglich wird, ist es zunächst nötig, die durch die Philosophiegeschichtsschreibung des Neukantianismus kanonisierte Perspektive aufzugeben, im Mittelpunkt des Denkens aller frühen Kant-Kritiker stünde die Auseinandersetzung mit der Dingan-sich-Problematik. Unabhängig davon, ob diese Sicht den Ansätzen Jacobis, Reinholds und Aenesidemus-Schulzes ganz gerecht wird — betrachtet man Maimons Philosophie aus diesem Blickwinkel, erhält man, wie ich meine, ein schiefes Bild. Wie ich im ersten Kapitel mittels eingehender Analysen von Maimons Äußerungen zu seinem „Versuch über die Transcendentalphilosophie" zu zeigen versuche, bildet das zentrale Thema dieses Buches nämlich nicht die Ding-an-sich-Problematik, sondern das von Maimon so genannte „wichtige Problem quid juris" (§ 1). Im Kontext dieses Problems, und nicht vor dem Hintergrund seiner angeblichen Kritik an Kants Affektionslehre, ist Maimons idealistische Theorie zu betrachten (S 2). Mit der von Kant übernommenen Formel „quid juris" bezeichnet Maimon die Frage nach der Möglichkeit einer Anwendung apriorischer Begriffe auf aposteriorische Gegenstände. Aufgeworfen wird diese Frage durch Erfahrungsurteile, das sind empirische Urteile, die mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit gefällt werden. Diesen Anspruch können Erfahrungsurteile laut Kants Analyse nur deshalb erheben, weil sie Ergebnis einer Anwendung von apriorischen Verstandesbegriffen — Kategorien — auf Erscheinungen sind. Die Möglichkeit einer derartigen Anwendung apriorischer Begriffe bleibt aber zunächst unbegreiflich, denn es ist nicht zu sehen, wie mit Begriffen, die ganz unabhängig von der Erfahrung sind, objektiv gültige Urteile über Erfahrung gefällt werden können. Die Frage danach, wie ein solcher empirischer Gebrauch der Kategorien möglich ist, macht die Frage quid juris? aus. Maimons Überlegungen beschränken sich dabei vorwiegend auf die Frage nach der Möglichkeit des empirischen Gebrauchs der Kausalitätskategorie (5 3).32 32 Dieser Einschränkung wegen glaube ich es rechtfertigen zu können, daß in meinen Untersuchungen Maimons Ausführungen über das „Bestimmbare und die Bestim- 21 Die Einsicht, daß es Kant nicht gelingt, diese Frage befriedigend zu beantworten, läßt Maimon eine eigene, idealistische Lösung des Problems quid juris versuchen. Seine Kritik an Kants Lehre weist somit seiner idealistischen Theorie den Weg. Vorbereitet wird diese Kritik durch Maimons Interpretation der Kantischen Lehre — die Akzente, die er in seiner völlig selbständigen Kant-Deutung setzt, markieren die Ansatzpunkte seiner Kritik. Im zweiten Kapitel erörtere ich daher vor der Darlegung von Maimons Kritik der Theorie Kants seine Deutung dieser Theorie. Maimon konzentriert sich auf Kants Thesen, Zeit könne, da sie zum einen Form der Erscheinungen, zum anderen apriorische Anschauung sei, zwischen apriorischen Begriffen und aposteriorischen Gegenständen vermitteln, und die Zeitbestimmung ,notwendige Folge' bzw. ,Folge nach einer Regel` könne als ,Schema` der Kausalitätskategorie fungieren (§ 4). Die Schematisierung der Kausalitätskategorie deutet Maimon in eigenwilliger Interpretation als Angabe eines an den empirischen Objekten erkennbaren ,Zeichens` oder ,Merkmals`, das die Applikation dieser Kategorie ermöglicht, insofern es anzeigt, daß das Zeitverhältnis der betreffenden Objekte dem in der Kausalitätskategorie gedachten logischen Verhältnis entspricht (5 5). In seiner Kritik zeigt er, daß ,notwendige Folge' im besonderen und Zeitbestimmungen im allgemeinen nicht derartige ,Zeichen` bilden können. Darüber hinaus weist Maimon nach, daß Kants Theorie, selbst wenn man den genannten Punkt einmal zugibt, das Problem quid )uris nicht löst, sondern nur verschiebt: an die Stelle der Heterogenität von apriorischen Begriffen und aposteriorischen Gegenständen, die es zunächst zu vermitteln galt, tritt die Heterogenität von apriorischen Begriffen und apriorischer Anschauung, die — auf dem Boden der Kantischen Theorie — nicht zu vermitteln ist (% 6). mung" (11, 84) ausgespart bleiben. Diese Ausführungen, die den später „Satz der Bestimmbarkeit" genannten Grundsatz (vgl. V,78ff.) antizipieren, betreffen im „Versuch" nämlich die Definition und die Anwendung der Substanzkategorie (vgl. 11, 84 ff., 87 Anm.); mit dem durch „quid juris" bezeichneten Problem werden sie dort, wenn ich recht sehe, nur an einer Stelle direkt in Verbindung gebracht (vgl. II, 142). Zur kritischen Diskussion von Maimons ,Logik der Bestimmbarkeit' vgl. im übrigen Lämmermeyr, Kritik der Erkenntnistheorie Maimons; Lenk, Kritik der logischen Konstanten, 155 ff. 22 Den Gegenstand des dritten Kapitels meiner Arbeit bildet Maimons eigene Lösung des Problems quid juris, die er in durchgängig erkennbarem Bezug auf seine Kritik an Kants Schematismuslehre konzipiert. Maimons Ansatz beruht auf dem Gedanken, die den empirischen Gebrauch der Kategorien vermittelnde Instanz seien nicht die apriorischen Zeitbestimmungen der Erscheinungen, sondern ihre Elemente, ihre ,Differentiale`, wie er sagt, die Ideen bildeten. Diese Differentiale gehörten einerseits als deren Elemente zu den Erscheinungen, andererseits seien sie als Ideen mit den Kategorien gleichartig, und insofern könnten sie die Anwendung von Kategorien auf Erscheinungen vermitteln. Beim Versuch, diesen Gedanken zu erläutern (5 7), stellt sich vor allem die Frage, wie Maimons These, die Elemente der Erscheinungen seien Ideen, überhaupt zu verstehen ist und wie er sie begründet. Meines Erachtens ist die beispielsweise von Cassirer und Vaihinger vertretene Auffassung, Maimon betrachte die Differentiale als ,Fiktionen`, die unser Verstand macht, um die Erscheinungen kategorial bestimmen zu können, nicht haltbar. Denn Maimon beabsichtigt und beansprucht, mit seiner idealistischen Theorie die Möglichkeit objektiv gültiger empirischer Urteile zu erklären — auf ,Fiktionen` gegründeten Urteilen käme jedoch nur subjektive Gültigkeit zu. Meiner Interpretation nach behauptet Maimon, das Problem quid juris lasse sich nur dann befriedigend lösen, wenn man annehme, die ,reellen`, wirklichen Elemente der Erscheinungen seien Ideen. Unser Verstand müsse, bei der Anwendung seiner Kategorien auf empirische Objekte, ,hinter` die Empirie auf diese Ideen ,zurückgehen`, bzw. er müsse die Erscheinungen in diese Ideen ,auflösen`, sie — in einem dem mathematischen Prozeß analogen Vorgang — sozusagen ,differenzieren`. Die Position, die Maimon als seinen rationalen Dogmatismus bezeichnet, interpretiere ich als Explikation der metaphysischen Voraussetzungen, die die genannte Annahme erfordert (§ 8). Diese, von Maimon zur befriedigenden Lösung des Problems quid juris gebildete Annahme impliziert die These, unsere Erscheinungswelt sei hinsichtlich ihres Daseins wie ihres Soseins von einem Verstand abhängig. Mit Bezug auf diese These ist in der Forschung seit Dilthey behauptet worden, Maimon setze den Grund der Erscheinungswelt in unser Bewußtsein und 23 fasse sie als Produkt unseres Verstandes auf. Damit antizipiere er, wie gesagt wird, in einem wesentlichen Punkt die Fichtesche Wissenschaftslehre. Durch eingehende Textanalysen versuche ich zu zeigen, daß dieser geläufigen Ansicht eine Fehlinterpretation zugrundeliegt: Maimon vertritt nämlich keineswegs die Auffassung, unser Verstand ,produziere` die Empirie. Vielmehr nimmt er im Rekurs auf Spinoza und Leibniz an, Urheber der Erscheinungswelt sei ein unendlicher Verstand, dessen Ideen die Elemente unserer Erscheinungen bildeten. In seinen die ,Entstehung` der Erscheinungen aus ihren Differentialen und ihre ,Auflösung` in sie betreffenden Überlegungen faßt Maimon die Differentiale einerseits als ,Bausteine` der Phaenomena auf, andererseits legt er sie als ,Regeln` für deren Entstehung aus. Da es ihm nicht gelingt, beide Aspekte in einem konsistenten Begriff zu verbinden, führt die genannte Doppelperspektive zu einer Reihe von Schwierigkeiten (§ 9). Unter anderem bleibt unklar, wie unser Verstand denn die Differentiale erfassen und wie er also seine Kategorien auf Erscheinungen anwenden können soll. Zumindest in diesem Punkt gelangt Maimons idealistische Theorie nicht über Kants Lösungsversuch hinaus; sie weist eine ähnliche Schwierigkeit auf wie die Kantische Schematismuslehre. Mißt man Maimons Theorie mit dem Maß, das er an Kants Theorie anlegt, hält auch sie nicht stand. Die Frage nach der Möglichkeit einer Anwendung apriorischer Begriffe auf aposteriorische Gegenstände, die Maimon als das „Problem quid juris" bezeichnet, wird durch die Feststellung veranlaßt, daß Er fahrungsurteile gefällt werden. Denn dieser Sachverhalt scheint unzweifelhaft zu belegen, daß Kategorien wirklich auf Erscheinungen angewandt werden. Ist diese Anwendung aber wirklich, muß sie auch möglich sein, mag ihre Möglichkeit zunächst auch unbegreiflich erscheinen. Während Kant nun nur die Möglichkeit des empirischen Gebrauchs der Kategorien zu erklären unternimmt, dessen Wirklichkeit hingegen unbefragt voraussetzt, widmet Maimon gerade der Frage nach dem Faktum besondere Aufmerksamkeit. Das Ergebnis dieser Überlegungen, die ich im vierten Kapitel verfolge, ist skeptisch: Maimon muß feststellen, daß bezüglich der von ihm mit der Formel „quid facti" bezeichneten Frage, ob im besonderen die empirische Anwen24 dung der Kausalitätskategorie Faktum ist oder nicht, eine nicht aufzuhebende Ungewißheit besteht (§§ 10 und 11). Dies Resultat setzt die Ansätze zur Lösung des Problems quid juris in ein neues Licht, da nunmehr die Wirklichkeit des Phänomens, dessen Möglichkeit sie zu erklären versuchen, zweifelhaft wird. Im Zuge der Erörterung der Folgen des Zweifels für Kants Lehre zieht Maimon auch Konsequenzen für seine eigene Lösung des Problems quid juris — er gelangt schließlich zu einer ,skeptischen Fassung' seiner idealistischen Theorie (§ 12). Die durch die vier Kapitel führende Nachzeichnung des Maimonischen Gedankenganges zeigt neben der Sache, der ihr Augenmerk gilt, auch die Eigentümlichkeit der Maimonischen Denkart. Für diese Denkart ist kennzeichnend, wie ich im fünften Kapitel darlege, daß Maimon, anders als in der Forschung oft unterstellt wird, keinerlei System-Interesse hat. Weder interessiert ihn die ,Nachbesserung` des Kantischen noch die Ausführung eines eigenen Systems. Maimon ist Problemdenker, ein Philosoph, der Probleme nicht im Kontext und im Dienst eines schon entworfenen systematischen Rahmens, sondern um ihrer selbst willen erörtert, der sich von ihnen, vom Gang der Sache und ihren vielfältigen Aspekten führen läßt. Maimon selber hat diese Eigenart seines Denkens oft hervorgehoben, und es ist besonders bemerkenswert, daß er seine Stellung zu Fichte, ungeachtet gewisser sachlicher Übereinstimmungen, stets mit Bezug auf den Unterschied ihrer Denkart bestimmt hat. Eine hinreichend differenzierte Beschreibung der philosophischen Entwicklung von Kant zu Fichte wird diesen Akzent Maimons berücksichtigen müssen. 25 Kapitel II Maimons Darstellung und Kritik der Kantischen Lösung des „Problems quid juris" § 4. Kants Schematismuslehre in Maimons Darstellung „Die Bedeutung der Frage: quid juris? bei Kant" ist einer Anmerkung Maimons zufolge „diese: wir wissen aus der Erfahrung, daß wir bestimmte Formen des Denkens a priori mit bestimmten Gegenständen a posteriori auf eine nothwendige Art verknüpfen, so lange wir aber an den Gegenständen nichts a priori ausfindig machen, ist dieses unmöglich Was ist also dasjenige a priori, wodurch wir berechtigt sind, dieselbe [Verknüpfung] für reell auszugeben?" (II, 363) Diese Ausführung geht über die bloße Formulierung der Frage hinaus; sie deutet bereits an, auf welche Weise Kant eine Lösung des Problems quid juris sucht. Das Problem, das Erfahrungsurteile aufwerfen, besteht — wie erläutert — darin, daß empirische Objekte reinen Verstandesbegriffen subsumiert werden, d. h. daß ihre Gleichartigkeit ausgesagt wird, obwohl sie prinzipiell ungleichartig sind. Die Möglichkeit von Erfahrungsurteilen wäre aber erklärbar, wenn sich eine zwischen der Apriorität der Begriffe und der Aposteriorität der Objekte „vermittelnde Vorstellung"' finden ließe, wenn sich also beispielsweise „an den Gegenständen" etwas „a priori ausfindig machen" ließe (II, 363). Kants Lösung des Problems quid juris gründet laut Maimon auf dieser Auffassung, daß sich an den empirischen Objekten ein apriorischer und ein aposteriorischer ,Teil` unterscheiden lassen. Die Formen der Objekte empirischer Anschauung, Zeit und Raum, sind Kants Theorie nach nämlich a priori, wohingegen ihre Materie a posteriori ist. 2 Das ... 1 KrV, A 138/B 177. Aufzufinden ist in Kants Worten etwas, „was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß" (ebd.). 2 Vgl. dazu bei Kant vor allem KrV, A 92 f. /B 124 f., auch A 20/B 34 und A 42/B 60. 71 Kantische Argument für diese Unterscheidung lautet in Maimons Fassung, daß die Materie der empirischen Objekte „in den besondern Gegenständen gegründet", die Form jedoch „schon vorher ... in uns" ist (II,13 f.). ,Formen`, seien es Formen der Anschauung oder Formen des Denkens, bilden „unsere Vorstellungsart (Beschaffenheit unsers Gemüths)" (II,133); sie lassen sich begreifen als die „allgemeinen Arten unsrer Operationen" mit den Objekten unserer Erkenntnis (II,62). Unsere „Art, ... sinnliche Gegenstände wahrzunehmen", ist nun die, „daß wir das Mannigfaltige darin in Zeit und Raum ordnen" (II, 13). Alle wahrgenommenen äußeren Gegenstände sind räumlich und zeitlich, daher können diese Formen „nicht erst bei der Wahrnehmung der Gegenstände ... in uns entspringen (weil sie sonst in den besondern Gegenständen gegründet, und folglich keine allgemeine Formen, seyn würden)" (II, 13 f.). Sie sind vielmehr, was bei Kant Maimon zufolge aus ihrer Allgemeinheit geschlossen wird, „schon vorher (als allgemeine Bedingungen dieser Wahrnehmung) in uns" (II,14). 1 Sie sind „in unserm Erkenntnißvermögen in Beziehung auf alle sinnliche Gegenstände ohne Unterschied" gegründet (II, 13) und haben demnach ihren Grund „nicht im Objekte, sondern in der besondern Beschaffenheit der Vorstellungskraft" (II, 421). 1 Etwas, das „vor die Gegenstände der Sinne selbst ist", ist Maimons Darstellung nach eine „Form a priori" (II, 174), mithin wird durch die Feststellung, die Anschauungsformen seien „schon vorher", d. h. unabhängig von der Wahrnehmung besonderer Gegenstände, „in uns", ihre Apriorität erwiesen.' Zeit und Raum bilden somit die 3 Vgl.: Raum und Zeit sind „reine Anschauungen a priori ..., die vor aller empirischen Anschauung, d. i. der Wahrnehmung wirklicher Gegenstände vorhergehen müssen" (Kant, Prol. § 10, AA IV,283). 4 Zeit sei, schreibt Maimon an anderer Stelle, „die Form oder Art des Erkenntnißvermögens a priori, die Objekte a posteriori anzuschauen" (III,37). 5 Maimon bestimmt „a priori seyn" generell als „der Vorstellung vom Gegenstande selbst vorausgehen" (II, 172). Obgleich er in anderem Zusammenhang zwischen ,der Zeit nach vorhergehen' und ,der Natur der Denkbarkeit nach vorhergehen' unterscheidet (II,376), entsteht häufiger der Eindruck, er verstehe ,a priori' als psychologischen Begriff, der Vorstellungen bezeichnet, die der Zeit nach dem Erfassen der Empirie vorausgehen (vgl. z. B. noch VII, 397 f.). 72 „Formen a priori von den Gegenständen der Anschauung a posteriori” (II,335). 6 Die „Materie der Anschauung" hingegen, die Empfindung — die Kant gelegentlich „das eigentlich Empirische" nennt' — wird „a posteriori gegeben" (11, 51). Sie ist „in den besondern Gegenständen gegründet" (II, 13 f.), sie macht, so kann man sagen, deren ,Besonderheit` aus. Auf die Materie, d. h. auf dasjenige, was sich an den empirischen Anschauungen, „abstrahirt von ihren Formen a priori, Zeit und Raum" (II, 112), als das „eigentlich Empirische" erweist, lassen sich nun apriorische Begriffe nicht anwenden — „hier ist die Kantische Frage: quid juris? ganz unauflöslich" (II,112 ), weil Materie und apriorische Begriffe schlechthin ungleichartig sind.' Bezogen auf ein oben erwähntes Beispiel: Ich kann Wärme nicht „ihrer Materie oder Inhalt nach" dem Begriff von Ursache subsumieren, ich kann nicht Wärme Ursache nennen und Ausdehnung der Luft Wirkung mit der Begründung, daß „jenes eine materielle Bestimmung hat, die dieses nicht hat" (II, 52). 9 Denn da die „materielle Bestimmung der Erscheinungen" 6 Vgl. 11,337. 7 Prol. 5 24, AA IV,306. Vgl. bei Maimon die Formulierungen: „die Materie der Anschauung (das empirische darin)" (1I,205) und: das „empirische (Materiale) der Anschauungen" (11,202). 8 An der angeführten Stelle (1I,112) bezeichnet Maimon allerdings das nach der Abstraktion von Raum und Zeit ,zurückbleibende` Substrat nicht als Materie, sondern als „Anschauungen an sich" (meine Hervorhebung). An anderer Stelle findet sich bei ihm die Formulierung „sinnliche Vorstellungen an sich" (11, 29); er redet ferner davon, daß Objekte „an sich a posteriori gegeben" seien (111, 36), und spricht von „den sinnlichen Gegenständen selbst" (III, 197). Diese Formulierungen klingen paradox, denn wenn ein Gegenstand sinnlich (Anschauung) ist, dann ist er eben nicht Gegenstand ,an sich', sondern Gegenstand ,für uns'. Mir erscheint denkbar, daß Maimon im Rahmen seiner Darstellung der Kantischen Theorie die These der Unanwendbarkeit apriorischer Be griffe auf Materie — als Aposteriorisches — mit der Kantischen These der Unanwendbarkeit von apriorischen Begriffen auf Dinge an sich, als schlechthin Unanschauliches (vgl. II, 96 f., 209, 389, 415, 431, 434), vermischt. Bei Kant werden hingegen ..Gegenstände der Sinne", das sind „bloße Erscheinungen" — wobei eine Erscheinung die „Art" ist, „wie unsere Sinne von diesem unbekannten Etwas affiziert werden" — und „Ding an sich selbst" strikt unterschieden (Prol. 5 32, AA IV,314 f.). 9 Meine Hervorhebungen. 73 (II, 128) „etwas a posteriori" ist, kann sie „der Regel a priori nicht subsumirt werden" (11,52)10 Damit ist klar, daß bei der Bildung von Erfahrungsurteilen die apriorischen Begriffe nicht auf die materiellen Bestimmungen der Erscheinungen bezogen werden können — über diese ,Seite` der Erscheinungen wird in Erfahrungsurteilen, zumindest direkt, nichts ausgesagt; die Bestimmung von Erscheinungen durch apriorische Begriffe findet statt, „ohne auf ihre Materie zu sehen" (II, 128). Bei der Bildung von Erfahrungsurteilen können die apriorischen Begriffe vielmehr nur auf die formellen Bestimmungen der Erscheinungen, d. h. auf ihre räumlichen oder zeitlichen Verhältnisse, bezogen werden. Die Anschauungsformen Raum und Zeit sind mit den „Formen des Denkens a priori" (11, 363) gleichartig und vermögen daher als vermittelnde Vorstellungen bei der Anwendung logischer Formen auf aposteriorische Objekte zu fungieren. Der Raum vermittle, so gibt Maimon Kants Ansicht wieder, die Anwendung des apriorischen Begriffs der Verschiedenheit. Wenn man von zwei Dingen sage, sie seien verschieden, dann beziehe man sich „nach der Kantischen Theorie" auf „das Verhältniß ihrer Räume" (11, 32)." Die entscheidende Rolle aber fällt der Zeit zu. Während der Raum nur die Form äußerer Anschauungen bildet, stellt sie die „allgemeine Form oder Bedingung aller Wahrnehmungen" dar (I1,8)° und vermag als solche die Anwendung apriorischer Verstandesbegriffe auf Wahrnehmungen zu vermitteln. Mit der Zeit ist eine Vorstellung entdeckt, die einerseits mit den Kategorien gleichartig ist, 10 Meine Hervorhebungen. 11 Vgl.: „Verschiedenheit" ist „bey sinnlichen Objekten ... durch Bestimmungen des Raumes ... bestimmt" (II,309). Vgl. auch II,120. Maimon mag hier Kants Auffassung, Verschiedenheit von Objekten werde als „Verschiedenheit der Örter dieser Erscheinungen" ausgesagt (KrV, A 263 f./B 319), im Blick haben. Die sich in Kants KrV ergebende Schwierigkeit, daß einerseits der Zeit die größere Allgemeinheit zugesprochen und damit ihre Rolle als vermittelnde Vorstellung begründet wird, andererseits aber, in Zusätzen der 2. Auflage (vgl. KrV, B 275 ff. und B 291), offenbar der Raum größere Allgemeinheit bzw. den Primat erhält, findet in Maimons „Versuch" keine Erwähnung. 12 Meine Hervorhebung. Vgl. 1I,14. Vgl. dazu bei Kant: KrV, A 138 ff./B 177ff. 74 insofern sie nicht, wie die Materie der Anschauung, a posteriori gegeben wird, sondern als allgemeine Form der Anschauung ebenso wie die allgemeinen Formen des Denkens a priori „in unserm Erkenntnißvermögen" liegt (II, 13), die sich aber andererseits „auf Objekte unmittelbar" bezieht (11,214)» Die Zeit bildet eine „nothwendige Form" der empirischen Objekte (11, 214), einen „transcendentalen Gegenstand, d. h. ... etwas, ohne welches kein reeller Gegenstand überhaupt gedacht werden kann" (11, 337)14 Folglich ist mit der Anschauungsform Zeit „in den Wahrnehmungen etwas allgemeines a priori" gefunden (11, 8), das die Anwendung apriorischer logischer Formen auf Erscheinungen ermöglichen kann. 15 Die Feststellung, daß Zeit einen „transcendentalen Gegenstand" (11, 337) bildet, macht in Maimons Darstellung die Quintessenz der Kantischen Lösung des Problems quid juris aus. Daher kann er in der Einleitung des „Versuchs" schreiben, Kant beantworte die Frage, wie sich a priori hervorgebrachte Begriffe auf a posteriori gegebene Objekte anwenden ließen, indem er zeige, „daß die Philosophie" — die Wissenschaft also, deren Aufgabe die apriorische Erkenntnis aposteriorischer Gegenstände ist 16 — „transcendental seyn muß, wenn sie von irgend einem Gebrauch 13 Vgl. dazu bei Kant: Eine „transzendentale Zeitbestimmung" ist „mit der Kategorie ... sofern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung sofern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung ... enthalten ist." (KrV, A 138f./B 177f.) Durch die Unmittelbarkeit des Bezuges der Zeit auf Erscheinungen ist im übrigen auch sichergestellt, daß diese Form zur Anwendung auf empirische Objekte nicht etwa ihrerseits noch eines vermittelnden Gliedes bedarf, wodurch die Problematik ja iteriert würde. 14 An dieser Stelle (11, 337) bezeichnet Maimon auch den Raum als „transcendentalen Gegenstand". Ungenau ist die Formulierung, Zeit und Raum seien ,Gegenstände`, ohne die „kein reeller Gegenstand überhaupt gedacht werden" könne (ebd; meine Hervorhebung). Genauer wäre zu sagen, daß reelle Gegenstände ohne Zeit und Raum nicht angeschaut bzw., allgemeiner gesprochen, nicht vorgestellt werden könnten. Allerdings scheint es mir möglich, daß Maimons Darstellung der Kantischen Lehre hier bereits von seiner Kritik der transzendentalen Ästhetik Kants (vgl. vor allem 11,181. und 23 ff.) beeinflußt wird. 15 Vgl. Gueroult, Philosophie transcendantale de Maimon, 26; Bergman, Philosophy of Solomon Maimon, 74. 16 Vgl. zu diesem Begriff von Philosophie noch 11, 504; sowie oben § 1, S. 35 und §3, S. 69 f. 75 seyn soll", was besagt, daß Philosophie sich auf Objekte beziehen muß, insofern sie „durch Bedingungen a priori", nicht aber, insofern sie „durch besondre Bedingungen der Erfahrung a posteriori bestimmt sind" (II, 3 )." Daß es Bedingungen a priori gibt, die empirische Gegenstände bestimmen, ist Kants zentrale These, und mit dieser Differenzierung geht seine Lösung des Problems quid juris weit über die von „den mehresten Wolffianern" vertretene Auffassung hinaus (1I,434). Die von Maimon wiedergegebene Überlegung Kants zeigt also, daß bei der Bildung von Erfahrungsurteilen reine Verstandesbegriffe „nicht auf die Materie der Anschauung unmittelbar, sondern bloß auf ihre Form a priori, (die Zeit) und vermittelst derselben auf die Anschauung selbst" angewandt werden (11, 52). Die Bestimmung empirischer Gegenstände durch apriorische Verstandesbegriffe geschieht mithin „nicht materialfiter ..., sondern ... formaliter, d. h. in Ansehung dieser Gegenstände gemeinschaftlicher Form' (der Zeit)" (II,41 f.).' 9 Die Anwendung von Kategorien auf Erscheinungen, de ren Möglichkeit bzw. Rechtmäßigkeit angesichts der Ungleichartigkeit beider Vorstellungen offen blieb, wird „durch Beziehung dersel ben auf Zeitbestimmungen der Gegenstände der Erfahrung ... gerechtfertigt" (II, 337 f. ). Die Zeitbestimmungen bilden das Schema der Kategorien; „ihren rechtmäßigen Gebrauch" erhalten die Kategorien also „durch ihre Anwendung auf ein Schema" (II, 156). Besäßen wir „keine Form der Anschauung a priori, so hätten wir zwar die Bestandtheile zur Beurtheilung (allgemeine Begriffe ... und besondere Gegenstände, worauf allgemeine Begriffe applicirt werden können), wir hätten aber alsdann kein Mittel an der Hand, dieses auf eine rechtmäßige Weise zu verrichten; weil allgemeine Begriffe oder Regeln a priori und besondere Gegenstände der Anschauung a posteriori ganz heterogen sind" (11, 53 f.). Durch die ausgeführte Kantische „Deduktion " 20 sind aber, wie Maimon betont, „alle Schwierigkeiten auf einmal 17 Vgl. auch II,4 und B. 18 Lies: „in Ansehung der diesen Gegenständen gemeinschaftlichen Form". 19 Vgl. II, 128. 20 Daß Maimon hier von „Deduktion" spricht, mag ein Hinweis darauf sein, daß er im zweiten Abschnitt des „Versuchs" nicht zwischen transzendentaler Deduktion und 76 gehoben" (11,54): Kant zeigt, daß wir eine „Form der Anschauung a priori" besitzen, die als „Mittel" fungieren kann, um die Bildung von Erfahrungsurteilen „auf eine rechtmäßige Weise zu verrichten". Da im Mittelpunkt seiner Erörterungen die Problematik des Gebrauchs der Kausalitätskategorie steht, wendet Maimon Kants Erklärung auch exsage, a ist die Ursaemplarisch auf diese Kategorie an: „Wenn ich che von b, oder wenn a gesetzt wird, muß nothwendig auch b gesetzt werden; so ist nicht a und b ihrer Materie oder Inhalt nach, sondern nach besondern Bestimmungen ihrer Form (das Vorhergehen und das Folgen in der Zeit) bestimmt: d. h. a ist nicht darum a und nicht b, weil jenes eine materielle Bestimmung hat, die dieses nicht hat, (denn dieses, in so fern es etwas a posteriori ist, kann der Regel a priori nicht subsumirt werden); sondern weil es eine formelle Bestimmung (das Vorhergehen) hat, die b nicht hat." (11, 52)21 In den bisherigen Überlegungen ist das ,Problem quid juris` unter dem Aspekt betrachtet worden, daß sich die Anwendung apriorischer Begriffe auf aposteriorische Gegenstände nur rechtfertigen läßt, wenn eine ,vermittelnde Vorstellung' aufgewiesen werden kann, etwas, das die Ungleichartigkeit von Kategorien und aposteriorischen Gegenständen sozusagen ,überbrückt`. Maimon erläutert Kants Lösung jedoch noch aus einer anderen Perspektive. 22 Die Kategorien bilden apriorische, vom Verstand ohne Beziehung auf Erfahrung hervorgebrachte Begriffe. Derartige Begriffe, die der Anschauung ,vorausgehen`, sind zunächst „bloß symbolisch" (11,48); Maimon spricht auch ... Schematismuslehre bei Kant trennt. Eine gewisse Berechtigung erhielte dies Vorgehen dadurch, daß der Schematismus laut Maimon nicht nur die Anwendung von Kategorien auf Erscheinungen ermöglicht, sondern zugleich, wie im weiteren deutlich werden wird, auch sicherstellt, daß die Kategorien „objektive Realität" haben (11, 48) — wobei der letztgenannte Nachweis in Kants KrV Thema der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ist (vgl. KrV, A 93/B 126 und B 148). Denkbar ist freilich auch, daß Maimon den Begriff „Deduktion" an der oben genannten Stelle unspezifisch, also einfach im Sinne von ,ableitender Erklärung` benutzt (ein Beispiel für diesen Wortgebrauch findet sich in II,55). 21 Alle Hervorhebungen von mir. 22 Über „solche wichtige Begriffe, wie die Kategorien sind, und über ihren rechtmäßigen Gebrauch" könne man sich nämlich gar „nicht weitläuftig genug erklären" (II,47). 77 von „willkührlich angenommenen Begriffen" (II,38). 23 In diesen Begriffen wird irgendeine „Regel oder Bedingung" gedacht (11, 50). Solange sie jedoch ohne Bezug auf Anschauung, d. h. also „bloß symbolisch" sind, bleibt unausgemacht, ob die in ihnen gedachte Bedingung „nur in Worten" oder auch „in der Sache selbst" anzutreffen ist (11, 50), was besagt, daß offen bleibt, ob das Gedachte in der Anschauung dargestellt werden kann.z" Neben den „Begriffe[n] von Ursache und Wirkung" (II, 46) 25 betrachtet Maimon in diesem Zusammenhang exemplarisch einen apriorischen Begriff der Mathematik, den „Begrif eines Zirkels" (11, 50). Den Begriff eines Zirkels denkt man dadurch, daß man „die Regel oder die Bedingung vorschreibt, daß es eine Figur von der Art seyn soll, daß alle Linien, die von einem bestimmten Punkte in derselben (Mittelpunkt) zu ihrer Gränze (Peripherie) gezogen werden können, einander gleich sind" (II, 50). Dieser Begriff ist willkürlich gebildet — wir wissen zunächst nicht, ob die „Regel oder Bedingung des Zirkels ... auch in Erfüllung gebracht werden könne oder nicht" (11, 50). „Zum Glück für diesen Begrif hat Euclicles wirk23 Vgl. I1, 47. 24 In der im Anhang des „Versuchs" gedruckten Abhandlung „Über symbolische Erkenntniß und philosophische Sprache" schreibt Maimon im gleichen Sinne, die symbolische Erkenntnis müsse, „(wenn sie von irgend einem Gebrauche seyn soll) die anschauende Erkenntniß zum Grunde legen, ohne welche sie eine bloße Form ohne objektive Realität seyn würde" (1I,265). Vgl. bei Kant: Könnte einem reinen Begriff „eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand" (KrV, B 146; vgl. A 51 /B 75 und A 62/B 87). 25 Bezüglich der Benennung der Kausalitätskategorie ist Maimons Terminologie wechselnd. An manchen Stellen bezeichnet er die Kategorie nur als „Begrif von Ursache" (z. B. 11,51) und spricht auch von dem „Begrif oder Satz von Ursache" (11, 241; vgl. 11,94). Gelegentlich wird so dem Begriff ,Ursache` zugeschrieben, was eigentlich die Bedeutung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung ist (vgl. II,51 mit 11,46 und 54). Diese Uneinheitlichkeit mag auf Unstimmigkeiten in Kants Begriffsgebrauch beruhen. In der Kategorientafel der KrV wird die Kategorie „der Kausalität und Dependenz (Ursache und Wirkung)" aufgeführt (A 80/B 106). Es ist ferner aber die Rede von „dem Begriffe von Ursache und Wirkung" (A 90/B 123), und im Schematismus-Kapitel benennt Kant das Schema „der Ursache und der Kausalität" (A 144/B 183). In der Kategorientafel der Prol. erscheint die Kausalitätskategorie hingegen einfach als „Ursache" (Prol. §21, AA IV,303). 78 lich eine Methode erfunden, denselben in eine Anschauung a priori (durch Bewegung einer Linie um einen ihrer Endpunkte) zu bringen; dadurch bekömmt der Begrif des Zirkels eine objektive Realität." (11, 50 f.) Da Maimon die Begriffe von Ursache und Wirkung analog zu diesem mathematischen Begriff betrachtet, darf wohl auch die Schematisierung der Kausalitätskategorie als „Methode" aufgefaßt werden, diesen apriorischen und damit vorderhand bloß symbolischen Begriff „in eine Anschauung a priori ... zu bringen". Die Schematisierung bildet, so betrachtet, eine Methode, einen angenommenen Begriff in der Anschauung darstellbar zu machen. Im Falle des Begriffs eines Zirkels ist dies ein eher mathematisch-technisches Problem, insofern die gedachte Bedingung bereits auf Anschauung bezogene Elemente (Punkt, Linie, Peripherie, Abstand) enthält. Für die Begriffe Ursache und Wirkung trifft dies jedoch nicht zu. Die in ihnen gedachte „Bedingung, daß wenn etwas bestimmtes A willkührlich gesezt wird, etwas anders (durch das Vorige) nothwendig bestimmtes B gesetzt werden muß" (II,46), enthält keinen Hinweis auf anschauliche Darstellbarkeit. Daher führt die Frage, ob die in der Kausalitätskategorie gedachte Bedingung „auch in Erfüllung gebracht werden" kann (11, 50), ob also dieser apriorische Begriff „auch anschauend gemacht werden und dadurch objektive Realität bekommen [kann] oder nicht" (II,48), zu einem gravierenden Problem. 26 Der von Maimon vorgetragenen Erklärung Kants zufolge kann dieser Begriff „anschauend gemacht" werden, und zwar durch Bezug auf Bestimmungen der Zeit. Die Kausalitätskategorie, das „Verhältniß von Ursache und Wirkung", wird „anschauend gemacht" bzw. schematisiert durch die Zeitbestimmung „Folge nach einer Regel" (II, 54). 27 Mit dieser Zeitbestimmung „finden" wir „etwas, was mit dem willkührlich 26 ,Objektive Realität' haben bedeutet bei Maimon, wie ja auch bei Kant, „Beziehung auf ein Objekt" haben (IV,73, ebenso IV,436). Sollen logische Formen objektive Realität haben, so müssen sie „den Objekten beigelegt, und an ihnen erkannt werden können" (II,212). Vgl. bei Kant: „Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d.i. sich auf einen Gegenstand beziehen ... soll ..." (KrV, A 155/B 194) 27 Vgl. bei Kant: „Das Schema der Ursache und der Kausalität ... besteht ... in der Sukzession des Mannigfaltigen, insofern sie einer Regel unterworfen ist." (KrV, A 144/B 183) 79