Nr. 85 vom 14.02.2007 - Evangelisches Missionswerk in Deutschland

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Nr. 85 vom 14.02.2007
Johanna Lüdde:
Die Vermittlung buddhistischer Kultur im
Shaolin Tempel Deutschland
Vorbemerkung: Der Artikel beschäftigt sich mit der Vermittlung chinesisch-buddhistischer Kultur im Shaolin Tempel Deutschland als einem Fallbeispiel für die Entwicklung des Buddhismus in
Deutschland. Er stützt sich auf eine Ethnographie, die ich zwischen Juni 2005 und September
2006 im Tempel durchführte. Mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden1 ging ich u.a. der Frage
nach, welche Ziele und Methoden die chinesischen Mönche in der Vermittlung des Buddhismus
verfolgen. Ein anderer Schwerpunkt bestand darin, die Motivationen der verantwortlichen Meister
zu untersuchen. Diese bilden teilweise einen Kontrast zu den Erwartungen und Vorstellungen der
(deutschen) Schüler/innen. Anhand der daraus entstehenden Diskrepanzen werde ich am Ende
dieses Beitrags bestehende Vermittlungs- bzw. Kommunikationsproblematiken aufzeigen.
1. Der Shaolin Tempel Deutschland
Der Shaolin Tempel Deutschland ist ein direkter Ableger des Shaolin-Klosters in China. Letzteres
gilt als das Symbol der chinesischen Kampfkunst schlechthin, spielt aber ebenso bei der Entwicklung des Chan-Buddhismus2 eine entscheidende Rolle. Um die Entstehung des berühmten Klosters
ranken sich unzählige Legenden, die die enge Verbindung zwischen Kampfkunst und Buddhismus
veranschaulichen. Dabei wird die Kampfkunst als eine Möglichkeit betrachtet, geistige Fähigkeiten „über den Weg des Körpers“ zu kultivieren.
Der deutsche Tochtertempel wurde am 27. Juli 2001 in Berlin eröffnet. Seine Hauptaufgabe
besteht in der Verbreitung buddhistischer Kultur in Deutschland. Während sich der Tempel zunächst am Kurfürstendamm befand, zog er am 25. November 2004 in ein ehemaliges Fabrikgebäude von 2000 m² in der Franklinstraße (Berlin Tiergarten). Die Umsetzung dieses Projekts erfolgte durch den deutschen Unternehmer und Juristen Rainer Deyhle. Dieser war vom Abt des
Shaolin-Klosters in China, Shi Yongxin, mit der Gründung beauftragt worden. Aufgrund finanziellen Fehlmanagements schied Herr Deyhle jedoch Anfang Mai 2006 aus dem „Unternehmen“
aus. Seitdem ist der Shaolin Tempel Deutschland in bescheideneren Räumlichkeiten in der Bundesallee 215 (Berlin Wilmersdorf) untergebracht.3 Sowohl die religiöse als auch administrative
1
Diese bestanden (a) in systematischer und teilnehmender Beobachtung, (b) in strukturierten Interviews, Leitfadeninterviews sowie beiläufigen Gesprächen mit den Schüler(inne)n des Tempels sowie mit den chinesischen Mönchen.
2
Die Entstehung der Chan-Schule wird allgemein dem indischen Mönch Bodhidharma zugeschrieben, der im sechsten Jahrhundert im Shaolin-Kloster gelehrt haben soll. Der Legende nach gilt Bodhidharma ebenso als Begründer der
chinesischen Kampfkunst.
3
Bundesallee 215, 10719 Berlin. www.shaolin-tempel.eu.
Redaktion: Dr. Monika Gänßbauer. Die Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Die China InfoStelle ist ein gemeinsames Projekt von Evangelischem Missionswerk in Deutschland (EMW),
dem Evangelischen Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS), der Hildesheimer Blindenmission (HBM),
dem Missionswerk der Evang.-Luth. Kirche in Bayern (MWB), der Vereinten Evangelischen Mission (VEM)
und dem Nordelbischen Missionszentrum (NMZ).
Unter http://www.emw-d.de/de.root/de.chinainfo/de.china ist die China InfoStelle im Internet vertreten.
Aktuelle China Nachrichten Nr. 85 vom 14.02.2007
Aktuelle China Nachrichten
Leitung des Tempels liegt nun ausschließlich in den Händen von Abt Shi Yongchuan, der darüber
hinaus Qigong-Unterricht erteilt. Ihm zur Seite steht der Politikwissenschaftler Dr. Ding Ding als
Organisator und Dolmetscher. Für die Gongfu-Kurse sind die beiden Meister Shi Yanliang und
Shi Xiaohu, für den Taiji-Unterricht der Shaolin-Mönch Shi Yankai verantwortlich.
Das Tempel-Leben besteht, neben einer Chinesisch-Stunde und drei Meditationskursen wöchentlich, hauptsächlich aus kostenpflichtigen Kampfkunst-Kursen. Stundenweise wird Gongfu,
Taiji und Qigong angeboten. Die Preisspanne erstreckt sich von der 25 Euro teuren Mitgliederkarte „Kranich“ (die den Besuch von einem beliebigen Kurs pro Woche gestattet) bis hin zur „Drachen-Karte“. Letztere erlaubt für 100 Euro die unbegrenzte Teilnahme an sämtlichen Unterrichtsstunden. Daneben existieren ermäßigte Gebühren, Sonderangebote für Kinder sowie kostenfreie
Angebote religiöser Art: so etwa eine Unterrichtsstunde wöchentlich zur Buddhistischen Lehre
sowie dreimal pro Woche eine buddhistische Zeremonie. Insgesamt beträgt der Anteil rein sportlicher Lehrveranstaltungen 92%, während das religiöse Angebot nur 8% des Programms stellt.
Der Shaolin Tempel Deutschland muss sich vollständig selbst finanzieren. Selbst in der kritischen Umbruchphase zwischen Mai und August 2006 erhielt er, nach Aussage des Abtes Shi
Yongchuan, keinerlei finanzielle Unterstützung vom chinesischen Muttertempel. Daher musste der
Tempel sich anderweitig Geldmittel entleihen. Nachdem die Mönche während der Sommermonate
ihren Unterricht im Park abgehalten hatten, waren sie bis zur Neueröffnung des Tempels im September 2006 dazu gezwungen, die Räumlichkeiten in der Bundesallee unter Mithilfe ihrer Schüler/innen weitgehend selbst zu renovieren.
2. Motivation, Ziele und Methoden der Mönche bei der Vermittlung buddhistischer Kultur
(a) Abt Shi Yongchuan
Die Frage, was für ihn Buddhismus bedeute, beantwortet Abt Shi Yongchuan folgendermaßen:
„Der wichtigste Sinn… Die Bedeutung des Buddhismus ist… Er ist wie ein langer Weg, der den
Menschen, die nicht wissen, wo sie lang gehen sollen; die nicht wissen, ob sie nach links oder
rechts… Wie ein Weg, der den Menschen zeigt, ob sie geradeaus, nach links oder nach rechts gehen sollen. Er ist eine Hilfe für die ganze Gesellschaft, für die ganze Menschheit.“ Des Weiteren
sei der Buddhismus „…wie ein Leuchtturm im Meer, wie man so sagt… Wenn es abends dunkel
wird, dann ist der Buddhismus wie ein Licht. Indem er es (sein Licht) erstrahlen lässt, zeigt er vielen Menschen: Ah, dieser Ort ist ungefährlich, dorthin kann ich mein Boot lenken, aber die dunklen Flecken könnten vielleicht gefährlich sein.“
Dass Mitmenschen auch ohne Worte berührt werden können, wird an einer anderen Stelle des
Gesprächs sehr deutlich. Dort kommt Abt Shi Yongchuan ganz von selbst auf die Sprachbarriere
zu sprechen, mit der er sich in Deutschland konfrontiert sieht:
„Ehrlich gesagt ist es vor allem die Sprachbarriere… Die Sprachbarriere ist ziemlich groß. (…)
In vielen Situationen kann man sich gegenseitig nicht verstehen. Allerdings gibt es zwischen den
Zeilen… Du musst gar nicht so viel reden. Offenbar besteht da eine seelische Kommunikation, die
sich über die Bewegung, über die Handlung ausdrückt. So kann man allmählich… Indem man
lange Zeit miteinander verbracht hat, kann man sich gegenseitig verstehen, was der andere sagt
oder tut. Du musst nicht alles über Worte so klar ausdrücken. So ist das bald schon kein Hindernis
mehr.“
Diese Methodik der Unterweisung lässt sich als eine Besonderheit des Chan-Buddhismus bezeichnen: nämlich die Umgebung allein durch die eigene Vorbildwirkung, durch die eigene Präsenz zu beeinflussen. Letztere drückt sich in der Art und Weise aus, wie sich der Meister in bestimmten Situationen verhält, wie er auf alltägliche Dinge reagiert. Dabei kommt es nicht so sehr
auf sprachliche Verständigung an. Vielmehr wird eine verhaltensorientierte Kommunikationsform
praktiziert.
Abt Shi Yongchuan hofft vor allem, seinen Schüler(inne)n mit Hilfe des Erfahrungsschatzes aus
der buddhistischen Tradition Chinas einen Entwicklungsanstoß geben zu können. Doch wie kann
man bei der Vermittlung buddhistischen Gedankenguts etwaige Verstehensprobleme überwinden?
2
Aktuelle China Nachrichten Nr. 85 vom 14.02.2007
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Welchen wichtigsten Teil des Buddhismus können die Schüler/innen des Shaolin Tempel Deutschland nach Ansicht des Abtes verstehen? Die Antwort darauf lautet:
“Hm… (lange Pause.) Wie… Wie man dieses, dieses Hindernis überwinden kann, das ist sehr
schwer zu sagen… (…) Manche Schüler zum Beispiel, wenn ich ihnen von der Theorie und dem
Wesen des Buddhismus erzähle, manche sagen dann vielleicht… Wenn sie davon hören, sagen sie
vielleicht: Oh, das ist gut. Aber dies in die Tat umzusetzen, das ist nicht so einfach, wirklich nicht
so leicht, sie denken… Sie denken vielleicht: Das ist nur eine Wahrheit und sonst nichts.“
Und etwas später fügt er hinzu: „Hm… Was sie (d.h. die Schüler) verstehen können… Das…
(längere Pause.) (…) Der Buddhismus hat einige sehr einfache Wahrheiten. Die sind… Was ist
Buddhismus, hm. Einfache Wahrheiten sind, wie gesagt, sehr einfach und gleichzeitig doch so
schwer, so schwer in die Tat umzusetzen.“
Insgesamt betont Abt Shi Yongchuan die ethische Komponente des Buddhismus. So legt er
großen Wert auf die praktische Umsetzung buddhistischer Grundwerte im Alltag. Diese beziehen
sich auf gegenseitige Fürsorge und Hilfsbereitschaft, Verantwortung der Umwelt und den Mitmenschen gegenüber sowie auf die Loslösung von zu hohen (z.B. materiellen) Ansprüchen. Es
geht ihm nicht so sehr um die Vermittlung buddhistischer Theorie. Vielmehr scheint es ihm wichtig zu sein, die „einfachen und doch so schweren Wahrheiten des Buddhismus“ im alltäglichen
Leben in die Tat umzusetzen. Allerdings scheint er zu befürchten, dass diese Botschaft von seinen
Schüler(inne)n nicht ernst genug genommen bzw. nicht auf die von ihm gewünschte Art und Weise verstanden wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Abt Shi Yongchuan eine verhaltensorientierte, nonverbale Methodik der Kommunikation praktiziert, und zwar auf eine selbstbewusste und überzeugende Art. So kommt es beispielsweise im Tempel-Leben häufiger vor, dass er Koans4 durch
Handgesten, einfache Sätze oder überraschendes Verhalten weitergibt.5
Allerdings scheint er manche grundlegenden Probleme und Bedürfnisse der deutschen Gesellschaft nicht so genau zu kennen. Meine Vermutung stützt sich auf mehrere Beispiele, die der Abt
im Laufe des Interviews anführte. Diese rühren jedoch eher an Grundproblematiken der chinesischen Gesellschaft: So beziehen sie sich u.a. auf umweltschützendes Verhalten als Ausdruck sozialer Verantwortung (z.B. nicht seine Bierflasche achtlos fallen zu lassen) oder auf die Loslösung
von materieller Gier (z.B. nicht das Auto des Nachbarn zu begehren). Dem muss entgegengehalten
werden, dass der Umweltschutz in Deutschland mittlerweile auf eine lange Tradition zurückblickt.
Außerdem hegen die meisten Schüler/innen des Shaolin Tempel Deutschland keineswegs materialistische Absichten, sondern befinden sich auf geistiger Sinnsuche als Alternative zum konsumorientierten Mainstream.
(b) Die anderen Meister
Um die Motivation der in Deutschland lebenden Meister verstehen zu können, muss berücksichtigt werden, dass die Gründe für den Eintritt ins chinesische Shaolin-Kloster nicht immer rein
religiöser Natur sind. Viele der dort lebenden Mönche stammen aus ärmeren ländlichen Regionen
Chinas. Seit ihrer Kindheit lernen sie Gongfu. Das Kloster bietet ihnen sowohl lebenslange Förderung auf diesem Gebiet als auch finanzielle Absicherung.
Meister Shi Yankai ist neben Abt Shi Yongchuan der einzige vollordinierte Mönch im Shaolin
Tempel Deutschland. Aus diesem Grunde ist er an einer profunden Vermittlung religiöser Inhalte
äußerst interessiert. Außerdem tritt er – trotz rudimentärer Deutschkenntnisse – auf sehr aktive
Weise mit seinen (deutschen) Schüler(inne)n in Kontakt: So bemüht er sich vor bzw. nach dem
4
Chin. Gong’an 公案
Z.B. habe ich Folgendes miterlebt: Eine Schülerin unterbrach durch ihr unpünktliches Erscheinen den Unterricht des
Abts zur buddhistischen Lehre. Weil gerade eine kurze Meditation abgehalten wurde, deutete die Schülerin fragend in
Richtung eines Sitzkissens nach unten. Als Antwort hob der Meister seinen Finger und zeigte zur Decke. Daraufhin
blieb die Schülerin verunsichert stehen, bis die Meditation beendet war.
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Aktuelle China Nachrichten
Taiji-Unterricht um sprachliche Kommunikation. Sein engagiertes Verhalten fördert die Verbreitung und Verständlichmachung buddhistischer Kultur in erheblichem Maße.
Die Hauptmotivation der Meister Shi Yanliang und Shi Xiaohu für ihren Klostereintritt in China bestand hingegen darin, eine qualifizierte Gongfu-Ausbildung zu erhalten. Aus diesem Grunde
sind sie nicht so sehr an einer Vermittlung religiöser Inhalte interessiert. Da ihre Aufgabe ausschließlich im Unterrichten von Gongfu besteht, ist es ihnen hier (anders als im chinesischen Muttertempel, wo sie täglich Gongfu-Unterricht erhalten) darüber hinaus nicht möglich, ihre eigenen
körperlichen Fähigkeiten zu vertiefen. Daher bestehen große Motivationsprobleme für ihre Arbeit
im Shaolin Tempel Deutschland, die die Vermittlung buddhistischer Inhalte behindern. Dieses
Problem äußert sich u.a. darin, dass die beiden Meister eine sprachliche Kommunikation mit ihren
Schüler(inne)n weitgehend vermeiden.
Das fehlende Engagement der beiden Meister hat jedoch möglicherweise eine andere Ursache.
So wurde die Entscheidung, in Deutschland zu wirken, nicht von den Mönchen selbst, sondern
allein vom Abt des Shaolin-Klosters in China, Shi Yongxin, getroffen. Auf diese Weise wird eine
aktive, verantwortungsbewusste Mitgestaltung des Tempel-Lebens in Deutschland seitens der chinesischen Meister gebremst. Dies beeinträchtigt die Kommunikation buddhistischer Kultur in erheblichem Maße.
3. Die Rezeption chinesisch-buddhistischer Kultur bei den Schüler(inne)n des Shaolin
Tempel Deutschland
Will man die Schüler/innen des Shaolin Tempel Deutschland in verschiedene soziale Gruppen
unterteilen, so lassen sich grob zwei „Lager“ unterscheiden. Auf der einen Seite stehen die Gongfu-Schüler, die mehrheitlich männlich und größtenteils sehr jung sind, d.h. zwischen 5 und 30 Jahren alt.6 Auf der anderen Seite befinden sich die Besucher/innen der „sanfteren“ KampfkunstFormen sowie der Meditationskurse, die aber auch das religiöse Angebot nutzen. In dieser Gruppe
ist der Anteil an Frauen etwas größer. Außerdem ist der Altersdurchschnitt deutlich höher: Die
Mehrheit ist schätzungsweise zwischen 30 und 45 Jahren alt. Hier dürfte die Anzahl derer überwiegen, die sich auf geistiger bzw. religiöser Sinnsuche befinden.
Dabei fällt auf, dass sich nur ein verschwindend geringer Teil des Kundenstamms zum Buddhismus bekennt. Genauso selten kommt es vor, dass sich ein Schüler passiv als Buddhist bezeichnen würde. Allerdings haben ausnahmslos alle der Befragten eine sehr positive Einstellung zum
Buddhismus.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass es den meisten Schüler(inne)n äußerst schwer fiel, zum
Thema Buddhismus etwas Konkretes zu sagen. Dafür wurden in zahlreichen anderen Zusammenhängen recht diffuse Werte und Vorstellungen genannt, die denjenigen sehr ähneln, welche die
Schüler/innen auch dem Buddhismus zuschrieben. Offenbar wird der Buddhismus nicht als von
der Shaolin-Kultur getrennt, sondern als vereint mit dieser wahrgenommen. Daher kann man davon ausgehen, dass tatsächlich buddhistische Inhalte vermittelt werden – allerdings auf eine nichtkognitive Art und Weise. Diese wiederum sind nur schwer mit herkömmlichen wissenschaftlichen
Untersuchungsmethoden zu erfassen.
Um die kommunizierten buddhistischen Inhalte ergründen zu können, bietet sich eine alternative, eine religionsästhetische Herangehensweise an. Die noch sehr junge, sich erst im Prozess ihrer
Etablierung befindende Teildisziplin Religionsästhetik setzt sich nämlich zur Aufgabe, den ästhetischen Gehalt von kulturellen Systemen zu untersuchen. Im Gegensatz zu einer kognitiven Untersuchung kultureller Kommunikation rückt hier die Frage in den Vordergrund, auf welche Weise
sinnliche Medien (z.B. Farben, Gesänge, Tänze, Gerüche, Rituale, Einbeziehung des Körpers etc.)
komplexe religiöse Aussagen vermitteln können – und zwar zum Teil mit nonverbalen Methoden.
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Kinder wurden in den Befragungen nicht berücksichtigt.
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Aktuelle China Nachrichten Nr. 85 vom 14.02.2007
Aktuelle China Nachrichten
(a) Während der Schülerbefragungen wurde häufig hervorgehoben, dass das Praktizieren von
Kampfkunst eine beruhigende, stressreduzierende Wirkung besitze. Gleichzeitig wurden dem
Buddhismus Werte wie innere Ruhe, Gelassenheit, Harmonie und Ausgeglichenheit zugeschrieben. Ähnlich verhält es sich beim Thema „Konzentration“: So gaben zahlreiche Teilnehmer an,
dass das Ausüben der Kampfkunst ihre Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit erhöhe. Parallel dazu filterten sie „Konzentration“ als ein Wesensmerkmal des Buddhismus heraus. Dies
bekräftigt meine These, dass buddhistische Werte über körperliche Kultivierungsmethoden kommuniziert werden können.
(b) Auch den buddhistischen Zeremonien wurde von einigen Schülern eine beruhigende Wirkung zugeschrieben: „Wir werden gelassener“, so lautete die Antwort eines 25jährigen GongfuSchülers. Zu den religiösen Gesten (z.B. dem Buddhagruß) gab ein etwa 30jähriger Teilnehmer
an, dass er damit „die Harmonie“ respektiere. Gleichzeitig wünsche er sich, dass er selbst eines
Tages einen Zustand innerer Harmonie und Gelassenheit erlangen werde. Daraus kann man
schlussfolgern, dass Gelassenheit und Harmonie als emotionale Folge der Beteiligung an buddhistischen Zeremonien bzw. der Ausübung religiöser Gesten allgemein mit dem Buddhismus in Zusammenhang gebracht werden.
(c) Dem Auftreten der chinesischen Mönche wird allgemein eine sehr hohe Wirkkraft zugesprochen. So gab ein 27jähriger Student an, von der Präsenz der Meister fasziniert zu sein: Er empfinde große Ehrfurcht vor deren Charisma. Über den Gongfu-Unterricht wurde mir von zwei Oberstufenschülern berichtet, dass dort die Meister-Schüler-Beziehung sehr traditionell gestaltet sei.
Dies empfänden sie als überaus wichtig, da der Meister Vorbild sein und Autorität ausstrahlen
müsse. Er stelle ein Symbol für das dar, was man erreichen wolle. Als Shaolin-Mönche repräsentieren und verkörpern die Meister den Buddhismus an sich. In ihrer Vorbildfunktion prägen sie
das Bild, das sich deutsche Schüler/innen vom Buddhismus machen. Daraus kann man schließen,
dass allein durch das Auftreten und Verhalten der chinesischen Mönche buddhistische Werte vermittelt bzw. kommuniziert werden.
(d) Ein anderer wichtiger Punkt bezieht sich auf die nonverbale Erziehungsmethode: Diese
scheint von den Schüler(inne)n des Tempels nicht nur akzeptiert, sondern rückhaltlos befürwortet
zu werden. So meinte ein etwa 20jähriger Gongfu-Schüler, dass er die Unterrichtsweise ohne
Worte „supercool“ finde, und dass sie „sehr gut klappen“ würde. Zwei andere Schüler erklärten,
dass man mit Worten viel „totreden“ könne. Indem der Meister jedoch auf verbale Erklärungen
verzichte, sei er dazu gezwungen, die Figuren noch deutlicher auszuführen, damit seine Schüler
sie verstehen könnten. Da er sich somit erheblich größere Mühe geben müsse, würden die Bewegungen „authentischer“ und „echter“.
(e) Die Atmosphäre des Tempels wird im Allgemeinen als entspannt bzw. entspannend, stressabbauend sowie als Ruhe spendend beschrieben. Für einen ca. Mitte 30jährigen Gongfu-Schüler
verströmt sie vor allem „Stille“ und „Frieden“. Eine Mitte 40jährige Taiji-Schülerin gab an, dass
ihr der Aufenthalt im Tempel Energie schenke.
4. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Vermittlungsweise
chinesisch-buddhistischer Kultur im Shaolin Tempel Deutschland
Basierend auf einer religionsästhetischen Methodik ist davon auszugehen, dass im Shaolin Tempel
Deutschland tatsächlich buddhistische Inhalte vermittelt werden – und zwar in erster Linie über
die Sinne. Besonders die nonverbale Kommunikationsstrategie des Abtes, die im Vorleben buddhistischer Grundideen besteht, lässt sich als äußerst wirksam bewerten. Im religionsästhetischen
Sinne könnte man Abt Shi Yongchuan als einen „Performance-Künstler“ bezeichnen: So überrascht er seine Umgebung häufig durch scheinbar irrationales, unvorhersehbares Verhalten. Letzteres stellt eine Art Koan-Praxis dar, die ein besonderes Wesensmerkmal des Chan-Buddhismus
bildet.
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Aktuelle China Nachrichten
Allerdings unterliegt die Vermittlung buddhistischer Kultur zwei Einschränkungen. Die erste
besteht in der fehlenden Einbindung der Gongfu-Meister in die Entscheidungsprozesse des Mutterklosters in China. Dies kann unter Umständen ein mangelndes Interesse der Gongfu-Meister an
der Verbreitung buddhistischer Kultur zur Folge haben. Die zweite bezieht sich darauf, dass der
Tempel keinerlei finanzielle Unterstützung vom Muttertempel oder von anderen buddhistischen
Gruppen erhält. Aus diesem Grunde befindet sich der Tempel unter starken finanziellen Zwängen.
Der Grad der Verständlichmachung buddhistischer Inhalte hängt äußerst stark von der jeweiligen Persönlichkeit des Meisters (d.h. von seiner Motivation und Begabung) sowie von seinem
individuellen Engagement ab. Die Vermittlungsqualität steigt und sinkt mit den Neigungen und
Fähigkeiten des Meisters. Da die Mönche (mit Ausnahme des Abtes) von Zeit zu Zeit „ausgetauscht“ werden, ist im Falle des Shaolin Tempel Deutschland keine qualitative Kontinuität zu
erwarten. Die Situation kann in einigen Jahren schon eine vollkommen andere sein.
Der häufige Wechsel der chinesischen Meister hat darüber hinaus zur Folge, dass die sprachliche Kommunikation mit den Schüler(inne)n auf gravierende Hindernisse stößt. Des Weiteren
bleibt fraglich, ob die Mönche innerhalb einer so kurzen Zeitspanne die Grundproblematiken ihrer
(deutschen) Schüler/innen wirklich verstehen lernen können.
Die Schüler/innen des Shaolin Tempel Deutschland selbst scheinen sich jedoch wohl zu fühlen
mit dem, was der Tempel ihnen bietet. Die Mehrheit findet das, wonach sie sucht. So ist der Tempel als ein Ort zu bezeichnen, an dem sich zwei Aspekte zu einer charakteristischen Mischung
verbinden. Zum einen ist er (a) von einer Atmosphäre religiöser bzw. geistiger Kultivierung gekennzeichnet. Zum anderen bietet er (b) Raum für eine gesellige, gemeinschaftsstiftende Form der
Freizeitgestaltung. Diese Mischung aus „spiritueller Sinnsuche“ und einer gemeinschaftsstiftenden, aber unverbindlichen Freizeitgestaltung wirkt auf viele Besucher des Shaolin Tempel
Deutschland äußerst attraktiv. Es ist anzunehmen, dass solch eine locker organisierte, kundenorientierte Organisationsform von Religion den Bedürfnissen unserer postmodernen westlichen Gesellschaft mit starker Gewichtung auf individuelle Lebensgestaltung in hohem Maße entspricht.
Der Shaolin Tempel Deutschland bietet ein religiöses bzw. geistiges, traditionsgebundenes Umfeld
einerseits. Andererseits drängt er nicht auf eine konfessionelle Bindung; er wirbt nicht einmal darum. Somit gelingt es dem Tempel, zahlreiche äußerst divergierende Sehnsüchte bzw. Ansprüche
zu erfüllen, zu integrieren sowie Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen an sich zu
binden.
Dennoch lässt sich eine Diskrepanz zwischen den Ansprüchen des Abtes und denen seiner
Schüler(inne)n feststellen. Während die Wünsche der (deutschen) Schüler/innen eher im Erlangen
von Wohlgefühl (wie Harmonie und Entspannung) bestehen, möchte Abt Shi Yongchuan primär
ethische bzw. sozial ausgerichtete buddhistische Werte vermitteln, die in den Alltag integriert
werden sollen.
Der Shaolin Tempel Deutschland bietet zweifellos eine Projektionsfläche für „spirituelle“ Sehnsüchte. Dies muss nicht weiter stören. Allerdings verfügt der Tempel m.E. über ein großes Potenzial in der Vermittlung buddhistischer Kultur, das aufgrund der oben erläuterten Hindernisse leider nicht vollständig genutzt wird.
Johanna Lüdde ist Doktorandin an der Universität Leipzig. Bis September 2006 studierte sie Sinologie und Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Der Artikel stellt wichtige Ergebnisse aus ihrer Magisterarbeit mit dem Titel „Die Akkulturation chinesisch-buddhistischer
Kultur in Deutschland am Beispiel des Shaolin Tempel Deutschland“ vor. Die Magisterarbeit
wird im Lit Verlag erscheinen.
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