Sind wir für unsere Taten verantwortlich?

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Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Willensfreiheit und Strafrecht.
1 Aus der Kursbeschreibung
Sind wir für unsere Taten verantwortlich, und können wir strafrechtlich für sie verantwortlich gemacht werden?
Treffen wir Handlungsentscheidungen überhaupt aus freiem Willen oder geschehen sie uns einfach?
Um diese Fragen zu erschließen, beschäftigte sich dieser Kurs zunächst mit ihrer strafrechtlichen Einbettung,
um sich anschließend der philosophischen Problematik zu widmen. In einem dritten Teil wurde dann untersucht, inwieweit philosophische und strafjuristische Fragen der Willensfreiheit miteinander verknüpft sind.
Zu Beginn wurde also das deutsche Strafrechtssystem betrachtet: Angefangen bei der Frage, warum und wozu
überhaupt gestraft wird, wurde der Deliktsaufbau erschlossen (unter welchen Umständen wird eine Handlung
überhaupt zum Delikt?), um dann auf das Schuldprinzip zu stoßen. Dabei spielt insbesondere die Verantwortlichkeit des Einzelnen für sein Tun eine große Rolle. Verantwortlichkeit ist zwangsläufig mit der Frage nach der
Willensfreiheit verknüpft.
Deshalb wurde im zweiten Kursteil die strafrechtliche Annahme eines freien Willens philosophisch hinterfragt.
Hierbei lag der Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit der aktuellen Debatte über die Willensfreiheit in
der Philosophie. Die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, oder alles, was er tut, vollständig determiniert ist und unabhängig von seinen Entscheidungen und Absichten geschieht, hat die Philosophie seit ihren
Ursprüngen beschäftigt. Seitdem in der Hirnforschung und den Neurowissenschaften unser Fühlen, Denken
und Handeln – und so auch unsere Willensentscheidungen – mit naturwissenschaftlichen Methoden erforscht
werden, wird diese Frage in der Philosophie besonders intensiv und kontrovers diskutiert. Einige Naturwissenschaftler behaupten, dass uns das Gefühl, etwas aus eigenem Willen zu tun, trügt und die Willensfreiheit
aufgrund der modernen Forschungsergebnisse als bloße Illusion betrachtet werden muss. Dabei standen die
Reaktionen auf diesen Einwand in der zeitgenössischen Philosophie im Vordergrund.
Im dritten Kursteil wurde dann aus den beiden vorangehenden Kursteilen heraus entsprechend dem Kurstitel
die interdisziplinäre Fragestellung entwickelt: Welchen Einfluss haben die gewonnenen Erkenntnisse auf die
strafrechtliche Problematik, können wir für unsere Taten strafrechtlich verantwortlich sein?
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Akademie Roßleben 2006-7
2 Strafzwecke – Warum wird überhaupt gestraft?
(Julia Cordes, Dennis Just, Daniela Meyer)
»Strafe ist ein Übel, das einer Person in einem bestimmten allgemein-öffentlichen, staatlich betriebenem, formalisierten Verfahren bei der Verletzung einer rechtlichen Regel gewollt zugefügt wird, soweit der Regelverstoß
dieser Person missbilligend zuzurechnen ist.«1
Diese Definition beinhaltet wesentliche Ideen, die unserem Strafrecht zugrunde liegen, sagt aber noch nichts
darüber, warum und wozu gestraft wird. Dazu gibt es verschiedenen Theorien. Sie lassen sich in zwei große
Bereiche untergliedern.
Auf der einen Seite stehen die absoluten Straftheorien, deren Motiv die Vergeltung ist: »Punitur, quia peccatum
est. – Bestraft wird, weil Unrecht begangen worden ist.«2 Diese Theorien befassen sich mit dem übelsausgleichendem Aspekt der Strafe, der Repression.
Auf der anderen Seite stehen die relativen Straftheorien, deren Motiv die Vorbeugung ist: »Punitur, sed ne
peccetur. – Bestraft wird, damit kein Unrecht geschieht.«3 Diese Theorien befassen sich mit dem vorrausschauenden Aspekt der Strafe, der Prävention.
2.1 Präventionstheorien
Man unterteilt die relativen Straftheorien in general- und spezialpräventive, wobei erstere die Allgemeinheit,
letztere das straffällig gewordene Individuum ins Auge fassen.
Als Hauptvertreter der negativen Generalprävention gilt Feuerbach4 . Er geht davon aus, dass der Mensch neben seiner Vernunft vor allem seinen Trieben und Begehrlichkeiten folgt, und gleichzeitig Abneigung gegenüber
Unlust und Schmerz empfindet. Daher obliegt es seiner Auffassung nach dem Staat, ein Mittel einzusetzen,
das es dem Bürger psychisch unmöglich macht, Verbrechen zu begehen. Strafe wird also als Abschreckung
gesehen, die so hoch angesetzt werden muss, dass der Widerwille, die Straftat zu begehen, für den Einzelnen größer ist als die mögliche Befriedigung durch eine Straftat. Ist dies gegeben, meidet der Bürger das
Verbrechen. Kritisch zu betrachten ist hierbei die Diskrepanz zur Vorstellung eines früheren, selbstbestimmten
Subjekts im Recht, die entsteht, wenn Straftäter nicht nach ihrer persönlichen Verantwortlichkeit, sondern nach
dem sich für die Gesellschaft ergebenden Nutzen gestraft werden. Aus Gründen der Abschreckung wird die
Strafe dann oft höher angesetzt, als die Straftat es eigentlich erfordert. Außerdem geht Feuerbach von einem
rational denkenden Mensch aus, der kalkuliert, bevor er eine Straftat begeht. Dies trifft allerdings nachgewiesenermaßen bei den meisten Delinquenten nicht zu. Auch wenn Feuerbachs Theorie aufgrund dieser Argumente
sehr radikal ist, lässt sich die große Bedeutung, die die Abschreckung auch im heutigen Strafrecht einnimmt,
nicht abstreiten.
Eine andere Theorie, die momentan eine Renaissance erlebt, ist die der positiven Generalprävention. Ausgangspunkt ist hierbei der Mensch als ein ursprünglich antisoziales Wesen, das erst in langwierigen Kultivierungs- und Sozialisierungsprozessen die Befolgung der sozialen Normen erlernt. Zur Verbrechensverhütung
wird demnach ein sozial-pädagogisch motivierter Lerneffekt angestrebt. Die Gesellschaft soll über Einsicht,
nicht Furcht, zu einem im Sinne des Staates korrekten Verhalten geführt werden. Auch hier nehmen Exempel
einen hohen Stellenwert ein, da durch eine begangene Straftat latente kriminelle Neigungen, die bei allen Gesellschaftsmitglieder vorliegen, mobilisiert werden. Durch die Bestrafung des Delinquenten werden nun diesen
Neigungen Gegenimpulse gesetzt, die sie davon abhalten, selbst zu delinquieren.5 Auch diese Theorie der Generalprävention wird als solche nicht angewandt. Ähnlich wie bei Feuerbach wird ein einzelner als »Instrument
eines Motivierungsmechanismus«6 gesehen und benutzt, um die Gesellschaft zu Einsicht zu bringen.
V. Liszt7 sieht dagegen den Sinn von Strafe vor allem in Spezialprävention. Ziel dabei ist es, den Täter nach einer begangenen Straftat vom künftigen Delinquieren abzuhalten. Notwendig für ein angemessenes Strafmaß
ist dabei eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Typen von Verbrechern. Dementsprechend wird auf
besserungsfähige und -bedürftige Straftäter die positive Spezialprävention angewandt, die auf die Resozialisierung des Delinquenten hinarbeitet. Hierfür werden zum Beispiel therapeutische Behandlungen durchgeführt. Liegt in jenem aber nicht mehr die Bereitschaft zur Besserung vor, so soll er durch Strafe von weiterem
1
Lesch, H.H., Zur Einführung in das Strafrecht: Über den Sinn und Zweck staatlichen Strafens (1.Teil), Bonn 1994.
Vgl. v. Hippel, R., Deutsches Strafrecht. Erster Band, Berlin 1925, S. 260.
3 s.o. (Fn. 2).
4 Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775–1833), deutscher Rechtsgelehrter, Begründer der negativen Generalprävention
5 vgl. Jescheck, H.-H., Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, Berlin 1996, S. 58.
6 Köhler, M., Über den Zusammenhang zwischen Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, Heidelberg 1983, S. 40.
7 Franz von Liszt (1851–1919), Professor für Straf- und Völkerrecht, Begründer der Spezialprävention
2
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Kurs 7.5: Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Fehlverhalten abgeschreckt werden. Doch gibt es natürlich auch Straftäter, die nicht besserungsfähig sind.
Durch ihre Verwahrung, Inhaftierung bzw. ihre Unschädlichmachung soll die Gesellschaft gesichert werden.
Hier findet die negative Spezialprävention ihre Anwendung.
Auch diese Theorie der Prävention wirft Fragen auf: Ist eine therapeutische Zwangsbehandlung eines Delinquenten aus Resozialisierungszwecken legitim? Zu welchem Zeitpunkt ist ein Verbrecher als besserungsunfähig einzustufen und wer entscheidet darüber? Da diese Fragen bislang unbeantwortet bleiben, kommt auch
die Spezialprävention in dieser radikalen Form nicht zum Durchgreifen.
2.2 Vergeltungstheorien
Die absoluten Theorien oder auch Vergeltungstheorien werden vor allem von Kant und Hegel vertreten, die
jedoch unterschiedliche Ansätze verfolgen. Kant begründet die Strafe damit, dass der Täter bestraft werden
muss, weil er die Tat begangen hat. Außerdem soll die Bestrafung den Zweck erfüllen, die Gerechtigkeit, die
durch das Verbrechen gestört wurde, wiederherzustellen. Dieses Ziel kann aber nur dann erreicht werden,
wenn die Bestrafung artgleich ausfällt, denn »nur das Widervergeltungsrecht kann die Qualität und Quantität
der Strafe bestimmt angeben« 8 (äußerlich-kausale Ebene der realphysischen Übelszufügung). Kant sieht es
also als gerecht an, wenn Gleiches mit Gleichem vergolten wird. Dieses Ausgleichskriterium zu erfüllen ist
schwer, wenn nicht sogar unmöglich, da das menschliche Gerechtigkeitsempfinden individuell stark variiert.
Als Beispiel dazu folgender Fall: Ein Mann vergewaltigt ein Mädchen, die Mutter des Mädchens will die Tat
rächen und bringt den Vergewaltiger um, da ihrer Auffassung nach dies das Gerechteste ist. Ihre Handlung ist
nachvollziehbar, doch aus strafrechtlicher Sicht wurde die Tat zu Unrecht begangen und muss daher bestraft
werden. Selbst wenn eine neutrale judikative Instanz existierte, könnte sie artgleiches Strafen nicht rechtfertigen: Sobald sie sich nämlich auf das Niveau des Täters herab begibt, verliert sie damit sofort ihre Legitimation
zu richten.
Die Straftheorie von Hegel verfolgt den Zweck der »Negation der Negation«9 . Das hegelianische Weltbild impliziert eine Ordnung, in der Regeln und Normen für die Gesellschaft festgelegt sind. Ein Verbrecher stört
nun dieses Verhältnis, indem er eine der Regeln bricht, z.B. wenn er mordet. Er negiert also die bestehenden
Gesetze und setzt quasi neue fest, nach denen es erlaubt sein müsste, zu töten. Eine Strafe soll nach Hegel
8
9
vgl. Kant, I., Metaphysik der Sitten. Vorländer-Ausgabe, Hamburg 1954, S. 159 f.
Hegel, G.W.F., Grundlinien der Philosophie des Rechts. Glockner-Ausgabe, Stuttgart 1952, S.152.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
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bezwecken, dass die vom Täter gestörte Ordnung wieder hergestellt wird. Die Bestrafung muss jedoch nicht
artgleich, wie bei Kant, sondern lediglich wertgleich sein. Je nach dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft
kann sie schwächer bzw. härter ausfallen: Ist die Gesellschaft stabil und gefestigt, so fällt die Bestrafung milder
aus, da ein Verbrechen etwas Unfestes und Isoliertes in Bezug auf die Gemeinschaft ist. Ist die Gesellschaft
jedoch instabil und ungeordnet, so muss die Strafe härter sein, da sie dann als Exempel zur Verbrechensbekämpfung dient. Bei dieser Form der wertgleichen Bestrafung ist problematisch, dass der Zustand einer
Gesellschaft nur schwer empirisch zu erfassen ist. Folglich ist die Festlegung der Strafe nach dem vorgestelltem Prinzip kaum durchführbar.
Eine neuere Theorie, die von Hegel ausgeht, befasst sich mit funktionaler Vergeltung. Sie geht davon aus,
dass jeder Mensch bestimmte Erwartungen hat, z.B. dass er einem anderen Menschen begegnen kann, ohne
davon ausgehen zu müssen, dass einer von beiden den anderen körperlich verletzt oder sogar tötet. Diese
Erwartungen orientieren sich an den Normen und Regeln der bestehenden Ordnung. Wird nun ein Verbrechen
begangen, schlägt etwa Person X eine Person Y und verletzt sie dadurch, so ändern sich die Erwartungen
von Y theoretisch so, dass sie, entgegen ihrer eigentlichen Erwartungen, damit rechnen muss, von einem
anderen Menschen verletzt zu werden. Somit werden die allgemeinen Ordnungsvorstellungen unterminiert,
da X durch dieses Verbrechen implizit behauptet, dass es erlaubt sei, zu schlagen und andere Menschen
zu verletzten. Eine Strafe hat dann einerseits den Zweck, gegenüber dem Täter, hier Person X, die Unabänderlichkeit von Ordnung und Erwartungen der Allgemeinheit zu markieren. Andererseits sollen aber auch die
Erwartungen von Opfer und Gesellschaft stabilisiert werden. Dies bedeutet für die Gesellschaft, dass sie sich
weiterhin kontrafaktisch an ihren alten Erwartungen orientieren kann. Die Theorie lässt sich allerdings nur in
intakten Gesellschaften realisieren, da es für die Durchführung einer stabilen Ordnung bedarf, nach der sich
die Gesellschaft richten und auf die sie vertrauen kann.
2.3 Vereinigungstheorien
Nach heute herrschender Meinung wird sowohl aus Vergeltungsgründen als auch zu spezial- und generalspezifischen Zwecken bestraft. Man spricht dabei von Vereinigungstheorien.
3 Grundlagen des deutschen Strafrechtssystems – Deliktsaufbau
(Leon Jacob)
3.1 Vorraussetzungen der Strafbarkeit
Um die Strafbarkeit einer Handlung feststellen zu können, wird sie nach unterschiedlichen Kriterien überprüft.
Drei für das vorliegende Thema wesentliche sind:
1) Tatbestandsmäßigkeit
2) Rechtswidrigkeit
3) Schuld
Wichtig ist, dass eine Handlung nur dann als Straftat gilt und somit strafbar ist, wenn jedenfalls die oben
genannten Kriterien erfüllt sind. Die Bedeutung der einzelnen Kriterien werde ich in den folgenen Abschnitten
erörtern und anhand eines Beispiels erklären.
3.1.1 Tatbestandsmäßigkeit
Nur wer durch eine Handlung die Merkmale eines gesetzlichen Tatbestandes vorsätzlich erfüllt, handelt tatbestandsmäßig. Folgendes Beispiel soll das verdeutlichen:
Person A lauert Person B aus dem Hinterhalt auf und ermordet ihn durch mehrere Schüsse mit einer Handfeuerwaffe in den Unterleib des B.
Der zugehörige Gesetzestext im StGB, welcher den entsprechenden Tatbestand normiert, ist der des Mordes:
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
§ 211 Mord.
(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen
Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln, oder um eine andere Straftat
zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.
Das für unseren Fall entscheidende Mordmerkmal ist die Heimtücke. B ist in unserem Falle sowohl arg- als
auch wehrlos und dem hinterhältigen Angriff von A ausgesetzt ohne darauf reagieren zu können. Zudem nutzt
A die Überlegenheitssituation wissentlich und willentlich zu seinen Gunsten. Damit erfüllt A beim Angriff auf B
sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht alle Erfordernisse der heimtückischen Tötung.
A verstößt somit gegen § 211 StGB, somit liegt der Tatbestand des Mordes gegen ihn vor.
3.1.2 Rechtswidrigkeit
Auch wenn ein Tatbestand nach den oben genannten Voraussetzungen erfüllt ist, ist die Strafbarkeit noch nicht
unbedingt gegeben. Es gibt einige Ausnahmefälle, in denen das Handeln gegen geltende Gesetze kein Unrecht darstellt und man daher nicht von Rechtswidrigkeit sprechen kann. Solche Gründe, die Rechtswidrigkeit
ausschließen, nennt man Rechtfertigungsgründe.
Neben dem Rechtfertigungsgrund der Notwehr, welche in § 32 StGB normiert ist, gehören hierzu unter anderem auch der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) sowie die vorläufige Festnahme (§ 127 StPO), Einwilligung
und die rechtfertigende Pflichtenkollision. Nur dann, wenn sowohl Tatbestandsmäßigkeit als auch Rechtswidrigkeit gegeben sind, stellt die Tat Unrecht dar. Anhand von Beispiel 1 lässt sich nachvollziehen, dass hier auch
die Rechtswidrigkeit gegeben ist. Der Täter, in unserem Falle also A, handelt weder aus Notwehr (§ 32 StGB),
da kein rechtswidriger Angriff gegen ihn vorliegt, noch liegt ein rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) vor, da
keinerlei Gefahr erkennbar ist.
3.1.3 Schuld
»Das Unrechtsurteil besagt nur, dass die Tat des Täters missbilligt wird, erlaubt aber noch nicht den Schluss,
dass er dafür auch persönlich zur Verantwortung gezogen wird.«10 . Es kann also trotz begangenen Unrechtes
immer noch Gründe geben, den Täter nicht zu bestrafen.
Damit ein Täter, der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit erfüllt hat, ohne Schuld bleibt, bedarf es eines
Entschuldigungsgrundes. Im Sinne des Gesetzes versteht man unter solchen neben der Schuldunfähigkeit (§
20/21 StGB) auch den unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB) oder den entschuldigenden Notstand (§ 35
StGB).
Interessant ist, die unterschiedlichen Folgen zwischen entschuldigendem Notstand und rechtfertigendem Notstand zu sehen: Während das Opfer einer bloß entschuldigten Handlung das Notwehrrecht hat und sich somit
wehren darf, da die an ihm begangene Tat lediglich entschuldigt und somit immer noch ein rechtswidriger
Angriff ist, macht es sich im Falle einer unter rechtfertigendem Notstand stattfindenden und somit nicht rechtswidrigen Tat strafbar, falls es sich wehrt. Wer also einen Entschuldigungsgrund im Sinne des Gesetzes hat, ist
lediglich von der Strafe befreit, seine Taten sind jedoch nicht vor dem Gesetz legitimiert.
3.2 Die Strafbarkeit eines Versuchs
Weiterhin stellt sich noch die Frage, wie das Gesetz mit dem bloßen Versuch einer Straftat umgeht. Auch
nicht vollendete Taten können bestraft werden, da auch eine misslungene Straftat einen Angriff auf das Recht
darstellt. Der Tatbestand des Versuchs lautet nach § 22 StGB folgendermaßen:
§ 22 Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes
unmittelbar ansetzt.
Eine mögliche Abgrenzung des Versuchs von der Vorbereitung eines Delikts ist jene, dass ein Versuch dann
vorliegt, wenn der Täter den Verlauf des Delikts aus seiner Hand gegeben hat. Im Falle unseres Beispiels also
liegt der Versuchsbeginn demnach jedenfalls vor, sobald A den Schuss aus der Waffe gelöst hat, unabhängig
davon, ob die Kugel ihr Ziel trifft oder verfehlt und B somit stirbt oder nicht.
Auch bei der Bestrafung wird klar, dass solche Zufälle, die nicht mehr in der Hand des Täters liegen, für das
Strafmaß irrelevant sind. Das StGB schreibt hierzu:
10
Roxin, C., Arzt, G. & Tiedemann, K., Einführung in das Strafrecht und Strafprozessrecht, Heidelberg 1994, S. 19.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
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§ 23 Strafbarkeit des Versuchs.
(1) Der Versuch eines Verbrechens ist stets strafbar, der Versuch eines Vergehens nur dann, wenn das Gesetz
es ausdrücklich bestimmt.
(2) Der Versuch kann milder bestraft werden als die vollendete Tat (§ 49 Abs. 1) [...]
Hervorzuheben sind hierbei vor allem zwei Aspekte.
Zum einen der Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen, welche durch das Mindeststrafmaß voneinander abgegrenzt werden: Als Verbrechen gelten Straftaten mit einem Mindeststrafmaß von einem Jahr Haftstrafe, als Vergehen alle Delikte mit geringerem Mindeststrafmaß (§ 12 StGB). Ausnahmen bei dieser Regelung
bilden Vergehen, bei denen im Normtext festgelegt ist, dass auch der Versuch bestraft wird.
Der zweite wichtige Punkt ist die Formulierung in (2), »[...] kann milder bestraft werden [...]«. Dies bedeutet,
dass ein Versuch nicht zwangsläufig milder, sondern auch genauso hart bestraft werden kann wie im Falle des
Gelingens.
4 Schuldtheorien
(Dennis Just, Sarah Grünewald)
4.1 Der Schuldbegriff und Schuldtheorien
Angenommen, in einem fiktiven Gerichtsprozess wird nur die Frage des Tatbestandes und der Rechtswidrigkeit
betrachtet. Der Tatbestand als solcher gibt die Art der Straftat wieder, wohingegen die Rechtswidrigkeit die Frage des Widerspruchs zur Rechtsordnung aufgreift. Dann ist über die persönliche Verantwortlichkeit des Täters
nocht nichts gesagt. Diese wird beim Problem der Schuldfeststellung thematisiert, die in einer Subjektivierung
der Tat besteht. Bestraft werden darf ein Täter nur, soweit er sich zudem auch ursächlich schuldig gemacht
hat.
Eine Person macht sich nach dem BGH11 genau dann schuldig, wenn sie sich rechtswidrig verhält, obwohl
sie anders hätte handeln können. Dies wird damit begründet, dass der Mensch auf freie Selbstbestimmung
angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht zu entscheiden.
Wenn man die Schuld als Einstehen müssen für den eigenen Charakter sieht, dann hätte ein Täter genau
dann anders handeln können, wenn er ein anderer gewesen wäre. Folglich liegt die Vertantwortung bei ihm,
da er einen solchen Charakter hat. Mit solch einer Position kann man die Verantwortlichkeit für eine Tat allein
an dem Charakter anknüpfen: bestraft wird, weil der Täter so geworden ist, wie er ist.
Im direkten Gegensatz dazu beschreibt Jakobs einen funktionalen Schuldbegriff. Er versteht Schuld als zweckbestimmt. Dieser Zweckbestimmtheit weist er einen generalpräventiven Aspekt zu, der sich aber nicht im Sinne
von Abschreckung, sondern in der Einübung von Rechtstreue versteht. Er dient der Stabilisierung des durch
das deliktische Verhalten gestörten Ordnungsvertrauens.
Vorausgesetzt, jemandem waren Entscheidungsmöglichkeiten zu normorientiertem Verhalten psychisch zugänglich, spricht man von einer Schuld als unrechten Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit. Grundlage
dieser Theorie ist nicht eine unbeweisbare Hypothese, sondern ein erfahrungswissenschaftlicher Befund, in
dem Einschränkungen der Selbstbestimmung empirisch nachgezeichnet werden können.
Rechtliche Schuld, welchem der genannten Schuldbegriffe man auch anhängen mag, muss dem Schuldgrundsatz folgen. Dieser besagt, dass Strafe nur dann verhängt werden darf, wenn dem Täter Schuld zum Vorwurf
gemacht werden kann. Ebenso darf Strafe nur im Rahmen, d.h. in den Grenzen der Schuld ausgesprochen
werden. Strafrechtlich erfolgt die Prüfung der Schuld zwei Schritten. Als erstes wird die Frage nach der Strafbegründungsschuld gestellt. Sie fragt danach, ob dem Täter die Tat vorzuwerfen ist. Der zweite Schritt betrifft die
Verantwortlichkeit des Täters, welche beim Strafmaß berücksichtigt werden muss, die Strafbemessungsschuld.
Unabhängig davon, welchen Schuldbegriff man vertritt, an irgendeiner Stelle der Feststellung (der Nichtfeststellung) der Schuld taucht die Frage nach der Verantwortlichkeit auf. Ob in den Formeln des Andershandelnkönnens, der Charakterschuld oder der normativen Ansprechbarkeit – alle Ansätze sind mit einem bestimmten
Verständnis des Verhälnisses von Verantwortlichkeit zur Willensfreiheit verknüpft. Dies verdeutlichen folgende
an diesem Verhältnis orientierte Ansätze:
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BGHSt 2, 200
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Der aussetzungslose Indeterminismus12 besagt, dass jeder Mensch zu jeder Zeit eine gewisse Erhabenheit
über die gegebene Situation und Umstände und deren Verführung zum Schlechten verfügt. Somit kann er
stets zwischen Recht und Unrecht entscheiden, was man als Freiheit bezeichnet. Diese Entscheidungsfreiheit
schlussfolgert eine totale Kausalität, welche vollständige Schuld deduziert.
Roxin13 hält andererseits den Schuldvorwurf über die Freiheit des Menschen als Individuum für unbeweisbar.
Seiner Ansicht nach ist ein Urteil nur im sozialvergleichenden Sinne möglich. Dabei wird gefragt, ob man als
Durchschnittsmensch anstelle des Täters anders gehandelt hätte.
Ein weiterer Ansatz der Willensfreiheit sieht den Vorwurf darin, sich im Laufe des Lebens nicht diejenige Willenskraft und Vernunft erworben zu haben, um den rechtswidrigen Antrieben zu widerstehen. Er entspricht
dem Begriff der Charakterschuld.
4.2 Kritische Betrachtung
Warum überzeugt die von Claus Roxin aufgestellte Theorie der Schuld? Als eine auf das Freiheitsdenken bezogene, sowie auf den sozial-präventiven Aspekt anspielende Ansicht lässt sie sich am besten mit der Moral
des Menschen vereinbaren. Zudem haben wir als Individuum ein subjektives Freiheitsempfinden, welches,
würden wir davon absehen, eine absolute Vorherbestimmtheit vorraussetzte. Das ist nicht mit unserem heutigen Weltbild vereinbar. Kritik an dieser Annahme besteht allerdings in der Anwendbarkeit auf das Strafrecht.
Wie soll man einen »Durchschnittsbürger« definieren, der als Vergleichsobjekt zur Strafmaßbestimmung herangezogen wird? Es gibt keine Charaktereigenschaften, die man als »durchschnittlich« bezeichnen könnte,
womit eine Diskussionsgrundlage gelegt wäre, die der Willensfreiheitsdebatte entspricht. Der aussetzungslose
Indeterminismus ist durch die Annahme von totaler Schuld, vor allem angesichts der Möglichkeit der Einnahme
bewusstseinsverändernde Stoffe, von Affekthandlungen und des subjektiven Eindrucks nicht immer alles unter
Kontrolle zu haben, abzulehnen. Denkbar wäre schließlich ein Kompromiss zwischen der Ansicht von Roxin
und dem Ansatz, sich im Laufe des Lebens nicht die notwendige Vernunft und Willenskraft erworben zu haben,
anzustreben. Somit wäre das Recht nicht auf ein Mittel zur Strafmaßbestimmung angewiesen, sondern würde
auf die Persönlichkeit des Täters direkt eingehen, ohne die eigentliche Freiheit des Menschen zu vergessen.
5 Willensfreiheit und Strafrecht: Der Schulenstreit
(Sarah Grünewald, Dennis Just)
Im Folgenden soll nun die Rolle der Willensfreiheit in Bezug auf den Zweck von Strafe erörtert werden, wobei man von einer philosophischen Fragestellung ausgeht. Hierzu wird zunächst einmal die These in den
Raum gestellt, dass Schuld Vorwerfbarkeit menschlichen Verhaltens angesichts dessen bedeutet, dass sich
der Schuldbeladene anders verhalten hat als er sich hätte verhalten können. Im weiteren gehen wir davon aus,
dass nur Schuld und Verantwortung für einen Rechtsverstoß zu Strafe im Sinne von Vergeltung führen kann,
woraus man folgert, dass für einen solchen Schuldgrundsatz die Überzeugung eines freien Willens vonnöten
ist.
Umgekehrt könnte man jedoch auch von der Annahme ausgehen, dass der Mensch generell keine Freiheit in
seinem Willen hat, wonach man formulieren müsste, dass er in diesem Falle ebenso keinerlei Verantwortung
für sein Handeln trüge und demnach auch nicht durch Vergeltungsstrafen zur Verantwortung gezogen werden
könnte.
Aus diesen sich antithetisch gegenüberstehenden Ansichten und Auffassungen entstand ein weitgreifender
Streit, der sogenannte Schulensteit. Nun, wie um eine Synthese zu diesen sich jeweils diametral gegenüberstehenden Positionen zu formen, bildete sich eine dritte Meinung, vertreten durch die sogenannte Merkelschule14 .
Diese hielt sowohl die Position der Klassiker als auch die der Modernen für zu überspitzt.
Als erstes soll nun die Position der Klassiker beleuchtet werden, als deren größter Repräsentant Binding15
zu nennen ist. Der von ihm vertretene Ansatz zum Verständnis der Welt ist der Indeterminismus, daher die
Annahme, der Mensch sei frei in all seinem Wollen und Handeln. Als Begründung hierfür werden immer wieder verschiedene ethische Phänomene genannt, wie zum Beispiel das in der Natur des Menschen verankerte
12
Eisler – Wörterbuch: Indeterminismus, vgl. www.textlog.de/4014.html [Stand:08.08.2006]: Indeterminismus heißt, das Entgegengesetzte mit gleicher Freiheit wählen zu können (»liberum arbitrium indifferentiae«).
13 Claus Roxin, *1931, deutscher Rechtswissenschaftler.
14 Adolf Merkel (1836–1896), deutscher Philosoph.
15 Karl Lorenz Binding (1841–1920), deutscher Strafrechtler.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
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Bewusstsein der Selbstbestimmung, die einen bedeutenden Teil menschlicher Intuitionen ausmachen. Des
weiteren wäre ein – wie es scheint: natürliches – Schuldgefühl der meisten Menschen aufzuführen, das bei
willentlichem Überschreiten von Rechtsgrundsätzen eintritt. Außerdem muss auf die Tatsache der Verantwortung eingegangen werden, ohne die ein gesellschaftliches Zusammenleben in einer größeren Gemeinschaft
außerhalb einer Anarchie kaum auszudenken ist.
So befriedigend und gut nachvollziehbar dieser Ansatz jedoch sein magen (denn es ist davon auszugehen,
dass es ein Grundbedürfnis eines Großteils der Menschen ist, in dem Glauben leben zu können, dass ihr
Handeln und Wollen direkt in ihren Händen liegt), keines der soeben genannten Argument und Behauptungen der Klassiker blieb über die Zeit verschont von den etlichen Versuchen der modernen Philosophen, die
durch ständige Widerlegung der Ansätze der Gegenseite ihre eigene Position des Determinismus zu stärken
versuchten.
Dabei gingen sie von der Annahme aus, dass jedes menschliche Handeln psychisch kausiert, daher durch
Vorstellungen bestimmt, motiviert und determiniert sei und somit alles Geschehen auf dem Grundsatz basiere,
dass jedes Ereignis die Wirkung solcher Ursachen ist, die notwendig, nach unverrücklichen Naturgesetzen
dieses Ereignis zur Folge haben müssen. Demzufolge wäre ein Verbrechen nichts weiter als das zwangsläufige
Ergebnis von Charakter und Situation, aus der sich der Rechtsverstoß ergab, daher »ist es nicht die Schuld
des Täters, dass ihn die Verhältnisse auf die Bahn des Verbrechens getrieben haben.«16
In diesem Sinne wäre Vergeltung als Begründung für Strafe nicht vertretbar, da dem Täter keine Verantwortlichkeit zugeschrieben werden kann. Einzige Rechtfertigung könnte die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung und Schutz der Allgemeinheit vor Anarchie und Rechtlosigkeit sein, weshalb eine Schutzstrafe mit
präventiver Wirkung konstruiert werden könnte. Diese sollte entgegen den Reizen, die zur Begehung einer
Straftat hinwirken, zum rechtmäßigen Handeln bewegen, indem sie auf die Wünsche und Vorstellungen des
Täters in einer Situation einwirkt.
Nun, wie um eine Synthese zu diesen sich jeweils diametral gegenüberstehenden Positionen zu formen, bildete
sich eine dritte Meinung, vertreten durch die sogenannte Merkelschule17 . Diese hielt sowohl die Position der
Klassiker als auch die der Modernen für zu überspitzt und versuchte daher Schuld im Einklang mit Vergeltung
auf deterministischer Basis festzuhalten.
Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch erscheint, soll nun im folgenden ausführlicher erörtert werden:
Da die Vertreter der Merkelschule die Freiheitsüberzeugung der Indeterministen als wissenschaftlich unhaltbar
ansahen, stellte sich für sie das Kausalitätsprinzip, bei dem ein Ereignis ein weiteres induziert, als einzig vertretbar dar. Zugleich sollte für sie Strafe nicht nur eine spezifische Art des Schutzes oder einen Faktor im Spiel
der Motive darstellen, sondern als eine eigene Art von determinierter Reaktion gesehen werden und somit
vergeltend wirken. Die Schuld des Täters ist hierbei jedoch weniger in dessen Tat als in dessen schwachem
Charakter zu suchen, wofür dieser zwar nicht als direkt schuldig bezeichnet werden kann, aber dennoch Verantwortung übernehmen müsse, so wie jeder für das, was ihn ausmacht, einstehen muss. Andererseits könne
man ebenso anführen, dass ein Mensch, der eine Reihe guter Taten vollbringt, ebenso dafür gerühmt wird,
ganz gleich, ob man ihm die Ausbildung seines guten Charakters direkt anrechnen kann, oder ob dieser durch
eine Anzahl glücklicher Gegebenheiten, Erlebnisse und ein gepflegtes Umfeld zustande kam.
6 »Der Fremde« – ein literarischer Exkurs
(Franziska Thiel)
6.1 Inhaltsangabe
Der Roman »Der Fremde« von Albert Camus erzählt die Geschichte eines jungen Franzosen, der in Algerien lebt und durch einen Zufall zum Mörder wird. Zu Beginn des Romans befindet sich die Hauptperson M.
Meursault auf der Beerdigung seiner Mutter, die er aus finanziellen Gründen und mangelnder Kommunikation
ins Altersheim gebracht hatte. Die folgenden Tage handeln hauptsächlich vom Anfang der Beziehung zu einer
ehemaligen Sekretärin, Marie Cardona, und von der Bekanntschaft zu einem seiner Mitbewohner, Raymond
Sintès. Durch Raymond wird er in verhängnisvolle Konflikte gezogen, mit denen ein umfassender Lebenswandel einhergeht. Bei einem Wochenendausflug mit Marie und Raymond bei dessen Freund Masson erschießt
er einen Araber, der Raymond verfolgte. Anschließend wird der Prozess und sein Urteil dargelegt.
16
17
Engisch, K., Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, Berlin 1965, S. 24.
benannt nach Adolf Merkel.
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6.2 Die Tat
Im Folgenden soll nun die Frage der Schuld in diesem Fall beleuchtet, die Rolle der Willensfreiheit diskutiert
und sein Prozess rekonstruiert werden. Dabei wird zunächst exemplarisch die Mordszene angeführt.
Am Strand kommt es zu einer Schlägerei zwischen Arabern und Meursault und dessen Bekannten Raymond.
Meursault übernimmt zuvor den Revolver von Raymond, um ihn davon abzuhalten, auf die Araber zu schießen.
Später geht Meursault zu der Stelle zurück, an der sie die Araber zuletzt gesehen haben. Dort findet er noch
den Bruder vor und macht einen Schritt vorwärts, da er von der Sonne geblendet wird. In diesem Moment zückt
der Araber sein Messer und blendet Meursault. Lediglich aus dem Grund, dass die Sonne ihn blendet und er
die reflektierten Strahlen des Messers als ’Schwert in seinen Augen’ empfindet, erschießt er den Araber.
»Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war. Da habe ich noch viermal auf einen leblosen Körper geschossen, in
den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es ihm ansah. Und es war wie vier kurze Schläge, mit denen ich
an das Tor des Unglücks hämmerte.«18
6.3 Der Prozess
Im zweiten Teil des Romans finden wir den Bericht seiner Haftzeit und der Verhöre, die sich über einen Zeitraum
von elf Monaten erstrecken. Diese beinhalten vor allem Befragungen über seine Mutter und deren Beerdigung,
bei welcher er sich völlig gefühlsarm gezeigt hatte.
In der letzten Sitzungsperiode des Schwurgerichts werden zwei Prozesse verhandelt: zuerst Meursaults Fall
und anschließend ein Vatermord. Durch die Zeugenaussagen der Heimleiter und Mitbewohner der Mutter wird
ihm klar, dass er vor dem Gesetz schuldig ist und sich nicht im Sinne der Gesellschaft verhalten hat. Der
Staatsanwalt betrachtet Meursault als schuldig und will hierfür den doppelten Beweis erbringen. Einerseits
erwähnt er die auf der Hand liegenden Fakten, andererseits nimmt er die psychologischen Hintergründe als
wichtige Eckpfeiler.
Und genau hier beginnt die Sache, noch absurder zu werden: Es wird behauptet, »daß es zwischen diesen
beiden Tatbeständen einen tiefen, erregenden, wesentlichen Zusammenhang gäbe.«19 Meursault habe sein
Verbrechen vorsätzlich begangen und Raymonds Gegner provoziert. Folglich tötete er ihn bei vollem Bewusstsein. Darüberhinaus wird aus psychologischer Sicht über seine Gefühlslosigkeit gesprochen. Der Staatsanwalt
kritisiert seine nicht vorhandenen moralischen Prinzipien und betont, er habe keine Seele und sei für nichts
Menschliches zugänglich. »Zumal, wenn die Leere des Herzens, wie sie bei diesem Mann zu beobachten ist,
ein Abgrund wird, in dem die Gesellschaft umkommen kann.«20
Des Weiteren wird er beschuldigt, seine Mutter moralisch getötet und dadurch Taten wie die eines Vatermörders vorbereitet und legitimiert zu haben. Aus diesem Grund wird er auch für den Vatermord im folgenden
Prozess verantwortlich gemacht.
Auffallend ist, dass während des Plädoyers seines Anwalts und auch im gesamten Prozess mehr von ihm
als von seinem Verbrechen gesprochen wird. Er hat das Verlangen, sich einzumischen und nicht tatenlos
zuzusehen, wie man unabhängig von ihm über sein Schicksal entscheidet. Das Urteil jedoch fällt gegen ihn
aus: Er soll enthauptet werden.
Man kann sagen, dass Meursault nicht aufgrund seines Verbrechens verurteilt wird, sondern vielmehr wegen
seiner Unmenschlichkeit. Das Problem liegt darin, dass sein Handeln von Vertretern einer Gesellschaft bewertet wird, die Meursaults Verhalten aus moralischen Prinzipien ablehnen, da sie jeglicher Norm widersprechen.
Es kann festgestellt werden, »dass Meursault ganz offensichtlich nicht ein Fremder anderen gegenüber ist,
dass er aber zweifellos in gewisser Hinsicht ein Fremder gegenüber der Gesellschaft ist: er weigert sich, zu
lügen; er hat unkonventionelle Vorstellungen von Liebe, Ehe und beruflichem Fortkommen; er mißachtet einige
altehrwürdige Konventionen der Gesellschaft(...).«21 Diese Gesellschaft geht davon aus, dass er bewusst, also
willensfrei gehandelt hat.
18
Camus, A., Der Fremde, Reinbek 2005, S. 74.
s.o. (Fn. 1), S. 114.
20 s.o. (Fn. 1), S. 119.
21 Speck, J. (Hrsg.), Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen 1992, S. 151.
19
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
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Für Meursault selbst ist dieses Urteil jedoch unverständlich. Er fragt sich, wie aus Eigenschaften eines gewöhnlichen Menschen solche erdrückenden Belastungsmomente für einen Schuldigen werden können. Er
sieht zwar ein, dass die Gesellschaft ihn so verurteilen muss, trotzdem kann er die Schuld nicht spüren. Er
selbst bezeugt, schuldig zu sein und dafür bezahlen zu müssen. Mehr jedoch könne man von ihm nicht verlangen. Die letzten Tage verbringt er damit, sein Leben und den Wert des Lebens an sich zu reflektieren. Dass er
glücklich war und noch immer ist, das kann er jetzt fühlen. »Aber jeder weiß, daß das Leben nicht lebenswert
ist.«22
Es ist allerdings fraglich, ob man bei Meursault von bewusster Willensfreiheit sprechen kann. »Meursault verfügt nicht über die Fähigkeit, etwas explizit zu wollen; er geht in Welt auf; er vermag es nicht, aus seiner ,Einheit
von Denken, Tun und Sichfühlen herauszutreten’ (Pollmann, Camus, 130 f.).« 23
Diese Aussage betont nochmals, dass für ihn alle Dinge vollkommen gleichgültig sind und er sich der Konsequenzen und der Tragweite seiner Handlungen in Bezug auf die Gemeinschaft nicht bewusst ist. Folglich kann
man nicht davon ausgehen, er habe seine Tat vorsätzlich geplant und sich aus freien Stücken für den Mord
entschieden.
Unser Strafrecht basiert auf der Vereinigungstheorie, die spezialpräventive, generalpräventive und vergeltungstheoretische Strafzwecke bündelt. Die Vereinigungstheorie setzt die persönliche Verantwortlichkeit voraus. Solche Ausnahmefälle wie M. Meursault werden jedoch nicht berücksichtigt.
7 Was ist Determinismus?
(Lucas Spohn)
»Keine Zufälligkeit irgendwo im Universum, keine Gleichgültigkeit, keine Freiheit. Während wir handeln, wird gleichzeitig an uns gehandelt.«
David Hume in »Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand«
Der Determinismus spielt für die Frage der Willensfreiheit eine bedeutende Rolle. Um ihn dreht sich der Streit
zwischen Kompatibilisten, welche versuchen, Willensfreiheit mit dem Determinismus zu vereinen, und Inkompatibilisten, die zeigen möchten, dass diese Vereinbarkeit unmöglich ist.
Determinismus bedeutet knapp formuliert, dass sich die Welt nur auf eine mögliche Weise entwickeln kann,
welche durch die Naturgesetze festgelegt ist. Jedes Ereignis folgt mit naturgesetzlicher Notwendigkeit aus
einer Menge vorangehender Ereignisse, es existiert weder Zufall noch ein Ereignis, für welches es keine hinreichenden Ursachen gibt. Der Zustand der Welt vor tausend Jahren legt also die Welt von Heute fest.
Es ist jedoch wichtig, dass man den Begriff des Determinismus von den Begriffen der Vorhersagbarkeit und des
Schicksals abgrenzt. Letzteres wird häufig so verstanden, dass es eine göttliche Instanz impliziert, die unser
Leben gestaltet und festlegt. Für Vorhersagbarkeit muss man erstens die gesamte Welt zu einem bestimmten
Zeitpunkt in all ihren Details erfasst haben (was, wenn man den physikalischen Erkenntnissen dieses Jahrhunderts glaubt, nicht nur praktisch unmöglich ist) und zweitens alle Naturgesetze kennen (was heutzutage auch
noch keineswegs der Fall ist). Der französische Mathematiker Laplace hat dazu ein Gedankenexperiment, den
sogenannten Laplaceschen Dämon, aufgestellt. Darunter stellt er sich ein intelligentes Wesen vor, welches den
Zustand einer Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt komplett erfasst hat und alle Naturgesetze kennt. Es kann
daher den Zustand der Welt zu jedem Zeitpunkt der Vergangenheit und der Zukunft berechnen und einsehen.
Aufgrund mehrerer physikalischer Einschränkungen kann solch ein Wesen jedoch nicht Bestandteil unserer
Welt sein.
Zuerst ist es wichtig, dass man sich auf naturgesetzliche, also physikalische Bedingtheit beschränkt. Die kausalen Beziehungen des Determinismus gleichen nicht denen, die wir in der Alltagssprache verwenden: »Wenn
ich Durst verspüre, trinke ich etwas.« Hier sind immer Ausnahmen möglich (es könnte zum Beispiel gerade jemand an der Haustür klingeln), es folgt also nicht auf jedes A (»ich verspüre Durst«) auch ein B (»ich
trinke etwas«). Anders bei Naturgesetzen; sie ordnen jeder Ursache genau eine Folge zu. Das trifft natürlich
nur dann zu, wenn sie deterministisch und allgemeingültig, also ausnahmslos sind. Wäre die Quantenmechanik, welche nur Wahrscheinlichkeiten für den Ausgang bestimmter quantenphysikalischer Ereignisse angeben
kann, die Theorie, welche unsere Welt beschreibt, so wäre der Determinismus falsch. (Wenngleich es auch
Interpretationen der Quantenmechanik gibt, die ein deterministisches Weltbild ermöglichen.)
22
23
s.o. (Fn. 1), S. 133.
s.o. (Fn. 4), S. 147.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Zweitens muss man beachten, dass die Kenntnis des Zustandes der gesamten Welt zu einem bestimmten
Zeitpunkt t notwendig ist, um aus ihm den Zustand der Welt zu allen anderen Zeitpunkten abzuleiten. Hierbei ist zu erwähnen, dass die heutzutage vertretenen Naturgesetze zeitsymmetrisch sind, man also durch sie
genauso von der Zukunft auf die Vergangenheit schließen kann wie umgekehrt. Man beschränkt sich jedoch
meistens auf das, was noch vor uns liegt, anstatt auf das, was bereits geschehen und damit nicht mehr von uns
beeinflusst werden kann. Aber warum reicht es nicht aus, sich auf einen bestimmten Bereich, wie unser Sonnensystem zu beschränken? Die Antwort hierauf ist simpel: Wir könnten die Zukunft nur solange berechnen,
bis Einflüsse, die von außerhalb kommen, auf das System einwirken. Da sich Informationen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, könnten wir den Verlauf des Geschehens auf der Erde für ein Jahr nach dem Zeitpunkt t
berechnen, wenn wir alle Information, die innerhalb eines Lichtjahrs von der Erde entfernt liegen, erfassen.
Man kann also zusammenfassen, dass unsere Welt deterministisch wäre, wenn sie zu einem Zeitpunkt t einen
fest definierten Zustand einnimmt und von deterministischen, also nicht bloß auf Wahrscheinlichkeiten basierenden Naturgesetzen beherrscht wäre. Dabei ist es irrelevant, ob wir diese Zustände auch tatsächlich
erkennen können.
Ob unsere Welt deterministisch ist oder nicht, lässt sich weder beweisen noch widerlegen. Selbst in der Quantenphysik gibt es Interpretationen wie die Bohmsche Quantenmechanik oder die Viele-Welten-Theorie, welche
ein deterministisches Weltbild zu Grunde legen und sich zudem durch empirische Beobachtung nicht von der
Kopenhagener Interpretation, die von Wahrscheinlichkeiten ausgeht, unterscheiden lassen. Zudem ist nach
wie vor keine Vereinigung mit der allgemeinen Relativitätstheorie erfolgt. Die Wahrheit oder Falschheit des
Determinismus lässt sich also (noch) nicht durch die Physik erklären. (Vielleicht wird dies erst möglich, wenn
man eine alles vereinende Theorie gefunden hat.)
Trotzdem muss man sich fragen, ob es überhaupt für die Debatte des freien Willens relevant ist, ob nur auf
Quantenebene echte Zufälle vorhanden sind und wir zumindest von einer beinahe-deterministischen Welt mit
sehr seltenen Ausnahmen ausgehen können. Außerdem können wir einen Willen auch nicht als frei bezeichnen, wenn er vom Zufall (der Quanten) regiert wird. Wir müssen also nach wie vor klären, was wir unter freiem
Willen verstehen wollen, um uns über Kompatibilismus und Inkompatibilismus ein Urteil bilden zu können.
8 Handlungs- und Willensfreiheit
(René Rollert, Lucas Spohn)
Eines der ältesten Probleme der Philosophie ist die Frage nach der menschlichen Freiheit. Der Freiheitsbegriff
ist dabei eng mit Begriffen wie Handlung, Verantwortlichkeit, Vernunft oder der rechten Gesinnung verknüpft.
Zur Vereinfachung der Problematik lässt sich die Freiheit in die Begriffe Handlungs- und Willensfreiheit aufteilen.
8.1 Handlungsfreiheit
In »Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand« fragt sich David Hume, ob man unter Freiheit die
Tatsache verstehen könnte, dass unsere Entscheidungen frei von Beweggründen, Neigungen und Umständen
sind. Da dies aber offensichtlich nicht der Fall ist, definiert er Freiheit als Handlungsfreiheit. Darunter versteht
er »eine Macht zu handeln oder nicht zu handeln, je nach den Entschließungen des Willens«24 . Handlungsfreiheit bedeutet also, dass eine Person frei ist, wenn sie tun kann, was sie tun will. Diese Art der Freiheit ist
ohne Probleme mit dem Determinismus vereinbar. Jeder ist nach dieser Definition frei, es sei denn, er ist gerade im Gefängnis, gefesselt, festgehalten etc. Hume konzentriert sich somit auf äußere Zwänge, welche die
Bewegungsmöglichkeit einschränken. Allerdings ergibt sich aus dieser Definition eine Reihe von Problemen,
die im Folgenden beispielhaft erläutert werden.
1) Ich möchte als Pilot mit einem Linienflugzeug nach Amerika fliegen. Bin ich frei, diesen Willen zu verwirklichen? Ja, ich könnte mich zum Beispiel als Pilot verkleiden, das Flugzeug kapern, das zuständige Personal bestechen usw. Handlungsfreiheit bedeutet ja nicht, dass die Realisierung meines Wunsches garantiert ist, sondern, dass ich prinzipiell frei bin, die nötigen Schritte zur Verwirklichung meines Wunsches
einzuleiten.
2) Ich will zu dem Stern Alpha Centauri fliegen. Ich bin offensichtlich nicht in der Lage, dies zu tun, obwohl
ich es will. Bin ich daher ein unfreier Mensch? Um trotzdem von Handlungsfreiheit sprechen zu können,
24
Hume, D., Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1973, S. 113.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
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ist die Definition wie folgt zu erweitern: Ich bin in meinem Handeln frei, wenn ich tun kann, was ich tun
will, und unter normalen Umständen auch die Möglichkeit dazu habe.
3) Bin ich durch den Verlust einer Hand oder gar eine Querschnittslähmung in meinen Bewegungen so
sehr eingeschränkt, dass ich nicht mehr handlungsfrei bin? Es gibt verschiedene Grade der körperlichen
Behinderung. Der Übergang zum Verlust der Handlungsfreiheit ist fließend. Man mag sich mit nur einer
Hand noch frei genug fühlen. Wenn man nur noch mit Hilfe anderer leben und sich nicht mehr artikulieren
kann, ist es fraglich, ob der betreffenden Person noch Handlungsfreiheit zuzusprechen ist.
8.2 Psychologischer Determinismus
Noch vor der Definition von Handlungsfreiheit schildert David Hume seine Sichtweise des psychologischen
Determinismus. Dabei setzt er den menschlichen Verstand mit der Natur gleich. Nach Hume kann man das
Kausalitätsprinzip auch auf den menschlichen Verstand anwenden und feste Regeln erkennen:
»Dieselben Beweggründe rufen immer dieselben Handlungen hervor.«25
Ihm zufolge verhält sich der Mensch immer gleich. So erkenne man keinen Unterschied in den generellen
Verhaltensweisen, wenn man die Römer und Griechen mit den Franzosen und Engländern vergleicht. Hume
sieht den Sinn der Geisteswissenschaften darin, die allgemeinen Prinzipien der menschlichen Natur zu analysieren und Gemeinsamkeiten zu finden, ebenso wie die Naturwissenschaften versuchen, Naturgesetze zu
finden. Historische Erkenntnisse wie auch naturwissenschaftliche Experimente bilden dafür die Grundlage.
Nach Hume ist folglich die Erfahrung der Schlüssel zur menschlichen Natur.
8.3 Willensfreiheit
Um den Zusammenhang zwischen dem Determinismus und Willensfreiheit untersuchen zu können, bedarf es
einer genauen Definition des Begriffs der Willensfreiheit. Sie lässt sich im Wesentlichen durch drei Prinzipien
charaktersieren:
8.3.1 Verfügbarkeit von Alternativen
Das Verfügen über bestimmte Alternativen ist eng an den Begriff der Willensfreiheit geknüpft: Intuitiv setzen
wir für Willensfreiheit voraus, dass man anders hätte handeln können. Das heißt, eine Person ist nur dann
willensfrei, wenn sie unter gleichen Ausgangsbedingungen die Möglichkeit hat, anders zu wollen und anders
zu handeln.
8.3.2 Urheberschaft
Der Wille kann nur dann frei sein, wenn die betreffende Person eine selbstbestimmte Entscheidung trifft. Dies
setzt voraus, dass sie nicht durch die vorliegende Situation fixiert ist. Dies wäre nämlich der Fall, wenn an der
Person psychologische, pharmakologische oder ähnliche Eingriffe vorgenommen worden wären. Das Urheberschaftsprinzip unterstützt unser Verständnis von Begriffen wie Zurechenbarkeit von Handlungen, Verantwortung, Verdienst oder Schuld.
8.3.3 Rationalität
Die Rationalität sorgt dafür, dass unsere Entschlüsse nicht durch Willkür oder Launenhaftigkeit herbeigeführt
werden, sondern dass sie auf vernünftigen Erwägungen beruhen. Im Alltag sagen wir oft, dass wir uns »aus
guten Gründen« für etwas entschieden haben. Die Rationalitätsbedingung unterteilt sich dabei in zwei Unterpunkte:
(a) Regelleitung: Zur Vollführung des Willensentschlusses werden verallgemeinerungsfähige Gesichtspunkte
herangezogen und nach einem strengen Verfahren (von Regeln festgelegt) ausgewertet, so dass nach den
stärksten Motiven und Gründen entschlossen werden kann.
(b) Adäquatheit: Hier werden die Gesichtspunkte darauf überprüft, ob sie der Situation angemessen (adäquat),
vernünftig rechtfertigbar und einsichtig sind. Nur dann wird der vorher gefasste Entschluss auch handlungswirksam.
25
s.o. (Fn. 1), S. 99.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
8.4 Das Dilemma der Willensfreiheit
Aus diesen Prinzipien ergibt sich nun ein Konflikt zwischen dem universellen Determinismus und der Willensfreiheit. Zum einen widerspricht der Determinismus der Existenz von Alternativen, weshalb er die Willensfreiheit
auszuschließen scheint. Auf der anderen Seite ist die Rationalitätsbedingung ein regelgeleitetes Verfahren, auf
das man sich nur in einer deterministischen Welt verlassen kann. Man erhält folgenden Widerspruch:
Ein umfassender Determinismus ist zugleich mit der Willensfreiheit unverträglich und setzt diese voraus.
Zu diesem Problem bildeten sich verschiedene Standpunkte heraus, die im Folgenden näher beleuchtet werden.
9 Der Inkompatibilismus
(Thomas Frisch)
9.1 Der Inkompatibilismus und seine Spielarten
Wem an einer umfassenden Betrachtung zum Thema Willensfreiheit gelegen ist, dem wird sich früher oder
später die Auseinandersetzung mit dem Inkompatibilismus aufdrängen. Vertreter dieser These sind der Auffassung, dass Determinismus und Willensfreiheit unvereinbare (inkompatible) Prinzipien sind und man deshalb
eines der beiden ablehnen muss, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken. Daraus lassen sich zwei Hauptpositionen ableiten: Harte Deterministen sind der Meinung, dass der Determinismus wahr und der freie Wille
folglich als Illusion einzustufen ist. Libertarier hingegen halten die Freiheit des Willens für unbestreitbar und
richten sich daher gegen einen absoluten Determinismus.
9.2 Carl Ginets »kontingente Nezessitation«
Carl Ginet unternimmt in seinem Aufsatz »Könnte es sein, dass wir keine Wahl haben?« (1966) den Versuch,
»eine empirisch signifikante, plausible Hypothese«26 zu formulieren, die den freien Willen als Täuschung dekuvriert. Ein Novum an seinem Ansatz ist der Anspruch auf eine vollständige Vermeidung der traditionellen
Terminologie, die im Zusammenhang mit dem Determinismusproblem gebraucht wird. Auf diese Weise will er
möglichen Einwänden vorbeugen, die sich auf eine Analyse der bekannten Termini stützen. Begriffe wie Naturgesetz, Ursache, Kausalprinzip oder Fähigkeit tauchen in seiner Hypothese also nicht auf. Vielmehr arbeitet
Ginet mit eigens von ihm definierten Begrifflichkeiten, die ich im Folgenden erläutern werde.
Eine Relation der kontingenten Nezessitation zwischen zwei Arten von Ereignissen »A« und »B« liegt vor,
wenn
1) aus »A« nicht logisch »B« folgt,
2) jeder Einzelfall von »A« von einem Einzelfall von »B« begleitet wird und
3) niemand jemals die Wahl hat, ob ein Einzelfall von »A« von einem Einzelfall von »B« begleitet werden
wird oder nicht.
Eine vollständige Beschreibung erster Ebene »B« berücksichtigt alle Bewegungen und Laute, die von einer
bestimmten Person in einem gewissen zeitlichen Segment hervorgebracht wurden. Der Begriff ist nötig, weil
ein Sachverhalt, zu dem eine Beschreibung höherer Ebene gehört (z.B.: »Er stimmte dem Vertrag durch eine
Unterschrift zu«), klarerweise nur dann von uns gewählt werden kann, wenn der zu Grunde liegende Umstand
der Beschreibung »B« gleichfalls unserem Willen unterworfen ist.
Aus diesen Begrifflichkeiten formt Ginet seine Hypothese H: Zum Verhalten einer Person in einem bestimmten
Zeitabschnitt gehören eine vollständige Beschreibung erster Ebene »B« sowie verschiedene vorausgehende
Mengen von Umständen mit den Beschreibungen »A1 «, »A2 «, »A3 «, ..., »An «, so dass
1) aus »A1 « nicht logisch »B« folgt;
2) »A1 « kontingent »A2 « nezessiert, »A2 « kontingent »A3 « nezessiert, ..., »An « kontingent »B« nezessiert;
und
3) die betreffende Person nicht die Wahl hatte, ob der vorausgehende Fall von »A1 « eintreten würde oder
nicht.
26
Ginet, C., Könnte es sein, dass wir keinen freien Willen haben?, in: Pothast, U. (Hrsg.), Seminar: Freies Handeln und Determinismus,
Frankfurt/M. 1978, S. 115–133.
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Hinter der dritten Bedingung verbirgt sich bereits implizit das Konsequenzargument Peter van Inwagens (1983),
demzufolge der Determinismus den freien Willen ausschließt, weil ein menschliches Wesen nicht über die
seiner Geburt vorausgehenden Umstände bestimmen kann, und im Rahmen allgemeiner Bedingtheit folglich
niemals Herr seiner Handlungen ist.
Die Hypothese wirkt in dieser abstrakten Form noch etwas unklar. Sie wird jedoch schnell verständlich, wenn
wir ein Beispiel für eine Relation der kontingenten Nezessitation bemühen. Infrage kommen dafür ausschließlich physiologische (auch neuronale), nicht etwa psychologische Zustände (letztere können nicht immer in
der fraglichen Beziehung zueinander stehen, da man sie in einer Art und Weise beschreiben kann, die »B«
zwingend notwendig macht). Ein geeignetes Beispiel wäre also folgendes: »Wenn ein Stück Kupfer unter gewöhnlichen atmosphärischen Bedingungen heißer wird, dann muß es sich ausdehnen«27 .
1) Die erste Bedingung können wir nun so verstehen: In einem vortheoretischen umgangssprachlichen
Sinn folgt aus dem Antezedens »A« nicht logisch die Konsequens »B«. Erst wenn wir »heißer« naturwissenschaftlich interpretieren (als Beschreibung schnellerer Teilchenbewegung etc.), lässt sich in einem
exakten Sinne sagen, dass »B« von »A« impliziert wird.
2) Jeder in der Wirklichkeit beobachtete Einzelfall von »A« wurde von einem Einzelfall von »B« begleitet.
(Immer wenn die Gradzahl auf dem Thermometer stieg und sich Kupfer in der Nähe befand, konnten wir
eine Ausdehnung feststellen.)
3) Die dritte Bedingung erfordert eine sorgfältige Untersuchung, denn durch sie wird dem Menschen die Willensfreiheit abgesprochen. In Bezug auf neuronale Prozesse ist sie unserer Innenperspektive (in diesem
Fall heißt das: unseren Intuitionen) diametral entgegengesetzt und wühlt uns emotional auf. Trotzdem
fällt es so unheimlich schwer, sie zu widerlegen. Warum?
9.3 Willensfreiheit als Hirngespinst
Ginet argumentiert, dass es (gesetzt den Fall, der Determinismus ist wahr, was wir nach seiner Hypothese
akzeptieren müssen) keine erkennbare Möglichkeit für eine effiziente Wahl gibt. Unsere Beobachtungen zwingen uns, Entscheidungen als Ergebnis neuronaler Zustände aufzufassen, die mit Umständen in der Relation
der kontingenten Nezessitation stehen, welche – denkt man die Sache nur konsequent zu Ende – auf die Zeit
vor unserer Existenz zurückgehen. Die Tatsache, dass wir den Entscheidungsakt vollkommen anders erleben
und deshalb von seiner Freiheit überzeugt sind, weist Ginet zurück, weil wir imstande sind, Überzeugungen,
die anderen Überzeugungen widersprechen, als Illusionen zu erkennen. Beispielsweise kann, wenn wir uns in
einem fahrenden Zug befinden, der sich allmählich in Bewegung setzt, leicht der Eindruck entstehen, dass ein
benachbarter Zug an uns vorbeifährt, obwohl er sich in Ruhelage befindet. Wir können die fälschliche Überzeugung allerdings aufgeben und als Illusion erkennen, indem wir eine Außenperspektive einnehmen, also
das Abteil vor unserem inneren Auge verlassen und die Situation von oben betrachten. Möglicherweise wird
uns der irreführende Eindruck trotz besserer Einsicht nicht verlassen. Zwei widersprüchliche Überzeugungen
müssen wir jedoch nicht vertreten, denn mindestens eine davon würde sich auf kurz oder lang als Illusion
ausweisen.
Folglich ist es auch durchaus möglich, von seiner Unfreiheit überzeugt zu sein und gleichzeitig den Eindruck
zu haben, dass man der Letzturheber seiner Taten ist.
Für unsere Willensfreiheit ist diese Schlussfolgerung freilich ein Desaster. Wenn wir keinen begründeten Einwand gegen Ginets Hypothese finden, müssen wir sie akzeptieren und unsere Freiheit zur Schimäre erklären.
Können wir Ginet zum gegenwärtigen Zeitpunkt etwas entgegensetzen? Wir können. Denn unsere Intuition
lässt uns keine Ruhe, auch wenn wir empirisch zu einem eindeutigen Ergebnis kommen. Wir wollen den harten Determismus nicht wahr haben, weil er unser Selbstverständnis als Person angreift. Und deshalb müssen
wir noch tiefer suchen, bis sich ein gedanklich stimmiges Bild ergibt.
27
s.o. (Fn. 1), S. 123.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
10 Der Kompatibilismus
(Jeannette Lemmes)
10.1 Kompatibilismus – was ist das?
Die kompatibilistische28 Theorie geht von der Annahme aus, dass der Determinismus mit der Existenz eines
freien Willen vereinbar ist. Somit stellt der Kompatibilismus einen »Kompromiss« zwischen hartem Determinismus (alle Ereignisse sind seit Urzeiten vorherbestimmt und folgen mit naturgesetzlicher Notwendigkeit aufeinander) und dem Libertarianismus (Verneinung des Determinismus, aber Annahme eines unbedingten freien
Willens) dar, weshalb er auch »weicher Determinismus« genannt wird.
Beispielhaft wird im Folgenden die kompatibilistische Argumentation Harry G. Frankfurts bezüglich seiner These zur Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus vorgestellt. Schlussendlich wird der Kompatibilismus auf seine Verträglichkeit mit dem aktuell geltenden Strafrecht geprüft werden.
10.2 Willensbildung und der Begriff der Person (Frankfurt)
Harry G. Frankfurt ist vor allem für seine Analyse des Freiheitsbegriffs und sein Verständnis des Begriffs der
Person bekannt. Sein Aufsatz »Willensfreiheit und der Begriff der Person«29 gibt über diese Analysen einen
Überblick.
Die Annahme, dass sich der Mensch vom Tier vor allem dahingehend unterscheidet, dass er ein vernunftbegabtes Wesen ist, ergänzt Frankfurt um die Bedingung, dass ein Mensch nur dann zur Person erklärt werden
kann, wenn er sich darüber hinaus durch die Eigenschaft des Wollens auszeichnet. Wünsche und Motive
können nicht als Synonym für diesen grundlegenden Unterschied angeführt werden, weil man nicht davon
ausgehen kann, dass nicht auch andere Kreaturen beispielsweise die Fähigkeit zu wünschen haben können. Frankfurt differenziert den Begriff des freien Wollens im Zusammenhang mit der Definition einer Person
weiterhin für den Fall, dass ein Mensch auf Grund innerer Zwänge, d.h. beispielsweise Süchte, oder überdurchschnittlich ausgeprägter Triebe handelt. Auf den inneren Zwang der Sucht wird später nochmals Bezug
genommen. Relevant ist an dieser Stelle, dass Frankfurt den »Triebhaften« nicht als Person definiert: »Ein solches Wesen wäre in meinen Augen keine Person. Als einen »Triebhaften« (wanton) bezeichne ich jemanden,
der Wünsche erster Stufe30 hat, aber deshalb keine Person ist, weil [...] ihm sein Wille gleichgültig ist.«31
Eine Person hingegen kann nach Frankfurts Modell der »mehrstufigen Wünsche« sehr wohl einen freien Willen ausbilden und leistet diesem auch in Form einer Handlung folge, da aus einem Willen notwendig eine
Handlung resultiert. Zunächst liegt eine Gesamtheit von Wünschen vor, die eine Person infolge unterschiedlichster Reize ausgebildet hat. Diese Wünsche können jedweder Art sein. Sie werden nach Frankfurts Modell
als »Wünsche erster Stufe« bezeichnet. »[...] die Unterscheidung zwischen Wünschen erster und Wünschen
zweiter Stufe [läßt sich] wohl kaum hinreichend genau formulieren [...].«32 Wünsche zweiter Stufe erfordern
demgegenüber die Fähigkeit, hinter die eigenen Wünsche (erster Stufe) zurückzutreten und auf einer rationalen Ebene zu seinen Handlungen und Wünschen reflektierend Stellung zu nehmen, welche Wünsche erster
Stufe handlungswirksam werden sollen und warum. Voraussetzung für einen freien Willen ist es also, so bezeichnete »Volitionen zweiter Stufe« bilden zu können, welche die Verwirklichung von Wünschen erster Stufe
(in Form einer Handlung) notwendig zur Folge haben. Eine Kritik, welche an Frankfurts Modell geäußert wird,
besteht in der prinzipiell endlos fortsetzbaren Stufung unterschiedlicher Wünsche, welche die Gefahr eines
infiniten Regress birgt. Warum sollte es nicht auch Wünsche dritter und vierter Stufe geben, die jeweils ihre vorgestuften Wünsche hinterfragen? Dem entgegnet Frankfurt, dass, bevor es zu einer Hinterfragung von
Wünschen zweiter Stufe kommt, die Person sich bereits für einen ihrer Wünsche entschieden und mit dem
daraus resultierenden Willen identifiziert hat, was unter anderem auch der zeitlichen Komponente zuzuordnen
ist, die ein endloses Hinterfragen verhindert.
10.3 Wann ist der Wille also frei?
Entschließe ich mich bewusst zu einem Willen, so bedingt dieser konsequenterweise eine Handlung. Aus diesem Grund muss im Zusammenhang mit der Analyse der Freiheit des Willens auch hinterfragt werden, unter
welchen Voraussetzungen ein ausreichend umfangreicher Handlungsspielraum gegeben ist. Frankfurt begrün28
kompatibel: (spätlat. für) vereinbar, verträglich.
Frankfurt, H., Freiheit und Selbstbestimmung, Berlin 2001, S. 61 ff.
30 Gesamtheit jedweder zunächst unüberdachter Wünsche im Sinne Frankfurts.
31 s.o. (Fn. 3), S. 72.
32 s.o. (Fn. 3), S. 67.
29
107
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det Willensfreiheit analog zu seiner Idee des freien Handelns. Handlungsfreiheit genieße ich dann, wenn ich
tun kann, was ich tun will. Das heißt, dass ich ohne Zwang und unter eigener Kontrolle handele (Adäquatheit).
Selbiges gilt für den freien Willen. Willensfreiheit genieße ich dann, wenn ich wollen kann, was ich wollen will,
und kein Zwang mich daran hindert. Als Zwang ist beispielsweise eine Drogensucht (innerer Zwang) anzusehen, die nach Frankfurts Modell dafür verantwortlich sein kann, dass meine Wünsche erster und zweiter
Stufe im ständigen Widerstreit zueinander stehen. Der Drogensüchtige wünscht sich auf erster Stufe, Drogen
zu nehmen, denn sonst wäre er nicht süchtig, hat aber zugleich auf zweiter Stufe den Wunsch, eben nicht
zu wünschen, Drogen zu nehmen. Trotzdem kann er diesen Wunsch zweiter Stufe nicht verwirklichen und
ist damit im Frankfurtschen Verständnis nicht willensfrei. Ansonsten kann auch ein Zwang äußerer Art eine
Person in ihrer Handlungs- bzw. Willensfreiheit einschränken, wenn ihr durch Lähmung nur ein begrenzter Bewegungsfreiraum zur Verfügung steht oder im Falle des Wollens durch andere zu einer Entscheidung genötigt
wird, die dementsprechend nicht frei getroffen worden sein kann.
Des Weiteren ist für die Annahme eines freien Wollens Voraussetzung, dass die Wahl, welche bezüglich des
Willens getroffen wird, entscheidend von der Person selbst abhängt (Urheberschaft) und diese ihre Handlung
als natürliche, nicht zufällige Ursachenfolge wahrnimmt. Gleichermaßen muss über eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt auch behauptet werden können, dass sie anders hätte handeln bzw. entscheiden können
(Alternativismus). Ebendieser letzte Punkt ist schwer mit der deterministischen Vorstellung, dass es immer nur
eine mögliche Verkettung (Kausalkette) von Ereignissen gibt, vereinbar. Aus diesem Grunde stützt Frankfurt
sich auf die Annahme, dass, »auch wenn wir nun annehmen, er hätte anders handeln können, [...] er doch
nicht anders gehandelt [hätte]«33 , sich also die handelnde bzw. entscheidende Person voll und ganz mit ihrem Willen identifiziert hat und außer Frage steht, dass sie sich zum selbem Zeitpunkt anders entschieden
hätte, auch wenn ihr dies möglich gewesen wäre. Mit dieser Argumentation weicht Frankfurt der Interpretation
des Alternativismus eher aus, statt eine überzeugende Erklärung zu liefern. Diese Vorgehensweise wird den
Kompatibilisten häufig vorgeworfen.
10.4 Verantwortlichkeit und Strafbarkeit
Nach Frankfurts Auffassung »kann [jemand] auch dann für eine Tat moralisch verantwortlich sein, wenn sein
Wille durchaus nicht frei ist«34 . Diese leicht missverständliche These begründet er damit, dass es unerheblich
ist, ob nun die Alternativen, gegen die sich jemand im Zuge seiner Willensbildung entscheidet, überhaupt im
Bereich seiner Möglichkeiten liegen. Entscheidend ist, dass die betreffende Person keinen anderen Willen
hätte haben wollen, als denjenigen, den sie sich zu eigen gemacht hat.
Für die Haltung der Kompatibilisten gegenüber dem heutigen Strafrecht ist die Nachvollziehbarkeit dieser Argumentation zunächst unerheblich, denn da der Kompatibilismus dem Menschen Verantwortlichkeit für seine
Entscheidungen überträgt, unter Umständen auch ohne dass ein freier Wille vorliegt, ist diese Position aus
Sicht des Kompatibilisten grundsätzlich vereinbar mit dem aktuellen Strafrecht.
11 Die Libet-Experimente
(Florian Wieckert)
11.1 Der Einfluss der Neurowissenschaften auf die Willensfreiheitsdebatte
Der moderne Kompatibilismus, gleichsam ein Kompromiss zwischen Libertarianismus und hartem Determinismus, erscheint heute als ein Ergebnis des Konflikts der Philosophie mit den Neurowissenschaften im Laufe
der letzten 25 Jahre. Die Idee der Willensfreiheit, als notwendige Prämisse verantwortlichen Handelns wesentliche Basis eines aufgeklärten humanistischen Menschenbildes, sieht sich in letzter Zeit, lange nach den
frühindustriellen positivistisch-deterministischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, wiederum einem radikalen
Skeptizismus der Naturwissenschaften ausgesetzt. Insbesondere die neurobiologischen Experimente Benjamin Libets (Libet et al. 1983) wurden oftmals im Sinne einer Negation der Willensfreiheit interpretiert.
33
34
s.o. (Fn. 3), S. 81.
s.o. (Fn. 3), S. 81.
108
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11.2 Die Libet-Experimente
Zu Beginn der 1980er Jahre befand sich die neurowissenschaftliche Erforschung des menschlichen Gehirns
bereits in einem fortgeschrittenen Stadium; so war beispielsweise bekannt, dass Willkürhandlungen stets ein
negatives elektrisches Potential vorausgeht, welches über beiden Gehirnhälften messbar ist (»symmetrisches
Bereitschaftspotential«). Der amerikanische Neurobiologe Benjamin Libet (*1916) untersuchte in einer Versuchsreihe die zeitliche Abfolge zwischen einer einfachen Handlung, dem dazugehörigen bewussten Willensakt und der Einleitung der Handlung auf neuronaler Ebene, also dem erwähnten Bereitschaftspotential.
11.2.1 Versuchsaufbau
In dem Experiment sollten Libets Probanden insgesamt vierzigmal die gleiche Bewegung der rechten Hand
ausführen, wobei der Zeitpunkt der Ausführung jeweils frei wählbar war. Gleichzeitig sollten sich die Versuchspersonen den Zeitpunkt merken, zu dem sie den bewussten »Drang«, die Hand zu bewegen, verspürten. Zur
Datierung diente eine Art Zifferblatt, auf der ein Punkt mit einer Frequenz von 0,4 Hz rotierte, dessen Position
memoriert werden sollte. Gleichzeitig maß Libet den Zeitpunkt des Anstiegs des symmetrischen Bereitschaftspotentials im Gehirn der Probanden.
11.2.2 Ergebnis und Standardinterpretation
Das für Libet überraschende, wenn auch nicht unerwartete Ergebnis seiner Versuchsreihe erregte weltweit
Aufsehen: Gemäß der Versuche trat der Anstieg des symmmetrischen Bereitschaftspotentials im Mittel 550
Millisekunden (ms) vor Ausführung der Bewegung ein, während das Bewusstsein der Absicht, die Hand zu
heben, von den Probanden erst 350 ms später (und damit nur 200 ms vor der Handbewegung) datiert wurde.
Die naheliegende Interpretation dieser Experimente impliziert daher einen (mehr oder minder) radikalen Angriff
auf die Idee der Willensfreiheit: Weil das symmetrische Bereitschaftspotential, das stets vor Willkürhandlungen
ansteigt, vor dem Bewusstsein auftritt, die jeweilige Bewegung auszuführen, scheint menschliches Handeln
nicht von bewussten Entscheidungen abhängig, sondern von unbewussten Hirnprozessen. Stark vereinfacht
formuliert bedeutet dies: »Nicht ich, sondern das Gehirn hat entschieden!«
11.2.3 Libets Verteidigung der Willensfreiheit: Das »Veto«
In einer weiteren Versuchsreihe sollten die Versuchspersonen, bei ansonsten gleichem Grunddesign des Experiments, die Handbewegung durch ein bewusstes Veto noch stoppen. Das Ergebnis dieser Versuche schien
Libets Intention zu bestätigen, denn den Probanden gelang dies tatsächlich bis maximal 100 ms vor der bereits vorbereiteten und willentlich bewussten Bewegung. Damit war für Libet der Nachweis der Willensfreiheit
erbracht.
11.3 Einwände gegen Libets Versuche und deren Standardinterpretation
11.3.1 Methodische Einwände
Bereits die extremen Differenzen bei den Mittelwerten für den bewussten Willensakt lassen an der Aussagekraft eines derartigen naturwissenschaftlichen Experiments zweifeln. Rund 20 Jahre später (2002), als Trevena
und Miller Libets Versuche (leicht modifiziert) wiederholten, fielen die Befunde trotz verbesserter Messmethoden noch absurder aus: 40% der Probanden gaben an, den bewussten Willensakt zu einem Zeitpunkt verspürt
zu haben, der nach (!) dem objektiv gemessenen Zeitpunkt der Ausführung der Handlung lag – die Wirkung
ging demnach ihrer angenommenen »Ursache« voraus. Für diese Werte sind vielfältige Gründe denkbar:
Zum ersten kann wohl nicht sicher gestellt werden, dass alle Versuchspersonen eine klare Vorstellung von
dem »Drang, sich zu bewegen« besaßen. Mit Libets früheren Forschungsergebnissen lässt sich ein weiterer
Einwand formulieren: Wie der Neurobiologe einige Jahre vor seinen berühmten Experimenten nachgewiesen hatte, wird von zwei Reizen derjenige vordatiert, auf den sich der Proband konzentrierte. Die Datierung
des bewussten Willensaktes ist also abhängig davon, ob die Versuchsperson ihre Aufmerksamkeit auf das
»Zifferblatt« oder den »Drang, sich zu bewegen« richtete. Die Differenz zwischen Bereitschaftspotential und
Willensakt entsprach übrigens mit durchschnittlich rund 330 ms in etwa der Reaktionszeit eines professionellen
Sprinters, der auf den Startschuss reagiert – woraus man durchaus ableiten könnte, dass die Entscheidung
einfach eine gewisse Zeit braucht, um bewusst zu werden. In diesem Sinne lässt sich das Bereitschaftspotential als unbewusster Teil einer Willensentscheidung definieren und wäre damit dem Willensprozess nicht mehr
entgegengesetzt.
109
Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Akademie Roßleben 2006-7
11.3.2 Philosophische Bedenken
Libets Versuch der Verteidigung der Willensfreiheit mit dem Veto-Versuch kann nicht überzeugen, da die einzige echte Entscheidung der Probanden darin bestand, in die Versuchsreihe und das Veto-Prinzip einzuwilligen.
Die Entscheidung, die Handlung noch nach dem bewussten Willensakt zu stoppen, war also längst gefallen
und damit nicht spontan. Da der Abbruch der Handbewegung von vorneherein feststand, kann er nicht mehr
als Veto im Sinne einer willentlichen Entscheidung interpretiert werden.
Nicht nur das Veto in der zweiten Versuchsreihe, sondern vor allem die Einwilligung der Probanden in Libets
Versuche überhaupt stellt die einzige Willensentscheidung im eigentlichen Sinne dar, weil den Handbewegungen eine wesentliche Voraussetzung willentlicher Handlungen fehlt, nämlich die der Alternativität. In Libets
Experiment stand die Handlung von vorneherein fest, von Willensentscheidungen kann also nicht gesprochen
werden, weil nur der Zeitpunkt der Handlung frei wählbar war.
Eine der aktuellen Theorien der Handlungssteuerung (nach Thomas Goschke, 2003/200435,36 ) versteht bewusste Absichten nicht als direkte Ursachen, sondern schreibt ihnen vielmehr indirekte Wirkung zu: Sie führen
demnach nicht mit kausaler Notwendigkeit zur Handlung, sondern erhöhen lediglich die Wahrscheinlichkeit für
die Ausführung der Handlung37 . Wenn das wahr ist, wird das Modell universaler und absoluter Determination
obsolet.
Wer die Gültigkeit induktiver Schlüsse prinzipiell in Frage stellt, kann im Sinne des Alternativismus folgendermaßen argumentieren: Es lässt sich nicht überprüfen, ob man in einer bestimmten Situation anders hätte
handeln können, wenn man anders gewollt hätte, weil man exakt die selbe Situation nicht wiederholen kann.
Damit wäre allerdings die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis generell negiert.
Des weiteren erscheint fraglich, ob man von den Ergebnissen eines einfach angelegten naturwissenschaftlichen Versuchs auf weit komplexere willentliche Entscheidungen schließen kann. Libets Probanden hatten
keine Wahlfreiheit, selbst beim Nachfolgeexperiment von Haggard und Eimer (1999) konnten sich die Versuchspersonen nur zwischen zwei Handlungsalternativen (zwei Tasten) entscheiden. Im Alltag entscheiden
wir aber in viel differenzierteren Kontexten, und auch die Handlung besteht zumeist nicht aus dem einfachen
Drücken einer Taste. Die Anwendbarkeit neurobiologischer Versuche, die notwendigerweise einfach strukturiert
sein müssen, auf komplexe Willensentscheidungen, die – im Gegensatz zu den Handbewegungen im Experiment – großen Einfluss auf unser zukünftiges Leben haben können, ist daher durch die bloße Ähnlichkeit der
neuronalen Vorgänge nicht hinreichend legitimiert.
Das wohl einleuchtendste Argument der Verteidiger der Willensfreiheit kritisiert, dass die Standardinterpretation der Libet-Experimente von einer völlig unbegründeten Entgegengesetztheit von Gehirn und Handelndem
ausgehe. Ansgar Beckermann formuliert dagegen einen naturalistischen Einwand: »Handlungen sind meine
Handlungen, wenn sie auf meine Überzeugungen, Präferenzen und Überlegungen zurückgehen. Naturalisten
behaupten aber, dass Überlegungen durch neuronale Prozesse und dass Präferenzen und Überzeugungen
durch neuronale Zustände realisiert sind. Wenn das richtig ist, können auch Handlungen, die von Prozessen
in meinem Gehirn ausgelöst werden, meine Handlungen sein.«
Für die Überlegungen der Probanden, wann sie jeweils die Hand heben wollten, ist daher irrelevant, dass
sie selbstverständlich als neuronale Prozesse abliefen: Weil sie in den Gehirnen der Probanden stattfanden,
können die daraus resultierenden Handlungen als ihre Handlungen interpretiert werden.
11.4 Ist eine neurobiologische Widerlegung der Willensfreiheit möglich?
Es sollte inzwischen hinreichend klar geworden sein, dass selbst mit den modernen Methoden der Neurowissenschaften die Willensfreiheit nicht empirisch widerlegt werden kann. Experimente zu einfachen Willensakten
werden immer mit dem ihnen wesentlichen Problem konfrontiert sein, einen subjektiv erlebten, gedanklichen
Prozess mit objektiven Mitteln interpretieren zu müssen. Wenn aber unsere Kenntnisse über das Gehirn einen
derartigen Vorgang jemals einigermaßen adäquat ermöglichen sollten, könnte es um die Willensfreiheit ohnehin geschehen sein, da in diesem Fall wohl eine Beeinflussung menschlicher Gedanken und Willkürakte
möglich wäre.
35
vgl. Goschke, T., Voluntary Action and Cognitive Control from a Cognitive Neuroscience Perspective, in: Voluntary Action: Brains, Minds
and Sociality, hrsg. v. S. Maasen, W. Prinz und G. Roth, Oxford: Oxford University Press, 49–85, zitiert nach: Pauen, 5, s.o. (Fn. 3).
36 vgl. Goschke, T. (2004), Vom freien Willen zur Selbstdetermination, in: Psychologische Rundschau 55 (4), 186–197, zitiert nach: Pauen,
5, s.o. (Fn. 3).
37 www.philosophieverständlich.de, 5, Stand: 05.05.2006, zitiert nach: Pauen, M. (2005), Haben wir einen freien Willen?.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
12 Entscheidungsprozesse aus Sicht der Hirnforschung
(Sarah Diner, Julia Cordes)
12.1 Die neuronale Grundlage von Entscheidungen
In seinem 2004 veröffentlichten Essay »Entscheidungsgrundlagen« propagiert Wolf Singer als Antwort auf
die Frage der Willensfreiheit die These, dass unsere Entscheidungen auf neuronal determinierte Prozesse
zurückgeführt werden können. Als Begründung dafür zieht er die evolutionistische Evidenz sowie entwicklungsbiologische Argumente heran, die für die symbolbasierte Sprache, die logischen Operationen und das
Ich-Bewusstsein verantwortlich sind.
Singer unterscheidet dabei angeborenes Wissen, das von Genen übertragen wird und somit die Basis für
die neuronale Verschaltung bildet, und Wissen, das in den ersten Lebensjahren erworben wird. Durch letzteres werden die angeborenen neuronalen Strukturen beeinflusst. So werden unter anderem Wertesysteme
genauso verankert wie genetisch vererbtes Wissen und haben dadurch impliziten Charakter für »bewusste«
Entscheidungen. Hinzu kommt, dass nur aktiv angeeignetes Wissen auch bewusst abrufbar ist, und nur dieses
können wir nach Singer auch in Argumente fassen. Ein verbales Ausdrucksvermögen aber spielt für uns als
soziale Wesen die zentrale Rolle bei der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Es ist jedoch zu beachten, dass neuronale Verschaltungen nicht nur eine Entscheidungsmöglichkeit zulassen.
Eine große Anzahl von Variablen spielt beim Fällen einer Entscheidung eine Rolle. Zu diesen zählt neben
Signalen aus der Umwelt und dem Körper auch das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem die emotionale
und motivationale Bewertung gehört.
12.2 Bewusste und unbewusste Entscheidungen
Singer geht davon aus, dass Entscheidungen in einem weit verzweigten Prozess getroffen werden. Dabei
verneint er die Existenz einer übergeordneten Entscheidungsinstanz. Welche Entscheidung getroffen wird, ist
demnach allein durch den Gesamtzustand der physiologischen und neuronalen Faktoren festgelegt. Jedoch
können bei diesem Prozess auch Zufälle entscheidend sein.
Diese Erklärung scheint uns für unbewusste Prozesse plausibel. Allerdings tauchen bei bewussten Prozessen
Probleme auf, da wir sie als »frei entscheidendes Ich« aus der Innenperspektive erleben. Somit stellt sich
die Frage, wodurch sich bewusste und unbewusste Prozesse aus der Sicht der Hirnforschung unterscheiden.
Dafür werden Kriterien wie die Intensität der Aufmerksamkeit, mit der eine Entscheidung belegt wird, und der
Inhalt der Entscheidung angegeben. Diese Kriterien gelten bei bewussten Entscheidungsprozessen, da bei
ihnen der Inhalt des »deklarativen« Gedächtnisses so zur Geltung kommt. In diesem Gedächtnis werden bewusst angeeignete Information wie Erinnerungen an Erlebnisse, aber auch gesellschaftliche Normen und Gestze abgespeichert. Abwägungsstrategien, frühkindliche Prägungen, aber auch verhaltenssteuernde Einflüsse,
die auf den Prozess des Bewusstwerdens Einfluss nehmen, stellen hingegen unbewusste Entscheidungen
dar. Gleichwohl betont Singer, dass sowohl bewusste als auch unbewusste Entscheidungen determiniert sind.
»Freie« Entscheidungen unterscheiden sich nur durch bewusste Abwägung von Argumenten von »unfreien«
und täuschen dadurch eine wirkliche Freiheit lediglich vor. Dies ruft auch das Gefühl der Verantwortung hervor,
das in unserem Strafrecht die entscheidende Rolle spielt. Jedoch wird von Singer die These vertreten, dass
wir eine Handlung erst im Nachhinein mit Argumenten für uns plausibel machen. Dies spricht dafür, dass wir
lediglich Argumente wahrnehmen und anerkennen, die wir subjektiv als entscheidend erachten, welche allerdings nicht wirklich ausschlaggebend sein müssen. Eine objektive Bewertung wird dadurch ausgeschlossen.
Die beiden Ebenen unterscheiden sich nämlich nur in der Anzahl der Verschaltungsmöglichkeiten, also in ihrer
Komplexität.
12.3 Diskussion
Es stellt sich jedoch die Frage, warum Singer sich überhaupt für Bestrafung ausspricht, wenn doch alles determiniert ist. Singer betont, dass Strafe und Verantwortung stabilisierend für Gesellschaftssysteme wirken und
für das friedliche Miteinander notwendig sind. Obwohl nach neurobiologischer Auffassung der Ausgangspunkt
des Strafrechts, die Verantwortung im herkömmlichen Sinne, nicht gegeben ist, fordert er die Beibehaltung des
Strafrechts, da bei einer Ahndung der Straftat dennoch die gewünschte Besserung einträte. Allerdings stellt
die Beurteilung von Fehlverhalten ein Problem dar, wenn Störungen in der Gehirnstruktur vorliegen, da eine
Person in diesem Falle rein strafrechtlich als voll zurechnungsfähig angesehen wird, aber es biologisch betrachtet nicht ist. Dies kann daran liegen, dass im Individuum keine Hemmschwelle vorhanden ist oder soziale
Regeln nicht verinnerlicht werden können. Unter diesen Umständen müsste Nachsicht gefordert werden. Es ist
111
Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Akademie Roßleben 2006-7
jedoch so, dass Sanktionen umso drastischer ausfallen, je eher davon ausgegangen wird, dass gegen Regeln
bewusst verstoßen wurde. Daraus folgt, dass bewusste Entscheidungen in unserer Gesellschaft stärker ins
Gewicht fallen als unbewusste.
Das Strafrecht geht aber davon aus, dass jemand bestraft werden muss, weil er sich bewusst und »frei«
zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann. Wenn Singer nun einwendet, dass die handelnde Person gar
nicht anders konnte, als sich für seine Handlung zu entscheiden, ist er nach der Auffassung unseres geltenden
Strafrechtssystems unschuldig.
13 Leben ohne Verantwortung – ein Gedankenexperiment
(Andela Marjanovic)
Wir haben verschiedene Argumentationsweisen für die Vereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit
kennen gelernt. Stellen wir uns nun vor, dass der Determinismus bewiesen ist und einen freien Willen ausschließt. Ferner gehen wir von folgender Sachlage einer Gerichtsverhandlung aus:
Ein Beschuldigter wird eines Raubmordes angeklagt. Alle Indizien und Zeugenaussagen deuten auf seine
Schuld hin, und er gesteht die Tat schließlich. Die Tatumstände gestalten sich dahingehend, dass keine
Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe vorliegen. Der Richter müsste also den Angeklagten nach geltendem Recht mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestrafen. Die Verteidigung des Angeklagten sieht wie
folgt aus: Er sei sich zwar bewusst, etwas getan zu haben, das nicht richtig war, und er bereue seine Tat sowie die Konsequenz, dass er dem Opfer und seiner Familie Schmerz bereitet hat. Dennoch hätte es einfach
nicht in seiner Macht gelegen, anders zu handeln, weil alles in der Welt determiniert sei. Seine Tat habe sich
unvermeidbar aus seiner Biographie und den äußeren Umständen ergeben. Somit sei nicht er, sondern der
unvermeidbare, vorherbestimmte Lauf der Natur für die Tat verantwortlich. Ihn treffe daher keine Schuld und es
sei demnach auch nicht gerechtfertigt, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen. Doch ist diese Argumentation
stimmig?
Das Argument des Angeklagten lautet so, dass es in einer deterministischen Welt keine moralische Verantwortlichkeit geben kann und er daher nicht bestraft werden darf. Wenn der Richter ihn also für eine Tat bestrafen
würde, die er nicht freiwillig getan hat, dann würde er gegen die moralische Verpflichtung verstoßen. Das
wiederum würde bedeuten, dass die ethischen Normen auch niemanden zu irgendeinem Tun oder Lassen
verpflichten. Denn ohne moralischer Verantwortlichkeit kann es auch keine moralische Verpflichtung geben.
Wenn man die Argumentation des Angeklagten konsequent weiterführt, muss sich der Richter daher genauso wenig verpflichtet fühlen den Angeklagten frei zu sprechen, da es, wie bereits erwähnt, keine moralische
Verantwortlichkeit gibt. Der Fehler des Angeklagten besteht also darin, dass er einerseits moralische Verantwortung zurückweist, um seine Tat zu rechfertigen, sich anderseits aber auf Moral beruft, um seiner Strafe zu
entgehen. Wenn bewiesen werden könnte, dass es keine Freiheit gibt, würden wir unser Selbstverständnis als
moralische Personen verlieren. Villeicht würden wir aber im alltäglichen Leben weiter strafen, weil die Illusion unserer Willensfreiheit bestehen bliebe. Möglich wäre auch das Szenario, dass nach dem Feststellen des
Nichtvorhandenseins der Willensfreiheit, die Normen und Werte der Ethik verlieren würden. Die Folge daraus
wäre ein gesellschaftlicher Amoralismus.
14 Philosophische Antworten I: Peter Bieri
(Timo Krall)
14.1 Der Determinismus als Bedingung für Willensfreiheit
Es entsteht leicht der Eindruck, dass Determinismus und Willensfreiheit einander ausschließen. Dieser Vorstellung entspricht ein Hauptargument der Libertarianer, nach dem man sich den Menschen nicht als Wesen
vorstellen kann, das seine Zukunft frei bestimmt, wenn er tatsächlich, wie die Deterministen behaupten, nur
eine faktisch mögliche Zukunft hat. Daher führen sie Begriffe wie den des »absoluten Subjekts« ein, um eine »absolute Freiheit« annehmen zu können. Ein solches Subjekt sei zu jedem Zeitpunkt in der Lage frei zu
wählen, wie es im jeweiligen Prozess der Entscheidung mit der – freilich determinierten - Entscheidungsbasis umgehen wolle. Dementsprechend handle es sich wirklich um eine offene Zukunft, die der Einzelne, das
Subjekt, frei bestimme.
112
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Peter Bieri hält dieser These entgegen, dass sie ihre eigentliche Funktion – nämlich: die Willensfreiheit zu
retten – nicht erfüllen kann. Zum einen offenbart sich, dass nach dieser Theorie ein und dieselbe Entscheidungsgrundlage zu verschiedenen Handlungen der Person führen kann, ohne dass man Gründe dafür anführen kann. Deshalb wird hier gleichsam an die Stelle der Determination einer Handlung deren Zufälligkeit
gesetzt. Zweitens ist die Konzeption eines solchen »absoluten Subjekts« an sich unstimmig. Dieses Subjekt
soll losgelöst (lat. absolutus, von absolvere: losgelöst) von sämtlichen determinierten Entscheidungsfaktoren
einen Entschluss fassen. Dies bedeutet aber, dass keine begründete, sondern eine wahllose Entscheidung
getroffen wird. Bieri ist der Überzeugung, dass dieses Willenskonzept der Libertarier nicht stimmig ist. Um dies
zu belegen, entwickelt er zwei Aussagen: erstens handelt es sich bei einem libertarischen Willen um keinen,
der als jemandem zugehörig erachtet werden kann, da bei diesem keine Abhängigkeit von den inneren Umständen (zum Beispiel Lebensgeschichte und Charakter, aktuelle Bedürfnissen oder Gefühle) vorliegt. Zum
Zweiten ist es nicht einmal ein bestimmter Wille, weil er nicht von äußeren Umständen abhängig ist:
»Die Grenzen, die dem Willen durch die Welt gezogen werden, sind kein Hindernis für die Freiheit, sondern
deren Voraussetzung.« 38
Da also für Bieri Freiheit Determination erfordert, betrachtet er Ansätze, die Willensfreiheit jenseits von einer als
grundsätzlich determiniert gedachten Welt suchen, als unstimmig. Stimmt man dieser Argumentation zu, dann
ist damit bereits die erste der beiden inkompatibilistischen Positionen, der Libertarianismus, auszuschließen.
Man muss demnach also eine deterministische Weltsicht annehmen. Darüber, ob nun ebenfalls von einer
Freiheit des Willens ausgegangen werden kann, ist damit allerdings noch keine Aussage getroffen.
14.2 Bieris Konzept der Willensfreiheit in einer determinierten Welt
Denkbar ist, dass es sich verhält, wie Bieri formuliert:
»Unser Leben wäre, auch was den Willen und das Entscheiden anlangt, eine Entfaltung von früher gesetzten
Bedingungen, die wir zum großen Teil gar nicht kennen und die wir, selbst wenn wir sie kennten, nicht hätten
beeinflussen können. Diese Entfaltung verliefe nach unwandelbaren, ehernen Gesetzen und trüge uns aus
dem Dunkel einer feststehenden Vergangenheit in eine ebenfalls feststehende Zukunft hinein, die uns nur
deshalb weniger dunkel erschiene, weil wir uns einbildeten, sie beeinflussen zu können.« 39
Um diesem Szenario den Schrecken zu nehmen, entwickelt Bieri in »Das Handwerk der Freiheit«40 Überlegungen, die es auch in einer so gedachten Welt ermöglichen sollen, Willensfreiheit zu postulieren. Wir erinnern
uns, dass der Wille durch innere und äußere Umstände bedingt sein muss. Wenn er aber ferner auch durch unser Denken und Urteilen bedingt wird, gewinnen wir eine Art von Macht über ihn. Natürlich sind auch Fälle von
Unfreiheit denkbar, in denen nach dieser Definition keine, oder nur eingeschränkte Willensfreiheit gegeben ist.
Dabei handelt es sich jedoch lediglich um die Auswirkungen von äußeren oder inneren Zwängen (vgl. Suchtkranke), die eine Beeinflussung des zwanghaften Willens durch das Urteil verhindern. Die Unfreiheit entsteht,
weil der Wille nicht angemessen determiniert werden konnte, nicht deshalb, weil er überhaupt determiniert ist.
Es bleibt festzuhalten: im Idealfall können wir den Willen so beeinflussen, dass er zu uns als Person sowie der
jeweiligen Situation passt. Dann ist er uns sowohl nützlich als auch verständlich und wir können uns mit ihm
identifizieren. Darin liegt nach Bieri schlussendlich die Freiheit des Willens. Es mag sein, dass sich unter spezifisch gegebenen inneren und äußeren Umständen faktisch immer nur eine Handlung ergeben kann und alle
alternativen Handlungsmöglichkeiten nur eine Illusion sind. Sie sind kontrafaktisch und erscheinen dementsprechend nur im Entscheidungsprozess selbst als wählbar, können aber, im Gegensatz zu dem tatsächlich
gewählten Handeln, niemals Wirklichkeit werden. Dennoch haben wir nach Bieri jederzeit die Möglichkeit, den
Willen in unserem Sinne zu beeinflussen. Davon ausgehend, dass wir eine Entscheidung in unserem Sinne
treffen möchten, muss sie bei identischer Sachlage dem Determinismus folgend immer gleich ausfallen, und
es kann dementsprechend nur eine mögliche Zukunft geben. Das wiederum stellt für Bieri jedoch keine Tragödie dar: wir könnten unsere vorgezeichneten Lebenswege überhaupt nicht stupide ’nachleben’, weil sich
unser Denken, Urteilen und Handeln durch den Einblick in diese wandeln, und sich damit auch unsere Zukunft
verändern würde.
38
Bieri, P., Das Handwerk der Freiheit, Frankfurt 2006, S. 51.
s.o. (Fn. 1), S. 181.
40 s.o. (Fn. 1).
39
113
Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Akademie Roßleben 2006-7
14.3 Die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung aus kompatibilistischer Sicht
Bieri sieht somit den Streit zwischen Inkompatibilisten und Kompatibilisten zugunsten von letzteren als entschieden an, weil hiermit eine überzeugende Vereinbarkeit von Determinismus und Willensfreiheit dargelegt
wird. Er hält damit die Position der »harten« Deterministen für widerlegt. Doch es ist notwendig, sich dieser Sichtweise von einer anderen Seite her erneut zu widmen, weil aktuelle Forschungsergebnisse aus dem
Bereich der Hirnforschung von Vertretern dieses »harten« Determinismus als Beleg für ihre Thesen genutzt
werden: Die Ergebnisse von Libet und seinen Nachfolgern besagen, wie zuvor erläutert, dass ein »Aktionspotential« (oft auch als »Bereitschaftspotential« bezeichnet) dem Entscheidungsergebnis voraus geht. Dies
könnte man so interpretieren, dass die Entscheidung von unserem Körper, maßgeblich dem Gehirn, getroffen
wird und wir auf der Ebene der Gedanken lediglich die Ergebnisse registrieren, wobei wir dabei die Illusion
haben, selbst zu diesem Entschluss gekommen zu sein. Dieser Meinung zum Trotz hält Bieri die Forschungsergebnisse durchaus mit seiner kompatibilistischen Position vereinbar. Aus seiner Sicht ist die beschriebene,
den freien Willen infrage stellende Interpretation der wissenschaftlichen Erkenntnisse unstimmig. Sie verkenne, dass alles menschliche Erleben physiologische Vorbedingungen habe. Wie sollte man sich etwa vorstellen
können, dass zuerst der Denkprozess abläuft und danach die mit ihm verbundenen körperlichen Prozesse
ausgelöst werden? Zweitens sei das Gehirn kein vom Individuum abgespaltener Fremdkörper (Homunkulus).
Vielmehr muss dieses als Bestandteil der jeweiligen Person aufgefasst werden, weshalb es nicht ’gegen’ ebendiese Person arbeiten könne.
Damit wäre meine Schilderung der Argumentationskette Bieris am Ende angelangt, und ich möchte sie nun
schließen, indem ich Bieri selbst in einem Zitat zusammenfassen lasse:
»Dass die Linie, die wir auf der Oberfläche der Erde ziehen, nur eine einzige Linie sein kann, weil alles andere
so ist, wie es ist, nimmt uns kein Iota von unserer Freiheit weg. Abhängig davon, wie mir die Welt begegnet,
entwickle ich mich auf eine ganz bestimmte Weise, und diese Entwicklung enthüllt mir, wer ich bin. Vieles in
dieser Entwicklung geschieht aus Freiheit, einiges nicht. Wenn mich Unfreiheit beherrscht, so kann ich das
beklagen, so wie ich jedes Übel beklagen kann. Dass die Unfreiheit, ebenso wie die Freiheit, Bedingungen ist,
kann ich nicht beklagen[.]« 41
15 Philsophische Antworten II: Ansgar Beckermann
(Martin Klein)
Eine weitere Lösung des Problems der Willensfreiheit schlägt der Bielefelder Philosoph Ansgar Beckermann
in seinem Aufsatz »Neuronale Determiniertheit und Freiheit« (2006)42 vor. Als Reaktion auf die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung (Libet-Experiment u.a.) versucht er über den alten philosophischen Streit, ob Determinismus und Freiheit vereinbar sind, hinauszugehen und die aktuellen Forschungsergebnisse, die bereits
erläutert wurden, einzubeziehen. Beckermann vertritt ebenso wie Peter Bieri43 die These, dass sich neuronale
Determiniertheit und Freiheit nicht ausschließen.
15.1 Das Problem der Willensfreiheit
Sowohl einen determinierten als auch einen vom Zufall bestimmten Weltverlauf hält Beckermann mit unserem Grundverständnis von Freiheit, dass wir unsere Zukunft selbst bestimmen, für schwer vereinbar. In einer
determinierten Welt ist alles vorherbestimmt, was der Möglichkeit, sich »so-oder-so«44 zu entscheiden, also
zwischen Alternativen wählen zu können, widerspricht. Um Willensfreiheit im Sinne einer offenen, vom Menschen selbst bestimmten Zukunft zu wahren, müsste man daher nach Beckermann von einem libertarischem
Freiheitsbild ausgehen.
Für Handlung A gelten dieselben kausalen Gründe wie für Handlung B. Damit wäre es nach Beckermann, falls
man sich zwischen A und B entscheiden könnte, reiner Zufall, wofür man sich schließlich entscheiden würde,
wenn nicht schon vorher festgelegt wäre, wie man sich logischerweise entscheiden muss. Eine Wahlfreiheit
zwischen A und B wäre daher eine rein hypothetische.
41
s.o. (Fn. 1), S. 319.
Beckermann, A., Neuronale Determiniertheit und Freiheit, in: Köchy, K. & Stederoth, D., Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem,
Freiburg/München 2006, S. 289–304.
43 vgl. Bieri, P., Das Handwerk der Freiheit, Frankfurt am Main 2006.
44 s.o. (Fn. 1), S. 291.
42
114
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Dieses Grundproblem der Libertarier erkennt Beckermann wie auch viele
harten Deterministen, die daraus den Schluss ziehen, dass der freie Wille
eine Illusion ist, da nur das oben erläuterte deterministische Weltbild gelten kann. Beckermann aber versucht eine überzeugende kompatibilistische
Lösung für dieses Problem zu finden.
15.2 Die Lösung des Problems aus kompatibilistischer Perspektive
Beckermann definiert zunächst zwei Grundvoraussetzungen für die Freiheit.
Zum einen muss das Subjekt die Handlungsfreiheit besitzen, das zu tun,
was es tun will. Zum anderen muss das Subjekt die Willensfreiheit besitzen,
das zu wollen, was es wollen will. Als Gegenbeispiel sei hier ein Drogenabhängiger genannt. Dieser hat zwar den Willen, keine Drogen mehr zu nehmen, doch seine Sucht lässt das nicht zu. Die Person ist nach Beckermann
somit nicht willensfrei und daher nicht fähig, selbstbestimmt zu entscheiden.
Abb. 5.1: Ein klassisch
deterministisches Weltbild. Auf den
Zustand zum Zeitpunkt t0 folgt
zwingend ein bestimmter Zustand
zum Zeitpunkt t1 . Ein alternativer
Handlungsverlauf, initiiert durch
den Menschen, ist außerhalb
dieser Kausalkette nicht möglich.
Im Folgenden soll gezeigt werden, wie Beckermann sein kompatibilistisches
Freiheitsbild begründet.
15.2.1 Kompatibilismus
Beckermann definiert den Begriff der Willensfreiheit folgendermaßen:
» [...] eine Entscheidung ist frei, wenn ich (a) vor der Entscheidung innehalten und überlegen kann, was ich in der gegebenen Situation tun sollte,
und wenn (b) in diesem Fall meine Entscheidung durch das Ergebnis dieser
Überlegung bestimmt wird.«45
Abb. 5.2: Ein inkompatibilistisches
Weltbild. Der Mensch kann bei
einer Handlung zwischen A und B
wählen. Er ist in der Lage,
so-oder-so zu entscheiden.
Diese Definition der Willensfreiheit stammt ursprünglich von John Locke46 . Ihre Bedingungen gelten auch in
einer komplett determinierten Welt. Für Beckermann sind daher Willensfreiheit und Determinismus kompatibel.
15.2.2 Neuronale Determiniertheit und Freiheit
Beckermann kann die allgemeine Interpretation des Libet-Experiments, nach der die Entscheidungen längst
von unserem Gehirn getroffen sind, bevor sie dem Subjekt bewusst werden, nicht unterstützen. Er hält eine
grundsätzliche Trennung zwischen dem Gehirn und dem Ich für unlogisch. Wenn das Gehirn entscheidet,
entscheidet niemand anderes als das Subjekt selbst.
Weiter nimmt Beckermann an, dass alle Entscheidungen eines biologischen Wesens auf neuronalen Prozessen beruhen. Darüber hinaus sind Menschen manchmal für Überlegungen und Gründe empfänglich. Da diese
Prozesse nur im Gehirn selbst stattfinden können, postuliert er, dass es bestimmte neuronale Prozesse gibt,
die »Prozesse des Überlegens«47 sind. Folglich zeigt das Libet-Experiment nur das, was schon zu erwarten
war: Werden Entscheidungen getroffen, so laufen neuronale Prozesse ab, die nicht bewusst wahrgenommen
werden. Nur das Ergebnis, nicht aber der Prozess kann, wie bei allen neuronalen Prozessen, bewusst wahrgenommen werden48 . Aus diesem Grund sind Freiheit und neuronale Determiniertheit für Ansgar Beckermann
vereinbar.
15.3 Diskussion
Beckermann führt zwar, um den freien Willen zu erhalten, eine eigene Freiheitsdefinition ein, die zunächst
mit dem allgemeinen intuitiven Freiheitsgefühl nicht übereinstimmen könnte, bei näherer Überlegung aber als
angemessene Alternative erscheint. Für Viele könnte es sich jedoch als schwer erweisen, das intuitive indeterministische Freiheitsbild aufzugeben, vermutlich in der Angst, einem Determinismus ohne Handlungsspielraum
unterworfen zu sein. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass Entscheidungen, auch in einem determinierten
Weltverlauf, immer noch die eigenen Entscheidungen sind, mit denen man sich selbst und seine Umgebung
gestaltet und damit nach Beckermanns Definition Willensfreiheit direkt und nicht nur als »Illusion«49 erfährt.
45
s.o. (Fn.1), S. 300.
John Locke (1632–1704), englischer Philosoph.
47 s.o. (Fn. 1), S. 303.
48 s.o. (Fn. 6).
49 Roth, G., zitiert nach: Hillenkamp, T., Strafrecht ohne Willensfreiheit? Eine Antwort auf die Hirnforschung, aus: JZ 2005, S. 314.
46
115
Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
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16 Willensfreiheit und Strafrecht: Antwort auf Resultate der Hirnforschung aus
strafrechtlicher Sicht
(Katrin Grunert)
16.1 Eine Interpretation eines Strafrechtswissenschaftlers
Björn Burkhardt50 unternimmt den Versuch, die aktuellen Ergebnisse der Hirnforschung im Hinblick auf die
Auswirkungen auf das Strafrecht und die Schuldfrage zu interpretieren. Er bezieht sich vor allem auf Aussagen
Gerhard Roths und Wolf Singers, die von ihnen selbst im Nachhinein zumindest teilweise revidiert wurden.
Auch Burkhardt stimmt zu, dass die Ergebnisse der Hirnforschung in Zukunft sehr wahrscheinlich Auswirkungen auf das Strafrecht haben werden. Hirnforscher sprechen jetzt schon von dramatischen Änderungen, sie
entziehen dem Schuldstrafrecht jedoch nicht die Grundlage.
Roth und Singer gehen davon aus, dass strafrechtliche Schuld »persönliche Schuld« und die Begründung dieser durch eine freie Willensentscheidung als wissenschaftlich nicht gerechtfertigt abzulehnen ist. Des weiteren
wird von ihnen die Behauptung aufgestellt, der Schuldbegriff des Strafrechts sei unabdingbar an die Annahme
einer Willensfreiheit im Sinne des Anders-handeln-könnens unter denselben physiologischen Bedingungen
gebunden. Objektiv betrachtet existiert diese Willensfreiheit jedoch nicht, was im Umkehrschluss bedeutet,
dass man nicht von persönlicher Schuld bzw. Verantwortung des einzelnen für sein Handeln sprechen kann.
Daher muss nach Singers und Roths Meinung auf den Begriff der persönlichen Schuld im Strafrecht verzichtet
werden.
Dem widerspricht Burkhardt vehement. Er wirft ihnen vor, dass sie die Aufgabe des Schuldprinzips verkennen und ihre Schlussfolgerungen über eine erforderliche grundlegende Veränderung des Strafrechts schlicht
falsch sind. Nach Burkhardt teilt nur eine Minderheit unter den Strafrechtlern die Meinung Roths und Singers.
Burkhardt sagt aber auch ganz klar, dass die individuelle Verantwortlichkeit auf den »Freiheitsintuitionen des
Alltagslebens« basiert51 , und wenn es zutrifft, dass ebendiese mit den Erkenntnissen der Hirnforschung und
Psychologie unvereinbar sind, kann dies nicht ohne Folgen bleiben.
16.2 Auswirkungen auf das Strafrecht und die Frage der Schuld
Burkhardts Ansicht nach setzen sowohl strafrechtliche als auch moralische Schuld keine Willensfreiheit im
indeterministischen Sinne voraus. Strafrechtliche Schuld hat nur insofern mit Freiheit zu tun, als sie zur Grundlage hat, dass der Täter seine Tat im Bewusstsein des Anderskönnens vollzog. Freiheit im Strafrecht bedeutet:
»Wenn eine Person denkt, sie ist frei etwas Bestimmtes zu tun, ist es theoretisch egal, ob sie objektiv gesehen
diese Freiheit besitzt, da sie sich frei fühlt«.52 Die Person sieht sich selbst dann als Urheber und Verantwortlichen für die Tat, und nur dies ist für die Frage der Schuld und Bestrafung von Bedeutung. Auch das ist
eine umstrittene Auffassung. Burkhardt belegt sie vor allem mit dem praktischen Denken des Menschen, der
sich fragt: »Was soll ich tun?« und somit eine Handlungsfreiheit sowie eine psychologische Indeterminiertheit
erlebt, obwohl erste Studienergebnisse in eine andere Richtung weisen.
Was ändert sich also für das Strafrecht, wenn es keine indeterministische Willensfreiheit gibt? Für die Libertarier ändert sich alles, da sie von persönlicher Schuld, die unabdingbar an Willensfreiheit gebunden ist,
ausgehen. Das ist nach Burkhardt aber nur eine Minderheit unter den Strafrechtlern. Burkhardts Antwort ist: Es
ändert sich nichts. Hierbei bezieht sich Burkhardt auf zahlreiche andere Philosophen wie Leiber (1996) oder
Hoerster(2005). Dabei gibt es zwei Möglichkeiten dies zu begründen:
a) Strafrechtliche Schuld ist keine persönliche Schuld: Die Mehrheit im Strafrecht ersetzt den Begriff der persönlichen Schuld längst durch ein Konzept, das als sozialer Schuldbegriff bezeichnet wird. Danach ist strafrechtliche Schuld »nur ein sozialer Tadel wegen des Zurückbleibens hinter Verhaltensanforderungen, die der
[...] Staat an seine Bürger [...] stellen muss«53 .
b) Persönliche Schuld setzt keine Willensfreiheit voraus: die Strafrechtstheoretiker gehen von einer Art eingeschränkter Willensfreiheit im kompatibilistischen Sinne aus, wie sie Peter Bieri vertritt.
Somit ist die Existenz einer Willensfreiheit für Burkhardt irrelevant.
50
Prof. Dr. Björn Burkhardt, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Ausländisches und Internationales Strafrecht.
51 Burkhardt, B., Bemerkungen zu den revisionistischen Übergriffen der Hirnforscher auf das Strafrecht, http://www.jura.unimannheim.de/burkhardt, Stand: 11.08.2006, S. 5.
52 Burkhardt, B.,Düsseldorfer Thesen zum Kongress Neuro2004, http://www.jura.uni-mannheim.de/burkhardt, Stand: 11.08.2006.
53 Lackner,K./ Kühl, K., zitiert nach: Burkhardt, s. oben (Fn. 2), S. 8.
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Akademie Roßleben 2006-7
Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
17 Sind wir für unsere Taten strafrechtlich verantwortlich?
(Kurs 7.5)
Welchen Einfluss haben die philosophischen Betrachtungen über die Willensfreiheit auf das Strafrecht?
Die Begründung von Strafe und Schuld hängt von den philosophischen Ausgangspunkten und dem damit verbundenen Menschenbild ab. Im Folgenden werden drei straftheoretische Ansätze, die von den philosophischen
Hauptpositionen Libertarianismus, Harter Determinismus und Kompatibilismus ausgehen, vorgestellt.
17.1 Ein Strafsystem unter dem Libertarianismus
17.1.1 Definition Verantwortlichkeit und Schuld
Verantwortlichkeit und Schuld stellen den essentiellen Bestandteil der begrifflichen Grundlagen des Strafrechts
dar. Man kann sie wie folgt definieren:
Eine Person ist immer dann verantwortlich, wenn sie Letzturheber ihrer Taten ist. Letzturheber ist sie dann,
wenn sie Ursprung ihrer eigenen Ziele beziehungsweise Absichten und damit ihrer Entscheidungen und Handlungen ist.
Schuld liegt dann vor, wenn man die Möglichkeit hat, frei zwischen Unrecht und Recht zu wählen und sich für
Unrecht entscheidet.
17.1.2 Wie sind Verantwortlichkeit und Schuld verknüpft?
Schuldig ist und bestraft werden kann also prinzipiell jeder, der Unrecht begangen hat und dafür selbst verantwortlich im Sinne der Letzturheberschaft ist. Es sind jedoch Umstände denkbar, in denen eine Person
Letzturheber ihrer Taten und demnach verantwortlich für sie ist, aber dennoch keine Schuld trägt. Dies ist zum
Beispiel der Fall, wenn sie sich in Zwangslagen befindet, in denen zwar eine freie Wahl möglich ist, diese allerdings zwischen zwei rechtswidrigen Handlungsmöglichkeiten oder einer rechtswidrigen und einer unzumutbaren Alternative getroffen werden muss (vgl. rechtfertigender oder entschuldigender Notstand beziehungsweise
Notwehr).
17.1.3 Libertarische Strafzwecke
Weil der Mensch sich prinzipiell frei entscheiden kann, ist es legitim, ihn für seine Taten nach obigen Grundsätzen verantwortlich zu machen und schuldig zu sprechen. Deshalb kann er grundsätzlich im Sinne der Vergeltungstheorie zur Verantwortung gezogen werden. Dadurch wird ein fester Strafrahmen möglich, den der Verurteilte akzeptieren kann, weil dieser sich per se nach der persönlichen Schuld richtet. Neben der Vergeltung
sind zusätzlich noch weitere Strafzwecke möglich. Gerade aus libertarischer Sicht kann man argumentieren,
dass Unrecht vergolten werden muss, damit das Unrechtsbewusstsein von bestraftem Individuum sowie der
Gesellschaft insgesamt geschärft wird. Auch wenn sich eine Person jederzeit frei entscheiden kann, trifft sie
Entscheidungen auf der Grundlange voran gegangener Erfahrungen und Überlegungen. Eine positive Beeinflussung durch Strafen für unrechtmäßige Taten ist somit insofern möglich, als dass die Strafe als zusätzliches
Motiv im Abwägungsprozess für zukünftige Entscheidungen mit einfließt.
17.2 Ein Strafsystem unter dem harten Determinismus
Harte Deterministen gehen davon aus, dass Determinismus und Willensfreiheit unvereinbar (inkompatibel)
sind. Da der Determinismus wahr ist, kann die Willensfreiheit nur eine Illusion sein. Der Mensch hat niemals
die Wahl, ob gewisse Dinge eintreten oder nicht, da keine alternativen Handlungsmöglichkeiten existieren. Er
kann nicht »so-oder-so« entscheiden.
17.2.1 Verantwortlichkeit
Verantwortlichkeit geht von einer Letzturheberschaft aus. Der Delinquent muss durch sein aktives oder unterlassendes Tun den entscheidenden Schritt in der Kausalkette einer rechtswidrigen Tat ausgeführt haben.
17.2.2 Schuld
Schuldhaft handelt der, der bei seiner Willensbildung die Einsicht in sein von ihm verantwortetes Handeln
hatte und wusste, wie man rechtstreu hätte handeln können. Er musste absehen können, was er durch sein
Tun bewirkt, oder fahrlässig handeln.
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Kurs 7.5 – Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Akademie Roßleben 2006-7
17.2.3 Warum Strafe?
Die Strafe muss im generalpräventiven Sinne die Einübung der Rechtstreue (nicht im Sinne die Abschreckung)
und die Stabilisierung der Gesellschaft gewährleisten. Die Straftat enttäuscht die Erwartung der Gesellschaft,
und diese Enttäuschung wird kompensiert, indem nicht sie, sondern das enttäuschende Verhalten als Fehler
bewertet wird.
Durch sein unmoralisches Handeln entfernt sich der Täter vom moralischen Standpunkt und kann mit diesem
nicht seinerseits argumentieren, um seine Strafe als unrechtmäßig zu bewerten. Da die Mehrheit der Gesellschaft moralisch handelt, muss der Täter nach diesen Normen bestraft werden.
Der Delinquent muss in diesem Sinne für seinen eigenen Charakter einstehen, da er anders gehandelt hätte,
wenn er jemand anderes gewesen wäre.
17.3 Strafzwecke aus kompatibilistischer Sicht
17.3.1 Der Zusammenhang zwischen Verantwortung und Schuld
»Eine Person ist in einer Entscheidung frei, wenn sie erstens die Fähigkeit besitzt, vor der Entscheidung innezuhalten und zu überlegen, was zu tun richtig wäre, und wenn sie zweitens die Fähigkeit besitzt, dem Ergebnis
dieser Überlegung gemäß zu entscheiden und zu handeln.«54
Ausgehend von John Lockes Defintion der Willensfreiheit, die zweifellos mit dem Determinismus vereinbar ist,
lässt sich der Begriff der Verantwortlichkeit folgendermaßen definieren: Wenn eine Handlung durch eine freie
Entscheidung bedingt wird und der Handlungsträger sich folglich mit ihr identifizieren kann, ist er für sein Tun
verantwortlich.
Das Kriterium der Verantwortlichkeit ist für die Schuld jedoch nicht hinreichend. Schuldig ist der Handelnde
dann, wenn ihm die Willensbildung zum Vorwurf gemacht werden kann, d.h. sein Tun entweder das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft gefährdet (a) oder Vergeltung im Sinne einer Wiederherstellung der
Gerechtigkeit notwendig macht (b).
Im Übrigen macht (b) den Vorwurf der Ungerechtigkeit von Strafe im Rahmen allgemeiner Bedingtheit hinfällig.
Zu sagen, die Wiederherstellung der Gerechtigkeit sei ungerecht, ist paradox, weil zur Bewertung der Maßstab
der Gerechtigkeit selbst herangezogen wird.
17.3.2 Strafzwecke
Gestraft wird also, um zu verhindern, dass die Handlungen einer Person die Bedingungen (a) oder (b) erfüllen.
Dabei ist zu beachten, dass (a) oder (b) nicht für sich allein stehen können. Weder wird man, um das friedliche Zusammenleben in der Gesellschaft zu sichern, eine Strafe verhängen, die, gemessen an der Straftat,
ungleich hoch ausfällt (z.B. die Todesstrafe für einen Diebstahl), noch wird man die Wiederherstellung der Gerechtigkeit um jeden Preis durchsetzen. Denn auch das Strafen selbst ist gewissermaßen eine Gefahr für den
gesellschaftlichen Frieden, da es zumeist die soziale Ächtung des Täters nach sich zieht.
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Kurs 7.5: Sind wir für unsere Taten verantwortlich?
Kurs 7.6: »Überall ist Mittelalter«
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